Schneepoet - Nika Sachs - E-Book

Schneepoet E-Book

Nika Sachs

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Beschreibung

Ich bin Lukas. Neunundzwanzig, manisch depressiv und Chaot mit Hang zum Exzess, der Gespräche mit seinem Karma führt und seine Katastrophen aufschreibt. Bisher bestand mein Leben aus zwei Ländern, zwei Namen, einer Menge kreativer Inkompetenz und zu vielen Fehlentscheidungen. Eine davon war, mich von Inga zu trennen. Danach habe ich erfolglos versucht, zu kompensieren, es in achtzehn Jahren nicht geschafft zu haben, ihr zu erzählen, dass ich nicht nur ein paar psychische Probleme, sondern auch noch einen Zwillingsbruder habe ...

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Nika Sachs

Schneepoet

Die Tagebücher der Familie Fauchet

Band I

Roman

Impressum

Schneepoet

Die Tagebücher der Familie Fauchet: Band I

Überarbeitete Neuauflage

© Nika Sachs 2023

Erstveröffentlichung im September 2017

Nika Sachs

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

Lektorat und Korrektorat: Michaela Stadelmann

Sensitivity Reading: Eva-Maria Obermann

Covergestaltung: Nika Sachs/Markus Michel/Carolin Summer

Buchsatz: saje design, www.saje-design.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Weitere Romane in dieser Reihe:

Karmapoet

(Band II, 2018/2023)

Abseitsliebe

(Band III, 2018/2023)

Zweieckformel

(Band IV, 2020/2023)

Am Horizont Schwarz

(Auskopplung, 2017/2023)

Zu diesem Buch

Diese Buchreihe erzählt die Geschichte der Familie Fauchet in Tagebuchform. Die Perspektive wechselt jedoch zwischen den Erzählenden. Band I und II erzählt ausschließlich Lukas, ab Band III erzählen jeweils im Wechsel Lukas, Silas und Inga.

Die Protagonistinnen und Protagonisten in diesem Buch sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig. Ich möchte klarstellen, dass ich sowohl seelischen als auch körperlichen Missbrauch, Alkohol- und Drogenkonsum, selbstverletzende Handlungsweisen sowie physische und psychische Gewalt kritisch sehe. Diese Themen kommen u.a. in expliziter Form in einigen meiner Bücher vor. Ein konstruktiver Umgang uns und unseren Mitmenschen ist mir ein wichtiges Anliegen und kann nur aus selbstreflektierendem Denken und Aufklärung entstehen. Darum bitte ich meine Leserinnen und Leser, sich bewusst und sorgsam mit diesem und anderen Texten auseinanderzusetzen, die diese Themen aufgreifen.

Am Ende des Buches befinden sich Content Notes speziell für diesen Band.

Nika Sachs

Schreiben ist Liebe

LUKAS

30.07.16

Warnhinweis

Dies hier ist mein therapeutisches Poesiealbum voller Bordsteinprosa, Puffbrause, Glückspulver und Selbstzweifel. Ich habe das für Inga geschrieben, weil ich nicht reden konnte.

04.09.10

Wie ein bleierner Wolkenschleier hängen die Gedanken in meinem Kopf. Selbst die halbe Flasche Rotwein erklärt nicht, weshalb ich das gestern Abend einfach so geschrieben habe, anstatt ein faires Gespräch zu suchen. Knapp acht Jahre habe ich mit einer einzigen Nachricht weggeworfen. Aus und vorbei, Beziehungsende und Nervenkoller. Basta Mista – gemischte Katastrophe für zwei Personen. Danach gab es hier noch einen Krisenrat. Wie ein Häufchen Elend habe ich die halbe Nacht heulend auf meinem Bett gelegen, meine Mitbewohnerin Niri hat mir kommentarlos Gesellschaft geleistet. Jetzt kennt sie meine Lebens- und Leidensgeschichte und macht sich mehr Sorgen um mich und meinen seelischen Zustand als um ihre Aussicht auf ein Leben als alleinerziehende Mutter. Solange ich hier wohne, hat sie auf jeden Fall die Option auf meine Unterstützung. Ohne Geheimnisse. Ich wäre dann wohngemeinschaftlicher Teilzeitonkel oder so was.

Es ist früher Samstagvormittag, Niri und ich sitzen uns am Küchentisch gegenüber und schweigen uns an. Sie ist derzeit meine einzige Ansprechpartnerin für dieses Thema. Außer einem Kaffee kann ich im Moment nichts runterwürgen. Niri war schon kotzen, obwohl sie noch gar nichts gefrühstückt hat. Von Woche zu Woche geht es ihr schlechter, die Schwangerschaft nimmt ihr alle Reserven.

»Du bereust das sehr, oder?«, fragt sie leise und dreht langsam das halb volle Wasserglas auf dem Tisch. Bevor ich ihr antworte, gehe ich in Gedanken den gestrigen Abend durch. Niri sieht mich sorgenvoll an. Es ist totenstill in der kleinen Küche. Mein Kopf sagt, ich hatte sowieso nichts mehr zu verlieren – außer den Verstand. Aber mein Bauch sagt, dass ich damit alle Brücken nach Deutschland abbreche. Etwas, das ich nie wollte. Nur ein einziges Mal wünsche ich mir, dass ich eine Entscheidung treffe, die keine apokalyptischen Ausmaße annimmt. Vielleicht ist es jetzt aber auch egal, weil zwangsläufig alles im Desaster geendet hätte.

»Was ist das für eine Frage? Natürlich! Aber ich glaube, es ist besser so. Also, die Trennung generell, nicht diese Scheißnachricht im Chat«, antworte ich müde.

