Kazik - Simha Rotem - E-Book

Kazik E-Book

Simha Rotem

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Beschreibung

Simha Rotem, genannt Kazik, nahm als Jugendlicher am Warschauer Ghettoaufstand teil und ist der letzte noch lebende Kämpfer dieses epochalen jüdischen Widerstandskampfes. Er war 15 Jahre alt, als die NS-Armee in Polen einfiel, und 19, als der Aufstand am 19. April 1943 begann. Er organisierte die Flucht der letzten überlebenden Kämpfer aus dem brennenden Ghetto durch das Labyrinth der Abwasserkanäle. 1944 beteiligte sich Kazik am Warschauer Aufstand und bereitete anschließend noch vor Kriegsende Fluchtwege nach Israel vor. Ohne nachträglich zu romantisieren oder zu verklären, beschreibt er die schier unvorstellbare Härte des Kampfes gegen die Nazis. Mit seinen Erinnerungen erfüllte er die innere Verpflichtung, Zeugnis abzulegen über "die Geschichte des polnischen Judentums in den Tagen der Vernichtung und des Widerstands".

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Simha Rotem

Kazik

Erinnerungen eines Ghettokämpfers

Aus dem Hebräischen von Ronit Mayer Beck

Die Originalausgabe erschien 1984 in Israel.

© Simha Rotem

Das Bild auf der Einbandrückseite zeigt Simha Rotem im Jahr 1943.

Im Hintergrund ist Icchak Cukierman zu sehen, rechts Stefan Siewierski, von dessen Tante Kazik nach dem Warschauer Ghettoaufstand versteckt wurde. Stefan Siewierski wurde von der Gestapo ermordet.

© der deutschsprachigen Ausgabe

Berlin 1996: Verlag der Buchläden Schwarze Risse/Rote Straße

Berlin/Hamburg 2017: Verlag Assoziation A

Assoziation A, Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin

www.assoziation-a.de, hamburg@ assoziation-a.de, berlin@ assoziation-a.de

Gestaltung: Andreas Homann

Titelfoto: Witold Orski

ISBN Print 978-3-86241-460-4

E-Book ISBN 978-3-86241-626-4

Inhalt

Agnieszka Hreczuk:Der letzte Ghettokämpfer 2017

1 — Vorwort 1983

2 — Davor

3 — Als Kämpfer der ŻOB

4 — Zu den Abwasserkanälen — die Rettung der Überlebenden

5 — Auf der »arischen Seite«

6 — Wohnungen im Untergrund

7 — Aktionen auf der »arischen Seite«

8 — Während des Warschauer Aufstands

9 — Die ŻOB ist wieder aktiv

10 — Letzte Aktionen

11 — Epilog

Jörg Paulsen: Nachwort 1996

Glossar

Personenverzeichnis

Der letzte Ghettokämpfer

von Agnieszka Hreczuk

DÜNNE, SCHMUTZIGE MENSCHEN klettern aus dem Abwasserkanal ans Licht, einer nach dem anderen, 40 insgesamt. Sie stinken nach Gosse und wanken vor Erschöpfung. Kazik Ratajzer treibt sie an. Es ist zehn Uhr morgens. Der Schacht, durch den sie nach oben gekrochen kommen, liegt in der Prostą-Straße, nur 100 Meter von der deutschen Wache entfernt. Menschen, die auf der Straße laufen, halten an und schauen neugierig. »Wenigstens verdecken sie uns vor den Wächtern«, denkt sich Ratajzer. Er ist ein paar Stunden zuvor aus dem Kanal gestiegen, hat einen Lastwagen organisiert, in den sie nun klettern. 40 schmutzige Juden fahren in einem Lastwagen durch ein Viertel, das nur für Deutsche ist, raus aus der Stadt Warschau, rein in den Wald.

Es ist der 10. Mai 1943. SS-General Jürgen Stroop muss in seinem Bericht vermerken, dass ein paar der Aufständischen, »Banditen«, wie er sie nennt, geflohen sind. Stroop, der den Aufstand im Warschauer Ghetto, begonnen am 19. April, schließlich am 16. Mai 1943 niederschlägt, notiert, dass die »Banditen« trotz einer intensiven Verfolgungsjagd entkommen konnten. Unter ihnen auch Anführer des Aufstands: Marek Edelman, Cywia Lubetkin, Hersz Berliński.

Heute befindet sich der Eingangsschacht zum Kanal immer noch an derselben Stelle. Als Kazik Ratajzer hineinschaut, stinkt es genauso wie damals. Es ist auch genauso beängstigend eng und dunkel. Er dreht den Kopf weg. Ist es der unangenehme Geruch oder die unerträgliche Erinnerung? Oben, auf der Straße, stehen keine Wachmänner mehr, sondern moderne Bürohäuser. Vor einigen Jahren wurde nur wenige Meter vom Eingangsschacht entfernt ein Denkmal errichtet, das an das erinnert, was hier 1943 geschah. Ein Messingrohr, das aus dem Bürgersteig herausragt, als Symbol für den Kanal. Im Inneren des Rohrs Dutzende Hände, die sich dicht an den Stufen einer Leiter festklammern, so wie damals, im Jahr 1943.

Über das Denkmal hat sich Kazik mehr gefreut als über den Orden, den er damals bekommen hat. Durch das Denkmal wird die Nachwelt etwas über seine Kameraden erfahren, zumindest ihre Namen werden überleben, denkt Kazik. Auch wenn es ihn selbst, der darüber erzählen kann, nicht mehr geben wird, werden die Menschen darüber stolpern. Und lesen. Sein Blick wandert über die auf der Gedenktafel eingravierten Namen derjenigen, die es damals aus dem Kanal herausgeschafft haben, und derjenigen, denen diese Flucht nicht gelang. Sein eigener steht ganz oben: »Simcha Rotem-Ratajzer, Kampfname Kazik«. Zwei Namen – für zwei Leben. Das davor und das danach.

