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Eigentlich wollte Karl ja gar nicht mitkommen. Er begleitet seine Kollegen Matthäus und Cordula nur auf diese Reise, um einem unangenehmen Weihnachtsbesuch bei seiner Oma Edeltraud zu entgehen. Er hofft auf ruhige, gemütliche und aufregungsfreie Tage. Aber die Realität sieht leider anders aus: Mit Enthusiasmus und unermüdlicher Unternehmungslust hält Cordula ihre Kollegen gehörig auf Trab und eine Verkettung unglücklicher Umstände macht den von Karl ersehnten geruhsamen Aufenthalt in der dänischen Hauptstadt undenkbar. Spätestens als Karl einsam, verlassen und seinem Schicksal hilflos ausgeliefert in einer winzigen Gefängniszelle sitzt, kommen ihm Zweifel, ob er nicht besser hätte zu Hause bleiben sollen. Das wäre jedoch schade gewesen. Denn dann hätte Karl niemals den zerstreuten Konrad, den stets gut gelaunten Bayern Seppel sowie den skurrilen Schotten Aidin, der auch in den unmöglichsten Situationen seine Mitmenschen mit seiner wohlklingenden Dudelsackmusik zu erheitern versucht, kennengelernt. Niemals hätte ihm die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Honigmilch mit Ingwer serviert und so manch in Karl schlummerndes Talent wäre niemals ans Licht gekommen. Nicht zuletzt wäre Karl die Bekanntschaft zu dem stinkenden Borstenvieh, das er trotz anfänglicher Turbulenzen schließlich in sein Herz geschlossen hat, seines Lebtags verwehrt geblieben. Und obwohl er sich ständig mit seinem egomanen und selbstgerechten Kollegen Matthäus herumärgern und sich mit diesem – für den Leser höchst unterhaltsame – Wortgefechte liefern muss, kann Karl aus dieser ungewöhnlichen Reise schlussendlich doch ein positives Resümee ziehen. Mit "Karl in Kopenhagen" setzt Oliver Laube neue Akzente auf dem deutschen Literaturmarkt und lässt seinen Protagonisten zu neuen Ufern aufbrechen. Zahlreiche erheiternde Erlebnisse, originelle Anekdoten und überraschende Wendungen machen den Roman zu einem echten Schmankerl für alle Freunde des naiven Humors und des kultivierten Schabernacks.
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Seitenzahl: 572
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Karl in Kopenhagen
Oliver Laube erheitert gerne seine Mitmenschen mit seinem naiven Humor. Nun hat sich der studierte Jurist aus Grevenbroich in Nordrhein-Westfalen entschlossen, über die Grenzen seines persönlichen Umfeldes hinaus auch die breite Öffentlichkeit daran teilhaben zu lassen, und hat einen Aufbruch zu neuen Ufern gewagt. Oliver Laube ist leidenschaftlicher Verfechter des kultivierten Schabernacks und hat einen ureigenen Hang zur Penibilität und Detailverliebtheit. Die Kombination dieser Eigenschaften spiegelt sich in „Karl in Kopenhagen“, Laubes erstem Roman, wider. Erst nach sechs Jahren intensiver Arbeit ist er mit dem Ergebnis zufrieden.
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Oliver Laube
präsentiert:
Karl
in
Kopenhagen
Ein Aufbruch zu neuen Ufern
Originalausgabe April 2019
Karl in Kopenhagen
Ein Aufbruch zu neuen Ufern
© Copyright by Oliver Laube
Covergestaltung: Ann-Christin und Oliver Laube
Korrektorat: Ann-Christin Laube
Verlag: Oliver Laube
Am Laacher Haus 12, 41515 Grevenbroich
Druck: Neopubli GmbH
Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
www.epubli.de
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede – auch teilweise – Verwertung, Vervielfältigung oder Verbreitung bedarf der schriftlichen Genehmigung durch den Autor.
Gedankenverloren schlendert Matthäus über den Parkplatz, zunächst vom Bus weg und dann wieder ein Stück zurück. Er hat seine in schwarze Lederhandschuhe eingepackten Hände hinter dem Rücken verschränkt und stellt langsam einen Fuß vor den anderen. Dabei beobachtet er die anderen Reisegäste: Einige stehen unter einer die Dunkelheit der frühen Morgendämmerung durchbrechenden Laterne zusammen und unterhalten sich. Einer davon lacht gerade laut. Vermutlich hat einer der anderen soeben einen Witz erzählt. Matthäus hätte ihn gewiss nicht lustig gefunden. Andere stürmen eilig an Matthäus vorbei in Richtung der Rastplatztoilette, an der schon eine lange Schlange ansteht. Drei haben sich auf eine Bank gesetzt. Ein vierter hat dort keinen Platz mehr gefunden und sich daneben auf der hohen Bordsteinkante niedergelassen. Er trägt einen beigefarbenen Pullunder, ein hellblaues Hemd und eine Fliege und hat dunkle, streng zur Seite gekämmte Haare. Starren Blickes schaut er auf seinen Laptop, den er in einer Hand hält, und hackt mit der anderen Hand hektisch auf der Tastatur herum.
‚Komische Gestalt‘, denkt sich Matthäus. Einige Meter weiter steht jemand und beißt gerade in ein Brot mit Käse. Dass dieses Brot mit Käse belegt ist, kann Matthäus zwar nicht sehen, aber immerhin riechen. Matthäus rümpft die Nase und geht schnell ein paar Schritte weiter.
Er ist sauer: Es sind vielleicht noch zwanzig Minuten Fahrt bis zum Fähranleger in Puttgarden, von dem aus der Bus mit der Fähre nach Dänemark übersetzen wird, und der Fahrer macht hier, mitten im Nirgendwo, eine Rast.
‚Bestimmt wird uns die nächste Fähre unmittelbar vor der Nase wegfahren. So verschwendet man wertvolle Zeit‘, überlegt Matthäus und ärgert sich darüber. ‚Das fängt ja alles gut an‘, findet er, meint es aber natürlich ironisch.
Es beginnt leicht zu regnen. Eigentlich könnte sich Matthäus wieder in den Bus setzen. Aber das will er nicht. Denn bis auf einen einzigen Fahrgast ist der Bus leer. Und dieser Fahrgast schläft und bekommt von der Pause überhaupt nichts mit. Es ist Karl, Matthäus' Kollege, der auch mitfährt. Schnell öffnet Matthäus seinen großen schwarzen Regenschirm, den er in weiser Voraussicht fast immer mit sich trägt. Amüsiert blickt er auf die anderen Fahrgäste: Die meisten laufen eilig zurück zum Bus, um nicht nass zu werden. Aber er, Matthäus, hat ja den Schirm. Er lächelt in sich hinein.
Plötzlich zerreißt hinter Matthäus ein Blitz die Dunkelheit. Wohl naht ein Gewitter heran. Matthäus zählt die Sekunden bis zum Donner. Denn multipliziert man die Zeit zwischen Blitz und Donner in Sekunden mit der Zahl 333, erhält man den ungefähren Abstand des Gewitters in Metern und kann nach erneutem Blitz und Donner zudem seine Geschwindigkeit berechnen. Aber Matthäus zählt vergeblich. Es ertönt kein Donner. Stattdessen leuchtet erneut ein Blitz auf, diesmal direkt neben Matthäus. Erschrocken dreht er sich um und schon wieder blitzt es. Geblendet kneift Matthäus reflexartig die Augen zusammen und blickt einen Moment später wieder auf.
So erkennt er, dass die Blitze nicht von einem Gewitter stammen, sondern von Cordula, die gerade mit Blitzlicht ein Foto von ihm gemacht hat. Cordula ist eine Kollegin von Matthäus und Karl. Zusammen arbeiten die drei als Beamte im mittleren Dienst in der Verwaltung einer kleinen Gemeinde in Baden-Württemberg in der Nähe von Karlsruhe. Cordula hat die Reise ins Hostel in Kopenhagen – ein richtiges Schnäppchen – in einem Reiseprospekt entdeckt, war sogleich ganz begeistert und hat Matthäus und Karl zum Mitkommen überredet. Besonders Matthäus war nur sehr schwer zu überzeugen. Ein anderes Reiseziel wäre ihm deutlich lieber gewesen. Musste es denn ausgerechnet Kopenhagen sein? Da er jedoch über Weihnachten ohnehin nichts Besseres zu tun gehabt hätte, hat er schließlich eingewilligt. Und jetzt fahren die drei Kollegen zusammen mit einigen anderen Reisegästen schon seit Stunden in einem Bus durch die Nacht mit Kurs auf die dänische Hauptstadt. Es ist früher Morgen, allerdings noch dunkel. Aber nun, wo Matthäus auf dem Rastplatz warten muss, bis es endlich weitergeht, es regnet und kalt ist, möchte er nicht fotografiert werden.
„Immerzu hat man es mit unqualifizierten Trotteln zu tun. Warum muss dieser untaugliche Busfahrer ausgerechnet jetzt und hier im Nirgendwo eine Pause machen? In einer halben Stunde legt die Fähre ab und wenn wir uns nicht beeilen, dann werden wir dort nicht rechtzeitig ankommen. Die Fähre wartet nicht auf uns und die nächste Fähre fährt erst vierzig Minuten später“, wettert Matthäus.
„Reg dich nicht auf“, versucht Cordula ihn zu beruhigen. „Aber du hast recht: Um die schöne verlorene Zeit wäre es wirklich schade.“
Während Cordula ein paar tolle Fotos von dem Rastplatz, der Rastplatztoilette, einem überquellenden Mülleimer und vom Bus schießt, geht Matthäus in den Gasthof, um eine aktuelle Tageszeitung zu erwerben. Außer ihm ist niemand dort. Er steht gerade an der Kasse, um zu bezahlen, als er von draußen ein lautes Gehupe und eine „Matthäus!“-rufende Cordula hört. Matthäus bezahlt schnell und geht zügig raus. Er sieht den Bus, der bereits den Motor angelassen hat, um weiterzufahren. Cordula kommt wild gestikulierend herangeeilt und zerrt ihn zum Bus.
