Kein Ankommen, nirgendwo - Gert Deppe - E-Book

Kein Ankommen, nirgendwo E-Book

Gert Deppe

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Beschreibung

Auf die sonntäglichen Besuche seines Vaters freut sich das Trennungskind Anne immer schon Tage vorher. Zwar lebt sie bei ihrer Mutter, ein wirklich inniges Verhältnis aber hat sie nur zu ihrem Vater, mit dem sie durch die gemeinsame Liebe zur Musik verbunden ist. Bei einem dieser Besuche geschieht das Unvorstellbare: Ein sexueller Übergriff des Vaters lässt Anne zerbrochen zurück. Depressionen, Autoaggression und Beziehungsunfähigkeit diktieren fortan das Leben der Heranwachsenden, den Kontakt zu ihrem Vater bricht sie ab. Nach Jahren beschließt Anne, ihn am Telefon zur Rede zu stellen, und fordert eine Erklärung für seine zerstörerische Tat. Sie hat das Gespräch genau geplant, und es verläuft ganz anders, als vom Vater erwartet. Was dabei passiert, ist nicht nur eine späte Rache an ihrem zum Zuhören gezwungenen Vater: Es ist vor allem die Tat einer verzweifelten jungen Frau, die für ihr kaputtes Leben keinen Ausweg mehr sieht.

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Gert Deppe

Kein Ankommen, nirgendwo

Roman

Dieses Buch wurde gefördert im Rahmen des Stipendienprogramms der VG WORT in NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

© 2022 Literanover by zu Klampen Verlag • Röse 21 • 31832 Springe zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Stefan Hilden • München • hildendesign.de unter Verwendung mehrerer Motive von shutterstock.com sowie auf der U4 der Zeichnung von Leon Agnello Satz: Germano Wallmann • Gronau • geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH • Rudolstadt

ISBN Print 978-3-86674-829-3

ISBN E-Book-Pdf 978-3-98737-345-9

ISBN E-Book-Epub 978-3-98737-346-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Für Paul

Meiner Mutter in Erinnerung

Und meinem Vater zum Abschied

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Kein Ankommen, nirgendwo

Vita

»Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt.«

Édouard Louis: Das Ende von Eddy

Kennst du das? Du schiebst zwei Magnete aufeinander zu und wartest auf ein Geräusch, ein Klack, ein kurzes metallisches Klacken, du wartest vergeblich, weil nichts klackt, und dann schaust du noch einmal hin und siehst, wie ein Magnet den anderen vor sich herschiebt, unbeholfen, beinahe linkisch und gleichzeitig mit einer Konsequenz, die dich wütend macht, rasend, so sehr rasend, dass du schreien könntest, laut losschreien und nicht wieder aufhören, obwohl du weißt, dass nichts anders würde durch dein Schreien, dass die Magnete weiter voreinander fortliefen, ganz gleich, wie lange und wie laut du auch schreist und dich nicht darum scherst, dass Menschen in der Nähe verwundert aufblicken, dass sie sich umdrehen nach dir, vielleicht sogar den Kopf schütteln, natürlich haben sie keine Ahnung, warum du derartig tobst, nicht die leiseste Ahnung, und selbst wenn sie ihn sähen, diesen obszönen, metallenen Schabernack, selbst dann würde er sie nicht annähernd so in Rage bringen wie dich.

Kennst du das?

Nein, natürlich kennst du das nicht, nichts davon kennst du, weil bei dir nichts voreinander wegläuft, weil es bei dir kein Vor und Zurück gibt, weil sich bei dir alles immer richtig herum dreht, immer hübsch kreiselt, nicht wahr, immer nur richtig herum, selbst wenn sich etwas einmal anders herum dreht, bleibt es die richtige Richtung, du kennst einfach keine Richtung, die nicht richtig ist, bei dir ist jede Richtung immer richtig, sag schon, ist es nicht so, ist es nicht ganz genau so, dass sich bei dir stets die Richtung nach der Richtung richtet und dass deshalb jede Richtung richtig ist, wenigstens für den Moment? Und bald kann es auch schon wieder anders sein, natürlich kann es das, aber du drehst dich einfach mit und schon ist es wieder die richtige Richtung, du hast einfach dieses Glück, das nicht jeder hat, du aber, du hast es, immer schon gehabt hast du es, ich kenne es nicht anders von dir, seit ich dich kenne, kenne ich das mit, stimmst du mir zu, dass es so ist, stimmst du mir wenigstens zu in deinem unanständigen Glück, machst du das?