Hersz Berliński und Cywia Lubetkin leben nicht mehr. Marek Edelman, der Einzige, der in Polen blieb, auch nicht. Jahrelang sind Marek und Kazik – über die Jahre und die Entfernung hinweg eng befreundet – gemeinsam zum Jahrestag des Ghettoaufstands gegangen. Sie redeten immer wieder über dasselbe: Wie es damals war, was sie hätten anders machen sollen. Nur selten waren sie einer Meinung, aber verstanden haben sie sich trotzdem. Vor einem Jahr ist Pnina Grynszpan-Frymer gestorben. Jetzt ist nur noch Kazik da, der Letzte. Eine enorme Belastung. Eine Botschaft, die nur er noch übermitteln kann. Und Fragen, die ihn quälen und die er mit niemandem mehr teilen kann. Mit niemandem, der ihn so richtig verstehen würde. Nicht mit den Menschen, die keine Ahnung vom Ghetto haben, vom Gefühl, nicht ein Mensch sein zu dürfen, von Entscheidungen, von denen keine einfach richtig oder falsch sein konnte.

»Ich weiß nicht, ob wir das Recht dazu hatten«, sagte Kazik nachdenklich an jenem Nachmittag, als wir miteinander gesprochen haben. »Für die anderen zu entscheiden.« Er rührte langsam in seiner Kaffeetasse herum. Das tat er seit einer guten halben Stunde, der Kaffee war mittlerweile kalt geworden. Kazik war mit seinen Gedanken irgendwo anders, wohl dort, in jenem Augenblick, als der Aufstand gerade ausbrechen sollte, und bei denjenigen, deren Leben damals bald enden sollte. Das konnte ich nur raten. Es war kurz nach dem 70. Jahrestag des Ghettoaufstands. Ich hatte ihn seit einigen Tagen begleitet, hatte seine Erinnerungen gelesen, seine Bekannten befragt. Ich wollte seine Geschichte trotzdem noch einmal hören, über das Heldentum in einer grausamen Zeit, erzählt von einem Helden, den wenige Tage zuvor polnische und israelische Politiker gefeiert hatten. Der letzte Ghettokämpfer. Selbstbewusst, mutig, jemand, der niemals aufgibt. Und dann erzählte er mir, dass ihn einige Fragen quälen. Fragen nach seinem Recht und seiner Schuld. »Vielleicht«, sagte er, »hätte jemand, wenn der Aufstand nicht ausgebrochen wäre, noch eine Chance gehabt. Vielleicht wäre er aus dem Ghetto rausgekommen, vielleicht hätte er überleben können, zumindest noch einige Monate lang, einige Wochen oder Tage … Ein Tag kann für einen Menschen viel bedeuten.« Er schaute mir in die Augen, ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Aber ich habe den Eindruck gehabt, dass er keine Antwort von mir brauchte. »Es ist eine Frage, mit der ich leben muss, allein«, sagte Kazik schließlich.

Kazik hat viele Sachen erzählt, die sich mir tief eingeprägt haben. Alle waren wichtig, aber wenn ich spontan eine wählen sollte, würde ich diese als erste wählen. Vielleicht, weil sie zu seinem Bild nicht passte. In seinen Memoiren schrieb er so sicher und detailliert, ohne Fragen und Zweifel. Bei den Auftritten sprach er so klar und eindeutig. Das passte nicht dazu. Oder vielleicht deshalb, weil ich nicht begreifen konnte, wie er auf diese Idee kommen konnte. Die Juden im Warschauer Ghetto waren sowieso zum Tode verurteilt. Das Ghetto wurde Schritt für Schritt liquidiert. Von über 550.000 Menschen waren nur 50.000 am Leben geblieben – die bald auch abtransportiert werden sollten, nach Treblinka, in die Gaskammern. Niemand konnte etwas ändern und schon gar nicht die Juden selbst. Und ausgerechnet er, ein Opfer, machte sich Vorwürfe?

Als wir damals gesprochen haben, war Kazik 89 Jahre alt und einer der zwei noch lebenden Ghettokämpfer. Einer nach dem anderen sind sie gestorben, seine Freunde, Kameraden, alle, denen er während des Kriegs das Leben gerettet hatte, auch diejenigen, die er aus dem Ghetto durch den Abwasserkanal hinausgeführt hatte. Es war eine unmögliche Aufgabe gewesen. Nur Kazik hatte sie gelingen können. Er lebte damals so, als ob er unsterblich sei, risikoreich. »Ich war eben ein wahrer Ur-Czerniakówer«, sagte Kazik mit einem Lächeln. Das Lächeln, das auf offiziellen Fotos nicht zu sehen ist, aber hinter den Kulissen, bei seiner Familie und Freunden sein Wahrzeichen ist und den wahren Kazik ausmacht. Ihm fehlte nun nur noch eine flache Schirmmütze, wie es sich damals in Czerniaków gehörte.

Czerniaków war eine grundlegen Episode in seinem Leben. Eine Zeit, die ihn geprägt hat und die der Grund dafür war, warum er überleben durfte. Czerniaków war nicht irgendein Viertel von Warschau. Czerniaków war eine Legende. Ein Arbeiterviertel an der Weichsel, relativ arm, stark kriminell, aber mit einem einmaligen und eigenartigen Charakter. Es herrschten dort ein eigener Ehrenkodex und sogar ein eigener Dialekt. Und vor allem gab es dort nur wenige Juden. Eine Seltenheit in einer Stadt, in der jeder dritte Einwohner vor dem Krieg Jude war. Juden lebten im sogenannten Nordviertel, aus dem 1940 teilweise das Ghetto gebildet wurde. Sie blieben unter sich, hatten ihre eigenen Bräuche, sprachen Jiddisch, und wenn sie Polnisch sprachen, dann mit Akzent. Assimiliert hatten sich meistens nur die Intellektuellen oder Kommunisten. Kazik lebte unter den Polen, er wusste, wie sie sich im Alltag verhalten, wie sie feiern. Und er selbst verhielt sich und sprach wie die armen Arbeitersöhne aus Czerniaków. Er war nicht nur blond, er war auch frech, laut und selbstsicher. So stellte man sich einen Juden damals nicht vor. »Ein Jude während des Kriegs lief verstohlen, mit kleinen Schritten, als ob er sich noch kleiner machen wollte, schaute anderen nicht in die Augen, hatte einen ängstlichen Gesichtsausdruck«, sagte Kazik einmal. »So haben sie uns erkannt.« Nicht Kazik, den Schlingel aus Czerniaków. »Ich war ein Glückspilz in einer schlechten Zeit«, sagte Kazik.