»Schon feige für so viele Jahre Beziehung, oder?«, drückt sie mir noch mal rein. Dabei sagt sie es nicht als Vorwurf, sondern als Feststellung. Zu Recht. Am liebsten würde sie mich in den Arm nehmen, weil mein Kopf schwer und leer auf der Tischplatte liegt, aber im Moment will ich keine Nähe. Sie weiß sowieso schon zu viel über mich. Stattdessen stehe ich auf und schließe mich im Bad ein.

* * *

Ich sitze in diesem kleinen, dunklen Raum auf den Fliesen vor der Badewanne, höre dem Regen vor dem kleinen Fenster zu und begreife die Konsequenzen meiner Entscheidung. Die Realität klatscht mir gerade mit der Bratpfanne ins Gesicht. Vor sechs Wochen habe ich mir eine Auszeit von Deutschland genommen, weil mich meine depressiven Episoden und Panikattacken beinahe erstickt haben. Meine Eltern hatten Anfang des Jahres beschlossen, dass sie Deutschland nach fast zwanzig Jahren wieder verlassen und zu den Großeltern in die Karibik gehen. Eigentlich eine gute Idee, ich würde meinen vorgezogenen Ruhestand an ihrer Stelle auch lieber in der Hängematte am Strand verbringen wollen. Weil Mama Rheuma hat und Papa mittlerweile den zweiten Bandscheibenvorfall, wurde Deutschland über die Jahre für beide zunehmend weniger interessant für die Rente. Bis vor Kurzem war mein Leben so, wie ich es mir gewünscht hatte, es aber schon lange nicht mehr genießen konnte. Wenn ich es überhaupt je unbeschwert konnte. Ich verbrachte es mit meiner etwas jüngeren, besten Freundin Inga, die nach einer langen Sandkastenliebe meine feste Freundin wurde. Mit meiner Auszeit habe ich mich nicht nur von Deutschland, sondern auch spontan und gegen meinen Willen von ihr getrennt. Ich habe eine unüberwindbare Mauer aus Geheimnissen aufgebaut, an der ich jetzt zerbreche.

»Luc, mach bitte auf!« Niri steht hinter der Tür. Ich hasse es, so genannt zu werden. Aber ich hasse es noch mehr, andauernd erklären zu müssen, dass sich mein Name mit K schreibt und ihn hier trotzdem keiner deutsch aussprechen kann. Es ist schon alles anstrengend genug in meinem Kopf – Kapitulation. »Ich will nicht. Ich muss meinen Kopf sortieren«, antworte ich.

»Kannst du das nicht woanders? Sonst muss ich bei den Nachbarn aufs Klo gehen.« Seit letzter Woche muss sie andauernd aufs Klo. Vielleicht sollte sie in der Badewanne schlafen, damit sie nachts nicht so weit laufen muss. Widerwillig erhebe ich mich vom Boden und drehe den Schlüssel um. Niri öffnet langsam die Tür und sieht mich fragend an. Ich will mich nicht bewegen. Sie seufzt und steigt über meine bewegungslose Hülle.

»Ernsthaft? Mir ist es ja eigentlich egal, ob du mir beim Pinkeln zusiehst. Ich muss wirklich dringend.«

»Ja, doch. Ich habe in den letzten zehn Jahren kaum etwas nicht mit einer Frau geteilt.« Die Szene ist absurd. Ich sitze vor der Badewanne auf den Fliesen und fühle mich taub und schwer wie Blei – ausgeblichen, wie verwaschen. Wenn man weiß, dass ich schon seit meiner Kindheit untergewichtig bin, kann man sich nicht vorstellen, dass ich mich schwer fühle. Mein Blick geht starr geradeaus, in die Waschmaschine. Ich fühle mich auch wie im Schleudergang: neunzig Grad Kochwäsche, aber die Gedanken werden trotzdem nicht sauber.

»Wirklich jetzt, Luc?«

»Denk dir einfach, ich sei deine Freundin. Alle Frauen gehen doch zusammen pinkeln«, schlage ich vor. Mir ist es egal, was sie tut.

»Und alle Männer schauen sich gegenseitig auf die Schwänze, wenn sie pinkeln gehen«, sagt sie süffisant und macht ihre Hose auf. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, dass sie sich setzt.

»Männer erörtern auf Toiletten, wer das Alphatier auf der Veranstaltung ist, und Frauen reden auf Toiletten darüber, wer aus dem Rudel am besten fickt und am meisten Kohle hat. Zumindest, wenn man nach den Klischees geht.« Ich finde meine Theorie gar nicht so abwegig.

»Meinst du, die Alphamännchen verdienen und ficken am besten?«

»Keine Ahnung, ich hatte bisher keine Alphamännchen, nur Alphaweibchen«, gebe ich meine Unwissenheit zu. »Das sind zudem komplett realitätsferne Begriffe.«

Sie lacht. »Ja! Aber einfach aus Interesse, bumsen die denn gut?«

»Was ist schon gut?«, will ich mit einem Schmunzeln wissen. Sie zieht die Klospülung und danach sich wieder an. »Gut ist, wenn es einen beflügelt oder abhängig macht, glaube ich.«

»Dann waren sie alle öde bis auf eine«, stelle ich fest.

»Die Eine, um die sich alles dreht?« Ihre Frage ist ernst gemeint. Sie setzt sich auf den Rand der Badewanne. Mein Kopf lehnt an ihrem Bein, ihre Hand krault meinen Kopf. Niri ist neben Inga die einzige Frau überhaupt, die mich je gekrault hat. Meine Mutter zähle ich mal nicht dazu. Ich muss nichts sagen, Niri kennt die Antwort. Wir sitzen eine Weile so da, selbst zum Heulen fehlt mir die Kraft.

Später am Abend überredet sie mich zum Einkaufen, der Kühlschrank ist eine Steppe. Es fehlt nur noch das durchrollende Tumbleweed. »Was verlangen deine Gelüste?«, rufe ich ihr zu.

