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Katabasis, Substantiv, Altgriechisch: Die Geschichte eines Helden, der in die Unterwelt hinabsteigt.
Alice Law hat ihr ganzes Leben lang nur ein Ziel verfolgt: die Beste auf dem Feld der Analytischen Magie zu werden. In Cambridge, als Doktorandin des weltberühmten Professors Jacob Grimes, scheint ihr Traum endlich in Erfüllung zu gehen. Zumindest, bis Grimes bei einem Unfall stirbt, an dem Alice möglicherweise nicht ganz unschuldig ist. Kurzerhand beschließt sie, ihrem Professor in die Hölle zu folgen. Dumm nur, dass ihr Erzrivale Peter Murdoch dieselbe Idee hat.
Mit den Berichten von Orpheus, Dante und T. S. Eliot im Gepäck brechen die beiden auf, um die Seele ihres Mentors zu retten - welchen Preis sie dafür auch zahlen mögen. Doch die Hölle ist nicht so, wie erwartet, und Magie nicht die Antwort auf alles. Denn Alice und Peter verbindet etwas, das sie entweder zu perfekten Verbündeten macht oder für ihren Untergang verantwortlich sein wird.
»Kuang schafft, was sonst wenigen gelingt: Philosophie und Humor, politische Theorie und Fantasy zu verbinden.« Der Spiegel
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Seitenzahl: 812
Veröffentlichungsjahr: 2025
Katabasis, Substantiv, Altgriechisch: Die Geschichte eines Helden, der in die Unterwelt hinabsteigt.
Alice Law hat ihr ganzes Leben lang nur ein Ziel verfolgt: die Beste auf dem Feld der Analytischen Magie zu werden. In Cambridge, als Doktorandin des weltberühmten Professors Jacob Grimes, scheint ihr Traum endlich in Erfüllung zu gehen. Zumindest, bis Grimes bei einem Unfall stirbt, an dem Alice möglicherweise nicht ganz unschuldig ist. Kurzerhand beschließt sie, ihrem Professor in die Hölle zu folgen. Dumm nur, dass ihr Erzrivale Peter Murdoch dieselbe Idee hat.
Mit den Berichten von Orpheus, Dante und T. S. Eliot im Gepäck brechen die beiden auf, um die Seele ihres Mentors zu retten - welchen Preis sie dafür auch zahlen mögen. Doch die Hölle ist nicht so, wie erwartet und Magie nicht die Antwort auf alles. Denn Alice und Peter verbindet etwas, das sie entweder zu perfekten Verbündeten macht oder für ihren Untergang verantwortlich sein wird.
Rebecca F. Kuang ist NEW-YORK-TIMES-Bestsellerautorin und wurde vielfach für ihr Werk ausgezeichnet. Ihre Romane BABEL und YELLOWFACE waren weltweite Erfolge und beide gewannen unter anderem den British Book Award. Kuang ist Marshall-Stipendiatin, Übersetzerin und hat einen Philologie-Master in Chinastudien der Universität Cambridge und einen Soziologie-Master in zeitgenössischen Chinastudien der Universität Oxford. Zurzeit promoviert Rebecca Kuang in Yale in ostasiatischen Sprachen und Literatur.
R. F. KUANG
KATABASIS
ROMAN
Aus dem amerikanischen Englisch von Heide Franck und Alexandra Jordan
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Eichborn Verlag
Titel der amerikanischen Originalausgabe:»Katabasis«
Für die Originalausgabe:Copyright © 2025 by R. F. KuangPublished by arrangement with Rebecca F. Kuang
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2025 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung eines Designs von Richard L. Aquan und Illustrationen von Patrick Arrasmith
Herstellung: Theresa von Zepelin
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-7599-1
eichborn.de
Für Bennett, genial, geliebt.
Einige der Gelehrten, die in diesem Text erwähnt werden, gab oder gibt es wirklich, und bis auf einige Ausnahmen – die hoffentlich auf der Hand liegen – habe ich versucht, ihre Ansichten getreu wiederzugeben. Reasons and Persons von Derek Parfit wurde tatsächlich 1984 veröffentlicht, was gut in meine Geschichte passt. Aristoteles verwendet den Ausdruck »Himmelswurm« nicht, doch der Begriff beschreibt seine physikalischen Thesen ganz passend. »Existence Is Evidence of Immortality« von Michael Huemer stammt aus dem Jahr 2019, aber ich tue so, als wäre es 1960 verfasst worden. Das entspringt nur meiner Phantasie, wie der Großteil dieses Buches.
Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl, ohne dass es freilich die andern merken, nach gar nichts anderem streben, als nur zu sterben und tot zu sein. Ist nun dieses wahr, so wäre es ja wohl wunderlich, wenn sie ihr ganzes Leben hindurch zwar sich um nichts anderes bemühten als um dieses, wenn es nun aber selbst käme, hernach wollten unwillig sein über das, wonach sie lange gestrebt und sich bemüht haben.
Platon – Phaidon
Cambridge im Oktober, Michaelmas-Trimester. Es wehte ein schneidender Wind, die Sonne verbarg sich hinter den Wolken, und anstatt ihren Studierenden am ersten Unterrichtstag näherzubringen, dass nur ein Idiot versuchen würde, mit dem Cartesianischen Trennungszauber Pinkelpausen beim Lernen einzusparen, machte Alice Law sich auf, um die Seele ihres Doktorvaters aus den Acht Höfen der Hölle zu retten.
Professor Jacob Grimes war durch einen schrecklich grausamen Unfall ums Leben gekommen, der gewissermaßen Alice’ Schuld war. Sie hielt es also aus moralischer Verpflichtung wie aus Eigeninteresse – ohne Professor Grimes hatte sie keinen Prüfungskomiteevorsitzenden, konnte ihre Dissertation nicht verteidigen, keinen Abschluss machen und sich nicht auf eine Festanstellung in der Analytischen Magie bewerben – für nötig, König Yama den Gerechten, den Herrscher der Unterwelt, um die Wiederbelebung des Professors zu bitten.
Das war kein leichtes Unterfangen. Auch wenn es sich nicht um eine ihrer Teildisziplinen handelte, war sie im vergangenen Monat durch pures Selbststudium zu einer Expertin der Tartarologie geworden. Heutzutage belegte niemand dieses Fach, denn Tartarologen überlebten nur selten lange genug, um ihre Erkenntnisse zu veröffentlichen. Seit Professor Grimes das Zeitliche gesegnet hatte, hatte sie jeden wachen Moment damit verbracht, alle Monografien, Aufsätze und Korrespondenzen über die Reise in die Hölle und zurück zu studieren, derer sie habhaft werden konnte. Mindestens ein Dutzend Gelehrte waren den Abstieg angetreten, hatten überlebt und mehr oder weniger glaubwürdige Aufzeichnungen hinterlassen, doch viele dieser Berichte waren über ein Jahrhundert alt. Die Quellen waren teilweise höchst unzuverlässig und obendrein noch verteufelt schwierig zu übersetzen. Dantes Erzählung war so voller gehässiger Seitenhiebe, dass sein eigentlicher Bericht völlig unterging. T. S. Eliot hatte eine der neueren und detaillierteren Landschaftsbeschreibungen verfasst, doch Das wüste Land bezog sich so sehr auf sich selbst, dass sein Status als Reisebericht in der Forschung ernsthaft angezweifelt wurde. Orpheus’ Aufzeichnungen waren auf Altgriechisch und obendrein, wie er selbst auch, nur fragmentarisch erhalten. Und Aeneas … tja, das war bloß römische Propaganda. Möglicherweise gab es in weniger verbreiteten Sprachen noch mehr Berichte – Alice hätte sich jahrzehntelang in den Archiven vergraben können –, doch ihr Stipendium lief langsam, aber sicher aus. Am Ende des Trimesters drohte die Zwischenbesprechung, und ohne einen Doktorvater konnte Alice bestenfalls darauf hoffen, dass eine Förderverlängerung sie über Wasser hielt, bis sie an einer anderen Uni einen neuen Betreuer gefunden hatte.
Doch sie wollte nicht wechseln, sie wollte einen Cambridge-Abschluss. Und sie wollte nicht irgendeinen Doktorvater, sie wollte Professor Jacob Grimes, Fakultätsvorsitzender, Nobelpreisträger und zweifach gewählter Präsident der Königlichen Akademie für Magie. Sie wollte das güldene Empfehlungsschreiben, das ihr alle Türen öffnete. Sie wollte für alle die erste Wahl sein. Also musste Alice in die Hölle, und zwar noch heute.
Wieder und wieder vergewisserte sie sich, dass ihre Kreide-Inschriften korrekt waren. Sie schloss den Kreis immer erst am Ende, wenn sie sich absolut sicher war, dass sie das Pentagramm ohne Gefahr für Leib und Leben intonieren und so aktivieren konnte. Man musste stets auf Nummer sicher gehen. Magie verlangte nach Präzision. Sie funkelte die säuberlichen weißen Linien an, bis sie vor ihren Augen verschwammen. Besser würde es nicht werden. Menschen waren fehlbar, doch für Alice galt das weniger als für die meisten, und gerade konnte sie sich auf niemanden sonst verlassen.
Sie packte die Kreide fester. Noch ein gleichmäßiger Strich, und das Pentagramm war fertig.
Sie holte tief Luft und trat hinein.
Natürlich musste sie einen Preis zahlen. Ungeschoren reiste niemand in die Hölle. Doch das hatte sie schon ganz zu Anfang in Kauf genommen, denn im Großen und Ganzen schien das Opfer unerheblich. Sie hoffte nur, dass es nicht weh tat.
»Was machst du da?«
Diese Stimme kannte sie. Noch bevor sie sich umdrehte, wusste sie, wer in der Tür stand.