Eigentlich hieß er niemals so und trotzdem habe ich nie gehört, dass ihn jemand von seinen Bekannten anders genannt hätte. Als Szymon in Warschau geboren, trug er während des Kriegs unterschiedliche Namen. In Israel wechselte er dann seinen Namen zu Simha, auf deutsch: »Freude«. Aber ausgerechnet »Kazik« fand sich nie in seinen Dokumenten, weder in den echten noch den gefälschten. Als Kazik hatte ihn ein Kamerad aus der Kampfbewegung, bei einer Aktion im Ghetto, noch vor dem Aufstand, gerufen, damit sie selbst von Juden nicht als Jude erkannt wurden. Kazik war in seiner Generation ein weit verbreiteter Vorname, mit slawischem Ursprung, eine Abkürzung von Kazimierz. Tausende junge Männer hießen so: Schauspieler, Sportler, auch viele seiner Kameraden im Kiez. Typisch polnisch eben. Merkwürdigerweise ist dieser Name an ihn angewachsen. Für Freunde und Familie, sowohl in Polen als auch in Israel, bleibt er Kazik. Oder »pan Kazik«, »Herr Kazik«, auch für Unbekannte. Ganz familiär, wie es in Polen üblich ist, gegenüber Menschen, die man mag und zu schätzen weiß.

Wie er als junger Mensch gewesen ist, kann ich nicht wissen. Gutaussehend, frech, mutig, beliebt bei Frauen. Das weiß ich aus Erzählungen. Keine Ahnung, ob ich ihn damals auch gemocht und zu schätzen gewusst hätte. Er war damals anders. Er hatte sich Fragen nicht gestellt, die er sich nach Jahren zu stellen anfing. Die mich dazu gezwungen haben, meine festen Vorstellungen zu überdenken.

Als er während des Aufstands durch das verbrannte Ghetto lief, auf der Suche nach seinen Kameraden, vorsichtig, um nicht auf die Leichen auf der Straße zu treten, hörte er plötzlich ein leises Weinen. Ein Säugling in den Armen seiner toten Mutter. Er schaute kurz hin und lief weiter. In seinen Memoiren schreibt er nur drei Zeilen darüber. Ganz trocken. »Ich hätte es nicht retten und es hätte uns das Leben kosten können«, sagte er mir, wie eine Entschuldigung. »Hätten die Deutschen es gehört, hätten sie uns gefunden. Ich konnte nicht anders.« Er wusste es und ich musste es begreifen, dass man damals keine Wahl hatte, trotzdem klang es so, als ob es eine dieser Fragen war, die ihn bis heute quälen. Er schaute auf eine Weise, dass ich den Eindruck hatte, dass er den kleinsten Muskelkrampf im Gesicht der Zuhörenden wahrnehmen wollte, als ob ihm doch wichtig sei, dass ich es verstehe.

Es war nicht seine Entscheidung. Er wurde zu solchen Entscheidungen gezwungen. Als er an dem Kind vorbeigelaufen ist oder als er einen guten Freund damals im Abwasserkanal zurücklassen musste, weil sie nicht länger auf der Straße warten konnten, aus Angst vor den Deutschen.

Die Deutschen. Sie waren es. Verzeihen konnte er nicht. Oder wollte es auch nicht. Nach dem Krieg ist er nach Deutschland gefahren. Nach Dachau. Dort waren SS-Männer inhaftiert. Kazik hatte dort einen Job gefunden, in der Bäckerei. Mit seinen Kameraden wollte er sie umbringen. Für alles, was sie während des Krieges getan hatten. Kazik hat diese Episode nur am Rande erzählt, nur wenn er danach gefragt wurde, ganz anders als bei den Geschichten aus der Kriegszeit. Erst später habe ich erfahren, dass Kazik Mitglied von »Nakam« war, der Rächer-Organisation, die nach dem Krieg Attentate in Deutschland verüben sollte. Eine Gruppe in Nürnberg hat mehrere Hundert SS-Männer vergiftet, in Dachau ist es der Gruppe von Kazik misslungen. Er hat nicht verleugnet, dass er das Scheitern der Aktion bedauert hat. »Sie hätten die Todesstrafe verdient gehabt. Viele von ihnen lebten ruhig bis ans Ende ihres Lebens – während so viele Juden oder Polen von ihnen umgebracht worden waren«, sagte Kazik.

Die Deutschen haben die Juden ihrer menschlichen Würde beraubt, sagte er. »Einen SS-Mann oder Soldaten machte seine Nationalität zum Herrn über Leben und Tod. Der Jude war wie ein Wurm, den man niedertreten konnte. Es war demütigend. Ich weiß nicht, ob das nicht schwerer zu ertragen war als der Hunger.« Man hört in seiner Stimme, dass ihn das nicht losgelassen hat. »Jemand, der das nicht erlebt hat, kann sich weder dieses Gefühl vorstellen noch das Leben im Warschauer Ghetto.«

Schon im Herbst 1939 hatten die deutschen Besatzer mit dem Bau des Ghettos begonnen. Bis zu 540.000 Juden wurden hier eingepfercht, auf drei Quadratkilometern Fläche. Wer das Ghetto verließ, auf den wartete die Todesstrafe. »Die gleiche Strafe trifft diejenigen, die diesen Juden wissentlich Unterschlupf gewähren, oder in anderer Weise (z.B. durch Gewähren von Nachtlagern, Verpflegung, Mitnahme auf Fahrzeugen aller Art usw.) den Juden behilflich sind«, und zwar samt Familien. Das gab der deutsche Gouverneur von Warschau bekannt.