»Erdbeermarmelade wäre mal wieder eine Option, dann könnten wir uns nachher einen unverschämt großen Stapel Crêpes mit aufs Sofa nehmen!«

Ich speichere meine Liste auf dem Handy, nehme die Stofftüte von der Hakenleiste und laufe zu ihr rüber ins Wohnzimmer. Die Balkontür steht offen, der Regen ist nicht förderlich für meine spärlichen Ambitionen, das Haus zu verlassen. »Du machst sie aber. Mindestens dreißig Stück. Mit Käse!«

»Mit Marmelade und Käse?«, fragt sie entsetzt und kramt ihr Portemonnaie aus der Handtasche.

»Crêpe, Käse, Crêpe, Marmelade und von vorne. Keine Widerrede!«

»Was ist los mit euch Franzosen, das ist nicht normal!«

»Selbst du Halbmarokkanerin bist französischer als ich. Ich bin staatenlos.«

»Und offensichtlich geschmacklos!« Sie lacht und wirft mir ein Sofakissen gegen den Arm.

»Klappe! Ich bin ein Gourmet!« Meine Beschwerde wird aufgrund besonderer Umstände abgewiesen. Ich sollte gehen, bevor ihr wieder schlecht wird und sie keinen Hunger mehr hat. »Wenn du nicht mehr schwanger bist, gehst nur noch du einkaufen. Dann musst du sowieso dauernd spazieren gehen und dein Alphamännchen-Mini rumzeigen«, sage ich beleidigt.

»Er ist ein Träumer, der sein Leben nicht auf die Reihe bekommt. Nichts weiter als viel mystisches Gerede um einen alltagsunfähigen Kern!« Niri scheint alles andere als glücklich darüber, wie das mit dem Erzeuger gelaufen ist. Wenn sie darüber reden will, soll sie es tun. Ich habe es ihr bereits mehrfach angeboten.

Bevor ich gehe, suche ich meine schwarze Regenjacke unter den tausend anderen Jacken am Haken. Inga hat sie mir letztes Jahr gekauft, weil ich oft mit nassen und stinkenden Lederjacken von den Festivals zurückkam. »Sie ist zum Glück schwarz«, habe ich als Erstes skeptisch zu ihr gesagt. Inga rollte mit den Augen und machte ihr typisches Geräusch der Entnervtheit. Gefreut habe ich mich trotzdem, weil sie mir ausnahmslos Dinge geschenkt hat, die zu mir passen. Bisher hat sie mir nicht ein einziges Mal etwas geschenkt, das ich nicht brauchte oder mochte. Mittlerweile habe ich mich an sämtliche Vorteile einer Spießer-Outdoor-Jacke für Managersöhne gewöhnt. Dass ich sie schick finde, habe ich Inga aus Grufti-Metal-Punk-Stolz nicht gebeichtet.

Melancholieanflug.

Als ich mein Telefon in die Jackentasche stecke und im Regal nach meinem Hausschlüssel suche, steht Niri mit verschränkten Armen im Türrahmen. »Bist du in Ordnung?«

»Warum machst du dir so viele Sorgen um mich?«, frage ich zurück.

»Weil ich dich mag und glaube, dass du einfach nur eine Pause und einen Plan brauchst. Das wird schon wieder.«

»Und du brauchst einen Mitbewohner, der dir mit dem Kind eine Hilfe ist und kein Klotz am Bein.« Ich ziehe mahnend die Augenbrauen hoch.

»Hau ab jetzt!« Auf ihren Befehl folgt ein Lächeln.

»Bin dabei, werte Mitbewohnerin.« Mit einem Seufzen mache ich die Tür auf.

»Und wehe, du kommst nicht wieder!«, sagt sie mit erhobenem Zeigefinger. Ich lächele unfreiwillig zurück. Niri hatte von Anfang an ein gutes Gespür für mich und weiß als einzige Person, dass ich meine Freundin verlassen habe, weil ich ihr nicht von meinem Bruder erzählen kann. Kaum einem Menschen habe ich je so viele von meinen Sorgen erzählt.

