Karmapoet - Nika Sachs - E-Book

Karmapoet E-Book

Nika Sachs

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Beschreibung

Fuck you, Karma. Oder auch: der Soundtrack meines Lebens. Wo ist der Notfallplan, wenn man ihn wirklich braucht? In diesem Fall genau jetzt! Ich weiß noch immer nicht, wie ich meiner Exfreundin von meinem Zwillingsbruder und den Problemen erzählen soll, die ich am liebsten aus meiner Erinnerung und diesem Tagebuch streichen würde.

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Nika Sachs

Karmapoet

Die Tagebücher der Familie Fauchet

Band II

Roman

Impressum

Karmapoet

Die Tagebücher der Familie Fauchet: Band II

Überarbeitete Neuauflage

© Nika Sachs 2023

Erstveröffentlichung im Januar 2018

Nika Sachs

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

Lektorat und Korrektorat: Michaela Stadelmann

Sensitivity Reading: Eva-Maria Obermann

Covergestaltung: Nika Sachs/Markus Michel/Carolin Summer

Buchsatz: saje design, www.saje-design.de

veröffentlicht über tolino media

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Romane in dieser Reihe:

Schneepoet(Band I, 2017/2023)

Karmapoet

(Band II, 2018/2023)

Abseitsliebe

(Band III, 2018/2023)

Zweieckformel

(Band IV, 2020/2023)

Am Horizont Schwarz

(Auskopplung, 2017/2023)

Zu diesem Buch

Diese Buchreihe erzählt die Geschichte der Familie Fauchet in Tagebuchform. Die Perspektive wechselt jedoch zwischen den Erzählenden. Band I und II erzählt ausschließlich Lukas, ab Band III erzählen jeweils im Wechsel Lukas, Silas und Inga. Die Protagonistinnen und Protagonisten in diesem Buch sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig. Ich möchte klarstellen, dass ich sowohl seelischen als auch körperlichen Missbrauch, Alkohol und Drogenkonsum, selbstverletzende Handlungsweisen sowie physische und psychische Gewalt kritisch sehe. Diese Themen kommen u.a. in expliziter Form in einigen meiner Bücher vor. Ein konstruktiver Umgang uns und unseren Mitmenschen ist mir ein wichtiges Anliegen und kann nur aus selbstreflektierendem Denken und Aufklärung entstehen. Darum bitte ich meine Leserinnen und Leser, sich bewusst und sorgsam mit diesem und anderen Texten auseinanderzusetzen, die diese Themen aufgreifen. Am Ende des Buches befinden sich Con-tent Notes speziell für diesen Band.

Nika Sachs

Kritik annehmen zu können ist die beste

Voraussetzung, um etwas Großartiges zu leisten.

LUKAS

Warnhinweis:

Fuck you, Karma!

25.04.14

Seitdem ich im Museum arbeite, habe ich dort schon so einiges erlebt. Unter anderem diverse Beziehungsdramen, gestohlene Portemonnaies, randalierende und betrunkene Besucher, eine Spontangeburt, Schulklassen mit dem Chaosfaktor eines Tropensturms und Halluzinationen aufgrund von Schlafmangel und exzessivem Feiern. Aus all diesen Diensten bin ich heil herausgekommen. Ob das heute auch der Fall sein wird, ist noch unklar. Es zieht verdächtig in meiner Brust. Ein Herzinfarkt wäre der schlechteste Notfallplan, wenn auch ein effektiver. Noch stehe ich im Hörsaal des Museums und fühle mich äußerst lebendig, Adrenalin sei Dank. So eine spontane Rettungsmigräne wäre auch nicht verkehrt, dann würde ich mich gekonnt aus der Affäre ziehen, unauffällig nach draußen schleichen und krankmelden. Aber mir geht es bis auf die Übermüdung, das Herzrasen und das schlechte Gewissen wegen Lou leider nicht halb so schlecht, wie ich es mir gerade wünsche. Ich überlege, zum Ausgleich ab morgen Lotto zu spielen; ein Millionengewinn erscheint mir derzeit sehr realistisch. Denn die Unwahrscheinlichkeit, dass Inga mich ausgerechnet hier besucht, hat sich heute allen Gegebenheiten zum Trotz ebenfalls als sehr realistisch herausgestellt.

Ernsthaft, Karma? Ist das deine Antwort auf meinen Silvesterwunsch? – Keine Reaktion. Sowohl das Karma als auch die Teufelchen sind ausgeflogen. Und das, obwohl ich fast nicht geschlafen habe. Mittlerweile glaube ich, dass sie mich nur dann allein lassen, wenn ich mal wirklich kreativen Unsinn machen sollte. Vielleicht sind sie diesmal aber gar nicht schuld. Ich überlege, ob ich Hanni von meiner E-Mail an Inga erzählt habe. Nichts, keine Erinnerung vorhanden. Nein, ich bin mir sicher, dass ich es nicht getan habe. Bevor ich mich eventuell durch ein Experiment mit Strom grille, will ich mir erst Ingas Anliegen anhören. Den getarnten Freitod hebe ich mir als Option für nachher auf. Wie ich in den nächsten fünfzig Minuten eine Vorführung hinbekommen soll, entzieht sich meiner Kenntnis.

Der kleine Hörsaal wird immer voller. Inga hat sich in der letzten Reihe links an den Gang gesetzt. Sie ist mir nur wegen ihren vielen Haaren aufgefallen. Nach dem zweiten Blick war ich sicher, dass sie es ist. Ob sie mich schon gesehen hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall schaut sie nicht in meine Richtung. Dass man sie für Experimente mit Elektrizität begeistern kann, ist mir ja nicht neu. Dass sie dafür aber ein paar hundert Kilometer gereist ist, finde ich schon ein bisschen verwirrend. Mehr als drei Jahre haben wir uns nicht gesehen, das Foto von ihr zähle ich nicht mit. Ich würde sie gerne anstarren, weil ich nicht glauben kann, dass sie hier ist. Wie auch immer sie herausgefunden hat, dass ich in diesem Museum arbeite, auf eine traurige Art und Weise freut es mich. Ich kann nicht zu ihr gehen, stehe da wie festgefroren. Wenn ich sie noch kennen würde, hätte sie jetzt den glücklichsten Friedhofsliebhaber am Hals hängen, den sie je erlebt hat. Da ich sie aber nicht mehr kenne und sie mich nicht, mache ich da weiter, wo ich aufgehört habe: Ich gehe ihr aus dem Weg und verhalte mich wie ein Premiumverdränger. Es fällt mir unendlich schwer, mein Programm durchzuziehen.