Die Bewohner des Ghettos bekamen 229 Kalorien am Tag zu essen. Ein Schokoriegel hat etwa doppelt so viel. Die Menschen waren so hungrig, dass sich Hunderte freiwillig meldeten, wenn die Deutschen fragten, wer zur Arbeit nach Treblinka fahren wolle – nur weil man ihnen etwas Brot und Marmelade versprach. Man wusste damals nicht, was Treblinka bedeutete. Auch der Vater von Kazik war bereit gewesen, seine Familie anzumelden. Kazik war das Schicksal lange erspart geblieben. Kurz nachdem die Ratajzers 1940 ins Ghetto ziehen mussten, flüchtete Kazik Ratajzer und lebte auf der »arischen Seite«. Erst Ende 1942 kehrte er ins Ghetto zurück, wohl aus der Überzeugung, dass sie etwas unternehmen müssten und er dabei sein sollte.

»Auf den Sieg haben wir nie gehofft«, sagt Kazik heute. Auch nicht an den ehrenhaften Tod, wie nun behauptet wird. Kazik empört sich beinahe, wenn er das hört. »Mutig waren auch die Menschen in Treblinka, die ums Leben gekommen sind. Oder diejenigen, die früher im Ghetto verhungert sind. Wir wollten nur die Art des Todes wählen – eine leichtere als die in einer Gaskammer in Treblinka.« Das würde er mir gegenüber mehrmals wiederholen. Und nicht nur mir gegenüber. Mir war damals nicht bewusst, wie oft er und andere Überlebende in Israel sich Vorwürfe hatten anhören müssen, dass sich Juden wie Schafe hätten ermorden lassen. Und wie oft sie gefragt wurden, warum ausgerechnet sie überlebt hatten. Damals waren sie keine Helden in Israel. Schließlich endete der Aufstand mit einer Niederlage. Kein Grund zum Stolz. Sie hatten gar keine Ahnung, dachte sich Kazik, doch es hat wehgetan.

Am genauesten erinnert sich Kazik an den ersten Tag des Aufstands. Sein Posten befand sich unweit eines Eingangstors zum Ghetto. Als sie die deutschen Truppen sahen, sprengten sie eine Mine, die sie vorher vor dem Tor versteckt hatten. Nach der Detonation sah er einige tote Soldaten und andere, die wegrannten. »Ich habe zum ersten Mal gesehen, wie die Deutschen vor den Juden flüchten!« Er ist wieder der Kazik von damals. In diesem kurzen Augenblick quält ihn keine Frage. Seine Stimme ist stark und jugendlich. Beim zweiten Aufstand, dem Warschauer Aufstand 1944, erlebte er dieses Gefühl nicht mehr so. Obwohl auch alle seine jüdischen Kameraden dabei waren, es war eben schon ein polnischer Aufstand.

In Israel wollte Kazik ein neues Leben anfangen. Er hat seinen Nachnamen geändert, ganz symbolisch. Rotem war ein Baum, der dem Prophet Elias Schutz und Ruhe bot. Simha Rotem hoffte, dass die Juden in ihrem eigenen Land, in Israel, nie würden Angst haben müssen. Er wollte Ruhe. Er hasste Krieg und Blut. Und doch wurde er einberufen, kämpfte in israelischen Kriegen, genauso wie seine Söhne. Umso mehr hielt er sich als Manager einer Ladenkette an eine Regel: Alle seine Mitarbeiter wurden gleich behandelt, egal ob es Juden waren oder Araber, egal ob es einigen passte oder nicht.

Als Mitglied des Yad-Vashem-Rates begutachtet Kazik die Anträge zum Titel »Gerechte unter den Völkern«. Auch polnische Bekannte sind unter ihnen. Nach Polen reiste Kazik selbst erst wieder zum 20. Jahrestag des Ghettoaufstandes. Seitdem kam er immer wieder, es ist wie ein Zwang. Er hasst die Erinnerungen an Warschau, und er kann ohne die Stadt nicht leben. Auch seine Kameraden traf er, solange sie lebten, in Polen und in Israel. Sie reden auf Polnisch und über Polen. »Worüber sollen wir sonst reden?«, lächelte er wieder. Für seine Beteiligung am Kampf in beiden Aufständen in Warschau hat er in Polen Orden bekommen, er wurde zum Ehrenbürger von Warschau ernannt. Nicht in Israel. In Israel, sei es viel schwerer, ein Held zu werden, sagte er einmal lächelnd.

Ich habe Kazik gefragt, welche Botschaft er gerne aus seinem Leben vermitteln würde, wenn er nur eine Sache nennen dürfte. »Dass das Leben die wertvollste Sache auf der Welt ist, die niemand dem anderen wegnehmen darf, das habe ich in Warschau gelernt.«

NOVEMBER 2017

1 — Vorwort 1983

IM FRÜHLING 1944 versammelte sich eine kleine Gruppe von Mitgliedern der Żydowska Organizacja Bojowa (ŻOB), der jüdischen Kampforganisation, bei Luba und Irka in einer Untergrundwohnung auf der »arischen Seite« Warschaus in der Pańska-Straße 5. Wir setzten uns hin, um unsere Erlebnisse während des Krieges seit 1939 aufzuschreiben.