Peter Murdoch: aufgeknöpfter Mantel; das Hemd nicht in der Hose; zahllose Papiere, die aus seiner Umhängetasche ragten und jederzeit herauszuflattern drohten. Dass Peter, der stets so aussah wie gerade erst aus dem Bett gerollt, zum Institutsliebling geworden war, hatte Alice ihm immer übel genommen. Doch überraschend war das nicht: Die akademische Welt respektierte Disziplin und belohnte Anstrengung, doch noch viel mehr verehrte sie ein Genie, das sich gar nicht anstrengen musste. Peter Murdoch hatte Haare wie ein Vogelnest, lange Glieder, ein klappriges Fahrrad und sah aus, als hätte er sich noch nie im Leben anstrengen müssen. Er war schlichtweg brillant auf die Welt gekommen, all das Wissen war ihm von den Göttern direkt in den Kopf gegossen worden, ohne dabei einen Tropfen zu verschwenden.
Alice konnte ihn nicht ausstehen.
»Lass mich in Ruhe«, sagte sie.
Peter latschte direkt in ihr Pentagramm. Wie unhöflich! Man sollte immer fragen, bevor man das Pentagramm eines anderen Magiers betrat. »Ich weiß, was du vorhast.«
»Tust du nicht.«
»Tsus Elementares Transportpentagramm mit Setiyas Modifikationen«, sagte er. Alice war beeindruckt, denn er hatte nur einen kurzen Blick auf den Boden geworfen, und das auch noch von der anderen Seite des Raumes aus. »Die Ramanujansumme mit Implikationen für den Casimir-Effekt, um eine psychische Verbindung mit dem Ziel herzustellen. Acht Balken für acht Höfe.« Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Alice Law, du böses Mädchen. Du willst in die Hölle.«
»Tja, wenn du so viel weißt«, fauchte Alice, »dann weißt du auch, dass das ein Solo-Trip ist.«
Peter kniete sich hin, schob seine Brille die Nase hinauf und änderte mit einem eigenen Kreidestück schnell etwas am Pentagramm. Auch das war sehr unhöflich – man sollte immer fragen, bevor man die Arbeit eines anderen Wissenschaftlers veränderte. Doch mit Etikette brauchte Peter Murdoch sich nicht abzugeben. Die Selbstvergessenheit, mit der er durchs Leben schritt, wurde ihm ebenfalls nur aufgrund seines Genies verziehen. Alice hatte beobachtet, wie Peter beim exklusiven Abendessen mit ausgewählten Studierenden und Institutsmitgliedern Schokoladensirup über den Umhang des Collegerektors gekleckert und dafür nur einen Tadel, einen Klaps auf die Schulter und einen Lacher kassiert hatte. Wenn Peter einen Fehler machte, war das süß. Alice selbst hatte einmal das gesamte Abendessen lang wegen eines umgestoßenen Brotkorbes im Damenklo gesessen und hyperventiliert.
»Aus eins mach zwei.« Peter wackelte mit den Fingern. »Abrakadabra.«
Alice überprüfte seine Zeichnungen und stellte sehr zu ihrem Missfallen fest, dass er perfekte Arbeit geleistet hatte. Sie hätte es vorgezogen, wenn ein Fehler ihn ein Bein gekostet hätte. Und noch schöner wäre es gewesen, wenn seine nächsten Worte nicht »Ich komme mit dir« gelautet hätten.
»Tust du nicht.«
Von allen Studierenden des Instituts für Analytische Magie war Peter Murdoch der letzte, mit dem sie in die Unterwelt reisen wollte. Der perfekte, brillante, unausstehliche Peter, der bei jeder Gelegenheit die angesehensten Preise gewannt – Bester Aufsatz eines Studierenden im ersten Jahr, Bester Aufsatz eines Studierenden im zweiten Jahr, Medaillen des Dekans in Logik und Mathematik (Alice war zwar zugegebenermaßen in beiden Fächern verhältnismäßig schlecht, hatte jedoch bis zu ihrem Studium in Cambridge kaum Erfahrung darin gehabt, übertrumpft zu werden). Peter war eines dieser typischen Akademikerkinder, der Sohn eines Mathematikers und einer Biologin. So war er mit den unausgesprochenen Regeln des Elfenbeinturms vertraut gewesen, noch bevor er laufen konnte. Peter hatte bereits alles, wonach man in der Welt streben konnte. Er bekam auch ohne Empfehlung von Professor Grimes eine Stelle.
Am schlimmsten war jedoch seine unbeirrbare Freundlichkeit. Er stolperte mit einem unbekümmerten Lächeln durchs Leben, bot seinen Kommilitonen Hilfe bei Forschungsprojekten an und fragte alle im Seminar nach ihrem Wochenende, obwohl er genau wusste, dass sie über Hausaufgaben in Tränen ausgebrochen waren, die er im Schlaf gelöst hätte. Peter prahlte nie und war nie herablassend, er war einfach nur besser, und gerade deshalb fühlten sich alle schrecklich.
Nein, Alice wollte dieses Problem selbst lösen. Peter Murdoch sollte ihr nicht die ganze Zeit über die Schulter blicken, er sollte nicht ihre Pentagramme bemäkeln, einfach nur weil er helfen wollte. Und falls sie Professor Grimes’ Seele wohlbehalten wieder zurückbrachte, wollte sie sich die Lorbeeren sicher nicht mit Peter teilen.
»In der Hölle ist es einsam«, sagte Peter. »Du wirst Gesellschaft brauchen.«
»Die Hölle, das sind die anderen, habe ich gehört.«
»Sehr witzig. Na, komm. Du kannst die ganze Ausrüstung doch gar nicht allein tragen.«
In ihrer Tasche hatte Alice eine Flasche der Ewigkeit (eine verzauberte Wasserflasche, die wochenlang ihren Durst löschen würde) und Lembas (trockene, kartonzähe und bei Studierenden beliebte Brotscheiben, die schon in kleinen Mengen lange satt hielten. Lembas war nicht verzaubert – es bestand nur aus extrahiertem Erdnussprotein und gottlos viel Zucker). Sie hatte eine Taschenlampe, Jodtinktur, Streichhölzer, ein Seil, Pflaster und eine Rettungsdecke eingepackt. Sie hatte eine funkelnagelneue Packung Barkles-Kreide dabei und hatte jede verlässliche Karte der Hölle aus der Bibliothek kopiert und in eine Mappe gesteckt (die dargestellte Topografie unterschied sich jeweils stark, aber Alice wollte sich einen hoch gelegenen Ort suchen und dann mit der Karte arbeiten, die ihr am passendsten erschien). Sie hatte ein Klappmesser und zwei scharfe Jagdmesser im Gepäck. Und einen Band Proust, falls ihr abends langweilig wurde. (Um ehrlich zu sein, war sie bisher nie dazu gekommen, Proust anzufangen, aber in Cambridge war sie zu jemandem geworden, der Proust gelesen haben wollte. Die Hölle erschien ihr der passende Ort dafür.) »Ich komme schon klar.«
»Du wirst immer noch Hilfe dabei brauchen, dich durch die Höfe zu schlagen«, sagte Peter. »Die Hölle ist metaphysisch nicht ganz einfach. Anscombe behauptet, dass allein die andauernden räumlichen Neuausrichtungen …«
Alice verdrehte die Augen. »Jetzt tu nicht so, als wäre ich zu blöd, um in die Hölle zu kommen.«
»Hast du ein Exemplar von Clearys?«
»Natürlich.« Clearys Lehren hätte Alice nicht vergessen. Sie vergaß nie etwas.
»Hast du alle zwölf maßgeblichen Versionen von Orpheus’ Abstieg überprüft?«
»Natürlich habe ich an Orpheus gedacht, liegt ja nahe …«
»Weißt du, wie du die Lethe überquerst?«
»O bitte, Murdoch.«
»Weißt du, wie man den Zerberus zähmt?«
Alice zögerte. Dante hatte den dreiköpfigen Hund in einem Brief an Bernardo Canaccio erwähnt. In anderen Quellen war er aber nicht vorgekommen, und genau das Buch, in dem sie mehr Hinweise hätte finden können – Dante und das wortwörtliche Inferno von Vandick – war bereits ausgeliehen gewesen.
Tatsächlich war sogar eine ganze Menge relevanter Bücher im Laufe des letzten Monats aus der Bibliothek verschwunden. Oft waren sie genau an dem Morgen ausgeliehen worden, als Alice nach ihnen suchte. Jede einzelne Übersetzung der Aeneis. Alle mittelalterlichen Schriften über Lazarus. Es war, als suche ein Poltergeist das Archiv heim und sage ihre Rechercheinteressen voraus.
Doch jetzt ging ihr ein Licht auf. »Du …«
»Ich recherchiere zu derselben Sache«, sagte Peter. »Wir sind mit unseren Forschungsprojekten schon zu weit, Alice. Außer Professor Grimes könnte keiner unsere Dissertationen betreuen. Niemand sonst ist so clever. Und er hat uns noch längst nicht alles beigebracht. Wir müssen ihn zurückholen. Und bei dieser Sache sind zwei Gehirne besser als eins.«
Alice brach in Gelächter aus. Die ganze Zeit. Jedes ausgeliehene Buch, jedes fehlende Puzzlestück. Es war die ganze Zeit Peter gewesen.
»Na, dann sag du mir doch, wie man den Zerberus zähmt.«
»Netter Versuch, Law.« Peter boxte sie spielerisch gegen die Schulter. »Komm schon. Du weißt doch, dass wir zusammen immer besser sind.«
Das, dachte Alice, war schamlos übertrieben.