„Wenn wir jetzt zu spät kommen, ist das deine Schuld“, sagt sie vorwurfsvoll tadelnd. Die beiden sind gerade im Bus angekommen, als der Busfahrer schon die Türen schließt und losfährt. Sie gehen zurück zu ihren Plätzen, wo mittlerweile ihr Kollege Karl durch den Lärm aufgewacht ist.
„Was ist denn hier los?“, fragt er verschlafen, ohne jedoch ernsthaft eine Antwort zu erwarten. Dann gähnt er herzhaft, beugt sich über seinen riesigen Rucksack, der ihm zu Füßen steht, und kramt darin. Schließlich holt er eine Brotdose mit einem großen Fischbrötchen heraus, das er sich zu Hause als Proviant für die lange Fahrt zubereitet hat. Genüsslich beißt er hinein. Es stinkt. Matthäus hält sich die Nase zu, sagt aber nichts.Er ärgert sich nur über Karl, über Cordula und über den Busfahrer, nicht aber über sich selbst, obwohl doch er die zusätzliche Verspätung zu verantworten hat.
Die nächsten gut zwanzig Minuten sitzen die drei Kollegen schweigend beisammen und hoffen, dass sie rechtzeitig zur nächsten Fährüberfahrt in Puttgarden eintreffen werden. Wobei, eigentlich hoffen das nur Matthäus und Cordula. Karl hingegen ist es gleichgültig. Er isst in Ruhe sein Fischbrötchen und macht sich über die bevorstehende Fährfahrt keine Gedanken. Wie sollte er auch? Dass der Bus, um nach Kopenhagen zu gelangen, mit der Fähre von Puttgarden nach Rødby fahren muss, weiß er gar nicht. Das muss er ja auch nicht wissen. Da er über weite Teile der Fahrt geschlafen hat, könnte Karl auch nicht ausschließen, dass eine Fährüberfahrt zu irgendeinem Zeitpunkt bereits stattgefunden hat. Er hat keine Ahnung, wie lange sie schon unterwegs sind und wo sich der Bus gerade befindet. Was er weiß, ist wenig, und alles was er nicht weiß, kann ihn auch nicht in seiner Ruhe stören. Aber selbst wenn er wüsste, dass sie gleich mit einer Fähre weiterfahren müssen und dafür reichlich spät dran sind, würde er dennoch keinen Gedanken daran verschwenden. Falls die drei im Bus vierzig Minuten auf die nächste Fähre warten müssten, dann wäre das eben so. Er, Karl, könnte daran jetzt sowieso nichts mehr ändern. Und selbst wenn er es könnte, täte er es nicht. Ihm ist es einerlei, ob der Bus vierzig Minuten früher oder vierzig Minuten später in Kopenhagen ankommt.
Während Karl gemütlich und in aller Ruhe sein Brötchen verspeist und danach wieder vor Müdigkeit die Augen schließt, blättert Matthäus interessiert in seiner soeben erworbenen Tageszeitung und überfliegt die Schlagzeilen.
‚Königin Margrethe II. lädt ein: Kanzlerin Merkel1 nächste Woche auf Staatsbesuch in Dänemark‘, liest er und fragt sich, ob die deutsche Bundeskanzlerin wirklich nichts Besseres zu tun hat, als mit der dänischen Königin Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen. Cordula blickt unterdessen aufmerksam aus dem Fenster, um sich die Landschaft anzusehen. Dumm nur, dass es immer noch dunkel ist und sie draußen kaum etwas erkennen kann. Und selbst wenn es hell wäre, gäbe es nicht viel zu sehen. Immerhin fährt der Reisebus gerade über eine Schnellstraße. Außerdem regnet es noch immer.
Gerade noch rechtzeitig kommt der Bus am Fährhafen an. Offen gestanden ist besonders Matthäus heilfroh darüber, da schließlich er für zusätzliche Verzögerung gesorgt hat. Auf die Vorwürfe seiner Kollegin Cordula kann er wirklich sehr gut verzichten. Von Karl hingegen hätte er nichts zu befürchten gehabt. Nachdem der Bus als allerletztes Fahrzeug im Untergeschoss der Fähre angehalten hat, schließen sich auch schon die Tore. Die Fahrgäste – allen voran Matthäus und Cordula – beeilen sich, den Bus zu verlassen, um auf das obere Deck zu gelangen und dort die Zeit der Überfahrt zu verbringen.
Nur einer bleibt hier unten im Bus. Und das ist Karl. Während die anderen aussteigen, bleibt Karl einfach sitzen. Er ist noch immer müde und hofft, während der Fährüberfahrt im Bus in Ruhe nochmal schlafen zu können. Matthäus und Cordula sind so in Eile, dass sie Karls Fehlen zunächst gar nicht bemerken. Und schon sind alle Leute weg und Karl ist ganz alleine. Er schließt die Augen und versucht einzuschlafen. Doch er schafft es nicht. Die Einsamkeit im Bus und das laut dröhnende, hier unten in der Halle bedrohlich umherschallende Geräusch der Schiffsmotoren machen ihm Angst. Er öffnet die Augen wieder und blickt sich um. Er sieht nach vorne in den unbesetzten Bus. Dann schaut er nach rechts aus dem Fenster. Das Untergeschoss ist riesig – zumindest kommt es Karl so vor. Überall stehen Autos, Lkws, Motorräder und Busse. Andere Menschen sind weit und breit nicht zu sehen. Der Anblick wirkt auf Karl geradezu ausgestorben und geisterhaft. Durch das Fenster auf der linken Seite entdeckt er ein kleines gelbes Schild mit der Aufschrift: ‚Der Aufenthalt im unteren Stockwerk ist während der Überfahrt aus Sicherheitsgründen nicht gestattet.‘
Karl erschrickt. Er will weg von hier – so schnell wie möglich. Panisch springt er von seinem Platz auf und läuft durch den leeren Bus zur Tür. Zu seinem Glück lässt sich diese problemlos öffnen. Angsterfüllt steigt Karl eilig aus und blickt sich hektisch um. Er hat keine Idee, wie er hier rauskommen soll. Irgendwo muss eine Treppe nach oben sein, aber Karl hat keinen blassen Schimmer, wo diese sein könnte. Schnell macht er sich auf die Suche. Er entdeckt eine Tür. Er öffnet sie. Aber dahinter befindet sich keine Treppe nach oben. Die Tür führt nur zu einem weiteren abgetrennten Teilbereich des riesigen Untergeschosses, in dem weitere Fahrzeuge stehen. Karl irrt ziellos umher. Er entdeckt wieder eine Tür und drückt die Klinke: Verschlossen. Karl wird immer panischer. Er kann den Ausgang einfach nicht finden. Abermals sieht er eine Tür. Aber dahinter befinden sich statt einer Treppe nur unter anderem einige Feuerlöscher und eine Leiter. Dies ist wohl der Abstellraum. Sicherheitshalber nimmt Karl einen Feuerlöscher mit – man weiß ja nie.
Da er den Weg nach draußen nicht findet, will Karl zumindest zurück zum Bus. Aber auch dieser ist wie vom Erdboden verschluckt. Karl hat sich hier unten total verlaufen. Für ihn sieht es auch überall gleich aus. Verzweifelt setzt sich Karl wahllos auf eine Motorhaube, die unter seinem Gewicht leicht knarrt, und überlegt: ‚Was mach ich nur? Was mach ich nur? Was mach ich nur? Was ist, wenn es jetzt brennt, während ich hier unten bin? Oder es gibt einen anderen Notfall? Vielleicht sinkt ja gleich das ganze Schiff. Niemand wird darauf kommen, dass hier unten noch jemand ist. Schließlich ist das ja verboten. Vielleicht kommt auch gleich irgendein Sicherheitsmensch und verhaftet mich, weil ich hier gar nicht sein darf. Was alles passieren kann.‘
Karl erschaudert und wird auf einen Schlag ganz bleich im Gesicht. Niedergeschlagen und mutlos stützt er den Kopf in beide Hände und klagt leise vor sich hin.
„Karl!“, ruft plötzlich jemand laut durch das Untergeschoss. „Bist du etwa noch hier unten?“
Das war doch Matthäus. Karl springt auf und blickt sich hektisch um. Auf der Motorhaube bleibt eine kleine Delle zurück.
„Karl!“, ruft Matthäus noch einmal.
Der Schall bricht sich immer wieder in der riesigen Halle und so ruft es nun von überall: „Karl! Karl! Karl! Karl! Karl! Karl! Karl!“, und Karl fällt es schwer, sich zu orientieren. So irrt er erneut umher und versucht, Matthäus' Stimme zu orten. Und schließlich sieht er ihn: seinen Kollegen Matthäus. Karl ist heilfroh.
„Was machst du denn noch hier unten? Warum bist du nicht gleich mit uns nach oben gekommen? Cordula war schon ganz in Sorge, ob dir etwas passiert ist, und hat mich nach dir suchen geschickt. Jetzt habe ich die Abfahrt der Fähre verpasst. Du bist das schuld!“, rügt Matthäus Karl maßregelnd und sehr vorwurfsvoll. Dieser versucht sich zu verteidigen.
„Ich habe mich halt verlaufen“, rechtfertigt sich Karl unsicher. Er selber merkt, wie absurd seine Erklärung für Matthäus klingen muss. Dieser blickt seinen Kollegen nur ungläubig und argwöhnisch zweifelnd an, sagt aber nichts mehr. Dann geleitet er ihn sicher zum Ausgang.