In der Wohnung waren Menschen, die sich dort versteckt hielten, Frauen und Männer von »draußen«, überlebende Kommandanten der ŻOB und wichtige Persönlichkeiten der polnisch-jüdischen Öffentlichkeit vor dem Krieg. Nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto und bis zum Warschauer Aufstand im August 1944 beschäftigten sich die Kameraden neben allem anderen hauptsächlich mit Dokumentation; aus historischem Bewusstsein und weil sie glaubten, die letzten Juden zu sein, fühlten sie sich dafür verantwortlich, die Geschichte des polnischen Judentums »in den Tagen der Vernichtung und des Widerstands« zu erzählen und aufzubewahren. In dieser Wohnung sind viele Berichte geschrieben worden. Daraus wurde der Bericht über die jüdische Kampforganisation. Die lebendige Seele der Gruppe, die diesen Bericht verfasste, war Antek (Icchak Cukierman). Ich war jünger als Icchak Cukierman, mit dem und an dessen Seite ich auf der »arischen Seite« aktiv war. Ich war acht bis neun Jahre jünger, unter Zwanzig- bis Dreißigjährigen ist das ein bedeutender Unterschied. Obwohl ich an Anteks politischen Verbindungen und Entscheidungen nicht direkt beteiligt war, nahm ich regelmäßig an den Besprechungen der Hauptkommandantur über Aufgaben und Unternehmungen der ŻOB teil. Mich selbst interessierten die Spuren, die eine Bewegung oder auch dieser oder jener Mensch in der Geschichte hinterlassen, nicht. Ich wollte etwas tun. Die Diskussionen darüber, was aufgeschrieben werden sollte und was nicht, verliefen ohne mich. Mein Betätigungsfeld lag außerhalb der Wohnung – auf den Straßen und im Untergrund.

Aber Icchak Cukierman ließ nicht von mir ab und verlangte auch von mir, meine Erinnerungen als Kämpfer aufzuschreiben. Daher setzte ich mich im Frühling 1944 in der Pańska-Straße 5 hin und schrieb auf Polnisch eine Art retrospektives Tagebuch. In der Regel sprach ich polnisch, obwohl in meinem Elternhaus auch Jiddisch gesprochen wurde. Es war das Polnisch der einfachen Leute, das sich von der Sprache der jüdischen Intelligenz unterschied. Im Jahre 1946, als ich in Israel ankam, wurde ich zu Melech Neustadt (Noi) gerufen, der mit den Vorbereitungen für sein Buch Die Vernichtung und der Aufstand der Warschauer Juden beschäftigt war. Er zeigte mir meinen Bericht, der ins Hebräische übersetzt worden war und den er für den Druck vorbereitet und mit dem Titel Das Tagebuch eines Kämpfers überschrieben hatte. Seit damals sind diese Erinnerungen in mehreren Büchern wieder abgedruckt worden. Das Tagebuch enthält die Beschreibung der Aktionen, an denen ich seit dem Beginn des Warschauer Ghettoaufstands bis zur Befreiung einer Gruppe von Ghettokämpfern durch die Abwasserkanäle in der Prostą-Straße teilgenommen habe. Der Bericht wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

Aber der wichtigste Teil dieser Geschichte ist tief in mir vergraben geblieben. Icchak Cukierman war es, der mich wieder und wieder eindringlich bat, mich zu erinnern und zu erzählen. In all den Jahrzehnten, die vergangen sind, hat er nicht aufgehört, mir deswegen das Leben »schwer zu machen«. Erst 1981 gab ich nach, kam in den Kibbuz Lochamej haGeta’ot (Die Ghettokämpfer) und wollte schreiben. Aber ich konnte nicht. Antek bat Zwika Dror, ein Kibbuz-Mitglied, meine Geschichte aufzuschreiben. Es war nicht einfach für mich, denn ich bin kein Mensch, der viel redet. Indessen starb Antek, aber aus der Verpflichtung heraus, die ich ihm gegenüber empfinde, fuhr ich mit der Arbeit an meiner Geschichte fort.

Jetzt, im Jahre 1983, lebe ich mit meiner Frau Gina und meinen Kindern Itay und Eyal in Jerusalem. Auch ihnen habe ich die Geschichte noch nicht vollständig erzählt. Ich erzähle sie in meiner alltäglichen Sprache, so, wie ich zu Hause, auf der Arbeit und mit meinen Freunden rede. Ich ziehe es vor, auch beim Schreiben Kazik zu bleiben. Ich erzähle nur das, woran ich mich erinnere, ohne Abstand und ohne Rücksicht auf meinen Ruf oder meine Spuren in der Geschichte. Ich möchte die Geschehnisse auf meine Art und in eigener Verantwortung so berichten, wie ich sie damals sah und wie ich sie jetzt sehe. Der Leser wird entdecken, dass die Geschichte hier und da Lücken hat, denn ich hatte, und das nicht selten, »blinde Flecken« in meiner Erinnerung. Ich wollte keine Erinnerungen rekonstruieren und zog es vor, die Löcher zu lassen. Ich hoffe, das wird dem Leser seinen Weg durch dieses Buch nicht zu schwer machen.

2 — Davor

Ein Mitglied einer Warschauer Familie

ICH STAMME AUS EINER jüdischen Warschauer Familie, sowohl mütterlicher- wie väterlicherseits. Geboren wurde ich in Czerniaków, einer Vorstadt von Warschau, und dort verbrachte ich auch meine Kindheit. Die Eltern meiner Mutter – Großvater Jankiel (Jakob) Minski und Großmutter Sara, geborene Poznańska – lebten auch in Czerniaków. Ihre vier Töchter mit ihren Familien wohnten mit ihnen zusammen – eine große Sippschaft. Meine Eltern hießen Cwi und Miriam Ratajzer. Ich war das Älteste von vier Geschwistern. Nach mir wurden Izrael, dann Dora und schließlich Raja geboren. Von diesem ganzen großen Familienstamm blieben nur wir zwei – Raja und ich – übrig. Raja lebt heute ebenfalls in Israel. In meiner Kindheit war ich jedem meiner Großväter auf besondere Art zugetan. Großvater Jakob mochte ich wegen seines bäuerlichen Charakters und weil es mir Freude machte, wenn ich ihn bei seiner Arbeit begleitete. Er war ein an Leib und Seele gesunder Jude mit einer einfachen Art zu denken und einer ungeschliffenen Sprache. Seine Seelenruhe wurde von keinem philosophischen Gedanken gestört. Er stand frühmorgens auf und sein Arbeitstag war lang und zermürbend.