Er meinte es nicht so, da war sie sich sicher. Es stimmte nämlich nicht. Schon seit über einem Jahr nicht mehr, und das war allein Peters Entscheidung gewesen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern. Wie konnte er das dann so beiläufig sagen, so als wären sie noch im ersten Jahr, kichernd im Labor, so als wäre nichts passiert?
Aber so funktionierte Peter einfach. So war er zu allen. Voller Wärme und Freundlichkeit – doch sobald man einen Schritt näher kam, öffnete sich der Boden und man fiel ins Nichts.
Sie hatte also die Wahl zwischen Pest und Cholera. Unzureichendes Wissen oder Peter. Sie könnte ihn bestimmt um die Bücher bitten – Peter nervte, aber Ressourcen hielt er nicht unter Verschluss – und die Fragen selbst klären. Doch ihr Stipendium lief aus, und gewisse Leichenteile verrotteten gerade in einem Keller. Ihr blieb einfach keine Zeit.
»Von mir aus«, sagte sie. »Hoffentlich hast du deine eigene Kreide dabei.«
»Zwei neue Packungen Shropley«, sagte er zufrieden.
Sie wusste, dass er lieber Shropley benutzte. Anzeichen eines schlechten Charakters, aber immerhin musste sie dann nicht mit ihm teilen.
Sie stellte ihren Rucksack neben sich ab und achtete dabei sorgsam darauf, dass keiner der Träger außerhalb des Pentagramms lag. »Dann brauchen wir nur noch die Formel. Bist du bereit?«
»Moment noch«, sagte Peter. »Kennst du den Preis?«
Natürlich kannte Alice den. Deshalb traten Wissenschaftler nur selten die Reise in die Hölle an. Nicht etwa, weil es besonders schwierig wäre. Man musste nur die richtigen Hinweise ausgraben und ihnen nachgehen. Doch den Preis war es nur selten wert.
»Die Hälfte meiner verbleibenden Lebenszeit«, sagte sie. Wer die Hölle betrat, durchbrach die Grenze zwischen den Welten, und das verlangte nach organischer Energie, für die einfache Kreide nicht ausreichte. »Dreißig Jahre oder so einfach futsch. Ich weiß.«
Doch die Entscheidung war ihr nicht schwergefallen. Würde sie lieber ihren Abschluss machen, eine brillante Wissenschaftlerin werden und in Ruhm und Ehre abtreten? Oder würde sie lieber sabbernd alt und grau werden, bis zur Bedeutungslosigkeit verblassen und von Bedauern zerfressen werden? Hatte nicht schon Achilles beschlossen, im Kampf zu sterben? Nachdem sie genügend emeritierte Professoren – arme, sprachgestörte Gestalten – bei Institutsempfängen getroffen hatte, erschien ihr das hohe Alter nicht gerade attraktiv. Alice wusste, dass ihre Entscheidung alle außerhalb der akademischen Welt mit Schrecken erfüllen würde. Doch nur wer diese Welt kannte, konnte sie verstehen. Für eine Professur würde sie ihr Erstgeborenes opfern; sich einen Arm abhacken; alles geben, solange sie ihren Grips noch hatte und denken konnte.
»Ich will eine Magierin sein«, sagte sie. »Das ist alles, was ich je wollte.«
»Ich weiß«, sagte Peter. »Ich auch. Und ich … ich muss das tun. Ich muss einfach.«
Angespannte Stille. Alice wollte nachfragen, aber eigentlich war ihr klar, dass sie keine Antwort bekommen würde. Bei Privatangelegenheiten schwieg Peter wie ein Grab. Wie schnell er sich hinter einem gelassenen Lächeln verstecken konnte.
»Das wäre also geklärt.« Peter räusperte sich. »Also, vielleicht übernehme ich Latein und du Griechisch und Chinesisch.« Er blickte auf den Teil des Pentagramms neben seinem rechten Fuß. »Sag mal, warum hast du das nicht auf Sanskrit gemacht?«
»Dafür kann ich es nicht gut genug«, sagte Alice eingeschnappt. Typisch Peter. Herablassend, auch wenn er augenscheinlich nur nachfragte. »Stattdessen habe ich alle buddhistischen Sutra-Referenzen auf klassischem Chinesisch geschrieben.«
»Oh.« Peter brummte. »Könnte funktionieren. Bist du dir sicher?«
Sie verdrehte die Augen. »Ich zähle bis drei, auf ›Los‹ geht’s los.«
»Alles klar.«
Sie zählte. »Los.«
Und sie begannen mit der Beschwörung.
Der fürchterliche, schreckliche Tod von Professor Jacob Grimes war sowohl vorhersehbar als auch vermeidbar gewesen. Und was nur wenige wussten: Er ging ganz und gar auf Alice’ Konto.
Die Übung an jenem Tag war kein bisschen riskanter oder radikaler als die Routine-Experimente, die Professor Grimes schon jahrzehntelang tausendfach in genau diesem Labor durchgeführt hatte. Er wiederholte nur einige grundlegende Theorien aus der Mengenlehre, die er in seinem nächsten Artikel in der Arcana zitierte, dem führenden Fachjournal. Eigentlich eher eine Aufgabe für Studienanfänger, komplett ungefährlich, solange man seine Pentagramme doppelt überprüfte.
Professor Grimes überprüfte seine Pentagramme nie ein zweites Mal. Er war schon lange an dem Punkt seiner Karriere angekommen, wo er solche niederen Arbeiten seinen Doktoranden überließ. Professor Grimes verbrachte seine Tage lieber mit tiefschürfendem, unergründlichem Sinnieren. Er blickte über Berge und Wolken, um die Wahrheit zu erkennen, und sprach dann Verkündigungen aus wie Moses, der vom Berg Sinai hinabgestiegen war. Das Fußvolk kümmerten sich um die Details. Professor Grimes selbst fertigte keine Berechnungen oder Übersetzungen mehr an. Es war weit unter seiner Würde, Kreidelinien nachzuziehen und dabei Augen und Rücken übermäßig anzustrengen.
Vielleicht war es leichtsinnig oder sogar dumm von einem Magier, sein Leben in die Hände von unterbezahlten, überarbeiteten Studierenden zu legen. Doch erstens zählten Professor Grimes’ Mitarbeiter zu den besten der Welt, und zweitens konnten selbst Doktoranden schlechterer amerikanischer Lehrinstitute die gravierendsten Fehler in einem Pentagramm finden. Und hier waren sie schließlich in Cambridge. Nach so vielen Jahren der Übung sprangen sie jedem kompetenten Akademiker sofort ins Auge: Lücken im äußeren Kreis, Rechtschreibfehler, falsche Gleichsetzungen, ungeschlossene Klammern. Jeder, der alle Sinne beisammenhatte, hätte das gesehen.
Doch an jenem Tag hatte Alice nicht alle Sinne beisammen.
Natürlich war sie unterbezahlt und überarbeitet, doch das war unter Doktoranden nichts Neues, und niemand machte groß Trara darum. Allerdings hatte sie seit drei Monaten nicht mehr richtig geschlafen. Sie hatte so viel Kaffee getrunken, dass die Welt verschwamm und ihre Kreidehand zitterte. Wie so oft fühlte sie sich, als hätte ihr Körper keine klaren Umrisse, als wäre er eins mit ihrer Umwelt; als würde sie sich wie ein Zuckerwürfel im Tee auflösen, sobald sie keine Energie mehr darauf verwendete, sich zusammenzuhalten. Sie war nicht arbeitsfähig und war es schon lange nicht mehr gewesen. Was Alice zu diesem Zeitpunkt am dringendsten brauchte, war ein langer Urlaub und vielleicht ein Aufenthalt in einer entlegenen Anstalt am Meer.
Doch das Labor hatte Vorrang. Professor Grimes hatte sie seit über einem Jahr nicht mehr an einem Aufsatz mitarbeiten lassen, und obwohl sie für die Aufgabe überqualifiziert war und eine Mitautorenschaft ausgeschlossen war, wollte Alice unbedingt wieder zu seinen Lieblingen gehören.
Müdigkeit bis zum Umfallen war ja sowieso der Normalzustand. Es wurde einfach erwartet, dass man mit einer Kombination aus Kaffee und Lembas so lange durchhielt, bis alle Deadlines geschafft waren und man ohne Konsequenzen in ein undefiniert langes Koma fallen konnte. Alice hatte den Großteil ihres Studiums in diesem Zustand verbracht, und so schlimm war es nicht.
Doch an jenem Nachmittag war sie zudem wütend und gekränkt und verwirrt. Frust und Zorn vernebelten ihr so sehr das Gehirn, dass sie schon beim bloßen Klang von Professor Grimes’ Stimme zusammenzuckte. Seine schiere körperliche Nähe – seine Bewegungen, sein Schatten, der über sie fiel, während sie am Boden kniete – erschwerte ihr das Atmen. Wann immer ihre Blicke sich begegneten, stockte ihr das Herz, und sie wäre am liebsten gestorben.
Keine geeignete Arbeitsumgebung für Höchstkonzentration.
Als sie also die Pentagramme zeichnete, vergaß sie, die nötigen Linien zu schließen. Dabei war genau das unerlässlich. Die Beschwörungen machten sich die lebendtote Energie des Kreidestaubs zunutze, und wenn all diese Energie nicht in einem definierten Rahmen gehalten wurde, hatte das explosive Folgen. Selbst die winzigste Lücke konnte eine Katastrophe verursachen. Die kleinen Fehler waren sogar schlimmer, weil die ganze Energie hier auf engstem Raum gebündelt wurde und schreckliche Wirkung entfaltete. Deshalb führte jeder, der ein Pentagramm zeichnete, den Ameisen-Test durch: Man fuhr mit der Spitze eines Bleistiftes jeden Schnörkel nach, einmal rundherum, damit jede Ameise, die der Linie folgte, auch wieder am Anfang ankam.