Nach einer Weile sehen wir uns über die Köpfe der Besucher hinweg gleichzeitig an. Uns stehen beiden Fragezeichen über dem Kopf. Sie macht eine flüchtige Geste, mit der sie erfragt, ob sie lieber gehen solle. Mit einem unsicheren Lächeln schüttele ich langsam den Kopf. Die Minuten vergehen in Zeitlupe, das Adrenalin in mir reicht aus, um bis nach Südafrika zu joggen. Nach der Vorstellung müsste ich eigentlich gleich weiter, mehr als ein paar Minuten kann ich mir nicht nehmen. Ich warte unten an der Treppe, sie kommt zu mir runter gelaufen und setzt sich auf die Bank an der Treppe. Ich setze mich auf die Bank gegenüber. Wir starren uns an und schweigen. Ich schaue auf den Boden, weiche ihrem fragenden Blick aus.

Inga lacht mich leise aus. »Du bist ein feiges Arschloch, das ist dir schon klar, oder?«

Ja, das ist mir klar. Deswegen weiß ich auch nicht, was sie nach so langer Zeit noch von mir will. »Was willst du hören? Dass ich dir das bestätige, damit du in Frieden wieder gehen kannst?«

Wenn das Zerbrechen einer Seele ein Bild wäre, ihr Gesicht wäre die Leinwand dafür. »Ich will Antworten. Deine Antworten. Meine reichen nicht aus, um abzuschließen. Nicht, nachdem ich deine E-Mail gelesen habe.«

Ich schüttele langsam den Kopf. Nicht, weil ich ihr die Erklärung nicht geben will, sondern weil ich ratlos bin, wie ich das Problem erklären soll. »Meine Antworten sind nicht besser als deine.«

»Kein Wort, keine Erklärung – wie hast du dir das vorgestellt? Ich bin pissig auf dich, bis du mir egal bist?«

»Genau das war mein Plan. Hat nicht funktioniert, wie es scheint.«

Ihre Augenlider schließen sich, sie atmet tief durch. Meine Augen gehen auch zu, ich bin so entfernt von meiner inneren Mitte, wie es nur geht. – Tadaaa, eine ordentliche Ohrfeige aus dem Nichts. Die allererste von ihr. Talent hat sie auf jeden Fall, sowohl im Ohrfeigen als auch im Überraschen. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen war das nicht geplant. Sie ist hochrot und mein Körper erfährt eine alles umfassende, hormonelle Reizüberflutung. Ich starre sie an und versuche mein Gehirn daran zu hindern, spontan überzureagieren. Bitte keine Anwandlung, sie zu küssen, nicht spontan aufstehen und gehen, am besten auch keine Erektion …Noch bevor ich alle gedanklichen Wünsche an mein Karma geäußert habe, fängt sie an zu reden.

»Ich kam lange nicht auf die Trennung klar, und als diese Sehnsucht nach dir endlich stumpf wurde, kam mir mit gewaltiger Verspätung deine E-Mail ins Postfach geflattert. Du kennst meine scheiß Telefonnummer auswendig, Lukas, und dann schickst du mir eine E-Mail von einer neuen Adresse?!«

Egal, wo Karma und Teufelchen sich derzeit aufhalten, ich wette, sie lachen sich über mich kaputt. Ich antworte nicht, bis ihre Augenbrauen sich heben und die Frage im emotionalen Vakuum zwischen uns noch einmal fett markieren. »Ich dachte, du willst mich nicht mehr, weil du nicht geantwortet hast. Dass die Nachricht im Spam-Ordner landet, kam mir erst viel später in den Sinn. Da war der Mut bereits weg, dich zu kontaktieren«, rechtfertige ich mich. Die Frage, weshalb ich nicht von der alten Adresse geschrieben habe, lasse ich offen. Die Antwort ist simpel: Ich hatte keine Lust mehr auf eine alberne und eine minimal weniger alberne. Ich habe kurzerhand eine seriöse Adresse eingerichtet und die anderen Konten stillgelegt. Wenn es hochkommt, schaue ich einmal im halben Jahr in die alten rein.

Wir schweigen uns an, bis der Moment noch unangenehmer wird, als er es sowieso schon ist. Inga fährt sich durch die Haare und steht auf. »Ich weiß gar nicht mehr, wieso ich unbedingt herkommen musste. War mir klar, dass du mich nicht freudestrahlend in Empfang nimmst und dich für die letzten drei Jahre entschuldigst.« Ihr ironisches Lächeln hat ein paar Fältchen mehr zur Untermalung bekommen. Ich würde sie gerne umarmen, aber ich kann es nicht, selbst wenn sie es zulassen würde.

»Ich freue mich, dass du hier bist. Ich freue mich nur nicht über mich selbst«, sage ich stattdessen leise.

Ihr Blick kommt verstohlen zu mir rüber und fällt wieder auf ihre Hände, mit denen sie ihr Haargummi quält. Das hat sie auch früher oft getan, wenn sie nachgedacht hat oder nervös war. »Was machst du heute Abend?«, nuschelt sie in ihren Schal hinein.

»Was mit dir, wenn du willst.«

»Nur, wenn ich dir in den Kram passe.«

»Nichts hat mir in den letzten drei Jahren spontan besser in den Kram gepasst. Ich befürchte eher, ich passe nicht mehr in deinen Kram.«

Sie lächelt verlegen, aber glücklich geht anders. »Ich habe keine Erwartungen, die mich euphorisch stimmen.« Sämtliche Alarmglocken schrillen und empfehlen mir, bis heute Abend einen Crashkurs im Erwachsenwerden zu absolvieren. Mit Einser-Abschluss. Antworten kann sie haben, die Frage ist nur, ob sie die will und welche ich ihr zuerst geben sollte. Um halb neun könnte ich sie abholen kommen, stelle ich ihr in Aussicht. Ich muss dringend mit irgendwem vorher reden und mich runterfahren. Bisher habe ich noch keine Ahnung, was ich mit ihr machen soll. »Welches Hotel?«, will ich wissen.

»Ähm, das hier«, sagt sie und zeigt mir die Adresse auf ihrem Handy. Das ist recht zentral.

Bevor sie geht, lasse ich es auf ihrem Telefon einmal anklingeln, damit sie meine Nummer hat. Inga starrt ihr Telefon an. Dabei laufen ihre Tränen. »Lukas ruft an«, sagt sie leise. Hatte ich schon erwähnt? Und bitte kein Drama!, sage ich in Gedanken zu meinem Karma. Inga lässt mein Leben schon jetzt eiskalt gegen die Wand fahren. Sie hat darauf gewartet, dass ich sie anrufe und ich habe es nicht getan. Es hätte mir klar sein müssen, dass ich ihr keine bessere Option biete, indem ich ihr einfach meine Liebe entziehe, die viele Jahre ihre Lebensgrundlage war. Nicht nur sie fühlt sich gerade so, sondern auch Lou. Ich wünschte, ich hätte den Arsch in der Hose, wenigstens Inga in den Arm zu nehmen, aber es geht nicht. Zwei heulende Frauen sind mir heute eindeutig zu viel.

