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Karl Tormann, ein rheinischer Mensch unserer Zeit, ist ein Phantast, ein Träumer, ein unfähiger Politiker und ein verkrümmter Ideologe. Weil er zu viel will, vollbringt er nichts. Mit der Forderung zur erotischen Revolution beginnt der Roman, und es erfolgt Kühnes auf den kommenden Seiten, das Postulat einer neuen Moral und einer freieren Liebesgemeinschaft der Geschlechter. Aber es geht dem Autor auch um die Rheinlandbesetzung, den wechselvollen Kampf der beiden Mächte seit dem Vertrag von Verdun, den Schmuggel im Saargebiet, Währungskatastrophen, Spitzeltum, separatistische Machenschaften und Münchener Feme. Karl Tormanns Leben ist eine veritable Achterbahnfahrt. Der Autor Peter Bender wurde 1943 wegen Kritik am NS-Regime denunziert und verhaftet und starb 1944 im KZ Mauthausen.
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Seitenzahl: 634
Veröffentlichungsjahr: 2025
Karl Tormann
Ein rheinischer Mensch unserer Zeit
PETER BENDER
Karl Tormann, P. Bender
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783988681829
Dieses Werk folgt der Originalausgabe des Jahres 1927, erschienen im Verlag Die Wölfe Leipzig. Quelle: http://digital.bib-bvb.de/webclient/DeliveryManager?custom_att_2=simple_viewer&pid=17882427&application=SOA&search_terms=.
www.jazzybee-verlag.de
Erstes Buch: Die erotische Revolution. 1
Der Kuss. 1
Besetztes Gebiet8
Der Abbé. 16
Die Versammlung. 24
Margarete. 33
Die öffentliche Meinung. 42
Die Gemeinde. 51
Die Anklage. 61
Kriegserinnerungen. 71
Irrenhaus. 82
Das Gericht93
Gefängnis. 104
Zweites Buch: Der Kampf ums Dasein. 117
Geldsorgen. 117
Freiheit124
Der Dämon. 127
Das Echo von Rhein und Ruhr136
Das zweite Gesicht des Dämons145
Heimkehr153
Arbeit162
Schwarze Börse. 169
Schmuggel am Rhein. 177
An der Saar186
Zwischen Mosel, Maas und Rhein. 195
Im deutschen Geldmeer203
Per aspera ad astra. 212
Drittes Buch. Separatismus. 224
Der Putsch in Aachen. 224
Die rheinische Volksvereinigung. 233
Der Rheinlandschutz. 242
Der Magistrat251
Der Sturm auf das Sekretariat258
Die Besatzungsbehörden. 265
Der pfälzische Kreistag. 271
Die beiden Fahnen. 278
Lina Roth stirbt285
Trauer292
Der Besuch. 298
Der Hitlerputsch in München. 303
Viertes Buch. Der Rhein.311
Siegfried. 311
Die Verzauberung. 319
Kriemhilde. 327
Der Kaisertraum... 333
Brünnhilde. 340
Die Wasser des Rheins. 346
Margaretes Dienst354
Gunther360
Hagen. 366
Die Rentenmark. 372
Die Feme. 378
Ex Oriente lux. 387
Ausgang: Die Auferstehung. 394
Der Okzident394
Die Kinder397
Der Verlag. 400
Der Orient404
Die Sonne sank im Westen und goss über den Himmel ein glühendes Rot, als Karl Tormann das Haus von Else Schreiner verließ und fliegenden Schrittes, vorbei an letzten Häusern und Gärten einer rheinischen Stadt, hinaus in die Landschaft eilte.
Das versinkende Feuer der Sonne vor Augen und doch wie blind in Flammen schreitend, musste er sich immer wieder vorstellen, wie Else hingebungsvoll an seiner Brust lag, wie die sonst Spröde still hielt und sich anschmiegte, als er sie fasste, wie sie von seinem heißen Blick durchglüht erschauerte und zitternd tief atmete in aufbrechender Lust, wie zuletzt im Druck seiner zärtlich pressenden Arme ihre Glieder locker wurden, während ihre Lippen, halb geöffnet, fast schmerzlich zuckten — oh, und dann sein erster Kuss auf diese Lippen!
Nur starke äußere, ungehemmte Bewegung ließ den inneren Aufruhr stumm ertragen: hätte er ruhig bleiben müssen, wäre Aufschrei oder lautes Seufzen im Erinnerungsrausch unvermeidlich geworden.
Unmöglich jetzt nach Hause zu gehen: dort deckte das Mädchen sicherlich schon zum Abendessen und Margarete, seine Frau, machte wohl die beiden Kinder für die Nacht fertig. Bald wurde er zu Hause vermisst...
Ganz flüchtig nur huschte diese Erwägung durch Tormanns Bewusstsein, als er eine Wegekreuzung auf der Höhe des Hügels westlich der Stadt erreicht hatte und einen Blick auf die rückwärts liegenden Häuser, Fabriken, Kirchen warf, die bis zum Rhein hin gebaut waren.
Dann aber setzte er den weg umso entschlossener nach Westen fort und überließ sich hemmungslos seinem Rausch.
Es dämmerte und dunkelte schließlich. Bäume und Sträucher verloren des Tages Farbe und Form im Schleier der anbrechenden Nacht. Letzte Abendglocken in umliegenden Dörfern verstummten.
Immer noch kreiste Tormanns Phantasie rastlos um den glückseligen Augenblick, wo sein Mund Elses zartfeuchte Lippen zum ersten Male fand: er hatte die Augen dabei schließen müssen und war versunken gewesen in dieser zuerst so sanften Berührung, als ob die ganze Welt darin enthalten wäre, ja die ganze Welt —, denn selbst ihr Körper und seine eigenen Glieder waren nicht mehr stoffgeformt wirklich und schwer geblieben, waren vielmehr wie Hauch und Duft irgendwie im Kuss aufgelöst.
Und jetzt, wo die Sonnenlichtwelt um ihn herum in Nacht und Nebel zerfloss, während er weiter nach Westen strebte, entschwand wieder seine Körperlichkeit und Schwere und schäumte auf in einer phantastischen Wiedergeburt von Elses Gestalt und Formen: küssend hatte er unbewusst die Geliebte eingesogen — mit Brust und Wangen, mit Armen und Beinen und tastend-trinkender Haut —, als ihre Lippen aufeinander ruhten.
Was Erde — was Himmel: es gab nur noch ein Lippenpaar, in dessen Berührung sich die Welt zum Weibe wandelte. Er spürte kaum noch Boden unter den Füßen, er ging nicht mehr, er schwebte und ward knetende Hand im Weltall, die Urstoff ballte, wenn auch Passanten nur einen einsamen Wanderer sahen: manche wünschten "Guten Abend", ohne Gegengruß zu erhalten.
Tormann küsste, küsste immer wieder, küsste mit Mund, Hand und Haut, bis sich Stoff lebendig regte und zur Weibsgestalt formte, nackt und lichtschimmernd: oft hatte er Else beim Baden in Wasser und Sonne so gesehen.
Doch welche Wandlung! welche Steigerung seiner Sehnsucht, seines brennenden Verlangens nach Küssen von ihr, vom Weibe seiner abendlichen Phantasie, von Else Schreiner als wollüstig ergebener Frau, die mit allem küsst und kost, was Natur ihr an männerbeglückenden Reizen und Organen verliehen hat.
Wie ein Blitz aus lange geballtem, düsterem Gewölk zuckte und flammte die Sehnsucht in ihm auf und gab seinem Rausch irdisch-menschliche Richtung in der Erscheinung dieser Frau, die er nun schon Jahre hindurch kannte, verehrte, ja auch liebte, doch ohne sie seither je begehrt zu haben.
Da tauchte irgendwo im Gebräu seiner jagenden Vorstellungen der erstaunt fragende Blick ihres Gatten auf, des Herrn Schreiner, den er beim Weggehen mit auffälliger Zerstreutheit noch begrüßt hatte. Philipp Schreiners Augen hatten sich geweitet und die schwarzen Pupillen, als ob sie inzwischen immer größer geworden wären, gähnten jetzt in Tormanns Gedächtnis auf zu dunklen Abgründen.
"Wohin lasse ich mich treiben?" fragte er sich plötzlich.
Er war umgekehrt, ohne eigentlich einen Entschluss dazu gefasst zu haben, doch begann der Rückweg in völlig veränderter Haltung und Gangart.
Seine Füße hafteten wieder fest an der Erde, seine Augen fanden wieder Grenzen in der blauen Kuppel des Himmels, wo Sterne erwachten: er war wieder Mensch in Natur und Landschaft.
Bald schob sich das Häusermeer der Stadt ins Blickfeld. Lichter erglänzten darin, weiter hinten sah man erleuchtete Rheinbrücken wie Ketten aus Lichtperlen von Ufer zu Ufer über dem Strome hängen.
Erst im Angesicht der Stadt kam es Tormann völlig zu Bewusstsein, wie sehr der Kuss und seine phantastische Sehnsucht allem widersprachen, was ihm seither an erotischen Beziehungen zwischen Mann und Weib einzig erlaubt und verehrungswürdig erschien.
Er dachte an Margarete, an die Kinder, an Verwandte und Bekannte in der Stadt und sonstwo: was hatte er nicht alles an Worten, Gedanken und Bildern aufgeboten, um in unzähligen Gesprächen und zahlreichen Briefen die Ehe zu verteidigen, sie zu verteidigen als die allein berechtigte und menschenwürdige Form der Liebeserfüllung, wo auch immer das Thema der freien Liebe aufgeworfen und Triebleidenschaft als Quelle schöpferischer Kraft gepriesen wurde. Letzthin hatte er sogar den Plan erwogen, seinen Kampf gegen das außereheliche Liebesleben öffentlich weiterzuführen: Vorträge wollte er halten und vielleicht auch ein Buch schreiben.
Was ihn dazu getrieben hatte, war nicht christliche Gesinnung. Auch nicht eine andere anerkannte Religion oder Moral. Erfahrung war es, Erfahrung als Mensch und Mann in seiner ehelichen Gemeinschaft mit Margarete. Er hatte eine seelische Befreiung von verworrenen jugendlichen Neigungen erlebt; als Lebenskamerad und Ehemann sowie als Vater von Kindern war er zu einer geistigen Sammlung gekommen, zu einer inneren Geschlossenheit, die er vor seiner Ehe vergeblich gesucht hatte.
Im Kind als Ziel und Frucht der Paarung glaubte er die einzig mögliche Rechtfertigung für menschlichen Liebesverkehr gefunden zu haben. Seit Jahren war er dabei, das Geistesleben der Menschheit unter dem Gesichtswinkel der gesicherten Nachkommenschaft zu durchforschen und auch neu zurechtzurücken, soweit er mit persönlichem Einfluss in Zukunft rechnete.