Alice führte den Ameisen-Test an diesem Tag nicht durch.
Im Endeffekt scherte sie sich also nicht darum, ob Professor Grimes’ Körper bei der Beschwörung intakt blieb.
So ein Fehler konnte Karrieren beenden. Das wäre hier auch der Fall gewesen, wenn man Alice’ Namen im Laborprotokoll entdeckt hätte oder irgendwie offiziell bekannt gewesen wäre, dass sie an diesem Tag assistierte. Es hätte eine Untersuchung gegeben. Sie wäre von einem Ausschuss befragt worden, hätte jedes Detail jedes noch so kleinen Fehlers wieder und wieder darlegen müssen, während abgewogen wurde, ob man sie wegen Totschlags oder nur wegen grob fahrlässiger Gefährdung verurteilte. Sie hätte ihr Stipendium verloren, wäre exmatrikuliert worden und hätte der Königlichen Akademie Rede und Antwort stehen müssen. In der Folge hätte Alice nie wieder irgendwo Magie studieren oder ausüben dürfen, nicht einmal an den zwielichtigen amerikanischen Unis ohne Akkreditierung. Falls sie nicht ohnehin ins Gefängnis wanderte.
Doch Professor Grimes erwähnte seine Assistenten in seinen Publikationen so gut wie nie. Die Bereitschaft, ihm bei seiner Forschung zu assistieren und die eigene hintenan zu stellen, war eine unausgesprochene Voraussetzung für einen erfolgreichen Abschluss. Niemand wusste, dass am Tag des Unfalls außer ihm noch jemand im Raum gewesen war. Niemand sonst sah die heulenden Winde, die aus unendlichen Dimensionen in das Pentagramm fuhren. Niemand sah, wie Professor Grimes’ Augäpfel sich ausdehnten, aus ihren Höhlen quollen und zerplatzten wie Weintrauben, wie seine Eingeweide aus seinem Bauch fielen und sich wie ein Springseil um seinen Körper legten, wie sein Mund sich zu einem stummen Schrei verzog. Niemand sah, wie Professor Grimes plötzlich kopfüber hing und schreckliche sieben Mal im Kreis wirbelte, wie seine offenliegenden Organe erzitterten, bevor sie in alle Himmelsrichtungen davonflogen und den Raum mit Blut und Knochen und Innereien bedeckten. Niemand sah seine Gehirnmasse an der Tafel kleben. Niemand sah seinen Kiefer mitsamt der Zähne in seine nachmittägliche Tasse Darjeeling plumpsen.
Und niemand sah, wie Alice sich in der Labordusche sauber schrubbte, wie sie ihre Kleidung dann in den Müllverbrennungsofen stopfte und in den Ersatzklamotten, die sie immer im Labor aufbewahrte, durch die Hintertür huschte. Niemand sah, wie sie früh morgens über den Campus zu ihrem Zimmer im Wohnheim floh, wo sie noch einmal duschte und dann abwechselnd kotzte und weinte, bis sie einschlief.
Offiziell erfuhr die Welt erst am nächsten Morgen durch den schreienden Hausmeister von Professor Grimes’ Tod.
Bis dahin hatten Blut und Gewebefetzen das Pentagramm so verhunzt, dass niemand sagen konnte, was genau schiefgegangen war. Ein später als Leber identifiziertes Stück von Professor Grimes war glücklicherweise genau auf dem Teil des äußeren Kreises gelandet, den Alice verpfuscht hatte. Es blieb nur festzustellen, dass es sich um einen schrecklichen Unfall handelte, der einen der fortschrittlichsten Denker seiner Zeit heimgesucht hatte. Kurz darauf wurden die Untersuchungen eingestellt.
Irgendwie kratzte die Reinigungskolonne der Uni genug Überreste zusammen, um einen Eimer zu füllen und sie dann in einen Sarg zu überführen. Das College hielt eine Messe ab. Das Institut befand sich eine Woche lang in Trauer. Alle Studierenden und Mitarbeiter wurden verpflichtet, Sicherheitsseminare von eigens herbeikutschierten Kollegen aus Oxford zu besuchen, die mit jedem beißenden Kommentar deutlich machen, dass sich bei ihnen nie ein Professor in die Luft sprengen würde – so blöd war man dort einfach nicht. Professor Grimes’ Plakette wurde von seiner Bürotür entfernt. Sein Graduiertenkolleg wurde an einen frischgebackenen Postdoktoranden vergeben, der weniger Ahnung von der Materie hatte als die Studierenden selbst. Die städtischen Zeitungen druckten einen Artikel über den großen Verlust – für Cambridge, für die Forschung und die ganze Welt. Und dann war der Sommer zu Ende, und die Erde drehte sich weiter. Nur für Alice nicht.
Sie hätte den Mund halten und einfach weitermachen können. Die Uni hätte sie bis zum Ende ihres Studiums unterstützt. Cambridges Institut für Analytische Magie war sehr stolz auf seine hohe Abschlussquote, und die Fakultätsmitglieder hätten Alice auch dann über die Zielgerade geschleift, wenn sie sie dafür mehrere Jahre an die Konkurrenz in Oxford ausleihen müssten.
Doch Professor Grimes war der einflussreichste Analytische Magier Englands gewesen. Vermutlich der ganzen Welt. Die Hälfte der Fakultätsvorsitzenden in diesem Feld war eng mit ihm befreundet, und die andere Hälfte hatte so viel Angst vor ihm, dass sie bedingungslos vor ihm kuschte. Alle seine Alumni hatten Lehrstühle an renommierten Institutionen bekommen – zumindest diejenigen, die den Abschluss geschafft hatten. Ein Empfehlungsschreiben von Professor Grimes sicherte einem beinahe jede beliebige Stelle.
In der akademischen Welt waren gute Stellen rar, und Alice wollte unbedingt eine. Sonst wüsste sie nichts mit sich anzufangen. Sie hatte ihr ganzes Leben lang auf diese eine Sache hingearbeitet, und wenn sie es nicht schaffte, hatte alles keinen Sinn mehr.
Am Morgen nach Professor Grimes’ Tod, nachdem man seine Leiche entdeckt und die Lage sich beruhigt hatte, schien es ihr also wie das Natürlichste auf der Welt, Wege in die Hölle zu recherchieren.
Peter hatte eine höchst angenehme Zauberspruchstimme. Das hatte Alice immer an ihm gehasst: wie schrill sie im Vergleich zu ihm klang. Besonders irritierend fand sie, wie wenig seine Stimme zu seiner schmalen Statur passte. Es schien unfair, dass aus diesem stoppeligen Gänsehals so ein voller Klang kommen konnte. Hin und wieder argumentierte ein Forschungsbericht, dass männliche Stimmen sich besser für Magie eigneten, indem er auf Tonlage, Klangfülle oder Festigkeit verwies. Jedes Mal wurde ein großes Aufhebens darum gemacht, es gab wütende Stellungnahmen der verschiedenen Interessensvertretungen der Frauen in der Magie und Entschuldigungen von den Zeitschriftenredaktionen. Trotzdem hatte bis jetzt noch niemand diese Studien widerlegen können. Leider vermutete Alice, dass die Aufsätze richtig schlussfolgerten. Doch in diesem Moment war sie dankbar dafür. Peters Selbstbewusstsein übertrug sich auf sie, und sein gleichmäßiges, beruhigendes Brummen lullte sie ein.
»Die Zielperson sei definiert als Professor Jacob Grimes«, intonierten sie. »Der Zielort ist definiert als Hölle oder das Jenseits oder die Acht Höfe oder das Reich von Lord Yama dem Gerechten.«
Sie verstummten. Nichts geschah. Eine Sekunde verstrich, dann noch ein paar. Dann senkte sich eine Eiseskälte über den Raum, ein Schauer von Nirgendwo, der ihnen direkt in die Knochen fuhr. Alice erzitterte.
»Hand?« Peter hielt ihr die Hand hin.
Sie schlug sie weg. »Pscht.«
»Sorry.« Peter zog die Hand nicht sofort zurück. Alice erkannte zu spät, dass möglicherweise er gern ihre Hand gehalten hätte.
Doch der Moment war vorüber. Grellweißes Licht strahlte von den Kreidelinien aus und formte einen Zylinder um ihre Körper. Das Labor verschwand. Mächtiges Grollen erfüllte die Luft. Alice griff nach Peters Arm – nur fürs Gleichgewicht natürlich –, doch der Boden machte einen abrupten Satz, und sie knallte auf den Po. Einen Moment lang sah sie nichts außer der röhrenden Lichtsäule um sie herum. Dann ein Ruck in der Brust – nicht schmerzhaft, nur heftig, als hätte eine geisterhafte Hand zwischen ihre Rippen gegriffen und ihr das Herz herausgerissen. Der Druck war überwältigend. Alice konnte nicht atmen. Sie krümmte sich, hoffte verzweifelt, dass sie nicht aus dem Pentagramm gefallen war. Das Dröhnen wurde immer lauter, und das Licht wurde zu einem blendenden Weiß, das sich durch ihre Lider brannte. Vor ihrem inneren Auge zogen Visionen der Apokalypse vorbei, blutige Ozeane, über die Feuerzungen leckten, Planeten, die in schwarze Löcher stürzten, und für einen kurzen, furchterregenden Moment verlor sie sich in der Eruption, vergaß, wer sie war …
Panisch versuchte sie, sich an ihr Mantra zu erinnern.
Ich bin Alice Law, Doktorandin in Cambridge, ich studiere Analytische Magie …
Das Licht verblasste. Das Dröhnen verklang.