* * *

Auf dem Weg zum Supermarkt verfalle ich meinen rastlosen Gedanken, weil mich niemand davon ablenkt. Es war die richtige Entscheidung, aber für mich ist sie trotzdem so falsch, wie für Inga. Sie kannte wohl neunundneunzig Prozent meiner Gedanken. Wir waren viele Jahre ganz selbstverständlich füreinander da. Am Ende vielleicht zu selbstverständlich. Der Rest, den Inga nie von mir kennengelernt hat, war die Wahrheit über mich und meine Familie, die meine Eltern erfolgreich verdrängt haben. Inga hat nie erfahren, dass ich einen Zwillingsbruder habe, der damals nicht von Clermont nach Deutschland umgezogen ist. Unsere Eltern waren schlichtweg mit uns überfordert. In den Achtzigern gab es keine Unterstützung für Eltern mit hochbegabten, hyperaktiven Kindern. Dass wir auf getrennten Grundschulen waren, hat nicht gereicht, um als Familie zu funktionieren. Im Doppelpack waren Silas und ich völlig unausgelastet, dem Alter geistig voraus und von morgens bis abends schlimmer als ein Sack Flöhe. Wir waren aufgedreht und unkontrollierbar. Im wahrsten Sinne des Wortes verhaltensauffällig. Das Einzige, das halbwegs funktioniert hat, war Urlaub bei den Großeltern. Silas wurde wesentlich ruhiger, wenn er dort war, konnte sich besser konzentrieren und seine Flausen hielten sich im Rahmen. Sobald wir getrennt waren und nur einer von uns die volle Aufmerksamkeit des Umfelds hatte, kam Ruhe rein. Als Mama Anfang ’93 ihren Zusammenbruch hatte, gab es eigentlich nur eine Lösung. Mein Bruder zog zu den Großeltern nach Guadeloupe und ich mit den Eltern nach Deutschland. Neuer Job, neues Leben. Und da Papa Deutscher ist, war es auch nur halb so kompliziert, dort Fuß zu fassen. Zumindest dachten sie das, denn der Neuanfang war eine Notlösung, die verhindert hat, dass Mama völlig abdrehte. Sie redete in Deutschland fast gar nicht mehr über Silas, weil sie nicht verwinden konnte, dass er bei ihren Eltern besser aufgehoben war. Auf jeden Fall besser als in unserem Vierpersonenhaushalt. Es hat dazu geführt, dass unsere Eltern verdrängten, zwei Söhne zu haben. Heute kann ich sie verstehen. Sie fühlten sich als Versager, die mit zwei von der Norm abweichenden Kindern nicht zurechtkamen. – Damals waren wir acht Jahre alt und ich in Deutschland mit mir, meinen Eltern und dem Verlust meines Bruders maßlos überfordert. Ich wurde introvertierter, fand keinen Anschluss im neuen Umfeld und übernahm automatisch die Realitätsverweigerung unserer Eltern, damit ich halbwegs funktionierte. Obwohl ich regelmäßig Kontakt zu meinem Bruder hatte, verlor ich zunehmend den Bezug zu ihm. Noch heute ist es so, dass wir uns zwar blind verständigen können, aber so weit voneinander entfernt haben, dass wir uns auf eine subtile Art fremd vorkommen, nicht mehr wie Zwillinge. Im Endeffekt fühle ich mich wie ein doppeltes Einzelkind, als das ich genau genommen großgeworden bin. Deshalb fällt es mir auch heute noch schwer, von unseren Eltern zu sprechen anstatt von meinen. Die einzige Person, zu der ich nach dem Umzug einen engeren Bezug aufbauen konnte, war Inga. Wir wohnten in Hofheim in derselben Straße und kannten uns fast ein halbes Jahr vom Sehen. Über die jüngere Schwester einer Klassenkameradin lernte ich Inga im ersten Winter zufällig näher kennen. Sie war anders als alle anderen Mädchen, die ich kannte. Sie war wissbegierig, ungeniert und unkonventionell, frei von sämtlichen Mädchenklischees. Neben ihrem Drang, die Welt zu erkunden, hatte sie vor allem eine Eigenschaft, die ich mit den Jahren schätzen und lieben lernte: Inga akzeptierte mich so, wie ich war. Mit meinen Eigenarten, dem schwächer werdenden Akzent, den spleenigen Ideen und dem mehr als gesellschaftsuntauglichen Humor. Lange glaubte ich, dass sie naiv sei, aber das war sie nie. Mit ihrer diplomatischen und verständnisvollen Art war sie ihrem Alter voraus. Das hat letztendlich verhindert, dass sie mir später so in den Arsch getreten hat, wie ich es gebraucht hätte. Bis ich begriffen hatte, dass ich Inga wirklich vertrauen konnte, war die Existenz meines Bruders bereits so surreal für mich, dass ich sie weiterhin verdrängte.

Es erschreckt mich, dass Inga so viel Zeit bei mir zu Hause verbracht hat, ohne von Silas zu erfahren. Mama hat ihn regelrecht aus unserem Leben radiert und Papa ihr dabei kommentarlos zugesehen. Vor Außenstehenden wollte sie sich nicht rechtfertigen müssen und hat die Existenz von Sohn Nummer zwei auf ein Minimum beschränkt. Wir hatten nicht mal Fotos von ihm an den Wänden. In den ersten Jahren gab es aus Kostengründen nur einmal pro Woche ein Familientelefonat. Unsere Gesprächsthemen wurden oberflächlicher, weil sich unsere Gefühle im Kreis drehten. Wir redeten das Thema im wahrsten Sinne des Wortes tot. Gesehen haben wir uns nur in Frankreich. Mama wollte sein Zuhause nicht emotional verseuchen und er unseres nicht sehen. Später hat Silas von sich aus Abstand gefordert. Wahrscheinlich war es seine Art, daran nicht zu zerbrechen. Dabei hat er nicht aufgehört, uns zu vermissen. Er redete sich nur ein, überhaupt niemanden lieben zu müssen. Gewollt hat er es, da bin ich mir sicher. Für meinen Bruder ist Liebe eine Entscheidung. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Jedoch hat Silas Liebe und Zuneigung erfolgreich durch Bildung ersetzt. Das klingt nach einem rational behafteten Sieg über die eigenen Ängste, aber ich weiß, dass es nur ein Notfallprogramm ist. Meine eigenen Ängste wurden sehr effektiv durch Freundschaft kompensiert. Zumindest eine Zeit lang. Viele Jahre waren Inga und ich unzertrennlich, aber da sie jünger ist als ich, haben sich unsere pubertätsbedingen Bedürfnisse nicht gleichzeitig entwickelt. Als ich mit fast achtzehn bereits mehr als zehn verschiedene, meist etwa fünf Jahre ältere Frauen auf meiner ›Sexperimenteliste‹ hatte, entwickelte Inga mir gegenüber romantische Gefühle. Dass sie plötzlich für mich schwärmte, hat unsere Freundschaft grundlegend verändert. Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass mein Interesse an ihr nicht da war. Für mich war sie als beste Freundin aber unantastbar und mir wichtiger als jede andere Frau. Es fiel mir schwer, sie in ihrer Schwärmerei nicht nur ernst zu nehmen, sondern auch zu riskieren, dass wir die Freundschaft damit wegwerfen. Gegen meine Bedenken ergänzten wir uns gut.