Eine große Bibliothek von Büchern und Zeitschriften hatte er zusammengekauft. Ein Wust von Notizen und Entwürfen war entstanden, den er schon mehrere Male zerlegt und nach verschiedenen Gesichtspunkten geordnet hatte. Er wollte Spreu und Weizen in der Menschheitsentwicklung voneinander trennen: die Verherrlichung von Begierden und Leidenschaften in Wort, Schrift und Bild, in Malerei, Plastik, Musik, Dichtung oder auch in der gesamten Lebenshaltung mancher Völker betrachtete er als Ursache für deren Untergang; als Gegensatz dazu schwebte ihm eine Kultur vor, wo alles Geistige um die eheliche Dreieinigkeit aus Mann und Weib mit Kind kreiste.
Nichts hatte Gnade vor Tormanns streng prüfenden Augen gefunden, wenn es nicht Heiligkeit von Ehe und Familie anerkannte und sicherte, besonders in erotischen Dingen...
Und jetzt?
Ja, was war eigentlich jetzt?!
Jetzt lockte es ihn fast, öffentlich das Gegenteil zu vertreten.
Lockte? Nein, drängte ihn schon im selben Augenblick dazu, wo beim Herannahen der Stadt diese Möglichkeit vor ihm auftauchte.
Mit ungeheurer, nie erlebter Wucht stürzte sich sein Geist aus die neue Aufgabe, ein Schauder überlief ihn —, und wenn es wahr ist, dass weitläufige, fein ausgesponnene Träume oft im Bruchteil einer Sekunde zwischen Schlaf und Erwachen entstehen, so war es auf jeden Fall das Werk eines Augenblicks, dass Tormanns Anschauungen sich wandelten: es geschah fast unbewusst und jäh, ohne willen und doch sofort gewollt, es war, wie es mit Napoleons großer Armee hätte sein können, wenn ihr Marsch nach Osten rechtzeitig umgestellt worden wäre nach Westen...
Was Tormann im Sonnenuntergang erlebt hatte, glühte wie inneres Abendrot auf zum Brand junger Liebe, als sich der Weg stärker neigte, den ersten Gärten und Häusern der Stadt zu, die er wiederbetreten wollte als Kampfplatz. Kämpfen wollte er in Stadt und Menschengemeinschaft für Berechtigung der Liebeserfüllung, auch wenn sie auf außereheliche Wege führte; mit denselben Waffen, die er zum gegenteiligen Kampf geschmiedet hatte.
Eine gläubige Zuversicht, dass Umkehrung alles Positiven ins Negative logische Begründung für das Neue ganz von selbst ergeben müsse, erfüllte ihn und machte tausend noch aufsteigende Bedenken zu Öl, das die Flammen feuriger Sehnsucht nur stärker brennen und leuchten ließ.
Freilich blieb ein ungelöster Rest: sein Verhältnis zu Margarete und die möglichen Folgen einer außerehelichen geschlechtlichen Vereinigung...
"Hilfe! Hilfe!"
Aus nächster Nähe gellte weibliches Geschrei in den Abend.
Er eilte hinzu und fand drei marokkanisch-französische Soldaten, die ein Mädchen zerrend und ziehend zwingen wollten, mit ihnen von der Landstraße weg in die Felder zu gehen.
Tormann hörte das Klappern ihrer Bajonette, dachte an seinen derben Spazierstock; überlegte dann aber, dass List und Überraschung vielleicht bessere Waffen seien und rief sie in leicht verständlichem Französisch streng an:
"Qu’y a-t-il?"
Er wusste, dass sie solche einfachen Fragen: was ist da los? und ähnliches meist schon verstanden, wenn sie nach kurzem Drill in Frankreich zur Besatzungsarmee am Rhein kommandiert wurden. Er wollte sie vor allem durch gebieterischen Ton schrecken.
Dies gelang. Eingeschüchtert ließen die drei Kerle sofort von ihrem Opfer ab. Der eine rief mit angstheiserer Stimme: "Un officier en civil!!"
Fluchtartig entfernten sie sich. Tormann führte das befreite Mädchen der Stadt zu.
Als sich dieses mit einigen Brocken aus der französischen Sprache für den Ritterdienst bedanken wollte, sagte er ruhig: "Ich bin Deutscher! — Das war nur Theater, um die Kerle abzuschrecken."
Seine Begleiterin war freudig erstaunt. Sie rückte im Gehen näher und drückte seinen Arm zärtlich: "Ihr deutschen Männer habt doch mehr Schneid als diese Franzosen!"
"Es waren ja drei Marokkaner!" berichtigte er sachlich.
Sie jedoch schien nicht zu hören und zischelte ihm leicht keuchend ins Ohr, mit halb gespieltem Zorn in der Stimme, wobei ihr Mund dem seinen ganz nahe kam: "Der Große wollte mich partout küssen . Wer wird aber von so 'nem braunen Kerl einen Kuss haben wollen!?"
Bald erriet Tormann, dass sie einen Kuss von ihm haben wollte und bemerkte dann auch ihre lüsterne Erregung. In der Tat war sie jetzt, besonders ihm gegenüber, zu allem bereit, wo sie eben noch die Zudringlichkeiten der Soldaten so tapfer und hartnäckig abgewehrt hatte.
Heiß schlug ihr Atem herüber zu ihm. Sie war mittelgroß, schien kräftig, üppig. Sie bebte vor Erregung, während sie weiter dicht mit ihm zusammen ging. Taumel fasste ihn, als er Schritt für Schritt die schreitende Gestalt neben sich spürte. Sein Bewusstsein umschleierte sich...
Die Häuser rückten näher. Man hörte Schritte. Mit Anstrengung fand sich Tormann allmählich zurück zu sich selbst und wollte etwas abrücken, als er plötzlich bebende Arme um seinen Hals und heißfeuchten Mund auf seinen Lippen spürte. Er konnte es nicht hindern, sekundenlang mit brünstiger Gewalt geküsst und stürmisch vom Leibe dieses angriffsluftigen Weibes umschmeichelt zu werden, von Margarete und früheren Liebschaften her kannte er solche hemmungslose Leidenschaftlichkeit
Dann war sie mit einem hellen Lachen verschwunden, noch ehe er sich recht besinnen konnte.
Mechanisch setzte er seinen weg fort, weil jemand vorbeikam und ihn neugierig musterte, wie er so verzückt mitten auf der Straße stand, vergebens suchte er seine Gedanken von der Tatsache abzulenken, dass er die feurigen Liebkosungen erwidert hatte, waren seine Lippen anfänglich geschlossen gewesen, so hatte er sie zuletzt doch geöffnet, auch seinen Körper schließlich entgegengestemmt und die Küssende leicht gedrückt.
Hatte er damit die stillschweigend gelobte Liebestreue für Else Schreiner nicht gleich am Anfang gebrochen? Und seine Ehe am selben Tage zum zweiten Male schon? Und fiel nicht ein drohender Schatten von der rohen Geschlechtsgier der algerischen Soldaten und auch vom leidenschaftlichen Dankbarkeitskuss des befreiten Weibes zurück auf den ersten Kuss bei Else?
"Wohin werde ich getrieben?" fragte er sich wieder.
Überraschend war sein Liebesverlangen in die Sphäre jener unbeherrschten, triebgeborenen Leidenschaften gerückt, denen das seltsame Mädchen beinahe zum Opfer gefallen wäre.
Merkwürdig, dass Tormann trotzdem keine Reue empfand. Er hatte vielmehr das starke Gefühl eines Triumphes und Neubeginnens. Sein Herz schlug stärker. Sein Blut brauste in allen Zellen. Ja, mehr noch: herrisch erhob sich in ihm Begierde nach Wiederholung solcher Küsse, wie er sie heute gegeben und empfangen hatte. War nicht auch Else geständig, dass sie nach seinen Küssen und Zärtlichkeiten bangte?!
Freilich war bitterliches weinen das erste gewesen, als sie sich vom langen Kuss löste. Unter Tränen hatte sie ihn dann beschworen, fortan ihr Haus zu meiden, um den Widerstreit von Pflicht und Neigung in ihr nicht weiter zu vergrößern; ein Vorschlag und Ausweg, den sie gleich darauf selbst wieder verwerfen musste: Schreiners und Tormanns verkehrten seit Jahren freundschaftlich, sie trafen sich wöchentlich oft mehrere Male beieinander oder an drittem Ort; Abbruch des Verkehrs ohne offiziellen, mitteilbaren Grund wäre für Ehegatten und Bekanntenkreis völlig unverständlich gewesen, ja, würde erst recht Aufsehen erregt haben...
Süß aber war die Erinnerung daran, wie sie schließlich mit dem Aufgebot ihrer seither rein hausfraulich-ehefraulich entwickelten Vernunft einen weg durch den Wirrwarr von Vorurteilen und wünschen suchte; wie sie zwischendurch auch ans Telefon eilte, ihren Mann in der Fabrik anklingelte und scheinbar als Hausfrau wünsche für das Abendessen erfragte, in Wirklichkeit jedoch telefonierte, um sich zu vergewissern, ob Philipp noch nicht unterwegs sei; wie sie zuletzt aller Vorsicht und vorher gerühmten Ehefrauenwürde zum Trotz ihn zum Abschied von sich aus küsste und schelmisch sagte: "Zum letzten Mal!"
"Für heute!" hatte er hinzugefügt und war gegangen.
Wahrhaftig, er suchte nicht nach einem Modus vivendi auf altem Fuße, er suchte einen neuen Modus amandi...
Und suchte nicht auch sie danach? Auch ihr ging es sicher so, dass sie nichts Sündhaftes und verwerfliches sehen wollte, wo Kräfte voller Liebreiz und Beglückung die Seele bewegten. Wohl aber brauchte sie wie er eine sittliche Rechtfertigung und vernünftige Begründung für alles: ihre Eingabe durfte kein gewöhnlicher Ehebruch sein!
Inzwischen war er in die Mitte der Stadt gelangt. Dort befand sich das Lokal, welches er schon lange für den bisher geplanten Vortrag ins Auge gefasst hatte.
Einen Augenblick lang stutzte er, weil ihm noch einmal stark und deutlich vor Augen trat, was er ursprünglich hatte vortragen wollen. Dann aber war er entschlossen, den Umsturz seiner Anschauungen als erotische Revolution in die Öffentlichkeit zu tragen.
Zuversichtlich hoffte er, dadurch alle Hemmungen in Else Schreiner überwinden und Erfüllung seiner Sehnsucht erlangen zu können.
Tormann betrat das hell erleuchtete Restaurant im unteren Teil des Versammlungsgebäudes, um einen Saal zu mieten. Als er die Tür öffnete, blendete ihn das Licht. Er hatte auf seinem Wege durch die Stadt unbelebte Straßen gewählt, in denen kaum Laternen brannten, und musste sich an die Helligkeit jetzt erst gewöhnen.
Nur wenige Gäste saßen zerstreut an verschiedenen Tischen. Eine Kellnerin stellte blank geputzte Gläser für- größeren Andrang bei vorrückendem Abend zurecht. Es war die Zeit zwischen dem Abendessen in Familien und dem Ausgang der Familienväter und Junggesellen.