Blinzelnd drehte Alice ihre Hand vor den Augen. Es ging ihr gut. Sie war von Kopf bis Fuß grau. Eine dünne Ascheschicht, die sie problemlos wegstreichen konnte. Sie klopfte sich auf die Brust. Ihr Herz war noch an Ort und Stelle. Ihre Gliedmaßen waren unversehrt. Ihre Eingeweide noch ordentlich in ihrem Körper verstaut. Falls der Preis bereits bezahlt worden war, fühlte sie es nicht. Sie spürte nur eine wilde, brennende Euphorie. Es hatte funktioniert, sie hatte es geschafft. Kreide, Erde, Stunden der Recherche … und dann wurde die eine Welt zu einer anderen. Das hier war ihr Werk. Ein Wunder.
Peter stand hustend auf. Er wischte sich eine aschegraue Strähne aus der Stirn. »Das ist also die Hölle.«
Alice blickte sich staunend um. Um sie herum befanden sich graue Weiten, endlose Ebenen unter einem dunkelroten Himmel. Eine Sonne – ihre Sonne? Ihr Schatten, ihr Zwilling? – hing tief und nachdenklich über dem Horizont, ihr Licht frustrierend schummerig. Alice holte tief Luft. Sie hatte eine Stoffmaske dabei, für den Fall, dass es stank. In der Aeneis von Vergil lautete der griechische Name der Hölle Aornos, »der vogellose Ort«, denn in ihren üblen Gerüchen konnte niemand atmen oder fliegen. Doch hier roch die Luft nur nach Staub, und es war beinahe kühl. Alice hatte mit mehr gequälten Schreien gerechnet, mit mehr Schwefel, aber möglicherweise hatten die amerikanischen Theologen ein kleines bisschen übertrieben. Meteorologisch gesehen schien die Hölle nicht schlimmer als ein britischer Frühling.
Sie warf sich den Rucksack über die Schulter. In der Ferne konnte sie eine undeutliche dunkle Masse erkennen, und dort, vermutete sie, lag der Asphodeliengrund.
»Alles klar?«, fragte Peter.
»Ging mir nie besser.« Alice trat aus dem Pentagramm heraus. »Wollen wir?«
Magie, diese mysteriöseste wie kapriziöseste aller Disziplinen, bewundert für ihre Macht, verspottet für ihre Maßlosigkeit, besteht kurz gesagt darin, Lügen über die Welt zu erzählen.
Was Magier uralter Zivilisationen durch einen zufälligen Geniestreich herausgefunden und die philosophischen Magier des englischsprachigen Raumes seit dem achtzehnten Jahrhundert im anerkannten Kanon euroamerikanischer Wissenschaftsliteratur festgeschrieben haben, ist Folgendes: Die Naturgesetze dieser Welt sind beständig, aber brüchig. Mit etwas Geschick kann man sie uminterpretieren. Für einen kurzen Augenblick lassen sie sich sogar verwirren und außer Kraft setzen. Man muss nur die richtigen Unwahrheiten miteinander verweben. Linguistische Tricks, Logikrätsel, dererlei. Man muss lediglich Prämissen finden, die die Welt anders erscheinen lassen, als sie wirklich ist – wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Die Kreide und die magische Residualenergie der vor Millionen von Jahren verendeten Meereskreaturen, die darin gespeichert ist, übernehmen den Rest.
Seit den ersten, primitiven Ritualen, auf die die Kreidezeichnungen von Uffington schließen lassen, hat die Magie große Sprünge gemacht: Beeindruckende Teildisziplinen sind aus dem Boden geschossen, die rein gar nichts mit Kreide zu tun haben, sondern auf aller Art arkanen Objekten, verzauberter Musik und visuellen Illusionen basieren. Jetzt eröffnete sich das Studiengebiet der magischen Archäologie, ihrer Geschichte, ihrer Musik und so weiter und so fort. Drüben in Amerika waren visuelle Illusionen und beeindruckende Shows Publikumsmagneten. In Europa widmete man sich sogenannter postmoderner und poststrukturalistischer Magie. Hier wurden Zauber offenbar für genau das Gegenteil ihres eigentlichen Zweckes eingesetzt, und einige Zauber hatten überhaupt keinen Effekt. Das war, wie alle behaupteten, besonders bedeutsam. Doch die beste Magie wurde immer noch im guten alten, traditionellen Cambridge gewirkt. Hier hatte man sich dem Grundstock der Kunst verschrieben. Analytischer Magie. Kreide, Oberfläche, Paradoxon.
Das Paradoxon – das entscheidende Element. Das Wort Paradoxon setzt sich aus zwei griechischen Wurzeln zusammen: para, was »gegen« bedeutet, und doxa, was »Meinung« bedeutet. Bei Magie geht es darum, eine Ansicht zu widerlegen, anzuzweifeln oder wenigstens ins Wanken zu bringen. Magie ist dann erfolgreich, wenn sie Verwirrung und Zweifel sät. Magie verspottet die Physik und bringt sie zum Weinen.
Nehmen wir beispielsweise die Sorites-Paradoxie. Stellen wir uns einen Haufen Sand vor. Ganz simpel. Wenn man ein Sandkorn entfernt, ist es immer noch ein Haufen. Auch wenn man zwei Körner entfernt. Man könnte stundenlang mit einer Pinzette zugange sein, und der Haufen wäre nicht weniger ein Haufen. Was, wenn man eintausend Sandkörner entfernt? Eine Million? Wie viele Sandkörner muss man entfernen, bevor es kein Haufen mehr ist? Wenn man im Schneidersitz vor einem Sandhaufen sitzt und immer nur ein Sandkorn entfernt – in welchem Moment genau kann man den Haufen nicht mehr als solchen bezeichnen? Niemand kann diesen Moment benennen. Doch wenn der Unterschied zwischen einem Haufen und einem Haufen minus eins verschwindend gering ist, wie kann man dann je einen Haufen in einen Nicht-Haufen verwandeln?
Also bitte. Wir wissen doch genau, was ein Haufen ist. Man erkennt ihn, wenn man ihn sieht. Wie Pornografie. Und man weiß, dass der Moment kommt, ab dem man ihn nicht mehr als Haufen bezeichnen kann, wenn man nur lange genug schaufelt.
Doch in diesem Augenblick, wenn das Paradoxon mit exakt diesen Worten beschrieben wird, weiß man es plötzlich nicht. Ganz kurz glaubt man, dass es wahr ist – dass man einen Haufen wirklich unmöglich zu einem Nicht-Haufen machen könnte. Wahrscheinlich hat das Wort Haufen selbst jegliche Bedeutung verloren, so oft wie man es inzwischen gehört hat.
Verwirrung, Zweifel. Und damit durchfährt die Welt für einen Moment einen Ruck. Der Haufen wird niemals kleiner.
Es war dieser Ruck, der Alice zu ihrem Studienfeld verführt hatte. Gleich zu Beginn belegte sie einen Kurs namens Einführung in die Logik. In der zweiten Woche wurden sie Zeugen einer magischen Vorführung. Ein Postdoktorand, der als Gastdozent in Cambridge war, stand vor den Studierenden und zog einen Kreidekreis um einen kleinen Sandhaufen auf dem Tisch. »Seht gut hin«, sagte er und nahm eine Hand voll Sand weg. Dies wiederholte er einige Male. Er lud die Studierenden ein, sich in einer Reihe aufzustellen und zu versuchen, den Sandhaufen mit den Händen wegzuschaufeln. Es gelang ihnen nicht. Immer, wenn sie die volle Hand aus dem Kreis zogen, flirrte die Luft um den Haufen, und der Sand wurde nicht weniger.
Alice sah zu, wie ihr der Sand durch die Finger rieselte. Etwas regte sich in ihrer Brust.
Sie bekam keine Luft. Was sie sah, war nicht weniger als ein Wunder. Der Postdoktorand war Jesus, der die Massen mit fünf Brotlaiben und zwei Fischen ernährte. Jedes Feld, das sie als Hauptfach in Betracht gezogen hatte – Mathematik, Physik, Medizin, Geschichte –, war jetzt belanglos. Warum sollte man statische Wahrheiten studieren, wenn eben jene Wahrheiten gerade einen beeindruckenden Abgang hingelegt hatten? Sie hatte es damals gespürt, und seither noch jedes Mal. Hüpfer im Magen, als hätte sie versehentlich eine Stufe auf der Treppe ausgelassen. Das freudige Staunen eines Kindes im Zirkus, vor dessen Augen gerade ein Hase in einem Hut verschwunden war. In all den Jahren des Studiums hatte dieses Gefühl nie nachgelassen. Man glaubte, die Welt funktioniere auf eine bestimmte Art und Weise, lag damit aber völlig falsch. Eins konnte null werden. Eins konnte zwei werden. Man blinzelte, und es gab keine Fakten mehr. Wenn die Welt einmal fluid werden konnte, wie oft konnte man sie noch dazu bringen, den eigenen Wünschen zu entsprechen?
Alle anderen lebten in einer starren Welt, akzeptierten die Regeln einfach. Sie wollten nur ihre eigenen Grenzen erkunden und bewegten sich deshalb wie versteinert. Doch Magier schwebten in luftigen Höhen, tanzten auf einer wackeligen Treppe aus puren Ideen. Wenn ihnen langweilig wurde, mussten sie bloß mit den Fingern schnipsen und befanden sich sofort im freien Fall. Die Magie war eine Quelle des endlosen Deliriums.