Nachdem sie gegangen ist, habe ich mich auf dem Klo eingeschlossen. Niemand hat gesagt, dass Premiumverdränger nicht heulen und sich danach für ein paar Tage krankmelden dürfen.

* * *

16:30 Uhr. Bis eben war ich bei meiner Therapeutin aus der Klinik, in der ich vor drei Jahren war. Ich bin froh, dass ich die E-Mails der Klinik mit ihrer Nummer noch nicht aus meinem Postfach gelöscht habe, denn sie hat neben ihrer Anstellung in der Klinik auch eine kleine Praxis in der Innenstadt. Wie durch ein Wunder konnte sie mich für eine halbe Stunde zwischen zwei Termine schieben und ich sie mit meiner Panik zuschwallen. Wenigstens irgendetwas, das heute funktioniert. Ihr Rat bezüglich Inga: Arschbacken zusammenkneifen und kopfüber ins Güllebecken springen. Na super. Aber ich darf mich nicht beschweren, mein Neujahrswunsch war eine Gelegenheit zur Klärung und die habe ich jetzt. Den Zeitpunkt habe ich in meinem Wunsch ja leider nicht weiter spezifiziert. Merke: keine Bitte ans Universum schicken, wenn man betrunken ist und die Hälfte vergisst.

Ich bin im Turbo nach Hause gefahren und rufe meinen Bruder an, bevor Niri und er mit Amira übers Wochenende abhauen. Sie fahren bis Dienstagabend in die Normandie, weil Silas Entzug vom Meer hat. Mit Véro will ich nicht über Inga reden, weil sie Lou zu nahesteht. Es läuft wieder einmal darauf hinaus, dass ich auch ja keinen Ansprechpartner habe.

»Was will Inga von mir?«, frage ich Silas und lasse mir sein entspanntes Seufzen durch den Kopf gehen.

»Antworten. Hat sie doch schon gesagt. «

So weit war ich auch schon. »Ich habe keine Antworten für sie, ich habe ja nicht mal welche für mich!« Dabei denke ich mir, dass sie wohl selbst nicht weiß, was sie hier will.

»Sie gehört noch zur Generation Reparatur, Luc. Du weißt schon, man schmeißt ein Spielzeug nicht weg, wenn es kaputtgeht.«

Ich drehe mich langsam auf meinem Bürostuhl hin und her. »Dafür gibt es keine Ersatzteile. Nicht mal eine Bedienungsanleitung.« Ich meine das ernst. Sie hat keine Perspektive mit mir.

»Dann sei ehrlich zu ihr und verkack es dir nicht gleich. Wenn du der Erfüllung von Lous Vermutung nicht tatenlos zusehen willst und es dadurch wieder vermasselst, gibst du ihr eine kaputte, aber ehrliche Antwort. Die 33 süßsauer zum Mitnehmen – mit allem. Depressionen, Liste, Drogen und meine Wenigkeit. Du hast keine andere Wahl, wenn du sie zurück willst!« Netter Vorschlag von ihm.

»Das kann ich nicht an einem einzigen Abend. Sie stirbt an einem Herzinfarkt und ich gleich mit, weil Lou und Inga an einem Wochenende zu viel Terror für meinen Kopf sind«, widerspreche ich.

»Dann mach zwei Abende draus!« Ich sollte langsam lernen, meine Energie besser einzusetzen, als mich über die Antworten meines Bruders aufzuregen.

Eine gefühlte Ewigkeit sitze ich in der Wohnung rum und überlege, was ich mit Inga machen könnte. Im Gegensatz zu Silas kann ich nicht mal eben so ein Ferienhaus am Meer mieten. Die Wohnung in Paris ist keine Option. Lou geistert in meinen Gedanken darin rum, denn sie hat noch einen Schlüssel. Ich gehe nicht davon aus, dass sie vorbeikommt, aber es würde zu meinem Leben passen. Weil ich für Inga etwas Neutrales brauche, suche ich nach Orten, zu denen Lou nicht geht. Techno-Clubs! Die machen aber erst später auf. Egal. Der einzige Laden, in den Lou nie gehen würde, ist das ›Case‹, weil sie es sich nicht leisten kann und Techno nicht so mag. Inga geht da bestimmt gerne hin, zumindest, wenn sich nichts an ihrem Geschmack für tanzbare Musik geändert hat. Mir kommt eine Idee.

Nach einem Anruf bei Danilo habe ich die Zusage für den Schlüssel zu einer leer stehenden Wohnung mit Dachterrasse und Aussicht auf die Seine. Ich muss ihm hoch und heilig versprechen, dass ich nichts verwüste, keine Fete darin steigen lasse und den Schlüssel nicht verliere. »Ohne Probleme machbar«, versichere ich ihm. Danilo sagt, ich soll ihn in einer halben Stunde in seinem Büro abholen. Erleichterung. Ein bisschen seltsam komme ich mir schon vor, immerhin kennen wir uns nur flüchtig durch Véros Geburtstag und die wenigen Male, die wir uns bei ihr getroffen haben, wenn er die Kinder gebracht oder geholt hat. Wir waren uns jedoch auf Anhieb sympathisch.

* * *

Bevor ich gegen halb acht losfahre, schreibe ich Silas noch eine Nachricht, in der ich ihn frage, ob ich mir bis nächsten Monat was von ihm leihen kann. Nur für den Notfall.

»Du elender Schnorrer! Ich zahl dir was ein, bevor wir fahren, aber wenn das Geld nicht zurückkommt, bist du ein Jahr lang meine Reinigungskraft. Nackt!«

»Danke. Ich putze gerne, macht Ordnung in meinem Kopf. Ich bin außerdem Profi im Nacktsein, kein Thema«, antworte ich.

»Wie viel?«

»500 wären nett.«

»NACKT!«

»Von mir aus auch rosa angemalt! Danke.«

Damit kann ich leben. Hauptsache, Lou läuft uns nicht über den Weg. Sie weiß nicht genau, wie Inga aussieht, aber sie würde sie wahrscheinlich trotzdem erkennen. Bis nachher bleiben mir nur eine Badewanne voll Eiswürfel für meine zwei Gehirne und oder gefühlte zweihundert Runden Selbstbefriedigung.