Er ging auf die Kellnerin zu, die etwas verwundert innehielt, weil der neue Gast an den Ausschank herankam:
"Guten Abend! Fräulein, kann ich den Inhaber des Lokals sprechen?"
"Gewiss, mein Herr! Er ist allerdings gerade beim Essen hinten in der Küche, doch kann ich ihn rufen, wenn Sie's eilig haben."
Als er abwehrte, fuhr sie dienstbeflissen fort: "Wollen der Herr nicht Platz nehmen! Etwas gefällig?"
Er bestellte ein Glas Rheinwein und setzte sich an einen Tisch.
Tormann dachte daran, dass ihn Margarete zuhause sicherlich schon lange mit Ungeduld erwartete, und hatte daher eigentlich große Eile. Er wollte aber die Unterhaltung mit dem Lokalbesitzer noch etwas hinauszögern, weil der schnelle Übergang aus seiner Einsamkeit von Phantasie und Erlebnis in die Sphäre menschlicher Gesellschaft ihn auch innerlich geblendet hatte.
Jäh war ihm beim Befragen des Schankmädchens bewusst geworden, dass er anfing, seine erotische Sehnsucht aus Natur und Landschaft in den Kreis der Menschen zu verlegen, in die Welt der Stadt und Zivilisation. Seine neuen, revolutionären Ansichten über das menschliche Liebesleben sprangen jetzt als Wort, Gebärde, Schrift auf andere über; ein Feuer wurde entfacht, ein Brand der Seelen, ein Rausch der Geister.
Mächtigen Trieb entkettete er von uralter Bindung durch Tradition und Sitte. Seine Erscheinung als Redner, seine Flugblätter, Schriften, Bücher sowie der Name Karl Tormann wurden Tor zum Reich neuer Freiheit, der Freiheit im Liebesleben, was für ihn persönlich im Kuss bei Else Schreiner spielerisch begonnen hatte, sollte ernste Forderung werden und öffentlich verkündetes Recht für alle.
Dies führte auf einen weg, von dem vorerst nicht abzusehen war, wo er endete; für Tormann freilich kein Grund zurückzuschrecken, da ja sein eigenes Ziel gegeben war und mit verführerischer Anziehungskraft lockte. Es leuchtete durch alle Bedenken hindurch, wie Sonne durch Wolken schimmert: Else, ihr Besitz, ihre Eingabe, ihre Küsse, ihr Aufgelöstsein in Lust.
Pfeile solcher Sehnsucht waren alle seine Gedanken zur bevorstehenden rednerisch-schriftstellerischen Wirksamkeit ...
Schneller als es ihm lieb war, kam der herbeigerufene Gastwirt: "Guten Abend, mein Herr! Sie wünschen mich zu sprechen?"
"Erste Gelegenheit, Sehnsuchtspfeile zu verschießen, abzuschnellen durch Worte, Sätze, Gesten, mit denen Menschen Verständigung suchen!" ermunterte sich Tormann.
Womit sollte er beginnen? Er ward ärgerlich darüber, dass er auch im Restaurant noch vor sich hingeträumt hatte, statt zu überlegen, wie er sich verständlich machen könne. Stotternd und stockend probierte er Worte, redete aber nicht vom Mieten eines Saales, wie es zweckentsprechend gewesen wäre, sondern vom Vortrag selbst.
Unbewusste Angst, dass Verhüllung persönlicher Absichten in Vortrag und Versammlung vielleicht misslinge, drängte ihn zu diesem ersten rednerischen Versuch aus dem Stegreif. Zwar bildeten dabei die wochenlangen grüblerischen Vorbereitungen des ursprünglich geplanten Vortrags auch Material für sein jetziges Vorhaben, nur sozusagen in logischer Umkehrung, doch fehlte noch die Geschicklichkeit in der Darstellung des neuen Gesichtspunktes, es fehlte noch, was man etwa literarische Etikette nennen könnte.
Sehr bald unterbrach ihn der Wirt, der überhaupt nichts verstand. Er war erwartungsvoll zuhörend über Tormanns Tisch gebeugt, auf dem noch unberührt der wein im Lichte funkelte: "Also einen Vortrag wollen Sie halten, wenn ich recht verstehe. — Und welcher Art soll er sein?"
Tormann war dem Blick des anderen gefolgt, als er seinen Wein streifte, und fühlte sich veranlasst, endlich davon zu trinken. Das gab eine Kunstpause, die aber seine Verlegenheit nur steigerte. Er kam aus dem Stocken und Stottern nicht heraus.
Der immer noch höflich zu ihm geneigte Wirt wehrte schließlich belehrend und beruhigend ab: "Mir brauchen Sie nicht im Einzelnen zu erklären, worüber Sie sprechen wollen. Das ist ganz Ihre Sache. — Ich muss nur wissen, ob der Vortrag im Rahmen eines Vereins, also geschlossen, stattfindet; oder ob er ganz öffentlich abgehalten werden soll. Dann, ob er politischen oder unpolitischen Charakter hat, weil Sie je nachdem Erlaubnis einholen müssen oder nicht."
Der Mann war dick. Er kam von einer reichlichen Mahlzeit. Das Stehen strengte ihn sichtlich an. Auf Tormanns Gesicht las er, dass kurze und klare Antwort nicht kommen würde. Also setzte er sich, um bequemer zuhören zu können.
Ein unerwartetes Hindernis: nicht nur ein Saal, auch noch Erlaubnis war vielleicht nötig zum Vortrag! Erlaubnis von wem? Und wovon abhängig?
Die eben gehörte Einteilung der öffentlichen Veranstaltungen war neu für Tormann. Er konnte damit nichts anfangen und überlegte zunächst widerwillig, ob sein Vortrag etwa politisch sei. Außerdem war es ihm peinlich, wie ihn die Fragen des anderen zur Rolle des unerfahrenen, weltfremden Menschen verdammten. Er durfte doch nicht unsicher erscheinen:
"Politisch?! –– Erlaubnis!? — — Ich verstehe nicht."
Er brach mitten im Satz ab. Sein Gesicht leuchtete auf. Ihm war etwas eingefallen, womit er dem anderen Überlegenheit beweisen wollte. Es war sein wissen um die "Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" gemäß Weimarer Verfassung: darin war doch Freiheit der Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit garantiert!
Eine Taschenausgabe dieser Verfassung trug Tormann bei sich, weil er oft darin las und daraus zitierte, seit er zum öffentlichen Kampfe gegen die allgemeine Zuchtlosigkeit in der Lebensgestaltung rüstete. Die gesetzliche Erfassung des Geschlechtslebens durch die Ehe stand dabei wohl im Mittelpunkt, aber auch für Auswirkung und Befriedigung aller anderen Triebe hatte er Ordnung und Regel gesucht: die Funktion des Staatsbürgers kam ergänzend zu seinem Ideal von Ehemann und Ehefrau hinzu, umfasste also das außergeschlechtliche Leben der Menschen und war ebenfalls streng und zuchtvoll gedacht.
So war er denn auch zum Studium der Weimarer Verfassung gekommen, hatte nachgeprüft, wie weit die verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten der Deutschen seinem Ideal entsprachen und wollte insbesondere schon sein öffentliches Auftreten selbst mit den geltenden gesetzlichen Bestimmungen in Einklang bringen; nicht zerstören, sondern erfüllen wollte er die gegebenen Formen.
Mit pathetischer Geste zog er das Buch aus der Tasche und fand wieder sichere Sprache: "Sie sprechen von Erlaubnis! — Das muss ein Irrtum sein!!"
Er blätterte eifrig suchend und fragte zwischendurch mit den Augen, ob der andere seinen Irrtum nicht einsehen wolle.
Dem Wirt aber kam der Widerspruch so unerwartet, dass er zunächst überhaupt auf Antwort verzichtete. Er verdaute und empfand jegliche geistige Anstrengung als Störung. Außerdem war er seiner Sache absolut sicher. Nachdenken war vollkommen überflüssig. Aus purer Höflichkeit machte er fragende Mienen und fand sich damit ab, noch etwas warten zu müssen.
Er war nicht einmal böse darüber, weil er so hinreichenden Grund zur Verdauungsruhe hatte, und rief der Kellnerin zu: "Ein Bier, Magda!"
Tormann atmete auf: vielleicht konnte er doch noch ohne diese mysteriöse Erlaubnis zu Saal und Vortrag kommen.
Er beglückwünschte sich schon zur Kenntnis der Weimarer Verfassung, erklärte lang und breit, was über die Freiheit der Meinungsäußerung und Versammlungen darin festgelegt sei, und zeigte schließlich Artikel 118, wo der Dicke murmelnd las:
"Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger weise frei zu äußern –– "
Tormann wartete, bis sein Gegenüber den ganzen Artikel zu Ende gelesen hatte, um ihn dann sofort weiter zu stoßen: "Wollen Sie bitte auch Artikel 123 lesen!"
Der andere drehte ein Blatt und murmelte weiter:
"Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder besondere Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln –– "
Schließlich blätterte der Wirt aus eigenem Antrieb weiter und hörte Tormanns Erklärungen kaum mehr zu. (öfters verneigte er sich vor neu ankommenden Gästen, die immer mehr Tische besetzten.
Bald war Tormann im Zweifel, ob er überhaupt noch angehört wurde, schwieg, nippte an seinem Wein und versank in Grübeleien: so leicht schien ursprünglich der Umweg über die Öffentlichkeit zu Else Schreiner —, und wie türmten sich Hindernisse jetzt schon auf, wenn wirklich und wahrhaftig Erlaubnis nötig war...
Der Wirt war am Schluss des Buches angekommen, wurde plötzlich aufmerksamer und sagte mehr zu sich selbst als zu Tormann:
"11. August 1919! — Und heute haben wir schon September 1921 — wie doch die Zeit vergeht! — Jetzt ist diese Verfassung schon mehr denn zwei Jahre verkündet und in Kraft, wenigstens im unbesetzten Deutschland."
Wieder voll zu Tormann sich wendend fuhr er fort: "Ja, für das unbesetzte Deutschland mögen Sie recht haben. Im besetzten Gebiet aber gilt der Wille der Rheinlandkommission. Und die verlangt eben Einholung von Erlaubnis für öffentliche Versammlungen. Eigentlich, das heißt dem Paragraphen nach, nur für politische, praktisch aber für alle!"
Bei seinen letzten Worten verneigte sich der Gastwirt besonders tief und devot. Tormann drehte den Kopf, um zu sehen, wer da so auffällig geehrt wurde: er bemerkte französische Offiziere und Zivilisten, letztere ihrem Aussehen nach offenbar auch Franzosen.
So wurde er gleich noch einmal daran erinnert, dass ja seit dem Friedensvertrag von Versailles die Siegerstaaten durch ihre Vertreter im besetzten Gebiet Hoheitsrechte ausübten. Das hatte er beim Studium der Weimarer Verfassung nicht bedacht.