Karl ist überrascht: Da ist ja auch wieder ihr Reisebus. Der Ausgang befindet sich direkt daneben und über der Tür zum Treppenhaus hängt ein nahezu unübersehbares Schild mit der Aufschrift: ‚Ausgang‘. Hätte Karl doch besser hingesehen. Er hätte nur einmal um den Bus herumlaufen müssen und schon wäre ihm das Schild aufgefallen. Er hätte bloß von seinem Sitzplatz aus die Wand auf der linken Seite etwas intensiver in Augenschein nehmen müssen. Aber dies hat er aus lauter Furcht und Desorganisation unterlassen. Jetzt ist er einfach nur froh, von hier fort zu gelangen.
Matthäus und Karl steigen über eine schmale Treppe nach oben. So gelangen sie in einen großen Raum mit vielen Stühlen, einem Kiosk und dem Schiffsbistro, aus dem es lecker riecht. Matthäus steuert zielstrebig auf eine weitere Tür zu und plötzlich stehen die beiden draußen im leichten Nieselregen auf dem oberen Deck. Karl ist schon wieder überrascht: Die Fähre hat gerade einmal die Hafenausfahrt passiert. Sie ist erst vor wenigen Minuten abgefahren. Dabei kam ihm sein Aufenthalt im Untergeschoss wie eine halbe Ewigkeit vor. Karl schreitet gemächlich vor bis zur Reling und blickt verschlafen auf die ruhige See. Der Großteil des Himmels ist zwar mit Wolken bedeckt, aber im Osten ist noch ein freier blauer Streifen. Die Sonne geht gerade über dem Meer auf. Feurig rot taucht sie hinter dem Horizont in weiter Ferne auf und überflutet das Meereswasser mit hellem Licht, das sich in jeder Welle bricht. Karl blickt auf seine digitale Armbanduhr: Es ist kurz nach halb neun. Er genießt den schönen Anblick und lässt sich den frischen, kalten Wind durch Gesicht und Haare wehen. Matthäus stellt sich neben seinen Kollegen. Auch ihn scheint der Anblick der aufgehenden Sonne und des Lichtes auf den Wellen zu faszinieren.
Plötzlich hört Karl hinter sich ein lautes ‚Knips‘. Verwundert dreht er sich um. Hinter ihm steht Cordula, die soeben ein Foto von ihm und Matthäus geschossen hat. Und weil Karl so freundlich in die Kamera blinzelt, macht Cordula sogleich noch ein Foto.
„Die können wir später unseren Kollegen zeigen. Die werden sich bestimmt sehr darüber freuen. Ich werde dir, Karl, alle meine Bilder zur Verfügung stellen. Vielleicht kannst du dann aus den besten einen Film erstellen. So was kannst du doch gut“, bemerkt Cordula in bester Laune. Karl nickt nur. Er hat nicht zugehört und hat eigentlich gerade etwas ganz anderes im Sinn: Cordula hält nämlich in einer Hand ein belegtes Körnerbrötchen, das sie soeben in dem Bistro an Bord gekauft hat. Karl fällt ein, dass er ja seinen mitgebrachten Proviant bereits aufgegessen hat. Schnell und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, geht er nach drinnen und kommt wenige Minuten später mit einem Burger in einer Pappschachtel sowie einer Kekstüte in den Händen wieder zu seinen Kollegen nach draußen. Spendabel, wie er nun einmal ist, bietet er diesen von seinen eben erstandenen Keksen welche an. Karl selber greift auch in die Tüte, um sich sogleich einige Kekse zu sichern.
Matthäus, der zwar ebenfalls gerne Nahrungs- und Genussmittel mit hohem Zuckergehalt verspeist, aber mindestens ebenso gerne kritisiert, merkt an: „Also Karl, ich finde, du könntest dich ruhig ein wenig gesünder ernähren. Immerzu isst du Fischbrötchen, Burger, Plätzchen und solch ungesundes Zeug. Wie wäre es, wenn du zur Abwechslung mal etwas Nahrhafteres zu dir nähmest?“
Karl blickt seinen Kollegen völlig verständnislos an.
„Ich meine ja nur. Die Bordkantine hat heute leckeren Brokkoliauflauf, Sanddornsuppe und Himbeer-Hafermilch-Shake auf der Speisekarte. Und was machst du? Du kaufst dir einen fettigen Burger und diese ungesunden Plätzchen. Ich finde, deine Ernährungsgewohnheiten lassen ganz schön zu wünschen übrig. Wenn ich allein daran denke, wie viele Schweineleben schon ausgelöscht werden mussten, nur um deinen Gelüsten nach Burgern Genüge zu leisten. Es ist wirklich eine Schande! Und du selbst tust dir ja auch keinen Gefallen mit deiner ungesunden Ernährung. Dabei gäbe es so viele gesundheitsfördernde Alternativen: Rohkost, fettarmen Joghurt, Paranüsse – nur um ein paar Beispiele zu nennen.
Wenn du an weiteren Details interessiert bist, Karl, dann solltest du dich unbedingt mal an Cordula wenden. Soweit es um gesunde Ernährung geht, ist sie nämlich die Expertin. Sie hat mir mal berichtet, dass sie jeden Morgen zum Frühstück Dinkelmüsli isst und dazu Honigmilch mit Ingwer trinkt. Das wäre gewiss auch mal etwas für dich. Honigmilch mit Ingwer – das klingt doch ganz vorzüglich. Das wäre mal etwas ganz anderes als immer diese Burger, Plätzchen und Fischbrötchen. Honigmilch mit Ingwer ist gesund, nährstoffreich und besonders bekömmlich. Bei nächster Gelegenheit solltest du das auf alle Fälle mal ausprobieren.
Du musst ja nicht gleich deinen gesamten Ernährungsplan auf einmal umstellen, Karl. Du kannst dich ja langsam steigern. Und irgendwann ernährst du dich nur noch von Kürbissuppen, Grünkohl, Hülsenfrüchten und grünem Tee“, unterweist Matthäus Karl sachkundig und freut sich, jetzt ganz oben auf zu sein. Karl starrt seinen Kollegen entgeistert und perplex an und zieht unsicher seine Hand wieder aus der Kekstüte.
„Was soll ich essen?“, erkundigt er sich bei Matthäus und blickt hilfesuchend zu Cordula, die gerade versonnen an der Reling steht, den Sonnenaufgang fotografiert und Matthäus' lehrreichem Vortrag wenn überhaupt nur mit einem halben Ohr gelauscht hat.
„Du musst das ja alles nicht machen. Ich meine es doch nur gut mit dir, Karl“, entgegnet Matthäus seinem Kollegen. Dann steckt er selbst eine Hand in Karls Kekstüte. „Aber man muss es ja auch nicht übertreiben“, erläutert er und stopft sich eine Handvoll Kekse in den Mund. „Auf jeden Fall schmecken die Plätzchen sehr gut.“
Karl ist nun vollkommen verwirrt und weiß jetzt weder was er sagen noch tun soll. Aber dann zuckt er mit den Schultern und nimmt sich ebenfalls von seinen Keksen. Schließlich langt auch Cordula zu.
Während der nächsten knappen Dreiviertelstunde, die die Fährüberfahrt dauert, sitzen die drei Kollegen draußen in der morgendlichen Kälte an einem Tisch, blicken aufs Meer, essen Karls Kekse und freuen sich auf die ihnen bevorstehende Zeit. Matthäus, Cordula und Karl haben auch allen Grund zur Freude, denn auf sie warten ein paar ausgesprochen schöne und ereignisreiche Urlaubstage. Heute ist nämlich der 25. Dezember, also der erste Weihnachtstag, und laut Reisebeschreibung wartet am nächsten Tag auf alle Gäste eine besondere Weihnachtsüberraschung. Außerdem stehen schon heute eine Stadtführung durch Kopenhagen und eine Bootsfahrt auf dem Programm. Auch ein gemeinsames Abendessen in einem erlesenen Restaurant ist für einen Abend geplant. Den Rest der insgesamt fünf Tage, die die Reise dauern wird, haben die drei zur freien Verfügung. Diese Zeit wollen Matthäus, Cordula und Karl zum Beispiel für eine Tour ins Wikingermuseum von Roskilde sowie eine Fahrt in die schwedische Stadt Malmö nutzen.
Besonders Cordula ist voller Vorfreude auf die kommenden Tage, denn sie fotografiert leidenschaftlich gerne und erhofft sich von Kopenhagen einige tolle Motive. Auch Matthäus freut sich, ist vor allem aber skeptisch.
‚Die Weihnachtsüberraschung wird bestimmt kitschig, die Stadt wenig sehenswert und das Wetter schlecht‘, befürchtet er insgeheim. Wenn er das alles organisiert hätte, ja dann würde die Reise bestimmt sehr viel besser werden. Aber das hat er nun einmal nicht. Lediglich für die Stadt Malmö hat Matthäus einen eigenen Stadtrundgang ausgearbeitet und ergötzt sich schon an der Vorstellung, seine Kollegen dort mit seiner fachlichen Kompetenz und seiner ausgeklügelten Planung beeindrucken zu können. Vielleicht sollte er, Matthäus, ja sein langweiliges Beamtendasein an den Nagel hängen und in Zukunft Reisen organisieren und leiten. Er würde das so gut machen, dass er jedes Mal aufs Neue die Anerkennung, den Dank und die Bewunderung aller Reisegäste sicher hätte. Ständig stünde nur er im Mittelpunkt. Das würde Matthäus gefallen. Und dann würde selbst eine Reise nach Kopenhagen zum Event. So hingegen hat Matthäus keine besonders hohen Erwartungen. Aber er sagt nichts, um Cordulas gute Laune nicht zu zerstören.