Aus unserer Freundschaft wurde eine sehr schräge, noch engere Beziehung und nach ein paar Jahren waren wir beide zu viel Wir und zu wenig zwei Ichs. Inga verfolgte ehrgeizig den Wunsch, nach dem Abi in Mainz Musik zu studieren. Parallel dazu studierte ich bereits in Darmstadt Physik und die Zeit, die Inga und ich füreinander hatten, wurde schlagartig weniger. Mit Anfang zwanzig holte mich dann mein Leben vor Hofheim schleichend ein. Aus dem Vermissen eines Teils von mir wurden ernste depressive Phasen. Auch die konnte ich nicht mit Inga teilen. Ich hatte das Gefühl, ich würde sie zerstören, wenn ich ihr auf einmal das Gefühl gäbe, mich nie wirklich gekannt zu haben. Das Erklären des einen Problems hätte zwangsläufig zum Ursprung aller Probleme geführt. Letztendlich wäre mein ganzes Konstrukt aus vermeintlichen Sicherheiten in sich zusammengebrochen. Als meine Eltern dann Ende letzten Jahres beschlossen, dass sie Deutschland in Richtung Karibik verlassen (um sich um Oma und Opa zu kümmern) kam bei mir eine Sinnkrise durch. Für eine eigene Familie mit Inga war es zu früh, auch wenn ich mir recht bald gewünscht hatte, sie später zu heiraten und viele kleine Mini-Ingas mit ihr zu machen. Meine Eltern zogen im Februar weg und ich kurzfristig bei Inga ein, bis ich die Wohnung in Paris hatte. Ich fühlte mich allein, egal, wie oft sie um mich war. Der letzte Rest Halt in einer jahrelangen Lüge war weg und die Isolationsschicht um mein Gewissen abgekratzt. Mein Plan war, eine Auszeit zu nehmen. In Frankreich ein bisschen abzuschalten, neue Eindrücke zu sammeln und dort in Ruhe meine Masterarbeit zu schreiben, während Inga in Deutschland ihren Bachelor macht und dann zum gemeinsamen Testwohnen nachkommt. Paris war für mich nur die bessere Option als jede andere Stadt in Frankreich, weil Silas zu dem Zeitpunkt aus beruflichen Gründen dort wohnte und ich über ihn spontan an ein WG-Zimmer kam. Ein Freund von ihm zog dort aus und ich ein. Der Preis und die Gegend waren gut, die Mitbewohnerin nett und ich fühlte mich nicht ganz verloren. Das war auch mein gedanklicher Ansatz, Inga endlich von Silas zu erzählen, was ich mir aber, hier angekommen, nicht mehr vorstellen konnte. Paris ist mir fremd und doch wieder nicht. Ich habe meine ersten acht Jahre unweit von Paris in unserem Elternhaus verbracht, welches unsere Erzeuger seit vielen Jahren vermieten. Wochen in Paris vergingen, in denen mir bewusst wurde, dass ich mir selbst zu viel war und Inga nicht mehr gerecht wurde. In den letzten Monaten und vielleicht auch Jahren hatten wir uns auseinandergelebt. Inga hatte mich noch kein einziges Mal in Paris besucht, da war mir schon bewusst, dass es enden würde. Deshalb habe ich ihre Anwesenheit hier wieder und wieder verhindert. Umso mehr Zeit ich hatte, über sie und mich nachzudenken, desto weniger fühlte ich mich in der Lage, ihr eine Stütze zu sein. Im Gegensatz zu ihr fiel mir das Studium leicht. Alles, was Inga erreicht hat, hat sie sich hart erkämpft. Das Einzige, das ich mir hart erkämpft habe, ist die Hoffnung darauf, nicht auf ewig gegen das schwarze Loch in mir ankämpfen zu müssen. Und damit ich das erreichte, war der Schlussstrich für mich unausweichlich. Aus Rückzug wurde Ignoranz und aus Ignoranz wurde eine feige Chat-Nachricht, die ich Inga gestern Abend geschrieben habe. Dass ich nicht mehr kann, weil ich mich finden muss, stand darin. Ihre Antwort hat es mir leichter gemacht, nicht sofort zurückzurudern: »Wenn du erwachsen genug bist, dich zu reflektieren, kannst du dich wieder melden!« Weil Inga weiß, dass ich nicht erwachsen werden will, ist es ihr schon klar, dass es aus ist. Aber sie fehlt mir. Wenn ich erwachsen wäre, wüsste sie jetzt, was in meinem Leben wirklich abgeht. Ich kann es ihr nicht sagen, dafür würde sie mich sicherlich wegwerfen und weggeworfen will ich nicht werden. Vor allem nicht von ihr. Auch, wenn wir uns wenig gestritten haben, war das Zuhausegefühl mit ihr am Ende zu schwach. Dass ich sie liebe, steht nicht zur Debatte – ich bin weder mit noch ohne Inga glücklich. Im Zweifel lieber ohne. Meine Launen hat sie viel zu lange mitgemacht.

* * *

Mein Einkauf läuft auf Autopilot ab. Ich stehe an der Kasse an und mein Telefon klingelt. »Fauchet«, sage ich knapp.

»Was machst du morgen?«, fragt mein Bruder.

»Seit wann rufst du mit unterdrückter Nummer an? Nichts mache ich. Jobsuche.«

»Seit wann meldest du dich mit dem Nachnamen?«

»Ich bewerbe mich auf Stellen, was weiß denn ich, wer mich mit unbekannter Nummer anruft!«

Ich höre das Feuerzeug durchs Telefon klicken und danach, wie er den Rauch einzieht und wieder ausatmet. »Halb acht am Montmartre?«

»Von mir aus.«

»Ich zahle.«

»Musst du auch, ich kann mir deine ausgefallenen Restaurants nicht leisten«, antworte ich lachend.