Dazu bedurfte es lediglich einer Lüge – und des Glaubens, dass sämtliche Regeln trotz aller gegenteiligen Beweise ausgesetzt werden konnten. Durch schiere Willenskraft überzeugte man sich davon, dass alles außer der eigenen Schlussfolgerung falsch war. Man musste die Welt so sehen, wie sie nicht war.
Alice wurde im Laufe ihres Studiums sehr gut darin. Das galt für alle fähigen Magier. Wer in diesem Feld erfolgreich sein wollte, musste sich vehement und zielstrebig selbst anlügen können. Alice konnte ihre Welt umschmeißen und aus dem Nichts Leitplanken des Glaubens erschaffen. Sie glaubte, dass endliche Mengen nie versiegten, dass die Zeit rückwärtslaufen und jeglicher Schaden behoben werden konnte. Sie glaubte, dass man im akademischen Kosmos durch Leistung vorwärtskam, dass harte Arbeit ihr eigener Lohn war. Sticheleien im Institut konnten einem nichts anhaben, solange man nur den Kopf unten hielt und sich nicht beschwerte; Professoren fuhren ihre Studierenden nur an, machten sie nur schlecht, nutzten sie nur aus, weil sie ihnen wichtig waren. Und sie glaubte trotz überwältigender Gegenbeweise, dass es ihr gut ging, dass alles in Ordnung war, dass sie keine Hilfe brauchte, dass sie einfach die Ohren steifhalten und weitermachen konnte.
An diese Dinge glaubte sie mit aller Macht, mit demselben Wahn, durch den ein Sandhaufen nie zur Neige ging. Sie hatte keine Wahl. Es war eine unerlässliche Übung für alles, was danach kam.
Die Hölle zog sich. Alice und Peter gingen nebeneinander über so seidefeinen Sand, dass ihre Schritte kaum Spuren hinterließen. Es schien sogar, als verwische der Sand ihre Abdrücke bewusst. Alice blickte über ihre Schulter und sah schwache Vertiefungen. Dann, nach drei weiteren Schritten, war alles verschwunden. Offenbar widersetzte sich die Hölle der Veränderung. Nirgendwo konnte Alice Orientierungspunkte ausmachen – keine Hügel, keine Küsten, keine unheilverkündenden Wolken. Sie versuchte, sich davon nicht verunsichern zu lassen. Ihren Quellen zufolge war die Hölle eine unbeständige Ebene in steter Veränderung. Ihre Richtmarken waren konzeptionell und nicht ortsgebunden. Alice wusste nicht genau, was damit gemeint war, doch sie folgte der traditionellen wissenschaftlichen Interpretation: Die Hölle zeigt sich so, wie es ihr in den Kram passt.
Zumindest für den Moment passten der Hölle wogende Dünen.
Alice sehnte sich nach Sonnenlicht. Ihre Augen hatten sich an das Zwielicht gewöhnt, schmerzten aber, weil sie dauernd blinzelte, um etwas sehen zu können. Sie massierte sich die Schläfen und hoffte, sie würde sich noch mit dem ewigen Halbdunkel anfreunden.
Etwa zwanzig Minuten später liefen sie unter einer Brücke entlang. Sie hörten es, bevor sie es sahen: Geplauder über ihren Köpfen, Stimmen, die Alice vage vertraut vorkamen. Sie blickte hoch und sah ein Spiegelbild des Campus in der Luft schweben, verkehrt herum, zitternd und durchsichtig, als ob der Empfang schlecht wäre. Sie sah Jesus Green, Sidney Street und die kleinen, verwinkelten Gässchen zwischen St. John’s und Trinity. Sie sah Doktoranden, die auf ihren Fahrrädern um Autos herumkurvten. Kleine dunkle Grüppchen hasteten von einem Gebäude zum nächsten. Unschuldige junge Studierende, deren neue schwarze Umhänge ihnen um die Knöchel wehten.
Das war also der die Brücke der Seelen. Alice hatte davon gelesen: Zuerst in Penhaligons Leitfaden der Unitären Hölle, dessen Behauptungen von den meisten altchinesischen Quellen gestützt wurden. Diese Brücke überquerten alle Seelen, bevor sie für immer Teil der Unterwelt wurden; die Schwelle zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich der Toten, auf der jede Seite gerade so einen Blick auf die andere erhaschen konnte.
Alice kam eine Idee. Sie kniff die Augen zusammen. Ja – wenn sie sich darauf konzentrierte, rauschte das Spiegelcambridge näher heran und sie konnte Graduiertenlabor 7 erfassen, wo sie und Peter ihr Pentagramm gezeichnet hatten. Die Schrift war unleserlich und durch die Winde, die zwischen den Welten wehten, verwischt worden. Sie sah zwei Kommilitonen – Belinda und Michele –, die ehrfurchtsvoll in der Tür standen, sich umsahen und nach und nach verstanden, was passiert war.
Sie hatte ihre Spuren nicht verwischt. Nein, ganz im Gegenteil: An diesem Morgen hatte sie eine Notiz in ihrem Büro hinterlassen, die verriet, dass sie Professor Grimes’ Seele aus der Hölle retten wollte. Niemand sollte es wagen, ihr zu folgen, es sei zu gefährlich, und wenn sie binnen vierzehn Tagen nicht zurück war, könnte man ihr Büro einem jüngeren Studierenden zuweisen. Sie hatte die Tür zum Labor nicht abgeschlossen. Alle sollten wissen, wohin sie gegangen war – niemand sollte an ihrem Erfolg zweifeln, wenn sie triumphierend mit Professor Grimes zurückkehrte.
Belinda und Michele knieten jetzt vor dem Pentagramm, um die Inschriften zu entziffern. Alice wünschte, sie könnte die beiden hören. Belinda schlug sich immer wieder die Hand vor den Mund. Michele antwortete mit entweder sehr aufgebrachten oder einfach nur sehr italienischen Gesten; bei ihm war Alice sich nie sicher. Plötzlich hielt Belinda inne – sie stand genau über dem Teil der Inschrift, der ihr Ziel als »die Hölle« bestimmte – und legte den Kopf schief, um besser lesen zu können.
Alice griff so weit nach oben, wie sie konnte. Die Brücke war nah – wie eine niedrige Zimmerdecke, und wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte und sich streckte, kam sie gerade so daran. Konnte sie hinüberreichen? Sie wollte es versuchen.
»Buh.«
Belinda zuckte zusammen und fasste sich erschrocken mit der Hand in den Nacken. Alice war entzückt. Sie fragte sich, was sie als Geist noch so alles anstellen konnte – ob sie die Hallen Cambridges auf ewig heimsuchen konnte, wenn ihr der Sinn danach stand.
Unter den Gelehrten herrschte die übereinstimmende Meinung, dass die meisten aufgezeichneten Spukerlebnisse und Heimsuchungen von der Brücke der Seelen ermöglicht wurden. Nur hier konnten die Toten gehört werden, nur hier konnten sie Einfluss auf die Lebenden nehmen. Bei den Heimsuchungen handelte es sich aber keineswegs um eine Einbahnstraße. Geister wurden von der Brücke angezogen, weil sie ebenfalls an Erinnerungen hingen; weil sie von den Ritualen der Zurückgebliebenen verzaubert und besessen waren. Sie wollten wissen, was die auf der anderen Seite so trieben. Sie wollten sehen, ob man sich an sie erinnerte. Die Gruselgeschichten irrten sich; Heimsuchungen waren nur selten bösartig. Die Toten wollten sich einfach nur nicht ausgeschlossen fühlen.
Belinda stolperte in Micheles Arme. Alice schnaubte. Sie war so zartbesaitet, so britisch – alles war ihr immer zu viel. Michele schlang die Arme um sie, flüsterte ihr etwas ins Ohr. Alice überlegte, was er wohl sagen mochte – Schon in Ordnung, sie sind ja nicht gestorben. Sie werden nicht sterben. Belinda schüttelte unaufhörlich den Kopf. Nein, schien sie zu sagen. Nein, sie sind tot. Sie sind tot.
»Bereust du’s?« Peter stand neben ihr, den Kopf in den Nacken gelegt. Doch sein Blick ruhte nicht auf Belinda und Michele, sondern auf den Scharen von Studierenden, die gut gelaunt durch die Gassen schwärmten. Unwissend, voller Vorfreude auf den Trimesterstart – oder hatten sie gerade den ersten Tag hinter sich gebracht und waren jetzt auf dem Weg in den Pub, um sich ein Pint zu genehmigen? »Willst du wieder zurück?«
»Mach dich nicht lächerlich, Murdoch.«
Es gab keinen einfachen Weg zurück. Das hatten sie beide vorher gewusst. Der Abstieg in die Hölle war leicht; sie wieder zu verlassen dafür umso schwerer. Wenn sie einfach wieder in ihr Pentagramm hüpfen, die Zauber rückwärts aufsagen und im Labor herauskommen könnten … Doch wenn das ginge, würden die Lebenden andauernd die Welt der Verstorbenen besuchen. Nein; um aus der Hölle aufzusteigen, brauchte man die Erlaubnis von Lord Yama – also Thanatos, Anubis, Hades, der Dunkelheit der Vielen Namen, dem Herrscher der Unterwelt.
Oft gewährte er sie. Lord Yama hatte Lebende nur ungerne in seinem Reich; sie störten die Toten, brachten das Gleichgewicht durcheinander. Er scheuchte sie mit Freuden dorthin zurück, wo sie hergekommen waren. Zumindest versprachen das die ganzen Geschichten. Orpheus war zurückgekommen, ungeachtet des Preises. Dante kam völlig problemlos wieder an die Oberfläche. Wer einen Ausflug in die Hölle machte, starb den Berichten zufolge nur selten dort. Das tragische Ende fand man dann in der Welt der Lebenden.