Und Karl? Karl lässt alles auf sich zukommen und wartet mit seinem Urteil ab, bis die Reise zu Ende ist. Vielleicht wird er selbst dann kein Urteil fällen. Warum sollte er? Er kommt sowieso nur deshalb mit, weil Cordula ihn so energisch überredet hat und er – ebenso wie Matthäus – über Weihnachten ohnehin nichts Besseres zu tun hätte. Außerdem kann er auf diese Weise einem unangenehmen Weihnachtsbesuch bei seiner Oma Edeltraud entgehen. Er hofft auf ein paar ruhige, gemütliche und aufregungsfreie Tage.
Bald schon nähert sich die Fähre dem dänischen Festland. Und so gehen die drei Kollegen zusammen mit den anderen Fahrgästen zurück nach unten zu ihrem Bus und nehmen wieder ihre Plätze ein. Das Schiff legt an. Wenige Minuten später fährt der Bus los und verlässt als letztes Fahrzeug das Innere der Fähre. Ab jetzt befinden sich Matthäus, Cordula, Karl und ihre Mitreisenden auf dänischem Boden. Der Bus steuert nun direkt auf Kopenhagen zu.
Die letzten gut zwei Stunden der Fahrt vergehen ohne weitere Zwischenfälle. Matthäus liest zunächst seine Zeitung weiter und blättert anschließend in einem Reiseprospekt über den Roskilde-Fjord, den die drei unbedingt an einem freien Tag besuchen wollen. Das Wissen, das Matthäus auf diese Weise erlangt, findet er sehr interessant. Er nimmt sich vor, damit zu gegebener Zeit vor seinen beiden Kollegen zu brillieren. Cordula sieht sich derweil auf dem kleinen Bildschirm ihrer Digitalkamera ihre bisher geschossenen Fotos an und blickt zwischendurch immer wieder aus dem Fenster. Leider sind mittlerweile noch mehr dunkle Wolken aufgezogen und es regnet in Strömen. Das trübt ihre Stimmung erheblich. Karl hingegen merkt von alledem nichts. Er ist unterdessen wieder eingeschlafen und stört sich nicht an den Regentropfen, die unaufhörlich auf das Busdach plätschern.
Am späten Vormittag erreicht der Bus die Stadtgrenze von Kopenhagen, fährt durch die Vororte der Stadt in Richtung Zentrum und schließlich zum Hostel, in dem die drei Kollegen und alle anderen Reisegäste in den folgenden fünf Tagen untergebracht sind. Vor allem Cordula ist verzückt, drückt sich die Nase an der Fensterscheibe platt und versucht, durch das Fenster schon erste Fotos von den Sehenswürdigkeiten der Stadt zu schießen. Nur leider hat ihr das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht: Die letzten zwei Stunden hat es ununterbrochen geschüttet wie aus Kübeln und an den Fensterscheiben hängen dicke Regentropfen, weshalb Cordula das Fotografieren bald wieder aufgibt. Mittlerweile hat sich das Wetter aber wieder beruhigt. Es regnet nicht mehr und die Sonne schafft es sogar an der einen oder anderen Stelle, die dichte Wolkendecke zu durchdringen. Alle Reisegäste freuen sich sehr, dass sie ihr Ziel gleich erreicht haben. Immerhin haben sie eine fast vierzehnstündige Busfahrt hinter sich. Und sogar Karl ist inzwischen aufgewacht. Er gähnt herzhaft und blickt verschlafen, aber durchaus nicht uninteressiert aus dem Fenster.
Einige Minuten später trifft der Bus am Hostel ein, hält an und alle Gäste steigen freudig aus. Nur Karl möchte gerne bis zuletzt sitzen bleiben, um dem größten Trubel bei der Kofferausgabe zu entgehen. Aber seine beiden Kollegen drängen.
„Beeil dich bitte ein wenig! Wir wollen schließlich noch was von dem Tag haben“, gebietet ihm Matthäus entschieden und Karl will seinem Kollegen nicht widersprechen.
Also nimmt Karl schnell seinen Rucksack, folgt seinen beiden Kollegen gehorsam und wartet zusammen mit allen anderen Reisegästen auf die Aushändigung der Koffer. Dabei blickt er sich um: Sie stehen in einer etwas schäbigen Seitenstraße. Auf der linken Straßenseite befindet sich ein großes Tor, das den Zugang zu einem Platz mit zersprungenen Pflastersteinen bildet, der zu einer heruntergekommenen Fabrikhalle gehört, deren Fenster allesamt herausgebrochen sind. Rechts daneben wird derzeit ein altes Hochhaus abgerissen. An vielen Stellen ist der graue Putz abgeblättert. Auf dem Gelände stehen ein riesiger Kran mit einer Abrissbirne sowie einige weitere Baufahrzeuge. Im Moment wird hier jedoch nicht gearbeitet. Vor dem bunt bemalten Bauzaun türmt sich ein Berg aus Sperrmüll und daneben steht ein großer Container mit Bauschutt. Auf der anderen Straßenseite stehen eine Litfaßsäule mit herunterhängenden, verschlissenen Plakaten, ein zerbeultes Straßenschild, dessen Aufschrift man beim besten Willen nicht mehr erkennen kann, sowie ein Müllcontainer, aus dem der Müll nur so herausquillt. Dahinter befindet sich das Hostel. Es ist ein breites, rot-braun verputztes Gebäude mit sieben Obergeschossen und großer Fensterfront. Auf Karl wirkt es riesig und nicht sehr einladend. Aber wenn er sich so in der Straße umsieht, muss Karl offen zugestehen, dass das Hostel im Vergleich zu allen anderen Gebäuden einen sehr makellosen und anständigen Eindruck macht. Fasziniert blickt er hoch zur obersten Etage.
‚Von da oben hat man bestimmt einen sehr schönen Ausblick‘, denkt sich Karl und hofft, ein Zimmer so weit wie möglich oben und mit vielen Fenstern zu erhalten.
Es dauert gar nicht lange, bis der Busfahrer Matthäus, Cordula und Karl ihre Koffer gereicht hat. Denn Matthäus, der sich sehr gerne und auch häufig vordrängelt, hat dafür gesorgt, dass sie ganz vorne stehen, und den Busfahrer dazu aufgefordert, seinen beiden Kollegen und ihm als Erstes die Koffer herauszugeben. Nach Erhalt ihres Gepäcks steuern die drei Kollegen den Eingang des Hostels an.
„Schön ist es hier nicht“, bemerkt Matthäus beiläufig, aber treffend und rümpft die Nase. Weder Karl noch Cordula können ihm widersprechen.
Die drei sind schon eine komische Gesellschaft: Cordula und Matthäus gehen zielstrebig voran, Karl folgt vorsichtig und in gebührendem Abstand. Cordula trägt ihre schicke Umhängetasche, die sie extra für die Reise gekauft hat, und ihren Fotoapparat und zieht einen blauen Rollkoffer hinter sich her. Matthäus hält neben seinem großen schwarzen Lederkoffer auch noch seinen aufgespannten Regenschirm in den Händen.
„Es regnet doch gar nicht“, wundert sich Cordula.
Matthäus jedoch hat da seine ganz eigene Logik: „Tatsächlich regnet es zurzeit nicht. Es kann aber jeden Moment losgehen, denn wie ihr“, er blickt sich um und stellt fest, dass Karl ihm sowieso nicht zuhört, „also, wie du sicher auch festgestellt hast, hat es die letzten zwei Stunden nahezu ununterbrochen ordentlich geschüttet. Auch jetzt noch ist der Himmel stark mit Wolken behangen. Und wer weiß, ob ich den Schirm schnell genug geöffnet bekomme, bevor meine Frisur komplett ruiniert und mein edler schwarzer Wollmantel nass und lädiert ist? Der Schirm klemmt nämlich etwas“, erklärt er.
Karl hat von dem Gespräch nichts mitbekommen. Teilnahmslos marschiert er die letzten paar Meter bis zum Eingang über die Straße. Mit seinem winzigen braunen und ziemlich altmodischen Koffer, den ihm seine Oma Edeltraud für diese Reise geschenkt hat, und seinem überdimensionierten blauen Rucksack sieht er schon etwas merkwürdig aus. Aber das macht ihm nichts.
Und dann sind die drei drinnen. Der Eingangsraum ist groß. Links schließt ein langer Flur zu den Zimmern und rechts das Treppenhaus an. Daneben befinden sich zwei Aufzüge. In der Mitte des Raumes steht die Rezeption, an der der Hostelbesitzer Jesper sitzt, um die neuen Gäste persönlich in Empfang zu nehmen. Es ist nur gut, dass Matthäus, Cordula und Karl sich so beeilt haben, denn noch ist es hier sehr leer. So müssen sich die drei nicht lange anstellen und sind bald an der Reihe.
„Herzlich Willkommen im Hostel!“, begrüßt Jesper die drei Kollegen freundlich.
„Guten Tag“, erwidern Matthäus und Cordula. Karl nickt nur kurz. Matthäus nennt seinen Namen und stellt dem Hostelbesitzer seine beiden Kollegen vor. Dann holt er die Reservierungsunterlagen aus seinem Koffer heraus und legt sie auf die Theke.
„Sie haben drei Einzelzimmer im Erdgeschoss“, erklärt Jesper und reicht Matthäus die Zimmerschlüssel. Doch noch bevor dieser die Schlüssel ergreifen kann, hat Karl sie sich schon weggeschnappt. Mit großem Missfallen hat er natürlich mitbekommen, dass er und seine Kollegen lediglich Zimmer im Erdgeschoss und nicht – wie zuvor von ihm gewünscht – im obersten Stockwerk erhalten. Nun will Karl zumindest von ihren Zimmern das schönste für sich reservieren. Schnell ergreift er sein Gepäck und eilt nach links den Gang entlang.
„Was hat Karl denn jetzt schon wieder?“, fragt Matthäus Cordula kopfschüttelnd.
„Ich weiß es nicht“, muss diese gestehen.