Er seufzt. »Pünktlich, Luc!«

»Geht klar. Bis morgen«, antworte ich und verdrehe die Augen, weil mein Bruder seit Jahren ebenfalls zu faul ist, mich beim vollen Namen zu nennen.

»Jaja, bis morgen …«

Ich mag die launische und gehetzte Art meines Bruders hin und wieder. Das ist wie Klischeekino, als ob man einem gestressten Beamten beim Aktenherumtragen zusieht. Überhaupt frage ich mich, wieso er keine Beamtenlaufbahn eingeschlagen hat, sondern Texte lektoriert und übersetzt. Seit ich in Paris bin, haben wir uns noch nicht getroffen. Genau in der Woche, als ich hier ankam, ist er für zwei Wochen in die Karibik abgehauen und hat danach in Prag probegearbeitet. Seit vorgestern ist er wieder hier.

Bevor ich mein Telefon einstecke, lese ich meine Nachrichten. Mein bester Freund Mark schreibt, in Frankfurt herrscht meinetwegen Ausnahmezustand. Er bittet um eine Erklärung, was mit Inga los ist. Ich antworte, dass ich ihn morgen Vormittag anrufe.

»Bar oder Karte?« Die Verkäuferin platzt in meinen Gedanken.

»Karte«, antworte ich. Erst, als ich rausgehe, fällt mir auf, dass ich ihr selbstverständlich auf Deutsch geantwortet habe. Nicht das erste Mal, seit ich hier bin. Selbst daheim ist es nie anders gewesen, ständig haben wir in der Sprache geantwortet, die besser gepasst hat. Zurück nach Frankreich zu gehen, hat mir entgegen meiner Erwartung einen Kulturschock verpasst. Jetzt bin ich weder hier noch in Deutschland zu Hause und fühle mich staatenlos. Mein Pass sagt Frankreich, aber die letzten fünfzehn Jahre sagen Ei Gude, Äppler und Mainhattan. Meine Vorliebe für Käse und Marmelade habe ich von Inga übernommen. Überhaupt isst sie häufig Dinge, die kein anderer Mensch miteinander kombinieren würde.

* * *

Meine Mitbewohnerin probiert den Stapel Kalorien mit Käse am Ende doch noch und muss leider zugeben, dass sie keine Grundlage mehr hat, das ekelhaft zu finden. Niri und ich verstehen uns super. Sie ist eine äußerst sympathische und interessante Frau Anfang dreißig, deren Leben derzeit auch nicht das macht, was es soll. Ihr Exfreund hat sie vor einer Weile immer wieder hängen lassen, und weil sie ungeplant ein Kind von ihm erwartet, sitzt sie alleine damit in der Scheiße. Von dem Kind weiß er wohl nichts, weil sie sich kurz bevor sie selbst von der Schwangerschaft wusste, von ihm getrennt hat. Angeblich ist das auch besser so, er habe sie regelmäßig versetzt und wollte nichts Festes. Das Ganze ging so oder so kaum länger als ein halbes Jahr. Alles, was ich weiß, ist, dass er beim Varieté arbeitet. Mittlerweile ist er angeblich von Paris weggezogen und sie kann in Ruhe Mutter werden, sagt sie.

05.09.10

Außer, dass mein Bruder die Haare kurz hat und unverschämt sonnengebräunt ist, sieht er alles andere als erholt aus. Er, mein Spießerspiegelbild in schwarzer Jeans und kariertem Hemd, der sogar zu geizig war, sich ein eigenes Passbild machen zu lassen und eins von meinen im Ausweis hat. Genau genommen habe ich also zwei Identitäten auf dem Papier und er keine. Was wohl an der Passkontrolle passiert, wenn wir beide für denselben Flug einchecken? Interessanter Gedanke.

»Was ist mit deinen Haaren passiert? Ist Punk tot?«, frage ich verwirrt und umarme ihn zur Begrüßung. Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, hatte Silas die Haare fast bis zum Arsch. Jetzt sind sie kürzer als meine.

»Hatte keine Lust mehr drauf. Du siehst ja auch aus wie ein Mensch«, stellt er erstaunt fest.

Beinahe hätte ich gelacht. »Was hast du erwartet? Einen Außerirdischen?«

»Nein, ein Wrack – und du hast es sogar geschafft, ein Sakko mitzunehmen. Ich bin schwer beeindruckt!«

»Wieso? Ich habe damit gerechnet, dass du dich beschwerst, wenn ich keins dabeihabe.«

»Nein, das meine ich nicht, sondern die Sache mit Inga!«

»Woher weißt du das?« Ich bin perplex.

»Schau in deinem Telefon nach!«

Seine Anweisung wird befolgt. Ich scheine ein äußerst vergessliches Alkoholopfer zu sein, denn ich hatte ihm gestern früh um halb drei geschrieben, dass ich mich getrennt habe: »Wegen dir. Und dem ganzen Scheiß in unserer Familie. Und überhaupt!«Meine Formulierung war urkundenverdächtig.

»Scheiße«, seufze ich.

»Allerdings. Musst du darüber reden? – Bevor du was dazu sagst, vergiss deine Antwort. Ich habe bereits für dich entschieden: Ja, musst du!«

Mein erster Abend mit Silas nach etwa einem Jahr, in dem wir uns nicht gesehen haben, beginnt mit dem Familienrat. Zum Glück hört er mir weitestgehend vorwurfsfrei zu und ködert meine Kooperation bezüglich emotionaler Offenheit mit einem Versprechen. Ich weiß, dass er es halten wird, da ist er konsequent. Ich soll ihn jederzeit mit meinem Beziehungsschutt zumüllen. Solange ich mich um Lösungsansätze kümmere, ist er frei von Zynismus für mich da. Wenigstens etwas. In den letzten Jahren war sein allerwelthassender Sarkasmus oft genug ein Streitpunkt zwischen uns.