* * *

20:31 Uhr. Ich bin schon stolz auf mich, dass ich Inga trotz Berufsverkehr und Schlüssel-Orga pünktlich einsammeln kann, obwohl mir eher nach Flucht ist.

Inga steht vor dem Hotel und raucht. Was? So wird das nichts mit der Karriere als Saxophonistin! Aber vielleicht macht sie mittlerweile doch was anderes. Sie schaut nicht in meine Richtung. Während ich auf sie zugehe, wechseln sich meine Gedanken in beiden Sprachen mit den Gedanken in meiner Hose ab. Ihre Haare sind ein bisschen länger, eine unbändige, hellbraune Mähne, die mit Sicherheit wunderschön in alle Richtungen gestanden hätte. Wenn die Situation eine andere gewesen wäre, hätte ich sie gerne in die Vorstellung eingebaut. Sie wirkt zudem leider ein bisschen dünner als früher. Es war mir nie wichtig, was sie anhatte. Allerdings bedeutet das nicht, dass ich nicht manches gerne an ihr gesehen habe. Heute im Programm: dunkle, enge Jeans, schwarze Stiefeletten, ein schwarzes Top und eine enge Lederjacke. Alte Nachmacherin. Erst behauptet sie jahrelang, sie sei kein Grufti und dann klaut sie meinen Stil. Bestechung! Aber es steht ihr und vor allem sieht es besser aus als diese Achtziger-Kacke mit den Leggins und den überlangen Strickjacken, die gefühlt jede Frau weltweit gerade anhat. Fast fühle ich mich selbst an den Mainstream verkauft, weil ich mir vor nicht allzu langer Zeit ein paar schwarze Sneakers gekauft habe.

Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich sie ansprechen oder ihr auf die Schulter tippen soll und bleibe einen halben Meter hinter ihr stehen. Natürlich dreht sie sich um und erschrickt. »Was zur Hölle?!«, beschwert sie sich und macht die typische Herzinfarktgeste mit der Hand auf dem Brustkorb.

»Hi. Seit wann rauchst du?« Meine sozialen Fähig­keiten, Gespräche diplomatisch zu eröffnen, halten sich offensichtlich in Grenzen.

»Seit wann schleichst du dich so an?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich bin der Tod.«

Inga seufzt. »Ich rauche nur ab und zu. Gelegentlich«, sagt sie unsicher und wirft die Zigarette auf die Straße. Sie war sowieso fast bis zum Filter runtergebrannt.

»Bei jeder Gelegenheit?« Wenn ich solche Antworten von mir gebe, hatte ich definitiv zu wenig Schlaf. Ingas Gesicht spricht Bände. Ich sollte besser die Klappe halten. Ich kann ihr so oder so nichts von mir erzählen, ohne über jeden Satz nachzudenken. Die Drogen, Véro, Silas und die Liste existieren nicht in ihrem Leben und alles, was ich mir vorgenommen habe zu sagen, ist per Wurmloch zu meinem achtjährigen stotternden, neudeutschen Ich geflogen. Da sie aber ein neugieriger Mensch ist, wird sie auch ohne mein Zutun alles herausfinden, nur nicht heute. Möglichst in kleinen Dosen, damit sie nicht abhaut, bis ich die Katastrophen herauskramen kann.

»Komm«, sage ich und laufe langsam los, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Sie folgt mir. »Wo gehen wir hin?«

»Fahren.«

»In Ordnung, Lukas. Wohin fahren wir?«

Ich habe keine Ahnung, wie es da aussieht, wo wir den Abend verbringen. »Überraschung.«

»Aha?«, antwortet sie interessiert. Schweigend laufen wir die zweihundert Meter bis zum Auto.

Die Zentralverriegelung springt auf und Inga bleibt auf dem Bürgersteig stehen. Sie glotzt das Auto an, ich laufe zur Fahrerseite.

»Was ist?«, will ich wissen.

»Porno«, antwortet sie langsam und sieht mich danach skeptisch an.

»Das Auto?«

Sie nickt. »Deins?«

»Nein.«

Wir steigen ein und weil ich ein Feigling bin, sage ich ihr, ich hätte das Auto von einem Freund geliehen. Wer leiht einem adrenalingestörten Freund wie mir ernsthaft so ein Auto? Egal wie, es bringt mir Pluspunkte, weil sie meine Liebe für Technik in dieser Hinsicht teilt. Auch bei ihr werden fehlende PS durch Technikliebe ersetzt.

Wir fahren ins Parkhaus und laufen beinahe gesprächsfrei zu Danilos Bonzenabsteige.

Inga macht ebenso große Augen wie ich. »Okay, sag mir bitte, du wohnst hier!« Am liebsten würde ich ja sagen, weil mir die Wohnung genauso gut gefällt wie ihr.

»Nein. Sie steht zum Verkauf.«

Ich ziehe die Tür hinter mir zu. Inga schaut sich um und mich irritiert an.

»Ein Bekannter von mir ist Makler, den Schlüssel muss ich morgen wieder abgeben.«

»Ist deine Wohnung so schlimm?«

»Nicht schlimmer als mein Zimmer in Hofheim. Aber ich denke, du solltest dich davon fernhalten.«

»Du willst mich nur nicht in deinem Leben, stimmt’s?« Ihre amüsiert klingende Direktheit habe ich vermisst.

»Ich will es nicht zu schnell zu gemütlich und vertraut. Bevor ein Unglück ohne Kleidung passiert«, räume ich ein.

Inga räuspert sich gespielt affektiert.

Der Wohnungswechsel war die beste Idee des Tages. Es ist zwar ein bisschen frisch auf der Terrasse, aber die Aussicht dafür exklusiv. Wir sitzen auf der Holzbank, Inga schweigt. Sie beobachtet das Treiben unten auf der Straße.

»Ist es dir hier zu kalt?«, frage ich besorgt, weil sie sich in die Decke einwickelt, die auf der Bank lag.

Kopfschütteln.

»Geht schon. Die Aussicht macht es wett. – Was hast du die letzten Jahre so gemacht?«

Am liebsten hätte ich Bums-Roulette gesagt – man weiß nie, wer und was als nächstes kommt, aber das wäre nicht lustig. Dafür erzähle ich, dass ich das Studium gerade so beendet habe. Die Info über den miesen Abschluss spare ich mir vorerst. Okay, irgendwas werde ich den Rest meines Lebens arbeiten, wenn ich es nicht geschafft haben sollte, mich versehentlich vorzeitig im Museum selbst zu töten.

»Dein Akzent ist so stark wie seit der Schulzeit nicht mehr«, stellt Inga fest.