Er war jetzt bereit, sich belehren zu lassen: vielleicht war ja die ganze Erlaubnissache auch nur eine Formalität...
Gleichzeitig fesselte ihn das Problem dieser Verfassung, deren Wirksamkeit im Rheinland verhindert oder wenigstens eingeschränkt wurde: war sie deshalb unwirklich? Offenbar nicht, denn rechtsrheinisch war sie ja schon in Geltung, wenn sie auch linksrheinisch noch eine Zeitlang wie eine Fata Morgana erscheinen mochte, wie bloße Luftspiegelung.
Gerade das aber ließ ihn seine erotische Revolution in neuer Perspektive sehen, in der Perspektive der deutschen Revolution vom November 1918, wo er, Tormann, lebte, im besetzten Gebiet, war die revolutionsgeborene Verfassung des Deutschen Reiches noch in der Schwebe, blieb Verheißung und blanke Theorie, blieb Wunschzettel in Buchform, wenn die interalliierte Rheinlandkommission es wollte. Konnte man diesen Wunschzettel nicht ergänzen? Durch neues Recht im Liebesleben? Also die Revolution von damals fortsetzen?
Dann erschien sein Auftreten als Kampf um neue staatsbürgerliche Rechte! Gab es geschicktere Verhüllung und Einkleidung seiner persönlichen wünsche vor der Öffentlichkeit?
Der Wirt hatte das Buch zugeklappt und zu Tormann hingeschoben: "Wenn ich Sie recht verstanden habe, so wollen Sie eine öffentliche Versammlung aus Ihrem Vortrag machen. Dafür müssen Sie Erlaubnis einholen bei unserer Polizeiverwaltung —"
Tormann unterbrach ihn: "Bei unserer Polizeiverwaltung?! — Ich denke doch bei der Rheinlandkommission!?"
"Nun ist ja auch noch Polizei im Spiel," dachte er, und fuhr sich erregt mit der Hand über die Stirn. Doch der andere wiederholte und vollendete:
"Bei unserer Polizeiverwaltung, sage ich, weil die nämlich das Gesuch weitergibt an den Kreisdelegierten und von dort Bescheid erhält für Sie. Übrigens ist es in den meisten Fällen nur eine Formsache. — An welchem Tage wollen Sie nun ihre Versammlung abhalten?"
Als Tormann zögerte, denn darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht, erhob sich der Gastwirt. Er hatte jetzt genügend geruht und wollte die Sache schnell erledigen. Es gab zu tun für ihn: "Überlegen Sie bitte! — Ich hole inzwischen meinen Versammlungskalender."
Tormann kam zu keinem Entschluss. Die Gedanken flohen praktische Willensrichtung. Anderes zog sie gewaltiger an.
Er erkannte jetzt, warum er die Versammlungsformalitäten so ernst genommen hatte, warum die Erlaubnisfrage zum Schreckgespenst auf seinem Wege zu Else werden konnte: hinter der formellen Erlaubnis lauerte ja der widerstand herrschender Gewalten und überlieferter Anschauungen.
Es war sein erster Zusammenstoß mit ihnen, ein Vorpostengefecht nur, aber es vollendete die logische Umkehrung seines seitherigen Strebens: neben Ehemann und Ehefrau als Ideal war nun auch die Funktion des Staatsbürgers als zugehörige Ergänzung in revolutionäres Licht gerückt.
Alles sollte der Verwirklichung seines erotischen Wunschbildes aus der Abenddämmerung dienen, auch die Berufung auf staatsbürgerliche Rechte. umso besser, dass im besetzten Gebiet der Typ des neuen deutschen Staatsbürgers noch nicht so ganz definitiv erschien: er konnte also für seine Zwecke zurechtgemacht werden, konnte modelliert, verändert werden, warum nicht durch erotisch-revolutionäre Kräfte, wie sie in ihm erwacht waren?
Und warum sollten diese Kräfte nicht auch einmal gesetzgebende Wirkung erlangen, Legitimität, wie alles, was er bis jetzt erstrebt hatte? Dumpfe Ahnung...
Nach vorläufiger Festlegung eines Tages Anfang Oktober wollte er gehen. Erstaunt hielt der Wirt ihn zurück: "Aber Sie müssen doch noch einen bestimmten Raum wählen. Ich habe verschiedene Säle. — Auch die Preisfrage –– "
Tormann wurde immer verlegener und verwirrter. Er folgte und besah einige Räume, wählte den größten, hieß ohne weiteres den genannten Preis gut, gab seine Adresse, unterschrieb ein Formular mit Bedingungen, erhielt eins, das der Wirt unterschrieben hatte, und stürzte eilig fort.
Kaum war er noch imstande gewesen, die Ratschläge des gutmütigen Wirtes anzuhören: wie der Vortrag am besten anzukündigen sei, durch Plakate, Zeitungsanzeigen, Handzettelverteilung; welche Leute in Frage kämen, um für Ordnung bei größerem Andrang zu sorgen; wie Eintritt erhoben werden könne, falls er solchen fordere; was sonst noch alles getan werden müsse...
Außerdem hatte seine ungeduldige Phantasie während der Besichtigung die Stühle und Bänke des großen Saales mit Verwandten und Bekannten bevölkert, die doch sicherlich seine seitherigen Ansichten vorgetragen sehen wollten: welche Kämpfe beschwor er da herauf?
Und zuletzt war auch noch der quälende Gedanke aufgetaucht, ob denn das alles überhaupt noch etwas mit seinem Liebestraum zu tun habe? Ob er im Phantasma neuen Staatsbürgertums nicht weit vom Ziele seiner erotischen Sehnsucht abschweife? Ja, ob nicht zuletzt die vorgeschobene Allerweltsbeglückung sein persönliches Glück gefährde?
Heiß schoss ihm das Blut zu Kopfe, als er in diesem Augenblick, nicht weit von seinem Hause, Margaretes gedachte. In wenigen Minuten hatte er sie zu begrüßen. Ihm wurde beklommen zumute.
Umso angenehmer war er überrascht, als sie ihn freudestrahlend empfing und ihm schon auf der Treppe entgegenrief: "So hast du dich endlich aufgerafft zum Vortrag!"
Auf maßlos erstaunte Blicke von ihm erklärte sie, man hätte soeben aus dem Restaurant telefoniert: das Buch über die Weimarer Verfassung sei liegen geblieben, auch habe er vergessen, das Glas Wein zu bezahlen: "Dabei hat mir der Lokalbesitzer andeutungsweise von deinem Vorhaben erzählt."
Die Vergesslichkeit ärgerte Tormann. Jahrelange Zurückgezogenheit ließ sich eben doch nicht verbergen. Im Grunde war er wie erlöst, dass ihm jede Erklärung über seine Verspätung erspart blieb.
Er aß und trank kräftig, besprach, was alles zur Vorbereitung des Vortrages gehöre, und drückte zuletzt auch seine Beklommenheit vor dem vielerlei dieser Arbeiten aus.
Margarete erbot sich sofort, alles zu übernehmen, damit er sich ganz der Ausarbeitung seines Vortrags widmen könne. Sie war froh, dass er sich endlich zu öffentlicher Wirksamkeit entschlossen hatte, vielleicht fand er so den Wirkungskreis, den sie schon lange für ihn herbeisehnte. Sie fürchtete seit einiger Zeit das Überwuchern des grüblerischen, einsiedlerischen Elements in Tormanns geistiger Entwicklung und war daher entschlossen, alles zu tun, dass der Vortrag zustande käme.
Sein Gewissen regte sich, als er kein Mittel sah und nicht einmal wünschen durfte, Margaretes Eifer zu dämpfen, ebenso wenig aber ihr erklären konnte, dass nicht vorgetragen wurde, was sie erwarten musste, Half sie nicht bei der Vorbereitung seines Ehebruchs?
Trotzdem — er konnte und wollte nicht mehr zurück.
Margarete belastete sich tatsächlich mit allen organisatorischen Vorarbeiten. Er konnte wie immer die letzten Jahre hindurch in seinem Arbeitszimmer bleiben, wo er zunächst Texte für Plakate und Anzeigen schrieb.
Andauernd fürchtete er, sie würde Erklärungen verlangen, wo doch überall das erotische Leitmotiv deutlich zum Ausdruck kam. Ihre Aufmerksamkeit war jedoch so gefesselt, dass ihr nichts auffiel: sie lief zu Zeitungsgeschäftsstellen, Druckereien, Plakatinstitüten, zum Versammlungsgebäude, unterhandelte mit Plakatträgern, Verteilern von Handzetteln, Saaldienern und sonstigen Hilfspersonen.
Lediglich um die polizeiliche Erlaubnis bemühte Tormann sich selbst, reichte den Vorschriften gemäß eine kurze Inhaltsangabe seines Vortrags ein und erwartete auf Grund der Aussagen des Lokalvermieters sowohl als auch des Polizeiamtes mit größter Selbstverständlichkeit eine bejahende Antwort.
Zwei Tage vor dem angesetzten Termin aber wurde ihm mitgeteilt, dass der Delegierte der Rheinlandkommission die erbetene Genehmigung verweigere.
Tormann starrte immer noch auf die Mitteilung, doch es war außer Zweifel: er hatte recht gelesen.
Da stand es, schwarz auf weiß mit Schreibmaschine schön geschrieben, gestempelt und unterzeichnet von einem Polizeibeamten der Stadt, dass der Delegierte der Rheinlandkommission die Erlaubnis zur Abhaltung der angezeigten Versammlung nicht erteilt habe.
Welche Rücksichtslosigkeit, ihn erst umfangreiche Vorbereitungen treffen zu lassen und in letzter Minute den Vortrag zu verbieten! Plakate klebten, Zeitungsanzeigen wurden gelesen, Handzettel waren verteilt! In Unkosten hatte man sich gestürzt!
Das alles waren freilich nur Gedanken erster Abwehr, alltägliche, übliche Gründe gegen Unterdrückung vorbereiteter Veranstaltungen: Protestwellen an der Oberfläche ...
Aus der Tiefe seines Bewusstseins aber entstieg Angst, dass Hemmung und Hindernis werden könne, was als weg zu Else Schreiner gedacht war. Sie hatte doch wohl verstanden, dass sein öffentliches Auftreten eine einzige Werbung um ihre Gunst war: wie nähme sie es hin, wenn er nicht durchdringen konnte, wenn der Weg plötzlich versperrt wurde, auf dem ihr Traum ihm sicher schon entgegenschwebte?
Ein Glück nur, dass Margarete nicht zuhause war und keine Frage nach der möglichen Ursache für das Verbot stellte. Ihr wäre dann wohl die Änderung des seitherigen Leitgedankens aufgefallen. Er hätte Erklärungen geben müssen und ihre tief forschenden Augen wären Pein geworden, viel leichter war das im öffentlichen Vortrag. Dort war sie Teil einer Masse, die ihm keinerlei Hemmung bereitete, ihn vielmehr noch anregte, beflügelte...