Die Dörfer, in denen er arbeitete, waren ungefähr zehn Kilometer von unserem Wohnort entfernt (ich kann mich nur noch an einen Namen erinnern: Siekierki). Er kaufte von den Bauern die Früchte, bevor sie geerntet wurden, und stellte, wenn sie reif waren, Arbeiter zum Pflücken ein. Ein Teil der Früchte wurde eingelagert, um später verkauft zu werden, den anderen Teil verkaufte er sofort. Er nahm mich gewöhnlich auf seinem zweispännigen Wagen mit. Wenn wir unterwegs einen Bauern trafen, den wir kannten, stiegen wir ab und begrüßten einander. Die Bauern nannten Großvater »Herr Jankiel«. Sie schätzten ihn sehr, er galt als ein Mensch, auf den man sich verlassen konnte. Sein Wort war ein Wort, und sein Versprechen ein Versprechen. Mich stellte er immer mit den Worten vor: »Das ist mein Enkelsohn Szymek« – so nannte man mich zu Hause. Unsere nichtjüdischen Nachbarn sagten, ich sähe aus wie mein Großvater, kein bisschen wie ein Jude. Trotz seines Bartes hätte man Großvater keineswegs als typisch jüdisch beschreiben können – weder in seiner Art zu reden noch in seiner Gestik, noch in seiner Lebensweise. Sein ganzes Benehmen glich dem eines polnischen Bauern. Mein anderer Großvater jedoch, der Vater meines Vaters, war ganz anders. Sogar die Essgewohnheiten waren in beiden Häusern völlig verschieden.

Die Obsterntezeit fiel mit den großen Sommerferien zusammen. Ich half besonders gerne beim Schleppen der Obstkisten mit Äpfeln, Birnen und Kirschen. Der Schuppen für die Obsteinlagerung stand direkt neben unserem Haus und daneben im Hof war der Stall. Siekierki war ein kleines Dorf, dessen Hütten aus Ziegeln gebaut waren, ein dreieckiges, strohbedecktes Dach, neben jeder Hütte Stall und Scheune, zusätzlich ein Keller für die Einlagerung von Kartoffeln und Zwiebeln für das ganze Jahr und auf dem Hof der Brunnen. In einem Teil der Häuser gab es Strom. Die Gebäude lagen meist einige Dutzend Meter voneinander entfernt, umgeben von nicht sehr hohen Holzzäunen, die mehr zur Markierung der Grenze zwischen den einzelnen Grundstücken dienten als zu ihrem Schutz. Auf jedem Hof gab es mindestens einen Hund. Wenn wir ein Dorf erreichten, betraten wir eine der Bauernhütten. Die Bewohner empfingen uns respektvoll und mit von Herzen kommender Liebenswürdigkeit. Ich fühlte mich bei ihnen sehr wohl und unbefangen. Großvaters Polnisch war fehlerlos, frei von jedem jüdischen Akzent. Nicht ein einziger jiddischer Ausdruck schlich sich in seine Rede ein.

Die Eltern meines Vaters, Großmutter Sara und Großvater Szmul Ratajzer, genannt »der schwarze Szmul«, wohnten nicht weit von uns entfernt. Mein Vater, Cwi, war eines von neun Kindern. Für seinen Lebensunterhalt betrieb Großvater Szmul im Hause von Großvater Jakob ein Geschäft, aber für seine Seele diente er als Kantor und Vorsteher der Synagoge. Das hinderte ihn jedoch nicht, eine freie, d.h. nichtreligiöse Zeitung zu lesen, in der er sogar den Fortsetzungsroman las, der für die jüdische Hausfrau bestimmt war. Als mein Onkel Eliasz ihn einmal fragte, wie er als religiöser Jude Romane lesen könne, antwortete er: »Es ist gut, alles zu kennen.« Meine Beziehung zu Großvater Szmul beruhte auf »den Dingen des Geistes«, er half mir beim Lernen, vor allem in Mathematik; mit seiner Hilfe löste ich jede Aufgabe. Das Verhältnis zwischen den Verwandten aus beiden Familien war gut. Wir wohnten nah beieinander, die Kinder spielten zusammen. Die Großmutter meines Vaters wohnte am Stadtrand von Warschau, in Powisle – in den Augen der Juden ein Unterweltviertel. Urgroßmutter hatte dort – man höre und staune – eine Kneipe, von der sie lebte. Sie war fast die einzige Jüdin mitten im gojischen Wohnviertel. Betrunkene, Streit und Raufereien waren dort ein gewohnter Anblick. Sowohl der Krankenwagen als auch die Polizei waren häufige Gäste. Selbstverständlich geschahen diese Dinge am häufigsten samstags und sonntags, was nicht heißen soll, dass wochentags eine »vergeistigte Atmosphäre« herrschte. Wenn ich zusammen mit meinem Vater seine Großmutter besuchte, fragte sie mich immer: »Du möchtest doch bestimmt keinen Kuchen haben, oder?« Ich begriff sofort, was ich zu antworten hatte, und tatsächlich kann ich mich bei meiner Urgroßmutter nicht an Kuchengeschmack erinnern.