»Schlimm?«

»Gar nicht! Ich höre dir gerne zu, wenn du redest. Akustik-Porno und so.«

»Porno?«, wiederhole ich amüsiert.

»Deine Stimme immer, weißt du doch. Hast du eigentlich eine Freundin?«, fragt sie und sitzt plötzlich da wie schockgefroren. Die Frage hat sie so unbedacht gestellt, dass es ihr unangenehm ist. Fast schon lustig, dass ich ihr das mit der Liste nicht erzählen kann. Wenn sie damals weiterhin nur meine beste Freundin geblieben wäre, würde sie sich sicher alle Namen mit Bild reinziehen wollen und mich noch mit einem Bier zum Anstoßen beglückwünschen. Wenigstens kann ich seit gestern Abend auf ihre Frage mit »nein« antworten.

Sie nickt und schweigt.

»Und du? Hast du einen Freund?«

Sie wendet mir langsam den Kopf zu und zieht eine Augenbraue hoch. »Wenn ich einen hätte, würde der es sicher toll finden, dass ich hier bin und mit dir rede, oder?«

Ich zucke die Achseln und schwenke um auf Belanglosigkeiten. Sie ist nach mehr als drei Jahren gekommen, um mich zur Rede zu stellen. Wenn das nicht krass ist, weiß ich auch nicht.

Eine Weile geht das so zwischen uns hin und her, das ein oder andere Wortspiel hebt die Stimmung. »Du hast mir gefehlt«, platze ich plötzlich heraus. Sie wird ernst und seufzt. Ich rechne damit, dass nun der unangenehme Teil ihres Besuches folgt, aber sie schiebt das klärende Gespräch genauso auf wie ich. Wieso sich der Abend so anders entwickelt als erwartet, kann ich mir nicht erklären.

»Du riechst gut. Anders als sonst, aber ich mag den Geruch. Ist das ein Deo oder ein Parfüm?« Ihre Frage erwischt mich kalt.

»Parfüm. Deine Rundungen sind übrigens weniger geworden. Ich bin dagegen!«, lenke ich ab. Ich weiß, dass sie mich dafür am liebsten liebevoll in die Seite zwicken würde.

»Du bist und bleibst ein charmantes Arschloch!«

»Was heißt hier Arschloch? Das war ernst gemeint!«

Wir müssen beide abwechselnd immer wieder schmunzeln, obwohl die Situation nur halb so lustig ist. Ich kann kein Gefühl für die Stimmung zwischen uns entwickeln, deshalb habe ich mit ihrer nächsten Frage nicht gerechnet: »Kannst du mich mal umarmen? Es kommt mir so vor, als wärst du nicht echt. Ich kann mit Menschen, die nicht echt sind, keine Probleme besprechen.« Ich bin aus dem Konzept und kann vorerst nichts dazu sagen. Umarmen geht nicht. Man macht so etwas nicht mit Menschen, auf die man sauer ist oder die einen so enttäuscht haben. Nicht, bevor Dinge nicht geklärt sind.

»Inga, ich kann dir nicht mehr einfach so nahe sein wie damals.«

Die Distanz zwischen uns wächst, sie sieht mich enttäuscht an. »Wieso?«

»Weil das zwangsläufig wieder in der Unterhosen­zone endet.« Mehr als ihr Schulterzucken kommt nicht. Wahrscheinlich findet sie das genauso absurd wie ich, aber ich bin mir sicher, dass die Gefahr real ist. »Das ist kein Spaß, ich will das nicht«, stelle ich klar.

»Ich weiß das! Ich bin auch nicht zum Spaß hier!«

»Warum bist du denn überhaupt hier?«

Der Ton zwischen uns verändert sich, die Anspannung von heute Mittag schleicht sich wieder ein.

»Um Dinge zu klären.«

»Du hast dir ein paar Jahre Zeit gelassen, um hierher zu kommen und mir in den Arsch zu treten.«

»Ja, ich weiß. Ich war es leid, dir nachzurennen. Ich hab das zehn Jahre lang getan!« Inga kramt ihre Zigaretten heraus und steckt sich eine an.

»Hast du nicht.«

»Stimmt. Ich bin dir nicht hinterhergelaufen, ich habe sorgenvoll auf dich und die Erklärung für deine Launen gewartet. Zu lange.« Sie wird sauer, aber vielleicht ist das gar nicht schlecht. Dann versteht sie, dass ihr Bild von mir nicht mehr stimmt.

»Warum musst du die jetzt dann noch –«, sage ich, werde aber von ihr unterbrochen.

»Weil du sie mir schuldig bist! Drei Jahre lang hatte ich keinen Anhaltspunkt, dass du in der Lage bist, das zu klären! Mein letzter Stand war, dass du deine Ruhe willst. Ich habe außerdem einen netten Brief von dir zu Hause liegen, in dem du ziemlich deutlich gemacht hast, dass ich abschließen soll. Und dann kommt diese Mail?«

»Ich hätte sie dir nicht schicken sollen«, stelle ich fest.

»Nein! Du hättest sie vielleicht viel früher schicken sollen – oder besser: wie wäre es mit anrufen gewesen? Ich bin nicht naiv! Ich weiß, wie unfähig du bist, dich ohne Umwege zu entschuldigen. Tut mir leid, Lukas, aber ich kenne dich zu lang, um zu überlesen, was du mit deinen Nachrichten wirklich meinst!«

Sie hat recht. Ich wollte, dass sie kommt, weil ich nicht loslassen kann. »Was meine ich denn wirklich?«

Sie drückt die Zigarette schweigend im Blumentopf neben der Bank aus.

»Inga?«

Sie sieht mich ernst an. »Glaubst du, ich finde das witzig, dass du mir sagst, ich soll ohne Klärung ein ganzes Jahrzehnt mit dir abhaken und dann bist du derjenige, der nicht loslassen kann?«

»War nicht so geplant.«

»Was hat dir gefehlt? Die Nähe? Der Sex? Jemand, der hinnimmt, dass du Probleme mit dir selbst hast, ohne dauernd Fragen zu stellen?«

»Nein«, sage ich leise.