Der Abend in einem gar nicht so teuren, aber gemütlichen Bistro endet gegen halb zwei. Das Taxi bezahlt er mir freundlicherweise auch. Auf der Fahrt geht mir unser Gespräch durch den Kopf. Auch, wenn er ein launischer Mensch ist, ist der Kern derselbe wie meiner: Modell zerlaufene Butter, kurz vor dem Ranzigwerden. Ich habe noch Hoffnung, dass er ein bisschen weniger Stock im Arsch an den Tag legt, wenn wir uns wieder häufiger sehen. Wenigstens versteht er als Mitglied unserer seltsamen Familie, weshalb ich eine Beziehung wegen unaussprechbarer Gedanken nicht aufrechterhalten kann.

22.09.10

Das ist seit über fünfzehn Jahren der erste von Ingas Geburtstagen, den ich nicht mit ihr verbringe. Mark hat ihr von mir gratuliert, er und Inga verstehen sich ganz gut. Ich kann sie nicht anrufen, ohne durchzudrehen. Mark ist neben Inga der einzig wirklich enge Freund, den ich in Deutschland habe. Wir waren in einem Jahrgang, haben auf derselben Schule das Abi geschrieben und seitdem eine Menge Partys hinter uns. Schon seltsam, dass wir uns so gut verstehen. Er ist als zutätowierter Hippie das Licht zu meinem schattigen Gruftidasein. Im Moment ist Inga ultimativ sauer auf mich und ich ultimativ betrunken. Ich wäre so oder so nicht mehr in der Lage, ihre Nummer zu wählen – Sehstärke: zehn Bier.

22.10.10

Seltsam aus der Realität entfernt und einsam ist es hier in der Klinik. Unter vielen meiner Sorte, und doch sind sie alle anders – und viele schlimmer dran als ich, wie es scheint. Anfangs dachte ich, ich hätte Niri nicht so leichtfertig erzählen sollen, dass ich depressiv bin. Mittlerweile weiß ich: Das hat mir den Arsch gerettet. Sie hat gedacht, ich will mich umbringen und geistesgegenwärtig den Notarzt gerufen. Zum Glück. Nur einen Tick später und es wäre still um mich gewesen. Unbeabsichtigt. Meine Sorglosigkeit im Umgang mit Beipackzetteln hätte mir beinahe einen Darwin-Award eingebracht. Ich weiß jetzt, dass Psychopharmaka und Alkohol keine gute Kombination sind, damit man besser einschläft. Also ja, sind sie. Allerdings eher, wenn man vorhat, nicht mehr aufzuwachen. Lukas und die fatalen Folgen seiner Schnapsideen, würde ich mal sagen. Aber eigentlich sagt das mein Karma, mit dem ich ab und an Unterhaltungen führe. Wenn ich mal Zauberer werden sollte, nenne ich mich einfach Darwini – Meister der Schnapsideen. Scheint mein Karma gut zu finden, es nickt mir zu.

Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich den Leuten hier verklickert hatte, dass ich mich nicht umbringen wollte. Die Tabletten hatte ich ganz unspektakulär vom Hausarzt bekommen, weil ich so häufig Panikattacken hatte, bevor ich nach Paris gegangen bin. Ein Notfallmedikament, dessen bloße Anwesenheit in meiner Reichweite für Sicherheit gesorgt hat. Psychologie, nichts weiter. Bisher hatte ich sie nie genommen und demnach auch keinen Grund, mir die fünfseitigen AGB durchzulesen. Alkohol macht leichtsinnig und Nebenwirkungen wie plötzlich eintretender Tod klingen auf einmal absurd und lustig. Auch das ist eine dieser Sachen, die ich Inga vorenthalten habe. Vor zwei Jahren fing es an, das unangenehme Gefühl in meinem Kopf. Erst war es wie ein Bienenstock, dann wurde daraus Orientierungslosigkeit, die mich natürlich nur dann überfiel, wenn ich sie nicht gebrauchen konnte. Wobei man so etwas ja nie gebrauchen kann. Zum Glück kam dieser unangenehme Adrenalinschwall nie, wenn Inga dabei war. Selbstverständlich war mir bewusst, dass ich ein Problem hatte, aber ich schob es auf tausend andere Gründe als mich selbst. Bis ich mich von Inga trennte, war die Uni für mich eines der wenigen Dinge, über die ich nicht nachdenken musste. Es lief einfach, und da ich so gut wie nie für etwas lernen musste, zog ich meine Ordnung im Kopf aus Formeln. Mich überkam der Gedanke, dass ich mich vielleicht zu sicher fühlte. Mein naiver Plan war mal eine Stelle bei einem bekannten Forschungsinstitut zu bekommen. Ob mich das glücklich machen würde, fragte ich mich nicht. Es war einfach in meinem Kopf, weil ich es erreichen konnte. Letztes Jahr wurde mir dann bewusst, dass Inga mein Ruhepol war, den ich von Anfang an durch meine eigene Unfähigkeit vergiftete. Ohne sie will ich nichts erreichen, weil mir Geld egal ist und meine Welt nur Spaß macht, wenn sie ein Teil davon ist. Das war sie aber meist nur halb und ab einem gewissen Punkt konnte ich das nicht mehr verdrängen. Der emotionale Knall folgte und ich bekam starke Existenzängste, die sich rasant verselbstständigten. Spätestens da hätte ich ihr alles erzählen sollen, aus reiner Fairness. Egal mit welchem Ausgang für mich. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nur in Erwägung gezogen, dass sie mich verlässt, umbringt oder an mir zerbricht, wenn ich es ihr erzähle. In meinem Kopf gab es nur die Apokalypse. Aus Albträumen wurden Schlafstörungen und aus den kreisenden Gedanken Panikattacken, bei denen ich das Gefühl hatte, zu ersticken. Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwächeanfälle und dieses unbändige Rauschen im Kopf. Meist hielt das ein paar Minuten an, seltener mal über Stunden. Aber es war nie da, wenn ich bei Inga war. Kurz vor Weihnachten 2009 wurde es so schlimm, dass ich mich einem Herzinfarkt nah fühlte. Mein Hausarzt riet mir zu einer Therapie und verschrieb mir bis dahin für den Notfall diese Tabletten. Ab da ging es eine Weile. Das Gehirn ist jedoch clever und denkt sich heimlich andere unangenehme Dinge aus, damit es auf Umwegen zum Ziel kommt. Im Endeffekt ist es gut, dass ich hier gelandet bin. Mein Gedankenknast ist eine Achterbahn. Aber ich will keine Tabletten, sie machen mich vielleicht stumpf und benebelt und das ist ein Zustand, den ich hasse. In einem Experiment gehe ich ab sofort meine Schlafstörungen an und zwinge mir wieder einen normalen Tagesablauf auf. Mit Sport. Etwas, das ich früher gehasst habe. Ich habe keine Ahnung, warum man sich das freiwillig antut, aber wenn es helfen sollte, bin ich zufrieden.