Die Sache mit dem Überleben würden sie regeln, wenn es so weit war. Für den Moment galt es herauszufinden, wie viel tiefer sie noch in die Hölle gehen mussten.
Etwa eine Stunde später stieg das Gelände leicht an. Sie erklommen wohl irgendeine Anhöhe. Alice’ Lunge verkrampfte sich, obwohl sie sich alle Mühe gab, nicht zu keuchen. Peter schritt völlig unbeeindruckt neben ihr her, und sie hätte niemals zugegeben, dass sie erschöpft war.
Dann lag ihnen alles zu Füßen: ein flaches Tal voller Schatten, von denen einige in Gruppen, andere allein über das Feld wanderten. Das waren die verstorbenen Seelen – durchscheinende, gräuliche Dinger, bloße Echos lebendiger Menschen. Einige drehten sich immer wieder im Kreis; andere liefen ständig auf und ab. Wieder andere zog es mal hierhin, mal dorthin, sie schienen eher zu schweben, als zu gehen. Von oben betrachtet sahen sie aus wie eine Kolonie langsamer, benebelter Ameisen, die sich ohne Sinn und Zweck fortbewegte. Nur endloses Gewusel. Limbus war ein Name dafür, Vorhölle oder auch Asphodeliengrund waren andere Bezeichnungen.
Der Asphodeliengrund zählte nicht zu den Höfen der Hölle, sondern war eine Art Zwischenstation. Hierher kamen die schockierten, orientierungslosen Seelen der kürzlich Verstorbenen. Hier hatten sie unendlich viel Platz und Zeit, um sich zu sammeln, bevor sie weiterzogen. Talamos Darstellung beschrieb den Asphodeliengrund als einen Wartebereich. Gar nicht so anders als die Bahnhofshalle von Cambridge South. Allerdings gab es hier in der Hölle keinen Kaffee.
Alice hatte guten Grund zu der Annahme, dass Professor Grimes noch hier war. Die Toten hatten es nur selten eilig weiterzuziehen. Sie brauchten Zeit, um ihre Erinnerungen zu verarbeiten, ihre Fehler, ihre Träume. Einige blieben in der Hoffnung, eine geliebte Seele wiederzutreffen und die Wiedergeburt gemeinsam anzutreten. Einige glaubten gar nicht an Reinkarnation. Einige harrten ewig im Asphodeliengrund aus, überzeugt davon, dass die große Wiederauferstehung bevorstand und sie nur in Apathie versinken und auf die Endzeit warten mussten. Andere blieben aus reiner Angst vor dem, was sie im Rest der Hölle erwartete. Eine Ewigkeit der Langeweile war besser als die Strafen, die sie verdienten.
Professor Grimes hatte, so fand Alice, für eine Menge zu büßen. Sie an seiner Stelle würde schön hierbleiben.
Aber wie sollten sie ihn in dieser Menge je finden? Die flache Ebene erstreckte sich, so weit das Auge reichte, und Alice kam keine einzige dieser Seelen bekannt vor. Selbst nachdem sie in das Tal hinabgestiegen waren, blieben die Schatten so vage und undeutlich, als betrachte man sie aus der Ferne. Alice musterte jede Seele, an der sie vorbeikamen, aber erkannte nur verschwommene, gesichtslose Silhouetten. Die Schatten, die ein Gesicht hatten, blickten alle gleichermaßen sauertöpfisch drein. Alice bekam keine Gelegenheit, sie sich genauer anzusehen. Die Toten schwirrten wie aufgescheuchte Mücken davon, wenn sie ihnen zu nahe kam.
»Was hast du noch mal als Anker benutzt?«, fragte Peter nach einer Weile.
Das war eines der lästigeren Probleme bei einer Reise in die Hölle: Man musste herausfinden, wohin man eigentlich wollte und wie man die Seele fand, die man zu retten beabsichtigte. Seit dem Anbeginn der Zeit waren eine Menge Seelen gestorben, und die Hölle war leider ziemlich groß. Die Lösung war ein Dowsing-Anker: eine Formel im Pentagramm, die einen Magier durch einen physischen Gegenstand in der Raumzeit der Unterwelt erdete. Doch Alice’ Anker, so schien es, hatte sie nur in undefinierten Raum geführt.
»Ich habe etwas von seinem Schreibtisch benutzt.« Alice blickte sich hilflos um. »Die Plakette, die sie ihm letztes Jahr in Paris verliehen haben. Die meisten seiner Preise wirft er weg, aber die hat er gut sichtbar hingestellt, also hat sie ihm wohl etwas bedeutet.«
»Ich weiß, welche du meinst. Die ist nur aus Holz, oder? Keine Goldlettern?«
»Ja, nur eine Gravur.«
Peter nickte, überlegte kurz und fragte dann: »Könnte ich einen Vorschlag machen?«
»Ja, natürlich.«
»Es ist nur … ich will dir nicht zu nahe treten.« Er klang so höflich, dass Alice ihm am liebsten eine runtergehauen hätte.
Früher hatte er nie groß um den heißen Brei herumgeredet. Du dumme Kuh, Alice, du hast eine Zeile vergessen, du hast es komplett versaut, hatte er geschrien. Und sie teilte genauso aus, machte ihn darauf aufmerksam, dass er eine seiner Zeilen vergessen hatte, und sie stritten erbittert, lachten und schafften das Problem aus der Welt. Früher konnten sie gut miteinander diskutieren, und genau das hatte ihnen Spaß gemacht. Früher konnten sie offen miteinander reden. Aber das war lange her.
»Wir irren in der Hölle umher«, sagte sie. »Schlag vor, was immer du willst.«
»Also, die Apokryphen von Macedonio besagen, dass die meisten Gegenstände aus der Welt der Lebenden in der Hölle ihre richtungsweisende Kraft verlieren«, sagte Peter. »Sorry – das hab ich dir weggeschnappt, das hättest du nicht wissen können. Aber der Gedanke dahinter ist, dass unsere emotionalen Bindungen an Objekte im Vergleich zu ihrer Geschichte sehr oberflächlich sind. Besonders so etwas wie eine Plakette aus zurechtgeschnitztem Holz. Die Politur verändert es, schon klar, aber an sich ist es immer noch einfach nur Holz. Unsere Begegnungen mit diesem Holz sind flüchtig im Vergleich zu der langen Spanne seiner Existenz.«
Wenn er das so sagte, erschien es Alice sehr offensichtlich. »Daran hätte ich denken müssen.«
»Also hat deine Plakette uns vielleicht einfach in die Nähe jedes Schreiners gebracht, der je gelebt hat.«
»Verstehe.«
»Oder in die Nähe jedes passionierten Wanderers.«
»Schon klar.«
»Oder vielleicht in die Nähe jedes Naturliebhabers.«
»Komm zum Punkt, Murdoch.«
»Eigentlich ist das ein richtig interessantes Dilemma«, sagte Peter. »Wie die Hölle räumlich ausgerichtet ist. Mal angenommen, Macedonio hat recht und die Landschaft der Hölle formt sich zu einem Spiegel der lebendigen Welt. Was passiert, wenn diese Welten sich überschneiden? Wenn Seelen aus unterschiedlichen Zeiten und Orten interagieren? Welche Hölle erleben sie? Ich frage mich …«
Alice unterbrach ihn. Das war typisch Murdoch; wenn niemand ihn aufhielt, schwafelte er, bis er vergessen hatte, wo er angefangen hatte. Peter war immer mehr am Problem als an der Antwort interessiert. Großartig in der Forschung, anstrengend in der Zusammenarbeit. »Hat Macedonio auch eine Lösung?«
»Hm? Ach ja! Er sagt, wir sollen die Toten zu uns locken.« Peter nahm den Rucksack ab und kniete sich hin. »Er schlägt ein Opfer vor.«
Er holte drei Gegenstände hervor: ein Päckchen Zigaretten, eine Scheibe Lembas und eine kleine Flasche Tawny Port. »Eine Mahlzeit«, erklärte er. »Etwas, das sehr temporär verankert ist. Du musst das Jahrzehnt richtig abbilden, verstehst du. Gegenstände haben eine lange Geschichte, aber Nahrungsmittel … die genauen Zutaten, die in genau der richtigen Menge hinzugefügt werden müssen, und die Wege, auf denen sie entstehen … die sind zeitlich unheimlich spezifisch.«
Er schichtete die Zigaretten zu einem kleinen Haufen auf, krümelte das Lembas darüber und tröpfelte Portwein darauf. Dann zündete er alles mit einem Streichholz an.
Alice fand, dass die ganze Mischung besorgniserregend gut roch. Sie musste an den Aufenthaltsraum im Institut denken – an leere Lembas-Verpackungen, benutzte Tassen, an portfleckige Sofas und matschige Kaffeefilter im Mülleimer. Es roch heimelig.
Dichte schwarze Schwaden stiegen auf und waberten ins Grau. Die Vorhölle verschwand und wurde dann durchsichtiger. Ganze Schattengruppen lösten sich auf, eine nach der anderen, bis sie allein dastanden.
Eine einzelne, undeutliche Gestalt erschien über dem Horizont, wurde größer und größer, je näher sie kam.
»Das kann nicht sein«, sagte Peter.
Das war nicht Professor Grimes … sondern die Institutskatze.
Fast jedem Institut in Cambridge gehörte eine eigene Katze. Also eigentlich gehörte der Katze das Institut. Sie trugen keine Halsbänder, schliefen nicht in den Häusern der Professoren und schienen weder einem bestimmten Studierenden noch einer Lehrkraft besonders loyal oder auch nur freundlich gesinnt zu sein. Klar war nur, dass irgendwann eine miauende, hungrige Katze auftauchte, und weil niemand so kaltherzig war, sie zu ignorieren, stellte man ihr Futter und Wasser hin. Die Katze blieb, wurde immer verwöhnter, und irgendwann glaubten alle, dass sie seit Anbeginn der Zeit am Institut gelebt hatte.