»Was dann? Die Inga, die deine Welt so spannend findet, dass sie ihre eigene nicht richtig gesehen hat, bis du weg warst?«

Ich lehne mich zurück und mache die Augen zu, in der Hoffnung, die Gedanken sortieren sich zu einem sinnvollen Satz. Ich bekomme keinen zusammen. »Du hast gefehlt.«

»Ja? Was an mir? Was bin ich denn für dich?«

Ihre Frage ist gut. Die ehrliche Antwort darauf wäre auf den Kern reduziert: mein Anker. Und genau das will und darf sie nicht mehr sein. »Meine beste Freundin, mit der ich alles geteilt habe, mit der ich ein Team war, die mich verstanden hat, die ich verstanden habe.«

»Ja und nein. Deine Ängste hast du nicht immer mit mir geteilt und ich wusste, dass sie da sind. Ich hatte keinen Bock mehr darauf, dass du so tust, als seien sie nicht da. Du hast mich ausgegrenzt und ich habe lange gehofft, du nimmst dir diese Auszeit und änderst was daran.«

Ich weiß nicht, ob sich etwas geändert hat, aber den Abschluss hat sie verdient. Egal wie der aussehen mag.

»Du hättest nicht kommen müssen. Du hättest mich ignorieren und weiterhin erwachsener sein können als ich. Warum bist du hier?«, frage ich.

Sie weicht meinem Blick aus und überlegt. »Ich war mir sicher, dass ich drüber weg bin, bis die Mail kam. Dann habe ich mir wieder Sorgen um dich gemacht. Ich will das nicht mehr, Lukas. Ich will ein Ende oder einen Anfang, aber nichts mehr dazwischen.«

Wir schweigen uns an, bis ich ihr sage, dass es keine schnellen Antworten gibt. Aber dass es sie geben wird, auch wenn sie hässlich sind, ist Inga Grund genug, dass sie den Abend weiterhin mit mir verbringen will. Die jahrelange Freundschaft zwischen uns kann diese ungewisse Situation für einen Moment tragen – die Beziehung konnte es am Ende nicht mehr. Wir waren bis kurz vor der Trennung ein gutes Team, das einzig Schlechte war mein Gewissen und das hat meine Launen letztendlich unerträglich gemacht.

Ingas Handrücken liegt unverhofft auf meinem Bein. Ich lege meine Hand in ihre. Das wäre der Moment, in dem ich sagen sollte, was Sache ist. Ein einziger Satz würde ausreichen, um ihr zu erzählen, dass ich einen Bruder habe, seit Jahren gegen depressive Phasen kämpfe und unbedarft Scheiße gebaut habe. Aber ich kann es nicht, die Zeit steht still. Unsere Haut berührt sich und alle Ängste und Sehnsüchte sind wieder real. Bevor ich doch auf die Idee komme, sie mit nach Hause zu nehmen, schlage ich ihr das Case vor.

»Ist das ein Club?«

»Elektrozeugs.«

»Ich habe nicht so viel Bargeld einstecken, ich muss erst zur Bank. Ist das teuer und wenn ja, kann ich da im Notfall mit Karte zahlen?« Pragmatisch wie früher.

»Achttausend Mark. Nur in bar!«, ziehe ich sie auf. Sie lacht endlich mal nicht ironisch. Am liebsten würde ich ihre Hand nicht loslassen, aber ich muss, weil wir die Decke wieder zusammenlegen und alles ordentlich hinterlassen sollen.

* * *

23:45 Uhr. Nach einem Spaziergang und einem Umweg über eine Pizzeria stehen wir im Club. Inga gibt ihre Jacke ab, ich warte zehn Meter weiter auf sie. Ich weiß, dass sie nicht will, dass ich ihr den Eintritt zahle, aber ich mache es trotzdem. Ich will nicht, dass sie hier überhaupt für irgendetwas zahlt. Ein bisschen ist mir schon schlecht, weil ich mit Inga fremdes Geld verplempere. Wahrscheinlich putze ich wirklich ein Jahr lang nackt das Haus.

Ich weiß bereits, worauf das hinausläuft. Inga ist anscheinend noch immer sehr trinkfest. Wenn ich Pech habe, ist sie nachher bei der gleichen Menge nicht halb so voll wie ich. Die Kombination aus: nicht schlafen, nicht essen und Alkohol macht jedes Mal seltsame Dinge mit mir. Nachdem ich die erste Chance auf Klärung vorhin versaut habe, brauche ich einen neuen Plan. Deshalb schreibe ich meinem Bruder eine Nachricht, in der steht, dass wir tanzen sind und ich keine Ahnung habe, wie sich der Abend entwickelt. Ich solle mein »Gehirn anmachen und den Schwanz ausgeschaltet lassen«, rät er mir etwa zwanzig Minuten später. Ich denke an ihn und Niri, nachdem er sich von Pia getrennt hat. Ich liebe meinen Bruder und seine Ratschläge.

Tanzen. Hauptsache, den Alkohol verarbeiten. Hormone verteilen sich irgendwie noch besser, wenn man sich bewegt, glaube ich. Da Inga nicht anders auf mich wirkt als ich auf sie, schaffe ich es natürlich nicht, ihr nicht auf den Hintern zu schauen. Leute quetschen sich an uns vorbei, kurz darauf hängt sie mit dem Kopf auf meiner Schulter und umarmt mich zögerlich. Ihre Berührungen haben mir gefehlt und weil mein Puls wegen dem Adrenalin gleich explodiert, bin ich handlungsunfähig.

Ihre Hände gehen unter mein Hemd und in meine Arschtasche. Es hat nicht geklappt, mich potenzfrei zu betrinken, ohne gleichzeitig sämtliche andere Funktionen weiter oben zu beeinträchtigen. Sie bettelt richtig darum, geküsst zu werden. Das ist so falsch und unreif, dass ich am liebsten lachen würde. Was passiert hier gerade? Sie ist die Frau, die mir dreieinhalb Jahre fast jeden Tag zum Horrortrip gemacht hat.

Ich kann ihr nicht widerstehen, greife ihr mit der linken Hand im Genick in die Haare. Ihre Augen gehen automatisch zu und mein Verstand aus. Es fühlt sich noch immer gut an, sie zu küssen, aber leider hat es einen nachhaltigen Effekt auf meine Vernunft.

* * *

Halb vier. Hoffentlich ist das Auto morgen noch da, ich muss es im Parkhaus stehen lassen. Das hätte bestimmt böse geendet, wenn ich noch versucht hätte, heim zu fahren.

Taxi.

Inga steht also doch in meiner Wohnung und schaut sich um. Zum Glück habe ich den Poststapel für Silas schon mit nach Clermont genommen und noch keine neue Post aus dem Briefkasten geholt. Auf dem Klingelschild steht auch nur unser Nachname und Silas hatte bisher nie ein Bedürfnis, Erinnerungen in Form von Bildern an die Wand zu hängen. Aber ein Rest Unsicherheit, dass Inga hier irgendwo unvorbereitet auf seine Existenz trifft, bleibt dennoch.