„Na, vielleicht muss er aufs Klo“, überlegt Matthäus laut und wendet sich wieder dem Hostelbesitzer Jesper zu. Dieser legt drei Formulare, die Matthäus, Cordula und Karl noch ausfüllen müssen, auf die Theke.
„Ich glaube, ich fülle besser das für Karl auch noch aus. Zum einen ist er ja gerade nicht hier und zum anderen wäre Karl vermutlich etwas überfordert damit“, meint Matthäus.
„Das ist aber nett von dir“, findet Cordula.
Während Cordula und Matthäus ihre Formulare ausfüllen, rennt Karl eilig über den Gang, auf dem sich beidseitig zahlreiche Türen aneinanderreihen. Die drei Kollegen haben die Schlüssel für die Zimmer mit den Nummern 5, 6 und 7 bekommen. Schnell schließt Karl jede der drei Türen auf und wirft hastig einen Blick in die dahinterliegenden Räume. Diese sind denkbar klein. Der Großteil der Zimmer wird von je einem sehr schmalen Bett mit weißen Bezügen und einem schwarzen Eisengestell ausgefüllt. Hinter dem Bett steht jeweils ein kleiner blauer Hocker, der sich sowohl als Sitz als auch als Nachttisch verwenden lässt. Auf der anderen Seite des Bettes hängt an der Wand ein winziges Waschbecken mit einem schmutzigen Spiegel darüber. Hingegen fehlen in den Zimmern eine Dusche und eine Toilette. Diese müssen sich Matthäus, Cordula und Karl nämlich mit den anderen Gästen auf dem Gang teilen.
Es gibt auch keinen Kleiderschrank. Stattdessen steht dem Bett gegenüber ein klappriger Kleiderständer mit einigen Bügeln. Daneben ragen ein paar Kleiderhaken aus der Wand. Unter dem Bett befindet sich eine große Schublade, in der man seinen Koffer platzieren soll, denn für diesen ist in den kleinen Räumen beim besten Willen kein Platz mehr. Problematisch ist nur, dass der Abstand zwischen Bett und Wand so eng ist, dass die Schublade nicht ganz zu öffnen ist, ohne dass man zuvor das Bett zur Seite rückt. Dass schon viele Leute zuvor diese Feststellung haben machen müssen, lässt sich an den zahlreichen schwarzen Streifen, die offenbar der Griff der Schublade an der weißen Wand unterhalb des Waschbeckens hinterlassen hat, erkennen. Im Übrigen haben die Zimmer auch keine Fenster. An der Decke befindet sich lediglich eine Lüftung, die für etwas Frischluft sorgt, im Gegenzug aber sehr laut surrt.
Nacheinander schreitet Karl die drei Räume ab. Da die Zimmer jedoch alle gleich aussehen, entscheidet er sich schließlich deshalb für das Zimmer mit der Nummer 7, weil die Zahl 7 seine Lieblingszahl ist. Außerdem befindet sich direkt gegenüber das Etagenklo. Karl betritt den Raum und wirft seinen Koffer und seinen schweren Rucksack achtlos auf den Boden. Dann geht er wieder nach draußen auf den Gang. Soeben kommen Matthäus und Cordula um die Ecke. Matthäus stellt seinen Koffer ab und stürmt auf seinen Kollegen zu.
„Was sollte das denn jetzt? Warum bist du so schnell und ohne jede Vorankündigung mit all unseren Zimmerschlüsseln abgehauen? Wir sind gerade erst hier angekommen und schon machst du uns peinlich. Die Leute hinter uns haben schon vorwurfsvoll den Kopf geschüttelt, als du so unvermittelt weggelaufen bist“, fragt und tadelt er Karl missbilligend. Diesem fällt zunächst keine passende Antwort ein. Seine wahren Beweggründe möchte er natürlich nicht preisgeben – deshalb erst recht nicht, weil ohnehin alle Zimmer gleich aussehen und Matthäus ihn aufgrund dieser Tatsache bestimmt herzlich auslachen würde.
„Ich, ich wollte, also, ich habe mir gedacht, dass …“, stammelt Karl los. Doch dann hat er eine Idee: „Ich wollte nur nachsehen, ob unsere Zimmer sauber sind und ob die Betten gemacht sind. Ansonsten hätte ich mich sofort über die Missstände beschweren können“, erklärt er überzeugend und freut sich über seine gute Ausrede.
„Das war echt klasse von dir!“, jubelt Cordula begeistert. „Ein sehr guter Gedanke“, fügt sie hinzu. Matthäus hingegen ist nicht recht überzeugt, begnügt sich aber dennoch mit Karls Antwort. Er hat bereits seinen Koffer wieder an sich genommen und schreitet nun auf die Zimmertür des Zimmers mit der Nummer 5 zu. Schnell läuft Karl ihm hinterher und reicht seinem Kollegen beflissen den zugehörigen Schlüssel.
Nachdem Karl auch Cordula ihren Schlüssel gegeben hat, verschwinden die drei zunächst in ihren Zimmern. Karl blickt sich noch einmal in dem spärlich eingerichteten und sehr überschaubar kleinen Raum um. Hier wird er wohl die nächsten fünf Tage leben müssen. Er überlegt, ob er seinen Koffer ausräumen soll, entscheidet sich aber dagegen. Zum einen ist Karl einfach zu faul dafür, zum anderen wüsste er nicht, wohin er seine Sachen räumen sollte. Schließlich gibt es keinen Kleiderschrank. Deshalb ist Karl hier eigentlich schon fertig und verlässt den Raum. Er geht zu Cordulas Zimmer und klopft an die nur angelehnte Tür.
„Herein!“, ruft Cordula und Karl tritt ein. Cordula ist gerade damit beschäftigt, einige Kleidungsstücke aus ihrem Koffer zu räumen, um sie in der Schublade unter dem Bett zu verstauen. Dabei hat sie ein Problem: Die Schublade lässt sich nämlich nicht öffnen.
„Die Schublade klemmt. Kannst du mir mal helfen?“, bittet sie deshalb Karl, dem es mit etwas Feingefühl tatsächlich gelingt, die Schublade – soweit das aufgrund des Platzmangels im Zimmer möglich ist – zu öffnen. Cordula ist sehr froh und bedankt sich bei ihrem Kollegen.
„Wann sollen wir denn von hier losgehen, Karl?“, fragt sie ihn. Das weiß Karl natürlich auch nicht.
„Da musst du mal Matthäus fragen“, gibt er ihr deshalb zur Antwort. Da Cordula noch mit ihrem Koffer beschäftigt ist, beauftragt sie Karl, sich bei Matthäus zu erkundigen.
Gehorsam verlässt ihr Kollege den Raum und geht zu Matthäus' Zimmer. Weil er auf sein Klopfen hin keine Antwort bekommt, geht er einfach hinein, denn auch Matthäus' Tür ist nur angelehnt. Matthäus sitzt gerade auf der Bettkante und hält in der einen Hand ein kleines Heft, das in jedem Zimmer ausliegt und in dem einige Verhaltensregeln und sonstige wichtige Informationen zum Leben im Hostel stehen. In der anderen Hand hält Matthäus ein dänisches Wörterbuch, das er extra für diese Reise erworben hat – insbesondere natürlich, um sich an der einen oder anderen Stelle wichtigmachen zu können, wenn er der Einzige ist, der über dänische Sprachkenntnisse verfügt. Das Heft mit den Verhaltensregeln ist nämlich ausschließlich auf Dänisch verfasst, aber Matthäus möchte mit seinem Ehrgeiz trotzdem versuchen, sich den Inhalt eigenständig zu erschließen. So erfährt er zum Beispiel, wo sich die Feuerlöscher befinden oder dass das Frühstück morgens um halb acht im großen Gemeinschaftsraum im ersten Obergeschoss beginnt oder dass man sich doch bitte in den Zimmern möglichst leise verhalten, dort keinen Müll hinterlassen soll und das Zimmer vor der Abreise noch einer umfangreichen Reinigung zu unterziehen hat. Er blickt gar nicht auf, als sein Kollege hereintritt.
„Cordula lässt fragen, wann wir von hier losgehen“, berichtet Karl Matthäus. Dieser sieht noch immer nicht auf.
„Sobald ich hier fertig bin“, erwidert er beiläufig und beachtet Karl nicht weiter. Dieser überlegt, ob diese Information Cordula als Antwort wohl genügt, entschließt sich dann aber doch zu einer Nachfrage.
„Und wann soll das sein?“, erkundigt er sich weiter.
„Was weiß ich? Aber eine halbe Stunde brauche ich bestimmt noch“, entgegnet Matthäus und blickt hoch zu Karl. „Immerhin ist es auch in deinem Interesse, wenn ich mich mit den Gepflogenheiten im Hostel vertraut mache. Du willst dich ja wohl hier nicht daneben benehmen. Und außer mir ist ja ganz offensichtlich keiner von euch dazu in der Lage, den Inhalt dieser Broschüre zu verstehen“, fügt er hinzu und wendet sich wieder dem Heft zu.
Karl verlässt den Raum und geht zu Cordula, um ihr die Neuigkeiten zu überbringen. Seine Kollegin ist ganz froh darüber, dass die drei noch eine Weile im Hostel verbleiben werden. Der Akku ihres Fotoapparats ist nämlich fast leer und sie muss ihn dringend aufladen. Nur leider hat sie diesbezüglich ein weiteres Problem: Sie findet die Steckdose nicht.
„Kannst du mir vielleicht sagen, Karl, wo sich hier eine Steckdose befindet?“, fragt sie ihren Kollegen. Doch dieser hat leider auch keinen blassen Schimmer. Oberflächlich sucht er die Wände ab. Da er aber nichts findet, zuckt er nur ratlos mit den Schultern.