Vater, ein bärtiger Jude, versah an den hohen Feiertagen in der Synagoge das ehrenvolle Amt des Vorbeters. Er war ein Chassid, während Szmul, sein Vater, ein Gegner des Chassidismus, ein Mitnaged, war. Ich kann mich noch daran erinnern, wie aufgeregt ich war, als ich mit meinem Vater zu Rabbi Kalonymus Szapiro, dem Rabbiner aus Piaseczno, ging. Dieser Rabbiner predigte jede Woche, auch während der Kriegsjahre und auch im Ghetto. In seinem Testament hat er darum gebeten, seine Predigten (die aufgeschrieben worden waren) in Israel zu veröffentlichen. Und tatsächlich hat sein Neffe, der Sohn seines Bruders, sie gefunden und in Jerusalem herausgegeben. Vater und ich sind manches Mal zu seinen Predigten gegangen. Als die Verfolgung der Juden immer schlimmer wurde und es für die Juden kaum noch möglich war, sich auf der Straße zu bewegen, schickte mein Vater mich einige Male (ich war damals noch ein kleines Kind) zum Rabbiner, um ihm Geld zu bringen, das mein Vater für ihn gesammelt oder selbst gespendet hatte. Manchmal kam ich auch zum Rabbiner, nur um ihn etwas zu fragen. Er empfing mich dann sofort, ohne mich warten zu lassen – was damals sehr unüblich war. Rabbi Kalonymus Szapiro war ein angesehener und hochgeachteter Mensch, eine ehrwürdige Gestalt.

In unserer Gegend wohnten nur wenige jüdische Familien. Der Großteil der Bewohner des Viertels waren Fabrikarbeiter. An Sonntagen herrschte in unserer Umgebung ein wildes Durcheinander – Betrunkene lagen in den Straßen, es gab Streitereien und Schlägereien. Die Luft war vom Lallen, Geschrei und Gesang der Betrunkenen erfüllt. Gleichaltrige jüdische Kinder gab es in der Nachbarschaft kaum, und so war der Großteil meiner Spielkameraden nichtjüdisch. Sie kamen zum Spielen auch zu mir nach Hause. Wir spielten Fußball oder gingen in der Weichsel schwimmen. Später, als ich an der jüdischen Schule war, passierte es öfter, dass polnische Kinder die jüdischen Kinder auf dem Schulweg überfielen. Ich machte den Vorschlag, immer in Gruppen zu gehen, so fühlten wir uns sicherer. Wir rannten nie weg vor diesen gojischen Lümmeln und erwiderten ihren »Krieg« mit Schlägen und Steinen. Einmal wurde ich mit einem Messer angegriffen. Es streifte mich aber nur leicht am Kopf und ich wurde nicht ernstlich verletzt. Weder damals noch später bin ich je vor einem Angriff weggelaufen. Unsere Wohnung in der Nowosielecka-Straße 8 war klein, sie bestand aus zwei Zimmern und einer Küche. Das Haus selbst war groß, vierstöckig, hatte ein Vorderhaus, zwei Seitenflügel, ein Hinterhaus und in der Mitte einen Hof. Außer der Familie meines Großvaters Szmul und unserer Familie wohnten hier nur Polen.

1934 zogen wir in die Podchorążych-Straße 24 um. Auch hier wohnte die ganze Sippschaft zusammen, aber in dieser Wohnung ging es uns materiell etwas besser. Meine Eltern hatten ein nichtjüdisches Dienstmädchen – Zeichen des sozialen Aufstiegs und ihrer guten wirtschaftlichen Lage. Meine Eltern führten einen Laden für Farben, Petroleum, verschiedene Baumaterialien und Kurzwaren. Fast alle Kunden waren Polen, also Nichtjuden. Das Verhältnis zwischen ihnen und meinen Eltern war gut, vor allem zu meiner Mutter, die eine sehr schöne Frau und zu allen warmherzig war. Die Polen pflegten zu sagen, sie sehe nicht wie eine Jüdin aus, und fragten oft: »Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, einen Juden zu heiraten?«

Im Innenhof unseres Hauses hatte ich einen kleinen Garten angelegt. Ich zog dort Blumen mit einem besonderen Duft – Levkojen. Diese Blumen öffneten sich am Nachmittag und strömten dann ihren angenehmen, leichten Duft aus. Vor einigen Jahren stieg plötzlich aus meiner Erinnerung dieser Geruch hoch. Ich bat Bekannte aus Polen, mir von dort Levkojen-Samen zu schicken, jedoch endeten meine Versuche, sie in meinem Jerusalemer Garten zum Blühen zu bringen, erfolglos. So bleibt mir nur die Erinnerung. In diesem Haus wurde meine Schwester Raja geboren. Kurz vor der Entbindung schickte man mich die polnische Hebamme holen. So kam es, dass ich zu Hause war, als meine Schwester geboren wurde. Vielleicht fühlte ich mich ihr deswegen besonders verbunden und ging oft mit ihr spazieren, als sie klein war.

Mein Schülerdasein fing im Cheder an. Dort lernte ich die Thora und die Gebete. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich mit dem Lehrer Streit bekam. Ich lief weg. Der Lehrer, der sich für mich verantwortlich fühlte, schickte die anderen Kinder hinter mir her, um mich zu suchen und zurückzubringen. Als sie unsere Straße erreichten, hetzte ich meine Freunde, die polnischen Kinder, gegen sie auf, und diese nahmen die Gelegenheit wahr, die jüdischen Kinder zu verprügeln, und vertrieben die »Jidden« zurück in ihren Cheder. Ich wurde in die Grundschule geschickt, die zur jüdischen Gemeinde gehörte. Es war eine staatlich anerkannte Schule, obwohl dort samstags kein Unterricht stattfand und ein Mal die Woche zusätzlich Hebräisch-Unterricht erteilt wurde. Der Lehrer in diesem Fach war ein Jude namens Malecki. Ein anderer Lehrer, Herr Joselewicz, ging sehr streng mit uns um. Es war eine moderne Schule, sowohl architektonisch als auch im Unterrichtskonzept: Jungen und Mädchen wurden zusammen unterrichtet.