Er stürzte fort zur Polizei.
Der Polizeibeamte zuckte die Achseln, als er den Grund des Verbots angeben sollte: er wisse nichts. Auch könne er gegen den Beschluss des Delegierten nichts unternehmen. Das sei Sache der deutschen Regierung, wenn Tormann deren Hilfe in Anspruch nehmen wollte.
Ob er das wollte! Er musste. Sein weg zu Else führte über die deutsche Staatshoheit im besetzten Gebiet: alle berufenen Instanzen bis zum Reichskanzler in Berlin hatten einzuspringen, wenn nur irgendeine Aussicht bestand, die Versammlungserlaubnis auf Umwegen zu erzwingen.
Auf dem Wege zum Regierungsgebäude kämpfte Tormanns Wille mit Gedanken über die Rheinlandbesatzung wie der Vogel mit dem Sturme.
Bis dahin hatte er sich kaum an ihr gestoßen. Er trug den roten Pass bei sich, ließ sich von Zeit zu Zeit an Rheinbrücken, auf Bahnhöfen oder auch mitten auf der Straße von Soldaten, Gendarmen, Offizieren danach fragen, ohne seinen Gleichmut zu verlieren; auch gelegentliche Verhängung von Verkehrsperren für gewisse Stunden des Tages und der Nacht regten ihn nicht auf — er blieb dann einfach zu Hause.
Zusammenbruch der deutschen Fronten, Waffenstillstand, Einrücken der interalliierten Truppen in die Rheinlands, Friedensverhandlungen, Einrichtung des Besatzungsregimes auf fünfzehn Jahre, verbot von Zeitungen, Büchern, Liedern, Fahnen, Vereinen, all das hatte er wie unvermeidliches Schicksal hingenommen.
Zweck- und sinnlos, sogar unwürdig erschien es ihm, all die Jahre hindurch entnervenden Schmach- und Rachegefühlen zu frönen, wo man doch in völliger Ohnmacht gebannt war: er überließ das rechtsrheinischen Zeitungen und Volkskreisen...
Mit einem Schlage war das anders, was ihm seither gleichgültige Erscheinung gewesen war, hemmte jetzt seinen Flug in das Reich erträumten Liebesglücks, lähmte die Schwingen seines Geistes weit vor dem Ziele: sollte er nachgeben und einen anderen Weg suchen?
Der Widerstand eines Assessors im Vorzimmer des Regierungsrates riss ihn wieder hoch: "Den Herrn Regierungsrat will ich auf jeden Fall sprechen!!"
Endlich vorgelassen, erfuhr Tormann, dass der Delegierte unpolitische Versammlungen auch verbieten könne, wenn die Sicherheit der Besatzungstruppen durch sie gefährdet sei. — Auf Tormanns verwunderte Frage, ob denn sein Vortrag entfernt eine solche Möglichkeit schaffe, lächelte der Regierungsrat ironisch:
"Doch, wenn Ihr Vortrag die Bevölkerung in Erregung und Aufruhr bringt, so kann das irgendwie auf die Besatzungsangehörigen zurückwirken."
"Wunderbare Auslegung!" rief Tormann empört über so viel Verdrehungskunst, unterdrückte aber seine Gefühle und forderte die Hilfe der deutschen Regierung bei Ausübung seiner staatsbürgerlichen Rechte.
Wieder lächelte der Regierungsrat mit einem bitteren Zug um den Mund, in den er eine frisch angezündete Zigarre steckte: "Wollen Sie mir neue, nutzlose Arbeit machen? — Gut, dann reichen Sie eine schriftliche Beschwerde ein. Ich werde sie weitergeben an meinen Minister drüben. Der wird sie weiterleiten nach Berlin —"
Mit angstvoller Heftigkeit unterbrach ihn Tormann: "Ich bitte Sie, Herr Regierungsrat! Das dauert ja viel zu lange. Mein Vortrag soll doch schon morgen Abend stattfinden! Morgen Abend!! — Sie haben ja wohl die Plakate und Anzeigen gelesen?"
Der andere nickte. Tormann ereiferte sich: "Können Sie denn selbst nicht direkt etwas für mich tun? Heute noch! Jetzt gleich! — vielleicht persönlich? Der Delegierte ist ja in diesem Gebäude."
Der Regierungsrat schwieg zunächst. Er hatte Mitleid mit Tormann. — Mit einem prüfenden Blick auf ihn sagte er zögernd: "Ein persönlicher Schritt meinerseits kommt gar nicht in Frage. Das wäre auch ganz hoffnungslos. Genau so eine schriftliche Beschwerde in meiner amtlichen Eigenschaft, weil ich nämlich dienstlich mit dem Delegierten auf gespanntem Fuße lebe. — Er würde Ihr Gesuch dann erst recht abschlagen. — Ich will Ihnen einen Rat geben: Gehen Sie selbst zum Delegierten und lassen Sie sich die Gründe für seinen Beschluss angeben, vielleicht können Sie ihn dann umstimmen, vielleicht —?"
Er erhob sich, sodass Tormann dasselbe tun musste, reichte freundlich die Hand und sagte zuletzt noch: "Es führt kein andrer weg nach Küsnacht!"
Erneut war alles in Frage gestellt.
Tormann schwankte lange, ob er den Gang zu dem Delegierten tun solle. Es war das erste Mal, dass er persönlich von Franzosen etwas erbitten musste.
Was nützte dort Berufung auf seine verfassungsmäßigen Grundrechte als Deutscher, wenn nicht einmal der Regierungsvertreter sie geltend machen konnte? Die Rolle des Staatsbürgers vor Gastwirt, Polizeikommissar und Regierungsrat war beim Delegierten sicher wirkungslos. Wie aber war ihm beizukommen?
Große Verzagtheit befiel ihn, als er in den Geschäftsräumen des Delegierten diesen zu sprechen verlangte.
Man wollte ihn nicht vorlassen: Monsieur le Delegue sei sehr beschäftigt und könne nicht empfangen.
Tormann blieb hartnäckig, sprach Französisch und erreichte endlich, dass ein Sekretär ging, ihn anzumelden.
In der Zwischenzeit rüstete er zur Verteidigung seiner Ansichten, seiner Meinung, die er im Vortrag auch als Wort frei äußern wollte, wie das schon in Schrift und Druck bei der Versammlungsankündigung geschehen war: unbewusst lief sein Denken in der Richtung des Recht suchenden Deutschen weiter...
Immerhin war die Situation doch anders als nach jenem abendlichen Spaziergang im Restaurant. Mehrtägige Arbeit an seinem Vortrag lag dazwischen. Die dort aufgetauchte Vorahnung eines neuen staatsbürgerlichen Typs war bei der Ausarbeitung von Sätzen. Schlagworten, Beispielen lebendig und fruchtbar geworden. Noch andere Schatten waren aufgetaucht, die Tormann wie Schauspieler auf die Bühne seiner Wortkunst bringen wollte. Auch als Kampf um Menschenrechte konnte er sein Auftreten erscheinen lassen...
Menschenrechte! Ja das war etwas für Franzosen...
Der Sekretär holte ihn: es sei Ausnahme, dass jemand vorgelassen werde.
Im Büro des Delegierten — ein luxuriös eingerichtetes Zimmer, worin nur der Schreibtisch auf Dienstraum hinwies - sah sich Tormann drei Personen gegenüber, die ihn neugierig und argwöhnisch ins Auge fassten: der Delegierte in Zivil mit einem Monokel im linken Auge saß am Schreibtisch; ein französischer Offizier in mittleren Jahren, etwa Major oder Oberst, stand am Fenster; auf einem Sofa unterbrach ein Militärgeistlicher seine Lektüre in einer Zeitung.
Nach allseitiger steifer Verbeugung forderte der Dolmetscher-Sekretär Tormann auf, sein Anliegen vorzubringen, er werde übersetzen.
Zum größten Erstaunen Tormanns, der alles französisch Gesprochene sehr gut verstand, schien der Delegierte die Sache kaum zu kennen. Auf jeden Fall wandte dieser sich sehr bald an den Geistlichen:
"Voila l’affaire de cette discussion sur l’amour libre, Monsieur l’Abbé, veuillez l’examiner de nouveau,' s’il vous plait!"
"Das ist — die Sache — von dieser Aussprache — über die freie Liebe, Herr Abbé, wollen Sie — sie prüfen — wieder, bitte!"
Wort für Wort übersetzend wiederholte Tormann stumm für sich, was der Delegierte zu dem Geistlichen gesagt hatte, um noch einmal nachprüfen zu können, ob der schnell erhaschte Sinn dieses Satzes richtig war.
Also hatte der Abbé sein Gesuch geprüft und war offenbar auch der Urheber des Verbots, sonst blieb unverständlich, wie gerade ihm die ganze Sache zugeschoben werden konnte.
Der Geistliche hatte sich erhoben und zog Tormann zusammen mit dem Dolmetscher in eine andere Ecke des Zimmers, um den Delegierten und Offizier nicht weiter zu stören.
Ein Abbé also, ein Militärgeistlicher, ein katholischer Priester: was hatte er mit ihm zu schaffen!?
In gebrochenem Deutsch ohne Dolmetscher erklärte der, man habe ihn mit der Prüfung des Gesuchs beauftragt, weil es sich um sittliche und religiöse Dinge handle, die ein Geistlicher am besten beurteilen könne, wenn er geraten habe, die Versammlung zu verbieten, so deshalb, weil ihm Bedenken aufgestiegen seien, ob Tormanns Ideen nicht Unruhe und Aufruhr in der Bevölkerung erzeugen würden. Dafür trage der Delegierte die Verantwortung, sobald er eine Versammlung genehmige:
"Aber Sie machen mir eine so ernsthafte Eindruck, Monsieur Tormann, dass ich will anraten ein ander - "
Der Abbé suchte nach einem Wort. Der Dolmetscher warf hin:
"— eine andere Entscheidung —"
"Oui, ein andere Entscheidung, wenn Sie mich überzeugen können, dass ihr Vortrag solche schlimmen Folgen nicht haben wird."
Tatsächlich hatte der Abbé schon beim ersten Eindruck von Tormann das Verbot bedauert. Es war auch nur als Gefälligkeit zustande gekommen, die er seinen katholischen Kollegen in der Stadt erweisen wollte. In ihren Kirchen hielt er seinen Gottesdienst ab und stand daher in Verbindung mit ihnen. Er suchte und vertiefte solche Beziehungen, um Deutsch sprechen zu lernen und mit noch anderen Deutschen bekannt zu werden. Er wollte Land und Leute studieren.
Tormanns Gesuch hatte er einigen Geistlichen gezeigt und sie gefragt, was davon zu halten sei. Sie waren entrüstet über die Verherrlichung sündiger Vorstellungen und Triebe und hatten teils überzeugt, teils übertreibend behauptet, eine solche Versammlung werde großen Aufruhr erzeugen...