Die Fellnase des Instituts für Analytische Magie war eine schlanke, grünäugige, dunkelgraue Katze namens Archimedes, mit deren buschigem Schwanz man Staub wischen könnte. Soweit Alice wusste, war Archimedes definitiv am Leben. Sie hatte ihn erst heute Morgen gesehen, als er im Vorgarten stumpfsinnig nach Schmetterlingen schlug.
Sie kniete sich hin. Archimedes ließ sich nicht gerne streicheln, aber er mochte es, wenn man ihm in die Augen blickte, wenn man mit ihm sprach. Das war eine Frage des Respekts. »Was machst du denn hier?«
Archimedes blinzelte. Sein Schwanz schnellte vor und zurück. Er umkreiste das Feuer und schnüffelte daran. Falls es ihm in der Hölle nicht gefiel, so zeigte er sein Unbehagen nicht.
»Katzen können die Grenze überqueren«, sagte Alice leise. »Davon habe ich gelesen! Sie kennen sich in den Höfen aus und können die Toten sehen.«
»Kannst du uns dann vielleicht helfen?« Peter trat auf die Katze zu. »Kannst du uns zu Grimes führen?«
Einen Moment lang schien Archimedes ernsthaft darüber nachzudenken. Er blickte lange ins Feuer; so lange, dass Alice schon zu hoffen wagte – er sah so weise aus, sein Blick so bedeutungsschwanger. Ich habe die Meere der Zeit überquert, sagten seine Augen. Ich habe die verborgene Welt gesehen. Dann miaute er verächtlich und schritt über die Dünen davon.
Alice richtete sich auf. »Schade.«
»Schau mal«, sagte Peter.
Dort, wo Archimedes verschwunden war, erschienen jetzt vier Gestalten am Horizont. Dünne, faserige Formen. Keine von ihnen hatte die hoch aufragende, einschüchternde Anmut ihres Professors. Sie kamen näher, und im weichen Licht der tief stehenden, sengenden Sonne konnten sie ihre Gesichter erkennen. Unschuldige Wesen. Fast noch Kinder. Schwarze Flecken breiteten sich wie Tinte auf ihrer Haut aus.
»Peter.« Alice hatte ein schlechtes Gefühl. »Das ist nicht …«
»O Mann«, sagte Peter. »Ich dachte, die wären inzwischen schon weitergegangen.«
»Offenbar nicht«, erwiderte Alice und stählte sich für die Begegnung mit Professor Grimes’ ersten Opfern.
Dreißig Jahre zuvor in Cambridge. Ein Zauber ging schief, und vier Studierende starben. Dem Postdoktoranden, der die Laborschicht leitete, wurden seine Abschlüsse entzogen, und er wurde mit Schimpf und Schande zurück nach Bristol geschickt. Alle Beteiligten waren Studierende des damals noch jungen Professor Grimes.
Offiziell schob die Universität alles auf einen Gebäudebrand – was strenggenommen nicht falsch war, denn durch die Explosion war der ganze linke Flügel abgebrannt – und ließ den Eltern der Studierenden die Asche ihrer Kinder zukommen. Außerdem versicherte man ihnen in einem Brief, dass Cambridge keinerlei Verantwortung für den Vorfall trug und eine Klage eine sehr schlechte Idee wäre. Dass eine Untersuchung fehlerhaft verbaute Gasleitungen zutage förderte, kam der Universität nur zugute. Sie beschuldigten die Baurichtlinien und die Baufirma und lenkten so von der Frage ab, welche Art magischer Experimente überhaupt ein halbes Gebäude abfackeln konnte. Das Institut war nie dafür belangt worden. Es war ein merkwürdiger Unfall, nichts weiter.
Doch niemand hatte je gefragt, warum Professor Grimes überhaupt ein Feuer in einem Labor ausbrechen ließ. Niemand hatte darüber nachgedacht, dass er neben der intellektuellen Entwicklung und Sicherheit seiner Studierenden auch für den Ablauf des Experiments verantwortlich war und sich nicht hinter einem großen »BETRETENVERBOTEN«-Schild in seinem Büro im zweiten Stock zu verbarrikadieren hatte. (Auf das Schild war er wahnsinnig stolz; einige Absolventen hatten es ihm als Witz geschenkt, doch ihm war es todernst.) Niemand hatte je vorgeschlagen, dass Professor Grimes vielleicht nicht nur seine Forschung vorantreiben, sondern auch seinen Pflichten als Lehrer hätte nachkommen sollen. Immerhin war er nicht der einzige nachlässige Professor: Jede Lehrkraft des Fachbereichs neigte dazu, die Lehre zu vernachlässigen. Wozu eine Handvoll Studierende beaufsichtigen, wenn man seine Zeit auch mit etwas Sinnvollem verbringen konnte?
Also blieb Professor Grimes’ Karriere unangetastet. Niemand konnte ihm eine Schuld nachweisen oder eine Verbindung zwischen seinem Verhalten und dem Brand herstellen. Er war nicht mal vor Ort gewesen. Und in der Magie passierten Unfälle nun mal. Kaum zwei Wochen später versetzte in Harvard eine verzauberte Harfe aus Assyrien die Hälfte des Instituts in einen lähmenden Schlummer und stellte den Brand im großen Tratsch-Kreislauf auf Konferenzen in den Schatten. (Keiner der Gegenzauber zeigte Wirkung; am Ende war die Lösung enorm viel Amphetamin, das eine überraschend große Anzahl Studierender zur Hand hatte.) Es herrschte der allgemeine Konsens, dass Risiken zum Studium der Magie eben dazugehörten. Besonders in Professor Grimes’ visionärem, wegweisendem Feld. So oder so waren die Studierenden selbst schuld, und die waren ja schon tot. Das war Strafe genug.
Während die Schatten sich näherten, stellte Alice voller Schrecken fest, dass sie genau so aussahen wie im Augenblick ihres Todes. Eine Studentin schien größtenteils unversehrt – sie hatte nur ein paar Kratzer auf Armen und Gesicht. Laut Bericht war sie an einer Rauchgasvergiftung gestorben. Die Flammen hatten sie nie angerührt. Sie war in eine Ecke gekrochen und hatte sich unter einer feuerfesten Decke versteckt. Der Feuerwehr zufolge waren die Flammen bereits eine Stunde lang gelöscht gewesen, ehe man sie gefunden hatte. Sie konnte noch lange gelebt haben – das wusste niemand genau, und niemand hakte nach. Ihre Eltern bahrten sie zur Beerdigung in Ely im offenen Sarg auf und luden das gesamte Institut ein. Das war vor Alice’ Zeit gewesen, doch sie war sich ziemlich sicher, dass Professor Grimes nicht hingegangen war.
Die anderen waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Alice wurde beim bloßen Anblick übel. Theorien über die Toten zu lesen, war das eine; sie zu sehen etwas ganz anderes. Verkohlte Gliedmaßen, versteinerte Gesichter; Wangenknochen ohne Fleisch; Zähne, grotesk entblößt in einem unfreiwilligen Lächeln. Nur die Augen waren bei allen unberührt geblieben; stierende, flehende, leidende, neugierige Blicke. Würden sie bis in alle Ewigkeit so aussehen? Oder hatten sie sich dazu entschlossen, ihnen so gegenüberzutreten? Die Quellenlage zu Schatten und Körperlichkeit war spärlich und uneindeutig. Einige Gelehrte waren der Meinung, die Schatten wären gegen ihren Willen im äußeren Anschein ihres Todesmoments gefangen. Andere argumentierten, dass sie sich für ein bestimmtes Aussehen entscheiden konnten. So oder so erschien es Alice unhöflich, zu fragen.
»Hallo«, sagte sie vorsichtig. »Wir kommen aus Cambridge.«
Die Schatten bewegten sich langsam auf sie zu. Sie wirkten aufgeregt. Die drei verbrannten Gesichter konnte Alice nicht lesen – sie hörten ja nie auf zu grinsen –, doch die unversehrte junge Frau schien aufgeschlossen und erfreut.
»Wir suchen nach einer Seele, die erst vor Kurzem hier durchgekommen ist«, sagte Peter. »Professor Jacob Grimes.«
Das unversehrtere Mädchen keuchte auf, und das Geräusch verbreitete sich wie ein Windhauch unter den anderen Schatten.
»Professor Grimes?«
»Professor Grimes ist hier?«
»Grimes!«
Sprechen konnten sie also. Ihre Stimmen waren je ein Echo der anderen; eine Aussage, vier Mal in leicht unterschiedlichem Tonfall wiederholt. Alice wusste nicht, ob die Schatten nicht anders sprechen konnten oder ob ihre Persönlichkeiten nach Jahrzehnten der Isolation, in denen sie sich gemeinsam der Ewigkeit entgegengestellt hatten, so sehr miteinander verschwommen waren, dass sie sich selbst nicht mehr als eigenständige Wesen wahrnahmen. Sie verfielen in aufgeregtes Geplapper, kommunizierten mit unverständlichen Klick- und Pfeifgeräuschen. Alice verstand nur »Grimes«, »Kann nicht sein« und »Um Himmels willen!«.
»Wisst ihr, wo er sein könnte?«, unterbrach Peter sie.
»Sollte immer noch ein Schatten sein«, sagte eine Studentin, deren Haare zu zwei Zöpfen geflochten waren.
»Ja, ein Schatten, es sei denn …«
»Es sei denn!«
»Aber das wissen wir nicht.«
»Mit uns redet er ja nicht.«