„Da musst du mal Matthäus fragen“, erwidert er. Da Cordula ihn bittet, auch das zu übernehmen, verlässt Karl erneut folgsam das Zimmer, klopft bei Matthäus an und betritt dessen Raum. Matthäus sitzt immer noch auf der Bettkante, liest in dem Heft und blättert dazu in seinem Wörterbuch.
„Cordula lässt fragen, wo hier im Raum eine Steckdose ist“, richtet Karl seinem Kollegen Cordulas Frage aus. Glücklicherweise hat Matthäus genau das gerade eben in der Broschüre nachgelesen und kann deshalb weiterhelfen. Ohne aufzublicken erklärt er Karl in kurzen Worten, dass die Steckdose unterhalb des Waschbeckens zu finden sei. Mit dieser Information geht Karl zurück zu Cordulas Zimmer und zeigt seiner erleichterten Kollegin die Steckdose.
In dem Moment ruft Matthäus Karl herbei. Artig verlässt dieser Cordulas Zimmer und geht zu seinem Kollegen. Matthäus hat das Heft mittlerweile durchgearbeitet und versucht gerade, seinen schwarzen Lederkoffer in der Schublade unter dem Bett zu verstauen. Nur leider ist der Koffer zu groß, als dass er in die – aufgrund des Platzmangels nicht ganz zu öffnende – Schublade hineinpasste. Deshalb fordert Matthäus seinen Kollegen auf, ihm dabei zu helfen, das Bett so zu verrücken, dass sich die Schublade ganz öffnen lässt. Mit vereinten Kräften schieben die beiden das Bett zur Seite. Das hat zwar tatsächlich zur Folge, dass sich die Schublade nun weit genug öffnen lässt. Aber dafür zeigt sich auf dem Boden, wo eben noch das Bett stand, eine derart dicke und fiese Staubschicht, dass Matthäus angewidert zurückschreckt und niest.
„Pfui, das ist ja ekelhaft!“, findet er und rümpft die Nase. „Karl, du hast doch vorhin berichtet, du hättest die Sauberkeit der Zimmer bereits einer umfassenden Inspektion unterzogen. Besonders gründlich kannst du dabei nicht vorgegangen sein, wenn dir sogar dieser widerliche Unflat durch die Lappen gegangen ist. Auf dich ist wirklich kein Verlass! Nun rücke zumindest deine Nachlässigkeit zurecht und melde dieses Übel an der Rezeption! Die sollen unverzüglich jemanden vorbeischicken, der hier mal ordentlich sauber macht“, weist Matthäus seinen Kollegen an.
Folgsam verlässt Karl das Zimmer und geht in Richtung der Rezeption, um sich dort in Matthäus' Namen zu beschweren. Doch leider ist es hier derzeit so voll, dass sich Karl kein Gehör verschaffen kann. So marschiert er erfolglos zurück. Gerade möchte er sich in Matthäus' Zimmer begeben, um seinem Kollegen hiervon Mitteilung zu machen, als Cordula aus dem Nachbarzimmer ruft: „Karl, kommst du mal eben?“
Also lässt Karl von Matthäus' Tür ab und geht wieder einmal zu Cordula herüber. Diese ist immer noch damit zugange, ihre Habseligkeiten in ihrem Zimmer unterzubringen, musste dabei aber feststellen, dass an dem Kleiderständer die Bügel fehlen. Deshalb fragt sie Karl, ob dieser ihr wohl von seinen Bügeln welche zur Verfügung stellen würde. Dazu ist Karl natürlich gerne bereit, zumal er sowieso vorhat, die folgenden Tage aus Koffer und Rucksack zu leben, und deshalb selbst gar keine Bügel benötigt. Also geht er gutwillig zu seinem Zimmer, um von dort seine eigenen sieben Bügel zu holen. Gerade hat er sie ergriffen, da stürmt Matthäus aufgebracht in den Raum.
„Karl, was machst du denn da?“, beschwert sich dieser. „Ich habe dich doch soeben freundlichst gebeten, für mich zur Rezeption zu gehen und da mal ordentlich Dampf zu machen, damit die jemanden vorbeischicken, der mein Zimmer gründlich reinigt. Aber nein, du gehst einfach tatenlos zurück in dein Zimmer. Also, ich muss schon sagen: Du bist wirklich sehr ungefällig. Da habe ich mir mehr von dir erhofft.“
Karl versucht gerade, zu einer Erklärung anzusetzen, da hören er und Matthäus aus Cordulas Zimmer ein lautes Gerumpel. Schnell laufen sie zu ihrer Kollegin herüber. Cordula ist versehentlich gegen den Kleiderständer gestoßen und dieser ist krachend in sich zusammengefallen. Während Karl sich freundlicherweise sogleich bemüht, den Kleiderständer zusammen mit Cordula wieder aufzubauen, eilt Matthäus jetzt selbst zur Rezeption, um sich dort zu beschweren. Er drängelt sich einfach vor die wartende Menge und erklärt sein Anliegen. Da momentan niemand zur Verfügung steht, der sich der Verschmutzung annehmen könnte, reicht der Hostelbesitzer Jesper dem verdutzten Matthäus einfach einen Staubsauger, damit dieser die Verunreinigung selber beseitigen kann.
Leise vor sich hin motzend und das Gesicht verziehend nimmt Matthäus den Staubsauger entgegen und geht zurück zu seinem Zimmer. Leider muss er dort feststellen, dass seine Steckdose nicht funktionstüchtig ist. Also geht er in das Zimmer von Cordula, die gerade gemeinsam mit Karl den Wiederaufbau des Kleiderständers erfolgreich beendet hat. Da allerdings die Steckdose in Cordulas Zimmer durch ihren Fotoapparat blockiert ist, bietet Karl seinem Kollegen die Steckdose in seinem Zimmer an. Zum Glück ist das Staubsaugerkabel lang genug. Nach seiner Saugaktion stellt Matthäus den Staubsauger einfach in Karls Zimmer ab, da ihm der Weg zur Rezeption zu weit ist. Karl, der zeitgleich den Raum betritt, stört sich daran nicht. Während sein Kollege auf den Flur eilt und die Tür schwungvoll zuwirft, zieht sich Karl die Schuhe aus und legt sich aufs Bett. Wer weiß, wann Matthäus endlich mit allem fertig ist? Der ganze Trubel hat Karl sehr ermüdet. Er gähnt und einen Moment später ist er mal wieder eingeschlafen.
Matthäus, Cordula und Karl sind natürlich nicht die Einzigen, die sich das Reiseschnäppchen ins Hostel nicht entgehen lassen konnten. Und so kommen neben dem Bus unserer drei Kollegen noch zwei weitere aus verschiedenen Teilen Deutschlands und sogar einer aus Großbritannien an diesem Vormittag in Kopenhagen am Hostel an. Der Bus mit Matthäus, Cordula und Karl war der erste, der hier heute eingetroffen ist. Da sich die drei auf Matthäus' Drängen so beeilt hatten, kamen sie ja sehr zügig an der Rezeption an und konnten schnell einchecken. Den meisten anderen Gästen wird dieses Glück leider nicht zuteil, denn die Schlange an Wartenden wird immer länger und reicht schon längst bis weit auf die Straße hinaus.
In der Schlange steht Konrad. Er war zwar mit demselben Bus gefahren wie unsere drei Kollegen, hat sich allerdings wesentlich weniger beeilt als diese. Matthäus war er schon auf dem Rastplatz kurz vor der Fährüberfahrt nach Dänemark als ein wenig sonderbar aufgefallen. Konrad ist ein überaus zerstreuter Geschäftsmann. Schon wieder starrt er konzentriert und ununterbrochen auf seinen Laptop, den er fast immer mit sich trägt. Für ihn ist dies der erste Urlaub seit über zwanzig Jahren. Für Konrad nämlich gibt es nichts Wichtigeres als die Arbeit an seinem Computer. Jahr für Jahr arbeitete er Tag und Nacht daran und hat nicht einen einzigen Tag Urlaub genommen. Seine ständige Arbeit hatte aber leider zur Folge, dass er mit der Zeit zunehmend weltentfremdet, exzentrisch und idealistisch geworden ist. Daher hat sein Arbeitgeber ihm diese Reise nach Kopenhagen zwangsweise zur Erholung verordnet. Nur fällt es Konrad auch hier in Kopenhagen sehr schwer, sich von seiner Arbeit zu lösen. Und so merkt er gar nicht, wie vor ihm mehr und mehr Leute einchecken und er schließlich an der Reihe ist.
„Der Nächste bitte“, ruft Jesper und Konrad blickt überrascht auf. Geistesabwesend geht er nach vorne zur Rezeption und nennt seinen Namen. Jesper reicht Konrad einen Schlüssel für sein reserviertes Mehrbettzimmer im siebten Obergeschoss und legt ihm noch ein Formular zum Ausfüllen vor.
Hinter Konrad in der Schlange steht eine andere eigenartige Gestalt – und zwar Aidin, ein Schotte mit Schottenrock, der immerzu auf seinem Dudelsack spielt. Auch jetzt. Konrad fühlt sich furchtbar gestört. Als er schließlich mit dem Ausfüllen des Formulars fertig ist, begibt sich Konrad eilig zum Treppenhaus und Aidin kommt dran.
„Hello, my name ist Aidin. Ich komme aus Scotland. Ich habe reserved ein Bett in einem room für sechs people“, sagt er in schottischem Akzent und spielt eine kurze Melodie auf seinem Dudelsack. „This is ein Dudelsack“, erklärt er wissend.
Hinter Aidin amüsiert sich jemand prächtig – und das ist Seppel. Seppel kommt aus Bayern, trägt eine Lederhose und einen traditionell bayrischen Filzhut mit einer Feder. Er grinst Aidin, der sich überrascht umdreht, freundlich an.