Tormann fühlte, dass der Abbé ihm gewogen war. Um dessen Gunst noch zu verstärken und auch, um zu zeigen, dass er Französisch spreche und verstehe, begann er eine längere Erklärung über seinen Vortrag in französischer Sprache.
Es war mehr Instinkt als Überlegung, was ihn dazu drängte, erwies sich jedoch als richtig, wie er in den Mienen des Franzosen lesen konnte. Aufmerksam hörte der Abbé zu. Auch der Delegierte und Offizier horchten auf, als französische Laute aus dem Munde des Deutschen kamen. Tormann merkte es und hob unbewusst seine Stimme: mit Pathos und unerschütterlichem Ernst verfocht er das Recht zur außerehelichen Liebe und Liebeserfüllung.
Noch ehe der Abbé, dem es eigentlich zustand, irgendetwas fragen oder entgegnen konnte, benützte der Offizier ein Stocken in Tormanns Rede und warf lachend dazwischen, über solche Dinge rede man doch nicht, am allerwenigstens öffentlich: handeln sei Trumpf in Liebessachen genau wie im Kriege. Schlagfertigkeit, Schnelligkeit, Täuschung, Überlistung, das seien die Mittel zum Sieg im Liebesspiel so gut wie in der Schlacht...
Der Offizier redete sich ordentlich in Eifer und Hitze. Zuerst war der Abbé unwillig über die Einmischung, dann aber neugierig auf Tormanns Antwort, der Delegierte und Dolmetscher nicht weniger.
Unwillkürlich musste Tormann bei den Worten des Offiziers an die Küsse denken, die ganz nach der eben gerühmten Methode zustande gekommen waren und seine geistige Umwandlung vollbracht hatten. Sympathisch wie der Franzose seine Ansicht verteidigte, wirkte er als Versuchung, von diesen erotischen Ausgangserlebnissen zu sprechen. Tormann fühlte wohl, dass ohne Kenntnis von Ursprung und Ziel sein Gebaren komisch und grotesk wirken konnte, besonders für Franzosen.
Doch man musste sich hüten. Der Abbé war zu gewinnen, Eitelkeit hatte zu schweigen.
Was wollte der Abbé jetzt hören, um Grund zur Aufhebung des Verbots zu haben?
Darauf konzentrierte Tormann seine ganze Geisteskraft. wie konnte er ihm Vortrag und Versammlung wünschenswert erscheinen lassen — oder zumindestens interessant? was war der Abbé? was lebte er? wo war eine empfindliche Stelle, die man schonen musste? wo unbefriedigter Wunsch, den man wachrufen konnte?
Ein Gedanke! Ein Blick auf den Geistlichen: er war höchstens dreißig und sah lebensstark aus. Wahrscheinlich also gab es da Schwierigkeiten mit dem Gelübde der Keuschheit. Äußerlich zu dem Offizier gewandt, inhaltlich jedoch ganz für den Abbé sprechend, gab Tormann endlich Antwort:
"Was Sie als Liebesspiel rühmen, mein Herr, ist mir selbstverständlich nicht fremd. Doch betrachte ich eheliche Treue wie eine Pflicht ähnlich dem Gelübde der Keuschheit, welches katholische Priester, Mönche und Nonnen ablegen. Verletzung dieses Gelübdes ist ihnen eine Sünde gegen Gott; ähnlich so ist mir Ehebruch eine Sünde gegen mich selbst, soweit ich bewusster Mensch bin und Treue gelobt habe, was diese Katholiken ihrem Gott schuldig zu sein glauben, bin ich meinem Selbstbewusstsein schuldig und verzichte daher auf außereheliche Küsse, Zärtlichkeiten und anderes, solange meine Anschauungen entgegenstehen — —"
Die Wirkung dieser Worte auf den Abbé war viel größer als Tormann hoffen und ahnen konnte. Schwere Kämpfe um die feierlich gelobte Keuschheit beherrschten den Geistlichen, Kämpfe, in denen er nicht immer Sieger geblieben war.
Er hatte die Sünde an sich herankommen lassen, um sie kennen zu lernen, wie er sich zur Rechtfertigung sagte, um bei der priesterlichen Sündenvergebung nicht wie der Blinde von der Farbe reden zu müssen, um an den Seelenkämpfen seiner Beichtkinder teilnehmen zu können. Jesuitenzögling, der er war, berief er sich auf den Satz vom Zweck, der die Mittel heilige...
Da stand nun ein Mensch vor ihm, der den christlichen Rahmen gesprengt hatte, aber tiefernst und großzügig nach Lösung von Problemen suchte, die auch seine waren, die auch in seiner Brust als ungelöste Rätsel lebten, als Seelennot. Und diesen Menschen hätte er ohne Absicht beinahe mundtot gemacht, um seinen langweiligen deutschen Kollegen einen Gefallen zu erweisen ...
Mit wenigen Worten vermittelte der Abbé beim Delegierten die Aufhebung des Verbots.
Als Tormann draußen war, sagte der Delegierte: "Quel drôle de type, cet Allemand, qui cherche une théorie pour notre pratique d’amour!"
Ernst erwiderte der Abbé, ob man bei solcher Praxis glücklich sei, die mit der Moral im Widerspruch stehe, scheine ihm fraglich.
Der Offizier wollte wetten, Tormann habe ein hässliches oder langweiliges Weib zur Frau und suche mit der üblichen deutschen Gründlichkeit und Theorie nach Abwechslung. Er lachte.
Diese Bemerkung machte den Abbé neugierig auf Tormanns Frau. Er erbot sich, in amtlicher Eigenschaft den Vortrag zu überwachen, um sie bei dieser Gelegenheit vielleicht kennen zu lernen...
Tormann ging mit geschwellter Brust durch die Straßen. Er hatte seine erste Schlacht im öffentlichen Leben gewonnen. Er war einen Schritt näher an Else herangekommen.
Leise lachte er vor sich hin, als er des Offiziers gedachte. Hätte der geahnt, dass alles nur ein Liebesspiel war, eine neue Form der Werbung und auch Verführung, wenn man wollte, er wäre sicher anderer Meinung geworden.
Aber noch einmal und jetzt nur umso stärker verwarf Tormann die üblichen Wege zur Liebeserfüllung außerhalb der Ehe: den sinnlichen Rausch, die Ausschaltung des Denkens, die Überlistung bei passenden Gelegenheiten, überhaupt die ganze Kunst des Don Juan. Er wollte keinen Glücksrausch, dem furchtbare Ernüchterung folgte wie der steinerne Gast den Liebschaften jenes großen Verführers.
Geistige, seelische Auferstehung, nicht Selbstbewusstseinsmord sollte Liebe sein! was Dante träumend bei der gestorbenen Beatrice im Himmel suchte, sollte auf der Erde am lebendigen Weibe Wirklichkeit werden!
Umflorten Auges las Tormann seine Plakate: er stellte sich vor, wie wohl die ganze Stadt auf seinen Vortrag gespannt sei.
Dies war tatsächlich der Fall. Durch ihren Verkehr mit vielen Familien in der Stadt waren die Tormanns trotz ihrer Zurückgezogenheit allmählich doch bekannt geworden.
Man wusste, er war im Krieg Offizier gewesen, hatte reich geheiratet, widmete sich Studien, viele beneideten ihn darum, dass er durch das Vermögen seiner Frau wirtschaftlich unabhängig war.
Obwohl Tormanns frühere Ansichten nur bruchstückweise bekannt waren, merkten einige den Widerspruch mit seinen Ankündigungen.
So war es denn auch nicht erstaunlich, dass Margarete um Auskunft angegangen wurde, die sie natürlich nicht geben konnte. Ohne Argwohn wandte sie sich schließlich an Tormann selbst, der ausweichend antwortete: "Lass dich überraschen! Mein Vortrag wird ja alles erklären."
Margarete war es zufrieden.
Schon eine halbe Stunde vor Beginn des Vortrags war der große Saal überfüllt. Die bewegliche Holzwand zum anstoßenden Seitenraum musste geöffnet werden und auch dieser füllte sich rasch. Die Galerien waren ebenfalls dicht besetzt.
Sogar der Lokalbesitzer wunderte sich über solchen Andrang, da eigentlich niemand recht zu sagen wusste, warum alle diese Leute kamen. Er strich öfters an Margarete vorbei, um ihr eine Liebenswürdigkeit zu sagen: "Es ist erstaunlich, Frau Tormann, einfach erstaunlich! Dieser Massenbesuch! Ihre Organisation bewährt sich."
"Ich freue mich auch sehr," erwiderte Margarete. Sie stand nahe der Kasse und rechnete im Stillen gerade nach, ob die Unkosten von dem eingehenden Geld etwas übrig lassen würden.
Das wäre Karls erster Verdienst gewesen, seit er aus dem Heer ausgeschieden war und keinen Offiziersgehalt mehr empfangen hatte. Gewiss, es war nicht direkt nötig, aber trotzdem angenehm, dass sein Geist Wege zu Geld und Geldeswert fand. Irgendwie schien ihr eine wirtschaftliche Bewertung seiner geistigen Arbeit doch sinngemäß und mindestens zeitgemäß, wenn auch in seinem besonderen Fall ihr Vermögen es überflüssig machte.
Mehr noch freute sie sich über den großen Zulauf und fühlte sich mitgeehrt, zumal alles, was in der Stadt Rang und Namen hatte, sie am Eingang herzlich und freundschaftlich begrüßte: Einzelne allerdings mit leichter Zurückhaltung gegen früher, was ihr im schnellen Wechsel entging.
Sie hatte ja auch noch die gedungenen Leute zu überwachen.
So bemerkte sie nicht, dass Else Schreiner sich scheu an ihr und einer Begrüßung vorbeidrückte und schnell auf die Galerie eilte.
Nur flüchtig sah sie den französischen Abbé. Der betrachtete sie lange und ahnte sofort, wer sie sei. Erst nach Minuten erkundigte er sich unauffällig nach ihrem Namen und hörte: "Frau Tormann!"
Tormann selbst war noch zuhause.
Er raffte seine Entwürfe zusammen, ordnete die Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, aus denen er angestrichene Stellen vorlesen wollte und blickte dauernd nach der Uhr, um verabredungsgemäß pünktlich acht Uhr wegzugehen.
Sofort nach seiner Ankunft im Saale wollte er den Vortrag beginnen, damit ja keine neuen Eindrücke von außen seine innere Schau noch störten.
Je näher zum Versammlungsgebäude er kam, desto stärker brauste sein Blut; sein Herz klopfte bis zum Halse.
Freilich: er hatte in den oberen Massen der höheren Schule, dann als Student im Universitätskolleg und jahrelang als Offizier mannigfache Gelegenheit gehabt, sich als Redner zu üben. Aber nicht in Sachen, wo er bis in die Wurzeln seiner geistigen Existenz beteiligt war wie heute.