Wir haben noch kein einziges Problem gelöst und sie tut, was sie am besten kann: mir wortlos befehlen, mit dem rationalen Denken aufzuhören. Ich komme nicht drauf klar, dass sie meinen Plan, ihr mein elendes Leben vor die Füße zu werfen, zerknüllt und wegwirft. Bestimmt ist das so eine Spezialkarte meines Karmas. Selbiges ist, wie zu erwarten, plötzlich wieder anwesend: »Tut mir leid, Lukas. Beim nächsten Zug musst du zwei Extrakarten ziehen, danach eine Runde aussetzen und dein letztes Ersatzleben abgeben.« Ich möchte gerne unauffällig und fest mit dem Kopf gegen die Wand hauen.

»Ich klebe«, sagt sie und schüttelt ihr Top ein wenig aus.

Ob sie vor dem Schlafen noch mal duschen will, frage ich.

»Nur, wenn du auch duschen gehst. Ich will nicht weniger stinken als du!«, befiehlt sie mir und zeigt mit dem Finger auf mich. Meine rechte Augenbraue geht skeptisch hoch. Mein gesamtes Leben nach ihr stinkt, da hilft auch kein Wasser.

»Du gehst aber zuerst. Das Wasser ist nachts nämlich nicht so lange warm.«

Ich gebe vor beleidigt über ihre Anmaßung zu sein, mir in meiner Wohnung Befehle zu erteilen. Danach verschwinde ich im Schlafzimmer, um ihr ein Handtuch aus dem Schrank zu holen. Wahrscheinlich ist unsere gesamte Unterhaltung nicht halb so schnell und artikuliert, wie ich sie empfinde und in Erinnerung habe. Weil wir beide aber betrunken sind, geht das klar, dass ich sie so wiedergebe.

Als ich mit dem Handtuch zurückkomme, steht sie nackt in meinem Wohnzimmer und kämpft unelegant mit der linken Socke. Erfolglos. Die Kleider-Eskalation, vor der ich Angst hatte, hat bereits begonnen. Sie hält sich mit geschlossenen Augen am Sofa fest. »Hilf mir mal bitte …«

»Muss das sein?«, frage ich, helfe ihr aber aus der Socke.

»Beschwer dich bei den Strümpfen und nicht bei mir!« Sie setzt ihr Schmollgesicht auf. Bisher ist sie kein einziges Mal nicht süß gewesen, wenn sie betrunken war. Leider mag ich sie so verpeilt, weil sie wirkt, als müsse man sie umarmen.

»Nicht die Socke, das Ausziehen meine ich. Das hät­test du ohne mich machen können. Im Bad!«

»Sehe ich so schlimm aus oder was?«, nuschelt sie.

»Nein! Und jetzt geh duschen, verdammt, bevor ich unvernünftig werde!« Mein Kopf explodiert gleich, wenn sie nicht endlich aus meinem Kino verschwindet.

Inga nimmt mir das Handtuch ab und klemmt es sich unter die verschränkten Arme. Dann sieht sie mich eine Weile gespielt böse an, zieht die Nase hoch und legt das Handtuch auf die Sofalehne. »Hab’s mir anders überlegt!«

Kapitulation kündigt sich bei mir an. In Gedanken schmeiße ich meine Karten offen auf den Tisch und lehne mich zurück. »So, Karma. Du hast gewonnen. Ich mag dein Spiel eh nicht. Ich bin bereit für den Trostpreis.«

Ich zucke mit den Schultern. »Und nun?«

Sie tut es mir gleich. Wir sind beide Premiumloser, ganz sicher. Ich hasse und liebe sie, die sommersprossige Saxophonistin aus meinen schönsten Albträumen. Anscheinend ist sie mir doch nicht so unähnlich, was Vernunft angeht. Sie überfährt mich mit einem Kuss und ihren Händen an meinem Reißverschluss. Ich sehe mich verloren in ihrer übersinnlosen Fähigkeit, mich zu zerstören. Kopf aus, Bioprogramm an – mein Verstand macht Urlaub in der Bredouille. Inga tut es noch immer, mich egal wo berühren, als wäre ich ein Teil von ihr, und ich fühle mich wieder wie siebzehn. Sie hat meinen Penis nicht mal richtig in der Hand, da entfährt mir schon das erste Geräusch.

Keine zwei Minuten später liegt sie neben mir im Bett und ist unfähig zu reden, weil sie mir einen bläst. Geht gar nicht, und vor allem viel zu schnell. Deshalb drücke ich sie, nach dem ersten Moment mentaler Unfähigkeit, auch von mir weg. Auf meine hilflose Bitte, mein Gehirn nicht durchbrennen zu lassen, sagt sie nur, ich soll mir keine Sorgen machen, weil sie heute auch keins mitgebracht hat. Offensichtlich, stelle ich fest. Das Karma informiert mich darüber, dass mein Denkdatenvolumen jetzt leider aufgebraucht ist und ich den Rest des Monats nun mit reduzierter Geschwindigkeit vor mich hin verzweifle. Danke auch.

Mein Hormonhaushalt eskaliert ebenso fleißig weiter in die Unvernunft, während ich sie küsse und meine Finger sie zwischen den Beinen streicheln. Ich will sie am liebsten nicht einmal die fünf Sekunden lang loslassen, in denen ich automatisch Verhütungsmaßnahmen ergreife. Sie vertraut mir, fragt nicht danach, ob sie mit mir ein gesundheitliches Risiko eingeht. Vielleicht ist sie auch nur zu betrunken, als dass es ihr wichtig genug ist. Aber es ist irrelevant, ich kann nicht gleich wieder so nah in ihr Leben treten. Außerdem stehe ich nicht auf nicht abgesprochenen Sex ohne Verhütung. Ich wollte Kinder mit ihr, aber wir haben uns drei Jahre lang voneinander entfernt, mein Wunsch danach hat keine Daseinsberechtigung mehr.

Als sie auf mir sitzt und mich küsst, nehme ich ihr Gesicht in meine Hände und versinke in ihr. Ich bin hin- und hergerissen zwischen der Ungeduld, die letzten Jahre ohne sie in zwei Minuten nachzuholen und dem Wunsch, mich stundenlang in Zeitlupe von ihr reiten zu lassen. Es bleibt bei irgendetwas dazwischen und bewirkt den seltenen Zustand eines gemeinsamen Endes. Gerade stirbt sie kurz mit mir und erfindet mich und sich dadurch neu.

Nachdem ich die wenigen Minuten mit all meinen Sinnen bei und in ihr war, entlässt mich mein Seelenknast. Ich bin jetzt der kurierte Seelenficker auf Freigang, der nicht nur die Namen, sondern am liebsten die komplette Liste vergessen will.