„Very pleased“, sagt Aidin, deutet eine höfliche Verbeugung an, lässt sich dann von Jesper einen Schlüssel aushändigen und macht sich auf den Weg in Richtung Aufzug. Nun kann Seppel einchecken.
„Servus, i bin da Seppl! Hobt ihr a Woassbia fia mi?“, fragt er den Hostelbesitzer in seinem bayrischen Dialekt. Jesper zuckt nur fragend mit den Schultern. Er hat nichts verstanden. Er spricht zwar gut Deutsch, da viele seiner Gäste aus Deutschland kommen, aber eben kein Bayrisch. Grinsend nimmt Seppel seinen Schlüssel entgegen und steuert den Aufzug an.
Als Nächster steht der britische Guard Sheldon mit roter Uniform und einer hohen schwarzen Bärenfellmütze auf dem Kopf in der Schlange. Das erste Mal in seinem Leben wurde er von der Queen persönlich in den Urlaub geschickt. Mit strenger Miene tritt er vor und nennt seinen Namen. Man reicht ihm den Schlüssel und auch Sheldon marschiert zum Fahrstuhl. Weitere Gäste folgen.
Wie es der Zufall will, stehen genau diese vier, also Konrad, Aidin, Seppel und Sheldon, etwa zehn Minuten später zusammen mit zwei anderen Personen – Werner und Ansgar – auf dem Gang im siebten Obergeschoss vor einer Zimmertür. Alle sechs haben nämlich je ein Bett in einem Mehrbettzimmer reserviert und werden sich für die nächsten Tage ein Sechsbettzimmer teilen. Werner schließt die Tür auf. Das Mehrbettzimmer ist – ebenso wie die Einzelzimmer im Erdgeschoss – ziemlich klein und sehr spartanisch eingerichtet. Drei Hochbetten mit Eisengestellen stehen eng nebeneinander. Unter den unteren Matratzen befinden sich jeweils zwei große Schubladen. Auf der einen Seite ist eine breite Fensterfront, auf der anderen Seite befinden sich das kleine Badezimmer sowie die Eingangstür, durch die die sechs nun ihr Zimmer betreten. Schnell hat sich jeder ein Bett reserviert: Aidin, Sheldon und Konrad schlafen jeweils auf einer der unteren Matratzen, Ansgar, Seppel und Werner erhalten jeder eines der oberen Betten. Aidin nimmt seinen dicken Lederkoffer und sucht nach einem Kleiderschrank.
„Has anybody seen einen Kleiderschrank?“, fragt er in die Runde.
„Nee, hob i ned, aba macht nichts“, antwortet Seppel. Er trägt sowieso immerzu dieselbe Lederhose und hat als Gepäck nur einen kleinen Rucksack dabei. Sheldon entdeckt als Erster die großen Schubladen unter den Betten, in die man seine Koffer legen soll. Nachdem Aidin den seinigen in einer Schublade verstaut hat, nimmt er seinen Dudelsack zur Hand und beginnt darauf zu spielen. Sheldon setzt sich auf einen Stuhl und kämmt feinsäuberlich seine schwarze Bärenfellmütze. Ansgar blickt aus dem Fenster, Seppel isst eine mitgebrachte Brezel und Werner macht einen Pups. Und Konrad? Konrad hat sich auf der Bettkante niedergelassen, ist in ein Computerprogramm vertieft und versucht, sich sowohl die Nase als auch die Ohren zuzuhalten. Aber das funktioniert gar nicht gut.
Karl schreckt hoch. Ein lautes Geräusch hat ihn aufgeweckt. Er öffnet die Augen und sieht sich verwundert um. Er liegt in einem sehr schmalen Bett in einem winzigen, ihm unbekannten Raum. Wo kann er nur sein? Zunächst findet sich Karl überhaupt nicht zurecht. Doch dann erinnert er sich: Er ist in seinem Zimmer im Hostel in Kopenhagen – in dem Zimmer mit der Nummer 7. Karl blickt auf seine digitale Armbanduhr: Es ist ein Uhr mittags. Lange kann er also nicht geschlafen haben. Dann hört Karl erneut dieses Geräusch, das ihn soeben aus dem Schlaf gerissen hat. Kein Zweifel: Irgendwer bummert gegen seine Zimmertür – und zwar ziemlich heftig. Er hört jemanden nach sich rufen: „Karl, bist du endlich fertig?“
Karl erkennt die Stimme sofort. Es ist die seines Kollegen Matthäus. Er und Cordula stehen vor Karls Zimmertür und wollen jetzt aufbrechen. Schnell springt Karl aus dem Bett, läuft auf seinen grünen Sportsocken zur Tür und öffnet diese.
„Bist du endlich so weit? Wir wollen losgehen. Wir beide sind schon lange fertig und du hast alle Zeit der Welt“, tadelt Matthäus Karl vorwurfsvoll. Eingeschüchtert eilt dieser wieder in sein Zimmer, zieht sich seine Schuhe und seine Regenjacke an und läuft zu seinen beiden Kollegen, die an der Tür auf ihn warten, zurück.
„Na endlich“, meint Matthäus. „Dann können wir ja jetzt starten.“
„Wohin gehen wir eigentlich?“, meldet sich Karl zaghaft zu Wort.
„Um halb drei beginnt doch die Stadtführung, Karl. Und Matthäus und ich haben uns entschlossen, die Zeit bis dahin sinnvoll zu nutzen und uns schon einmal auf eigene Faust ein wenig in der Stadt umzusehen. Na, was hältst du davon?“, erläutert Cordula voller guter Laune ihr Vorhaben. Karl hält davon nicht sonderlich viel. Lieber würde er noch eine Weile in seinem Bett ruhen. Aber seinen beiden Kollegen will er sich natürlich nicht widersetzen. Also schreiten die drei durch den Gang und dann durch den Eingangsraum, in dem sie sich durch das Getümmel an neuankommenden Gästen drängen müssen. Schließlich stehen sie auf der Straße vor dem Hostel und sehen sich um.
„Wo gehts denn lang?“, fragt Cordula ihre Kollegen. Sie blickt zunächst zu Karl, der davon nicht den Hauch einer Ahnung hat, und dann zu Matthäus. Dieser ist selbstverständlich bestens vorbereitet.
„Das Hostel befindet sich in der Nähe des dreiflügeligen Repräsentantenhauses Schloss Christiansborg und der alten Börse, die insbesondere für ihren verschlungenen Dachreiter bekannt ist. Deshalb werden wir dort als Erstes hingehen“, legt Matthäus fachkundig dar.
„Fantastisch!“, ruft Cordula erfreut. Dann geht sie auf die andere Straßenseite, um ein Foto vom Hostel zu schießen, was sich aufgrund der Breite des Gebäudes nicht ganz einfach gestaltet.
„Bevor wir allerdings unseren Fokus auf die touristischen Events der Stadt legen wollen, muss ich noch schnell mein Geld wechseln“, erläutert Matthäus unterdessen.
„Was willst du wechseln?“, fragt Karl, der nur mit einem Ohr zugehört hat, verwundert nach.
„Na, Euros in Dänische Kronen eben, was sonst? Hast du das etwa auch noch nicht gemacht?“, erwidert Matthäus.
„Nein, hab ich nicht“, antwortet Karl kleinlaut und unsicher, versteht aber nicht recht, worauf Matthäus eigentlich hinauswill. Er erwartet, sein Kollege werde ihn jetzt aufgrund dieses Versäumnisses zurechtweisen. Doch da irrt er sich gewaltig.
„Das war aber ungewöhnlich clever von dir“, entgegnet Matthäus nämlich zu Karls großer Verwunderung. „Immerhin dürften hier in Kopenhagen die Wechselkurse wesentlich günstiger sein als bei uns zu Hause. Wir müssen also nur schnell eine Bank finden und dann können wir beide unser Geld wechseln.“
„Bank finden? Geld wechseln?“, erkundigt sich Cordula, die, während sie ihr Foto gemacht hat, dem Gespräch der beiden nicht folgen konnte und nur Matthäus' letzte Wortfetzen mitbekommen hat. „Habt ihr beide das etwa noch nicht erledigt?“, fragt sie vorwurfsvoll.
„Selbstverständlich nicht. Die Wechselkurse für Dänische Kronen hier in Kopenhagen sind deutlich besser als in unseren heimischen Banken. Dies ist ja wohl allgemein bekannt. Und deshalb ist es nur höchst clever von mir – und überraschenderweise sogar von Karl –, dass wir das erst jetzt erledigen“, entgegnet Matthäus überzeugt. Cordula hingegen kann dieser Art der Cleverness wenig abgewinnen.
„Och nee, ihr beiden! Das darf doch jetzt nicht wahr sein! Da sind wir nach so vielen Stunden Busfahrt endlich in Kopenhagen angekommen, wollen die Stadt besichtigen und ganz viele tolle Fotos schießen. So viel Zeit haben wir nun auch wieder nicht, bis die Stadtführung beginnt. Bis dahin müssen wir auf jeden Fall zurück sein. Und jetzt müssen wir wegen euch zunächst einmal stundenlang durch die Stadt irren, damit ihr irgendwo Kronen eintauschen könnt. Und das nur, weil ihr beide zu geizig seid. Ihr solltet euch wirklich schämen!“, tadelt Cordula ihre Kollegen.