Ich war ein guter Schüler. Ich liebte die Mathematikstunden und genoss es besonders, wenn ich meinen Klassenkameraden komplizierte Aufgaben an der Tafel erklären durfte. In der Schule gab es sehr viele nette und hübsche Mädchen, die zu meinem Glück etwas weiter weg wohnten, sodass ich sie öfter ein ganzes Stück nach Hause begleiten konnte. Vor meiner Bar-Mizwa 1937 bestand ich darauf, von meinem Vater die typische chassidische Kleidung – einen langen schwarzen Mantel und einen schwarzen Hut – zu bekommen. Das mag am Einfluss meiner religiösen Freunde gelegen haben. Aber mein Vater gab nach, und so begann ich mein 13., mein Bar-Mizwa-Jahr in schwarzer Kleidung und mit Schaufäden (Tzitzit). Nach der Bar-Mizwa-Feier habe ich diese Kleidung nicht mehr angezogen. Diese Schule besuchte ich bis zum Ende der siebten Klasse.

Zur gleichen Zeit, ungefähr als ich zwölf war (auf jeden Fall vor meiner Bar-Mizwa-Feier), beteiligte ich mich das erste Mal an den Aktivitäten der chaluzischen Jugendbewegung Hanoar Hatzioni (Die zionistische Jugend). Als ich im Sommer in ein Ferienlager mitfuhr, sorgte mein Vater dafür, dass ich die Tefilin – die Gebetsriemen – mitnahm, jedoch rührte ich sie kein einziges Mal an, solange ich dort war. Es war das einzige Ferienlager dieser Jugendbewegung, an dem ich teilnahm. Einer der Leiter, Simcha Szyrczky, beeindruckte mich damals besonders. Wir gingen wandern, sangen gemeinsam Lieder, zelteten und hörten Vorträge über die zionistische Bewegung und über Erez Israel. Als einer meiner Freunde und seine Familie, die Steins, 1938 nach Israel auswanderten, machte das auf uns alle großen Eindruck. Die Briefe und Bilder, die dieser Freund mir bis zum Kriegsausbruch schickte, ließen meine eigenen Auswanderungspläne realistischer werden.

Ein Jahr vor Kriegsausbruch wechselte ich auf die Fachoberschule der jüdischen Gemeinde in der Grzybowska-Straße 26.

Die Deutschen erobern Warschau — verschüttet unter Trümmern

An dem Tag, an dem der Krieg ausbrach, war ich in der Stadt. Ich war wohl auf dem Weg zur Schule, als wir plötzlich das Brummen von Flugzeugmotoren hörten. Die Straßenbahn blieb stehen. Manche Leute sagten, die Stadt werde bombardiert, andere behaupteten, es seien Manöver der polnischen Luftwaffe. Es dauerte nicht lange, bis sich herausstellte, dass es ein deutscher Angriff und dass der Krieg ausgebrochen war.

Schon in den ersten Tagen wurden die Lebensmittel knapp. Man fing an, Gräben auszuheben und Barrikaden zu bauen. In den Straßen tauchten Soldaten in zerrissenen Uniformen auf, Überlebende der Einheiten an der zusammenbrechenden Front. Die Lage verschlechterte sich von Tag zu Tag, Panik und Niedergeschlagenheit nahmen zu. Meine Eltern beschlossen, unsere Wohnung in der fast ausschließlich polnischen Umgebung zu verlassen und in eine stärker jüdische Gegend umzuziehen. Es war sehr schwer, Brot aufzutreiben, deswegen kehrte ich täglich in unser früheres Wohnhaus zurück, wo ein Volksdeutscher, ein Freund meines Vaters, wohnte, der uns ohne Beschränkung Brot lieferte. Die Bombardierungen nahmen zu, und immer öfter erkannte ich nur mit Mühe einen Ort wieder, an dem ich erst gestern vorbeigegangen war, weil aus den Häuserreihen Ruinen geworden waren. Am stärksten waren die jüdischen Viertel und das Stadtzentrum betroffen. Daher beschlossen meine Eltern, in unsere alte Wohnung zurückzukehren, in der Hoffnung, dort wäre es ruhiger. Aber das Unheil erreichte bald auch uns. Ich erinnere mich, dass unser Haus bei der Bombardierung einen Tag nach Jom Kippur getroffen wurde. Wenn ich mich nicht irre, geschah es drei Tage vor der Kapitulation Warschaus.

Das Haus wurde von zwei 500-Kilo-Bomben getroffen (so wurde mir später erzählt), eine von ihnen war ein Volltreffer. Viele der Hausbewohner starben oder wurden verletzt. Unter den Toten waren mein Großvater Jakob und meine Großmutter Sara (die Eltern meiner Mutter), meine Tante Hannah (die Schwester meiner Mutter), der Ehemann meiner Tante Zosia, eine Cousine und mein Bruder Izrael. Er war damals 15 Jahre alt. Als ich wieder zu Bewusstsein kam, wurde mir klar, dass ich unter Trümmern verschüttet lag. Mein Hals befand sich in einem Dickicht von Kabeln, wahrscheinlich des Stromnetzes. Ich überlegte, wie ich aus den Trümmern herauskommen könnte. Mit Hilfe eines Lederhandschuhs, den ich zufällig bei mir hatte, befreite ich mich von den Stromkabeln, sehr vorsichtig natürlich, aus Angst vor einem tödlichen Stromschlag. Ein Splitter Holz aus einem der Hausbalken steckte in meinem Hals. Seine Spitze hatte meine Luftröhre verletzt. Mein Atem ging nur schwer, ich hatte das Gefühl zu ersticken. Trotzdem gelang es mir ohne großen Blutverlust, das Holzstück herauszuziehen. Ich lag bis zu den Hüften unter den Trümmern verschüttet. Nur mit großer Mühe schaffte ich es, den Schutt beiseitezuräumen, um meine Beine frei zu bekommen. Die Stellungen der Deutschen waren etwa 500 Meter entfernt. Als ich herauskroch, erkannte ich, dass unser Wohnhaus völlig zerstört war. Nirgendwo bemerkte ich ein Lebenszeichen.