Und nicht vor einem Publikum, das er hier in selbstherrlicher Willkür und Laune zusammengerufen hatte, um es als Mittel zu persönlichen Zwecken zu gebrauchen, als Brücke zur Geliebten, als weg zu einem Ziele, von dem er nicht sprechen durfte...
Auch konnte er sich nicht verhehlen, dass ihm letzte Klarheit über die Auswirkung der erotischen Revolution in Einzelheiten noch fehlte. Er klammerte sich deshalb in erster Linie an grundsätzliche Forderungen.
Da war noch einmal eine Plakatsäule. Er las die Aufschrift:
"Die schöpferische Kraft der freien Liebe."
Margarete erwartete ihn ungeduldig am Saaleingang: "Es ist höchste Zeit, dass du kommst. Der Saal ist brechend voll. Du musst gleich beginnen!"
Verhaltener Jubel klang durch ihre Worte, gebrochen durch plötzliche Angst, ob er auch seiner Aufgabe gewachsen sei, ob er im Reden nicht stecken bleiben werde...
Tormann hörte das dumpfe Brausen des überfüllten Raumes. Überlebensgroß wuchs Margarete vor ihm auf, als er sie stumm und flüchtig begrüßte: wo war Else?
Geistesabwesend lächelnd durchschritt er die Mitte des Saales. Zentnerlasten legten sich auf seine Schultern. Es war ein Spießrutenlaufen zwischen tausend Blicken, ein schier unendlich langer weg...
Endlich war er am Pult. Köpfe schwammen vor ihm durch Licht, bald groß und größer, verschmelzend zu riesigem Gesicht wie Mond am Horizont, bald klein und immer kleiner wie im verkehrt gehaltenen Fernglas zusammengerückt...
Schnell legte er seine Blätter und Schriften zurecht, um beginnen zu können. Die ungeheure Spannung war nicht länger zu ertragen.
Neugierig bohrte sich der Blick aller in seine Erscheinung. Sein Kopf mit dunkelblonden Haaren war beherrscht von der Partie um Augen und Stirn. Im seitlich fallenden Licht warf eine senkrechte Falte in der Stirnmitte scharfen Schatten, der zwischen den stark ausgeprägten Augenbrauen aufstrebte wie Obelisk aus mondheller Nachtlandschaft. Darunter braune Augen, tiefliegend, die jetzt streng und bohrend dunkel starrten.
Der Schein dieses Gesichtes lag in allen Gehirnen. Tausendfache Gegenstrahlung aus ihnen blähte es auf zum riesigen Symbol allerstrengster geistiger Konzentration, beklemmend, unheimlich für viele.
Seine Stimme klang zuerst dumpf und hohl wie aus einem Grabe; dann heiser und leise, was zur Wirkung hatte, dass Totenstille einzog. Menschen und Raum verschmolzen zu Atem, der angehalten wurde.
In dieser Stille wuchs die rednerische Erscheinung beängstigend, schlug alle Nerven und Muskeln der Zuhörer in Bann, war elektrischer Strom, der alle durchlief und Kälteschauer auf Rücken trieb, als zuerst Worte gegen Zuchtlosigkeit im Leben der Menschen kamen: die meisten hatten etwas ganz anderes und einen ganz anderen Menschen erwartet.
Allmählich löste sich der Bann. Seine Stimme lockerte sich und erlangte ihren natürlichen, mittelhellen, etwas scharfen Klang zurück. Dann schwoll sie an, füllte den Raum, weitete ihn, kuppelte ihn höher, sprengte ihn, öffnete grenzenlose Fernen...
Das Rednerpult stand auf der Ostseite des Saales. Tormanns Blick ging also nach Westen in die lauernde Masse der Zuhörer, worin er nur zwei Menschen deutlich unterscheiden konnte: Margarete dort hinten am Eingang, Else dort oben auf der Brüstung, wo er sie bald entdeckte.
Alle Übrigen blieben anonyme Schatten.
Dachte er an Margarete, so fiel namenlose, schwarze Trauer im Raum nieder: warum konnte er nicht mit ihr zusammen jauchzen und klagen, hoffen und verzichten, erkennen und fordern, in der Gemeinschaft ohne Vorbehalt und Verstecktheit wie alle die Jahre hindurch? Hier war ein Rausch, dessen Ursprung er ihr nicht offenbaren durfte, und eine Geistesrichtung, der sie vielleicht nicht folgen konnte.
Schweifte dann seine Phantasie zu Else, so war Margarete wie das Dunkel des Abends, in dessen Sonnenuntergang seine erotische Revolution begonnen hatte. Else war süße Glut, die seine Stimme hinreißender und feuriger machte, für feinere Ehren mit einem düsteren Unterton.
Aus diesem Hell-Dunkel floss seine Rede: ein buntes, vielgestaltiges, schillerndes Feuerwerk, ein Abglanz jenes abendlichen Brandes im Westen.
Worte schossen hoch wie Raketen: rot, weiß, gelb, grün, blau, in allen Farben, zischten, platzten in artikulierter Abtrennung von Silben zu leuchtenden Kugeln. Sätze glühten auf zu phantastischen Figuren. Gesten schlugen Feuerräder. Pausen schufen unerhörte Spannung.
Die vorgesehene Reihenfolge für seine Gedanken hatte er schon gleich am Anfang aufgeben müssen und merkte erst nach zwei Stunden, dass er kaum über die Einleitung hinausgekommen war.
Trotzdem war alles Wesentliche im Vortrag enthalten, wie ein Stenogramm im Vergleich mit Tormanns Notizen hätte zeigen können. Auch spürte niemand Lücken oder Mangel an Zusammenhang im Gehörten. Im Gegenteil bewunderte man allgemein die Klarheit und Abrundung des Ganzen.
Intuition hatte in der rednerischen Gesamtleistung mehr vollbracht als bewusster Absicht möglich war, nämlich eine Umstellung, Mischung und Einstellung aller Gedanken und darstellerischen Mittel auf die Vision neuen Menschentums im Liebesleben...
Wachsende Unruhe mahnte zum Abschluss. Fast alle waren ermüdet und konnten die übermäßige, geistige Anspannung nicht länger ertragen. Er fühlte es deutlich.
Aber wie schließen?
Tormanns Blick streifte seine Notizen und den Haufen mitgebrachter Schriften. Er hatte noch nichts zitiert. Zwecklos lag alles da.
Jetzt suchte er Halt darin, Anhalt, Ruhepunkt, wo der weltweite Flug seiner Phantasie enden konnte.
Den Lobgesang auf die Wollust aus Nietzsches Zarathustra hatte er als letztes in einer wohldurchdachten Reihe von Zitaten vorlesen wollen: dies sollte wie eine Wachsuggestion auf Else wirken und ihre letzte Scheu vor leidenschaftlicher Hingabe überwinden. Als einziges und abschließendes Zitat jedoch konnte das eine so starke Nebenwirkung auf alle ausüben, dass er davor zurückschreckte.
Er wollte doch nicht jedermanns Geschlechtslust heilig sprechen und die entfesselte Bestie preisen. Nein, quod licet Iovi, non licet bovi!
Ins Geistige musste Anfang und Ausgangspunkt der erotischen Revolution verlegt werden, ins Bewusstsein, nicht ins Triebleben, das nur den Rohstoff lieferte. So entschied er sich für eine Stelle aus Stirners Buch "Der Einzige und sein Eigentum", wo die Herauslösung unseres Selbstbewusstseins aus allen körperlich-dinglichen und gedanklichen Bindungen gepriesen wird, ein Geisteszustand also, den er selber bis zum Kuss bei Else Schreiner angestrebt hatte.
"Wie Ich Mich hinter den Dingen finde, und zwar als Geist, so muss Ich Mich später auch hinter den Gedanken finden, nämlich als ihr Schöpfer und Eigner. In der Geisterzeit wuchsen Mir die Gedanken über den Kopf, dessen Geburten sie doch waren; wie Fieberphantasien umschwebten und erschütterten sie Mich, eine schauervolle Macht. Die Gedanken waren für sich selbst leibhaftig geworden, waren Gespenster, wie Gott, Kaiser, Papst, Vaterland usw. Zerstöre ich ihre Leibhaftigkeit, so nehme ich sie in die Meinige zurück und sage: Ich allein bin leibhaftig. Und nun nehme ich die Welt als das, was sie Mir ist, als die Meinige, als Mein Eigentum: Ich beziehe alles auf Mich."
Die Vorlesung bewirkte leichte Entspannung, als Abwechslung schon, und weil Tormann vorher den Abschluss des Vortrags angekündigt hatte:
"Meine Damen und Herren! Stirners Worte bezeichnen deutlich die geistige Haltung und Spannung, die der schöpferischen Liebe vorhergehen muss: da ist Verliebtheit, sinnliche Erregung, Geschlechtstrieb nur, was dem Musiker sein Instrument ist, also noch lange nicht die Musik, die Liebe selbst.
Erst müssen wir hinter Dingen und Gedanken uns selbst gefunden haben, durch geistige Konzentration herausgelöst sein als ihre Schöpfer und Eigner, um Stirners Ausdruck zu gebrauchen, ehe wir solcher Liebe fähig sind.
Hat aber ein Mensch weltumfassendes Selbstbewusstsein errungen, ob Mann oder Weib, so darf seine erotische Sehnsucht zu allen Menschen des anderen Geschlechts schweifen.
Dann sind dem Mann alle Frauen zusammen genommen das Medium seiner großen Verwandlung: die wirklichen Frauen, ihre Körper, ihre Lust, ihr Kuss, ihr Lächeln. Und wirklich alle Frauen, auch die der schwarzen, gelben, braunen Rasse, eben alle Frauen der Welt.
Dasselbe gilt natürlich in Umkehrung auch für jede geistig freie, ihrer völlig selbst bewusste Frau. Ihr werden keine Gespenster und Hirngespinste den weg zu lebendigen Männern versperren, wenn hohe Liebe zur Auferstehung im Geiste und im Leibe lockt. Ja, auch im Leibe, denn solche Liebe verjüngt auch leiblich!
Heißt das für den Mann: geh zu vielen Frauen! Oder für die Frau: je mehr Männer, desto besser!
Ich habe im Vortrag oft betont und will es zum Schluss noch einmal dick unterstreichen: die Monogamie, die Einehe, die Ehe aus nur einem Mann und einem Weib als Lebensgemeinschaft, als Dauer-vereinigung zur Erzeugung und Erziehung von Kindern, ist mir heilig und wird durch meine Forderungen nicht berührt, soll vielmehr noch strenger und fester gefügt werden als bisher. Auch besteht keinerlei Pflicht zu einem Liebesleben außerhalb der Ehe, nein, dreimal nein, die Ehegatten können sich einander auch erotisch treu sein, solange sie Glück und Befriedigung darin finden.