„Also, eigentlich stimmt das nicht so ganz. Ich äh …“, setzt Karl zu einer Richtigstellung der Tatsachen an, überlegt es sich dann aber doch anders. Ihm war gar nicht bewusst, dass man in Dänemark nicht mit Euro bezahlt und er deshalb sein Geld in Kronen eintauschen muss. Einzig und allein aus diesem Grund hat er dies noch nicht erledigt, nicht etwa aus Geiz – und erst recht nicht aus Klugheit. Doch das möchte er seinen Kollegen lieber nicht offenbaren. Vor allem Matthäus, der ihn eben noch so gelobt hat, würde ihn bestimmt auslachen. Also weiß Karl nicht so recht, was er jetzt weiter sagen soll. Unerwartet hilft ihm Matthäus aus der Patsche:
„Karl hat völlig recht. Das stimmt wirklich nicht so ganz. Wir müssen doch nicht stundenlang durch die Stadt irren, nur um ein paar Kronen einzutauschen. Wir befinden uns gar nicht weit entfernt vom Kongens Nytorv, an dem die Haupteinkaufsstraße Strøget beginnt. Dort finden wir bestimmt haufenweise Banken und Wechselstuben“, legt Matthäus dar und trotz Cordulas vorwurfsvollem Kopfschütteln machen sich die drei Kollegen nun auf den Weg.
Tatsächlich behält Matthäus recht: Die drei sind keine fünf Minuten unterwegs, da entdeckt Matthäus ein großes Bankgebäude.
„Da vorne ist eine Bank. Dort werden der Karl und ich jetzt reingehen und unser Geld wechseln. Und wenn das erledigt ist, haben wir immer noch Zeit genug“, führt Matthäus aus und steuert zielstrebig auf den Eingang des Bankgebäudes zu. Unsicher blickt Karl zu Cordula, die genervt die Backen aufbläst und geräuschvoll die Luft wieder entweichen lässt. Dann folgt er dem voraneilenden Matthäus durch eine gläserne Drehtür ins Innere des Gebäudes.
In der Eingangshalle angekommen sieht Karl eine Reihe von Schaltern. Glücklicherweise ist die Bank derzeit nicht gut besucht. Der einzige andere Kunde neben ihm ist Matthäus, der bereits an einem Schalter steht und in seinem dänischen Wörterbuch blättert. Zögerlich steuert Karl einen anderen Schalter an und wird sogleich freundlich – wohl aber auf Dänisch – begrüßt. Natürlich versteht er kein Wort. Aber das ist gar nicht weiter schlimm. Aus seinem Portemonnaie holt Karl einige Geldscheine heraus, legt sie auf den Tresen und sagt laut: „Kronen.“
Das scheint die Bankangestellte verstanden zu haben. Sie greift nach Karls Geldscheinen, zählt nach, öffnet eine Kasse, verstaut dort das Geld und entnimmt ihr eine abgezählte Menge an Dänischen Kronen2 in Scheinen, die sie zum Nachzählen vor Karls Augen auffächert. Dieser nimmt das Geld entgegen, nickt dankbar, dreht sich um und steuert zufrieden den Ausgang an. Er ist richtig stolz auf sich. Er hat es geschafft. Und es war gar nicht so schwer, wie Karl dachte.
Dann fällt sein Blick auf seinen Kollegen Matthäus. Dieser steht immer noch an seinem Schalter und fuchtelt wild mit einer Hand in der Luft herum. Mit der anderen Hand blättert er hektisch in seinem dänischen Wörterbuch, das er auf dem Tresen abgelegt hat. Karl ist zu weit entfernt, um zu verstehen, was Matthäus von sich gibt, aber nach seiner wilden Gestikulation zu urteilen, befindet er sich in einer ziemlich harten Geschäftsverhandlung. Darauf lässt auch der verzweifelte Blick seines Gegenübers schließen.
Anders als Karl hat Matthäus natürlich nicht einfach Geld auf den Tresen gelegt und sich eine entsprechende Anzahl an Kronen aushändigen lassen, sondern sich zunächst mithilfe seines Wörterbuchs nach dem aktuellen Wechselkurs erkundigt. Denn selbstverständlich möchte er sein Geld zu einem möglichst günstigen Kurs eintauschen. Der Mann am Schalter hat Matthäus bereitwillig Auskunft über den Kurs erteilt. Nur ist Matthäus mit dem genannten Wechselkurs ganz und gar nicht einverstanden. Schließlich hat er extra sein Geld noch nicht zu Hause gewechselt, um hier ein besonders gutes Geschäft zu machen. Und nun versucht er, mit dem Bankangestellten zu verhandeln, um einen besseren Kurs zu erhalten. Doch das ist selbstverständlich nicht möglich und so bleiben seine Bemühungen leider ohne substantielles Ergebnis.
Mittlerweile ist Karl wieder draußen vor der Tür bei Cordula angekommen.
„Wo hast du denn Matthäus gelassen?“, erkundigt sich diese verwundert, als sie sieht, dass Karl ganz alleine ist.
„Ich weiß nicht. Der stand noch am Schalter“, antwortet Karl. Genervt warten die beiden auf ihren Kollegen. Seit Karl die Bank verlassen hat, sind nun bereits über fünf Minuten vergangen.
„Wo bleibt nur Matthäus?“, fragt Cordula und blickt wütend zur Eingangstür der Bank. Sie will gerade hineingehen, um ihren Kollegen eigenhändig aus dem Gebäude zu tragen, als ebendieser selbstsicher aus der Tür auf die Straße tritt. Nach zehn Minuten intensiver Verhandlung hat er schließlich aufgegeben und sich unverrichteter Dinge kopfschüttelnd auf den Weg nach draußen begeben.
„Da bin ich schon“, sagt Matthäus, als er Cordula auf sich zustürmen sieht.
„Na, das wurde auch langsam Zeit. Dann wäre das ja endlich erledigt und wir können die verbleibende Zeit wichtigeren Dingen widmen“, entgegnet Cordula vorwurfsvoll. „Karl hat das alles übrigens sehr viel schneller geschafft als du.“
„Ich habe auch noch nichts gewechselt“, lässt Matthäus seine Kollegen wissen. „Und wenn Karl ein bisschen schlauer gewesen wäre, hätte er das genauso gemacht. Der Wechselkurs in dieser Bank ist nämlich noch schlechter als bei uns zu Hause. Das habe ich mir natürlich nicht bieten lassen. Mithilfe meines dänischen Wörterbuchs bin ich selbstverständlich sofort in die Verhandlung eingestiegen. Dieser inkompetente Geizkragen von der Bank teilte mir zwar gleich zu Anfang mit, ich könne gerne auch auf Deutsch mit ihm sprechen, aber das hätte gerade noch gefehlt! Wir sind hier in Dänemark und da hat man sich den örtlichen Gegebenheiten anzupassen und mit Einheimischen auf Dänisch zu kommunizieren. Das gilt erst recht für intensive Wortgefechte auf hohem Niveau.
Kurz vor unserer Reise habe ich noch das Harvard-Konzept studiert. Hierbei handelt es sich um eine besonders effektive und sachgerechte Verhandlungsmethode. Mit meinem auf diese Weise hervorragenden Verhandlungsgeschick habe ich denen ein faires Angebot unterbreitet – ein sehr faires Angebot. Aber die sind nicht darauf eingegangen. Pech gehabt! Die haben sich ein sehr gutes Geschäft entgehen lassen. Und es ist ja auch nicht so, als wäre ich auf die angewiesen. Die hätten sich geehrt fühlen müssen, mit mir Geschäfte zu machen. Aber nein, diese Ehre kommt nun einer anderen Bank zu“, referiert Matthäus.
Cordula und Karl hingegen sind skeptisch. Doch gerade als Cordula zu einer Erwiderung ansetzen will, hat Matthäus bereits eine weitere Bank direkt neben der ersten entdeckt und bewegt sich zügig auf den Eingang zu.
„Wartet einen Moment. Ich bin gleich wieder da“, meint er optimistisch und verschwindet hinter einer Glastür.
Während Karl interessiert auf die Speisekarte einer nahegelegenen Imbissbude mit ein paar Tischen und Stühlen unter einer bunten Markise vor der Tür schaut, blickt Cordula Matthäus zweifelnd hinterher. Sie kann dessen Zuversicht nicht ganz teilen, denn, dass Matthäus in dieser Bank einen Angestellten findet, der mit sich über den Wechselkurs verhandeln lässt, hält sie für außerordentlich unwahrscheinlich.
„Na, ob Matthäus dort wohl mehr Erfolg haben wird? Ich wage das zu bezweifeln. Was meinst du, Karl?“, fragt Cordula Karl.
„Ich weiß nicht“, gesteht dieser. Ihm ist es im Grunde auch einerlei. Er hat ja sein Geld schon. Und da er sein Geld bereits hat, kann er damit auch etwas kaufen. Und Karl hat Hunger. Schließlich ist es Mittag und es ist schon eine ganze Weile her, dass er das letzte Mal etwas zu sich genommen hat. Daher beschließt Karl, in die Imbissbude zu gehen, um sich dort ein leckeres, dickes Fischbrötchen zu kaufen.
„Ich geh nur rasch in die Bude und hol mir was zu essen. Ich hab nämlich Hunger“, erklärt er seiner Kollegin.
„Lass dir ruhig Zeit. Bis Matthäus fertig ist, das wird gewiss noch eine Weile dauern“, meint Cordula zu Karl, der schnell in der Imbissbude verschwindet. Hier riecht es sehr lecker. Doch leider ist er nicht der Einzige, den der Hunger hierhin verschlagen hat. Einige andere Leute stehen bereits an der Theke an und so muss Karl eine ganze Weile warten, bis er endlich an der Reihe ist und seine Bestellung aufgeben kann.
Unterdessen versucht Matthäus abermals, mithilfe seines dänischen Wörterbuchs, seines cleveren Verhandlungsgeschicks und unter Anwendung des Harvard-Konzepts einen Bankangestellten dazu zu veranlassen, ihm einen besseren als den angebotenen Wechselkurs zu gewähren. Aber auch in dieser Bank ist all seine Mühe umsonst. Der Bankangestellte bleibt unnachgiebig und weist jegliche Kompromissangebote entschieden zurück. Als Matthäus dies nach einigen Minuten gewahr wird, stapft er entrüstet nach draußen, wo sich Cordula die Zeit mit Fotografieren vertreibt.