25.10.10

Ich liege auf meinem Bett im Einzelzimmer meines Wellnesshotels für die Psyche, warte darauf, dass Silas mich besucht und denke nach. Niri hat vorhin angerufen und mir mitgeteilt, dass sie nach dem Baby keine Vertragsverlängerung mehr beim Arbeitgeber bekommt, was bedeutet, dass wir uns die Wohnung bald nicht mehr leisten können. Selbst, wenn ich in Vollzeit arbeiten würde, wäre es knapp für zweieinhalb. Am Telefon hat Niri mir schon Vorschläge gemacht, wie wir das Problem lösen könnten. Aber all ihre Vorschläge beinhalten Konditionen zu ihrem Nachteil, weil sie mich nicht belasten will. Wie kommt sie auf so was, nachdem sie meinen Begrüßungscocktail in der Hölle noch ein bisschen aufgeschoben hat? Es ist nicht so, dass ich mich nur verpflichtet fühle, für sie da zu sein, weil sie mir das Leben gerettet hat, sondern weil ich sie wirklich lieb gewonnen habe.

Den Rest der Zeit verbringe ich auf der Parkbank. Sonst saß ich meist nachts mit meiner eigenen Freundin auf der Bank am Feldrand um die Ecke und habe mit ihr und einem Sechser Bier Theorien über das Weltall aufgestellt. Inga fehlt mir unsagbar, aber ich glaube, ich brauche den Abstand. Vor einer Woche hat sie mich per Mail gefragt, wie es mir geht. Sie weiß nicht, dass ich hier bin, sie ist schon ohne diese Info völlig am Arsch. Ich kenne Inga lange genug. Wenn ich ihr erzählt hätte, dass ich in einer Klinik bin, würde sie hier morgen aus Sorge auf der Matte stehen.

»Die Pause ist für dich vielleicht auch von Vorteil. Ich weiß nicht mehr, wo wir stehen und bis ich das weiß, wünsche ich keinen Erfolgsdruck und noch mehr Auszeit«, habe ich ihr geschrieben. Ihre Antwort hat das eigentlich bestätigt: »Ich weiß nicht, ob du recht hast, aber ich denke darüber nach. Finde dich. Ich warte – wie so oft auf dich – und hoffe, dass es nur eine Pause bleibt.« Niemand hat gesagt, wie lange eine Pause zu dauern hat. Ich weiß auf jeden Fall, dass sie so lange anhalten wird, wie ich brauche, um Inga von meinem Bruder zu erzählen. Nach meinem derzeitigen Anflug von Panik bleiben wir also getrennt. Trotzdem suche ich nach Ventilen, um das Chaos in meinem Kopf zu sortieren. Früher konnte ich es mir nicht vorstellen zu schreiben. Ich habe es allerdings bei Inga beobachtet, es hat ihr geholfen in der letzten Zeit vor der Trennung. Beinahe heimlich hat sie über mich und den Rest ihres Universums geschrieben, wenn sie ihre Gedanken nicht mehr ordnen konnte. Jahrelang hat sie mir fehlende Selbstreflexion vorgeworfen. So ganz unrecht hat sie damit nicht. Jetzt denke ich, es ist egal, ob und warum ich selbst schreibe. Im besten Fall hilft es mir über sie hinweg, damit ich wieder atmen kann.

Ich denke in der letzten Zeit ab und zu an den letzten Sex mit ihr. Schon fast drei Monate ist es her, dass ich von hinten in ihr war, während sie sich am Stuhl festgehalten hat. Die ganzen letzten Jahre war Sex zwischen uns beiden so wichtig wie atmen. Unser beider Bedürfnis nach Nähe war alles, nur nicht selten. Inga hat gemerkt, dass etwas seltsam zwischen uns war, hat sogar häufig gefragt, ob es mir wirklich gut geht. Wieder ärgere ich mich darüber, dass ich nicht eher in der Lage war, mit ihr zu reden. Dafür rede ich jetzt via Stift mit meinem Karoblock. Mir wurde aus therapeutischer Sicht ausdrücklich dazu geraten, zu schreiben. Tablettenunfall hin oder her, ich weiß, dass ich ein Problem habe und in meinem Kopf dringend aufräumen muss.

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Mein Bruder bringt eine unerwartete Info mit. Wir sitzen im Klinik-Café und schweigen uns an, weil ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Er hat unsere Eltern überredet, den Mietern wegen Eigenbedarf zu kündigen. Seiner Meinung nach lohnt es sich für uns finanziell mehr, wenn wir das Haus zusammen bewohnen würden statt zwei Wohnungen in der Stadt.

---ENDE DER LESEPROBE---