Wohl aber besteht ein Recht zur außerehelichen Liebe und Liebeserfüllung, wenn ein Kuss, eine Zärtlichkeit, ein verheißungsvolles Lächeln als geistiger Widerschein in uns zur erotischen Selbstverwirklichung drängt und Fleischwerdung unserer Phantasie im geliebten Menschen verheißt.
Da wird der Ehegatte zum Gespenst wie Gott, Papst, Raiser, Vaterland, und die Ehe erlegt Pflichten auf wie Religion, Kirche, Staat, Verfassung, wenn dann äußerliche Treue verlangt wird, wo sie innerlich schon aufgehoben ist.
Ich frage alle anwesenden Ehefrauen, ob sie diese Rolle spielen wollen, wenn dadurch ihres Mannes Selbstentfaltung vom Geiste her unterdrückt wird, vorausgesetzt allerdings, dass er die eheliche Lebensgemeinschaft und Vaterschaft nicht vernachlässigt und wirklich vom Geiste her lebt und strebt.
Oder ihr Ehemänner hier: hat es Sinn, von unseren Frauen äußerliche Treue zu erzwingen, wenn sie seelisch in anderen Männern Verjüngung finden können und reicher für uns selber zurückkehren, durchaus ohne Gedanken an Ehescheidung und ohne Vernachlässigung der Mutterpflichten?
Ich glaube, das ist blutschänderische Tyrannei rückständiger Ansichten, Herrschaft von grauen Gedankengespenstern, die gestürzt werden muss, schändlichste Vergewaltigung unseres Liebeslebens, die fast allen Eheleuten den Stempel erotischen Todes aufdrückt: darum nieder mit liebesfeindlichen Phantomen, Fluch der lebensfeindlichen Moral und Sitte, hoch die schöpferische Kraft der freien Liebe!
Es lebe die erotische Revolution!!!"
Rasendes Klatschen rauschte im Saal. Sekundenlang war Tormann wie betäubt. Dann hob er langsam den Blick zu Else: sie wich aus, ohne dass er es noch wahrnehmen konnte.
Er hatte die Lider gleich wieder gesenkt, weil ihm Margarete eingefallen war: wie hatte sie das alles aufgenommen?
Als er die Diskussion eröffnen wollte, rief man zur Geschäftsordnung und belehrte ihn, dass ein anderer den Vorsitz übernehmen müsse: ein älterer, vornehm aussehender Herr namens Freund erklärte sich bereit
Die anonymen Schatten bekamen Leben.
Tormann setzte sich, entspannte sich, dehnte sich, wie Luther auf dem Reichstag zu Worms beim Verlassen jener denkwürdigen Reichstagsitzung hätte er nach Landsknechtsart die gespreizten Hände hochstrecken und rufen mögen: ich bin hindurch! ich bin hindurch!
Inzwischen war die Diskussion in Gang gekommen. Zuerst sprachen Anhänger.
Einer wollte von Machiavellis "Principe" über Stirners "Einzigen" und Nietzsches "Zarathustra" die Entwicklungslinie direkt zu Tormann laufen lassen: er hoffe recht bald auf ein Buch von ihm, welches die Selbstherrlichkeit des Menschen auf dieser Linie in den modernen Verhältnissen neu begründe, aber nicht nur im Liebesleben, sondern überhaupt.
Dann kam ein Gegner, ein gläubiger Katholik: er habe im Vortrag die Stimme des Teufels erkannt. Die Ehe sei heilig, sei die von Gott geschaffene Einrichtung zur Fortpflanzung des Menschengeschlechts und zur geregelten Befriedigung des natürlichen Triebs, was der Redner wolle, sei Sünde.
Ein Sozialist erklärte, das Proletariat dürfe sich durch Sittenprobleme vom Kampf um wirtschaftliche Befreiung nicht ablenken lassen. Der wirtschaftlich befreite Mensch besorge seine geistige und sittliche Befreiung von alleine...
Der nächste Redner bekannte sich spöttisch zu Tormann, wenn ihm zwei Fragen klipp und klar beantwortet würden:
"Erstens will ich wissen, was mit den Kindern geschehen soll, die sozusagen zwischen den Ehen entstehen.
Durch langes Zögern erzeugte der Frager atemlose Spannung im Saale:
"— ob Sie auch Ihrer Frau das Recht zum freien Liebesverkehr mit allen Männern einräumen?"
Große Bewegung. Erregtes Geflüster. Köpfe flogen herum zu Margarete.
Tormann stand erregt auf und setzte sich wieder. Da war, was er gefürchtet hatte: der ungelöste Rest seiner geistigen Umstellung, der dunkle Punkt in seiner Rechnung.
Unerklärliche, fanatische Wut packte ihn beim hämischen Blick des Fragers nach Margarete hin: zum ersten Male musste er sich vorstellen, dass sie durch seine Lehre Geliebte eines anderen werden könne...
Die Vorstellung war nicht erträglich. Er schloss die Augen.
Absurd aber schien der Gedanke, dass sie einmal ohne ihn Mutter würde.
Düster blickte er vor sich hin. wo war der Ausweg?
Doch er gewann Zeit. Der Diskussionsredner weidete sich an seinem Erfolg, verlangte von den noch angemeldeten Rednern, sie möchten aufs Wort verzichten, damit sich alles auf seine beiden Fragen konzentrieren könne: an ihnen werde die erotische Revolution zum Wohle aller scheitern.
Als Versammlungsleiter wies Herr Freund diesen Antrag heftig zurück. Eile sei gar nicht nötig: es werde schon noch alles beantwortet werden.
Niemand verzichtete aufs Wort. Die Diskussion ging weiter.
Tormann hörte nicht mehr zu. Er musste klare Antworten finden, wenn er den Anfangserfolg sichern wollte. Zu ehrlich, um sich mit Ausreden helfen zu wollen, sah er sich vor der bitteren Pflicht, Lücken einzugestehen, Lücken —?!
Lücken der erotischen Revolution durch ungewollte Kinder! Das war dann auch eine Lücke auf seinem Wege zu Else –– !?
Kaum war dieser Gedanke da, als Tormann stumm errötete: er hatte sich gefragt, ob denn keine Vereinigung mit ihr möglich sei, die ein Kind von vornherein ausschließe, ob nicht –– ?
Ja wirklich: war zwischen ihm und ihr nicht möglich, was bei vielen Eheleuten schon längst üblich ist, nämlich Anwendung von Mitteln in der geschlechtlichen Vereinigung, mit denen Empfängnis der Frau sicher verhütet werden kann? Das war ja auch Margaretes Vorschlag in der letzten Zeit!
Das war die Lösung!!
Konnte man aber öffentlich darüber sprechen? Durfte er die erotische Revolution auch mit solchen Dingen verquicken? Ein Magnis auf jeden Lall! Man kam da zu medizinischen, hygienischen Artikeln, in eine Sphäre, wo alle übermäßig empfindlich waren, wo stärkste Schamgefühle wachgerufen wurden, wo Sitte, Moral, Erziehung, Strafgesetz ein Tabu, ein Noli-me-tangere, ein Rühr-mich-nicht-an geschaffen hatten.
Was aber sollte er antworten? Redensarten machen? Verschleiert reden? Irgendwie musste die Sache beim Namen genannt werden: eine rednerische Eingebung sollte die Form bestimmen...
Die Liste der Redner war abgelaufen. Tormann erhielt das Schlusswort.
Den Freunden seiner Lehre dankte er.
Den Katholiken fragte er, ob er denn nicht wisse, dass konsequentes Christentum jede Geschlechtslust zur Sünde mache, also auch in der Ehe: dort werde sie lediglich geduldet als Konzession ans schwache Fleisch, und soweit sie zur Fortpflanzung nötig sei; sündhaft bleibe sie aber auf alle Fälle bei ganz frommen Christen...
Alle übrigen Redner streifte er nur kurz und rückte die beiden heiklen Fragen in den Brennpunkt, was durch beifälliges Murmeln anerkannt wurde. Sein Mut erweckte vertrauen.
"Sehr geehrter Herr! Ihre beiden Fragen sind interessant, obwohl sie Probleme aufwerfen, die keine sind."
"Oho!!" rief der Angeredete aufbrausend dazwischen. Tormann hatte die Genugtuung, ihn aus seiner Überlegenheitsruhe aufgescheucht zu haben und setzte seine Rache grimmig fort:
"Ich wiederhole: es sind nur Scheinprobleme! — Mit etwas mehr Phantasie und gutem Willen hätten Sie das selber entdeckt, doch scheint es bei Ihnen daran zu fehlen. Was die Kinder zwischen den Ehen anbelangt, so antworte ich mit einer Gegenfrage: können ungewollte Kinder nicht ausgeschaltet werden?
Fragen Sie doch Eheleute mit geringer Kinderzahl, ob in den Ehen das Problem nicht schon längst gelöst ist, das Sie zwischen den Ehen konstruieren wollen.
Allerdings fehlt zur weitverbreiteten Praxis noch die Theorie, die aus Not Tugend macht und statt Notbehelf technisch, hygienisch und ästhetisch vollendetes sucht. Auch dies wird Aufgabe der erotischen Revolution sein!
Nach ihr ist Liebesvereinigung zwischen seelisch verbundenen Menschen eine geistige Zeugung, eine Befruchtung der Seelen, von der die Fortpflanzung völlig abzutrennen ist, theoretisch und praktisch: Liebesglück und Elternglück sind grundverschiedene Dinge, auch in der Ehe, wo sie allerdings in den Personen zusammen fallen können.
Weiteres darf ich wohl Ihrer Phantasie überlassen, meine Damen und Herren, und komme nun zur zweiten Frage des Diskussionsredners."
Wieder suchten viele Blicke den Eingang, wo sich Margarete ins Dunkel einer Ecke zurückgezogen hatte.
"Meine Damen und Herren! Ich habe deutlich gesagt, dass alle Männer und Frauen gleiches Recht im Liebesleben haben sollen: warum soll meine Frau eine Ausnahme bilden?"
Er hatte gewonnen. Tosender Beifall erschütterte den Saal. Der Versammlungsleiter beglückwünschte ihn.
Alles erhob sich. Schnell klingelte Herr Freund und erklärte, man müsse sich um Tormann scharen und eine Gemeinde bilden. Aus zwei Gründen: einmal dürfte eine solche Persönlichkeit nicht ohne Wirkungskreis bleiben; dann hätte die Diskussion gezeigt, dass noch manches zu klären sei.
Listen wurden angelegt. Eine lange Reihe von Personen< ließ sich eintragen. Am nächsten Abend schon sollte die erste Zusammenkunft der neuen Gemeinde sein.
Umringt von seinen neuen Freunden hatte Tormann nicht beachtet, dass Margarete still hinausgegangen war und der französische Abbé ihr folgte; auch nicht, dass Else Schreiner auf den Listen fehlte.
Sie war erregt und zerstreut gewesen, als Tormanns Vortrag begann. Das vielerlei der Versammlungsvorbereitung hatte ein Fieber in ihr erzeugt, ein Fieber der Gedanken, Eindrücke, Handlungen.