* * *

Eine Viertelstunde später holt uns das Gewissen ein. »Hast du dir das so vorgestellt?«, will sie wissen.

»Was? Dass du herkommst, wir beide feststellen, dass es noch einiges zu klären gibt und vor einer Aussprache im Bett landen?«

Sie lächelt müde. »Ne, dass du ein S.O.S. absetzt und ich dir einen Rettungsring zuwerfe.«

»Du hast doch gar keine Rettungsringe mehr!«

Sie lacht leise. »Du Arsch, auf, sag schon!«

»Ja. Nein. Ich weiß es nicht.«

»Doch, bestimmt hast du dir das so erhofft«, sagt sie mit einem verschmitzten Grinsen. Mein Kommentar dazu entfällt, weil es stimmt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ein Wiedersehen so verläuft und deshalb auch noch keinen Plan. Ich muss Inga der Fairness halber warnen und sage ihr, dass es uns zerstören wird, weil ich ihr keinen Halt bieten kann.

»Ich war viel zu lang festgewachsen«, sagt sie.

»Trotzdem. Nicht gut.«

»Ich weiß. Aber vielleicht kann und will ich gut nicht. Ich will’s ehrlich, das bedeutet mir mehr.«

So langsam sind wir nüchtern, aber von Reue ist bei uns beiden noch keine Spur. Die Nacht endet mit ihrem Kopf auf meiner Schulter und ihrem leisen Schnarchen, das ich lange vermisst habe. Es wird uns erneut zerreißen, dass wir nicht in der Lage sind, erst zu reden. Aber sie versteht nicht, dass sie der Grund dafür ist. Nur alleine, weil sie eben sie ist und ich dank ihr kein Gehirn mehr habe, das denkt. Es fühlt nur noch und lässt sich treiben, verursacht, dass ich mir wünsche, schwach sein zu dürfen. Ich konnte es bisher nur bei ihr, ohne mich dafür schlecht zu fühlen. Keine andere Frau hat je so kontrolliert, dass all meine Naturgesetze im Chaos versinken.

26.04.14

Es ist halb neun, ich kann nicht mehr schlafen. Mein Biorhythmus gleicht einem Komposthaufen. Ich beschließe, sie nicht zu wecken, dafür aber zu duschen und das Auto zu holen. Dabei kann ich Danilo den Schlüssel auch einwerfen. Bevor ich gehe, bitte ich Inga per Notizzettel, dass sie nicht in meinen Sachen kramen soll. Ich bin mir sicher, dass es hier genug Hinweise auf Silas gibt, deren Entdeckung eine mittelschwere Endzeitkatastrophe auslösen würden. Aber ich versuche, so schnell wie möglich zurück zu sein. Zumindest eine Kanne Kaffee kann ich ihr dalassen.

Das Auto stand zum Glück noch ohne Kratzer dort, wo ich es gelassen hatte. Wieder daheim angekommen, stelle ich fest, dass Lou mir eine Tüte in den Briefkasten geworfen hat. Sie hat doch noch ein paar Sachen gefunden und ich bin mehr als froh, dass sie nicht hier gewartet hat. In Gedanken versunken laufe ich in die Küche, schaue mir meine Sachen an, die ich bei ihr vergessen habe. Kleinigkeiten. Ein Paar Socken, ein USB-Stick und mein Lederarmband. Das hätte ich auf jeden Fall vermisst. Ihre Kette will ich weitertragen, glaube ich. In der kleinen Urne daran sind Haare von ihr. Die Tage muss ich mal nachsehen, was sie mir auf den Stick gepackt hat. Ich vermute, da sind unsere gemeinsamen Bilder und ihre Musiksammlung drauf.

Inga lehnt in der Küche an der Arbeitsplatte, starrt mich an. Ich hänge die Tüte an die Hakenleiste an der Tür und erschrecke, als ich sie bemerke. Sie ist trotz ihres Analyseblickes noch so schön anzusehen wie früher. Inga hat ein interessantes Gesicht mit wenigen Sommersprossen. Ich mag das.

Wir sehen uns fragend an, bis sie nach meiner Hand greift und mich zu sich zieht. Wir küssen uns, drücken unsere Körper fest aneinander. Meine Hände schieben ihren Pulli hoch und ihre öffnen meine Hose. Innerhalb weniger Sekunden liegen wir ungeduldig auf meinem Bett und wissen nicht, wie wir dieses Verlangen nacheinander stillen können. Ich will sie fühlen, um mich herum spüren, mit ihr verbrennen. Wir versuchen möglichst schnell, unsere Klamotten loszuwerden, aber die tun nicht, was sie sollen. Ich komme mir vor wie ein Anfänger, der sich noch nie im Leben ausgezogen hat. Unsere Küsse sind fremd, ohne die Leidenschaft, die wir früher teilten. Da ist keine besondere Zärtlichkeit mehr zwischen uns, keine Vertrautheit. Ihr Körper fühlt sich unter meinem plötzlich an wie fast jeder andere Frauenkörper in den letzten Jahren. Das ist so falsch, dass ich die Augen aufmache und meine Hand aus ihrer Hose nehme.

»Was ist?«

Die Erregung in ihrer Stimme überfordert mich, das darf noch nicht zwischen uns passieren. Nicht so unüberlegt. Inga darf sich nicht anfühlen wie etwas, mit dem ich in fünf Minuten versucht habe zu kompensieren, was mir gefehlt hat.

»Ich kann das nicht, es ist nicht mehr vertraut.«

»Was?« Ihre Stimme wird brüchig. »Aber ich will dich, es ist mir egal, ob es zärtlich ist.«

»Nein. Noch nicht jetzt.«

»Wieso?«

Das Tempo von eben legt sich, das Verlangen nach ihr kühlt ab. Ich reibe mir durchs Gesicht und rolle mich langsam neben ihr auf die Seite.

»Weil du mir zu wichtig bist, als dass ich es nicht bereuen würde, mir keine Zeit für dich zu nehmen.«

Ihre Augen sind leer, das Feuer von eben ist erloschen. Sie weiß, dass ich recht habe, es würde nichts beschleunigen, wenn wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben. Nur zerstören. Ich hatte genug Sex ohne emotionale Nähe, leeres Verlangen, den unstillbaren Wunsch nach einer Einheit, die nicht mehr da ist. Das hat es schon einmal nicht gerettet. Mein Kopf liegt schwer auf ihrer Schulter. Sie weint leise, ich streichle lange ihren Bauch.

»Es tut mir leid, dass ich zu spät bin, Lukas. Ich hätte deine Mail —«

»Nein!

---ENDE DER LESEPROBE---