Weich ist der Sand und warm, und wenn sich deine Füße dort hineingraben, spürst du ein Kribbeln, sofort und stecknadelfein, bis unter die Kopfhaut schauert es wohlig und diese Schauer sind wie der weiche Sand, winzig und warm und glitzernd, und dazu das Meer, das leicht salzig schmeckt, wenn du aus Versehen etwas davon in den Mund bekommst, kannst du es schmecken, aber du, du bekommst natürlich nichts davon aus Versehen in deinen Mund, du verschluckst dich auch nicht beim Baden, dich überraschen keine Wellen von hinten und auch keine von vorne, dich erwischen sie nicht beim Luftholen nach dem Auftauchen und spülen dir salzigen Geschmack in den Mund und Angst dazu, die Angst, zu viel Wasser und zu wenig Luft zu bekommen, die Angst, nicht mehr richtig atmen zu können, dir passiert so etwas nicht, irgendjemand passt immer ganz genau auf, dass dir so etwas nicht passiert, immer und überall, du sitzt unter einem Sonnenschirm und streckst deine Füße aus, so, dass sie in der Sonne liegen auf dem warmen, feinen Sand, in den du deine Füße gräbst und woraufhin du auf das Kribbeln wartest, das hinaufschauert in den schattigen Kopf, und das du wieder und wieder hinaufschauern lassen kannst, so oft du es nur willst, du brauchst nur deine Füße an einer anderen Stelle in den Sand zu graben, tausend Mal oder noch mehr kannst du das so machen, so ist der Sand, weich und warm und glitzernd, und so ist das Meer, salzig und voller Wellen.

Und der Regen. Kennst du den Regen, die Sekunden, die auf den Asphalt prasseln, Tausende, Millionen, unzählige Sekunden, die immerzu prasseln, hörst du sie, ihr Prasseln und Zerplatzen und Zerfließen, hörst du sie durch die Fenster, die immer geputzten, die lichtlosen, kennst du die Geräusche von zerplatzender Zeit, stumpfe, immergleiche, nächtliche Begräbnismusik, nein, du kennst sie nicht, woher auch, deine Musik klingt anders, sie ist ausgesucht, du hast sie ausgesucht, es ist ja deine Musik, natürlich ist sie ausgesucht, wie alles bei dir ausgesucht ist, nichts ist Zufall, ist einfach so, ist da und wieder weg, nicht bei dir, ich weiß, dass es so ist, und du, du weißt es auch, aber du willst es gar nicht wissen, es interessiert dich überhaupt nicht, stimmt’s, nichts von alldem interessiert dich, aber was, sag es mir, was interessiert dich eigentlich dann, was?

Gibt es dein Schongangleben überhaupt her, Interesse, dass dich etwas interessiert, ich meine, wirklich interessiert, so sehr, dass du auch einmal traurig sein und weinen könntest und dir dann die Bettdecke weit über den Kopf ziehst, bis die Luft ganz breiig wird und du, wenn du es nur lange genug aushieltest, ersticken könntest unter dieser Bettdecke? Du müsstest dafür nicht einmal die Luft anhalten, du müsstest es nur lange genug aushalten können, bis die breiige Luft schwer wird, erdrückend schwer und immerzu dunkel, du hättest es selber in der Hand, ob du die Bettdecke rechtzeitig wieder zurückschlägst und dir kühle Luft über das Gesicht streichen lässt wie eine Belohnung, Luft, die nach Leben riecht, nach neu, oder ob die Dunkelheit dich fast bewusstlos macht und Schmerzen dich dann daran erinnern, dass du lebst, dass es auch weitergehen könnte, irgendwie weiter, du könntest entscheiden, ob eine Erinnerung dieses kleine Wettrennen gewinnt, das sehr viel mehr ist als nur Spielerei, als ein Ausprobieren, eine Laune, aber in einem Schongangleben gibt es solche Wettrennen nicht, in einem Schongangleben gibt es keine Launen, ist die Bettdecke immer glattgebügelt und riecht nach Weichspüler, in einem Schongangleben ist es unter der Bettdecke immer weich und warm, nicht wahr, es riecht nicht muffig unter einer solchen Schongangleben-Bettdecke, unter deiner Bettdecke, die Luft wird nicht breiig und dunkel und schwer, oder? Unter deiner Bettdecke riecht es immer nur nach Garten unter blauem Himmel, nichts muss an irgendetwas erinnert werden, damit es weitergeht, nichts muss sich selbst etwas beweisen, ein Schongangleben spielt einem keinen Streich, in einem Schongangleben spielen Kinder mit Kindern und laden sich gegenseitig zu Geburtstagen ein, Geburtstagen mit Süßigkeiten und Geschenken, mit kleinen Belohnungen dafür, dass man da ist, dass man lachen kann und weinen einfach so, in einem solchen Leben muss man sich nicht unter einer Bettdecke verkriechen und darauf warten, dass die Luft zu Ende geht oder wenigstens der Tag. Oder?

Natürlich habe ich schon geschlafen!

Das wusste ich nicht.

Es ist mitten in der Nacht.

Ich weiß.

Wie spät ist es überhaupt?

Sehr spät.

Wie spät?

Der große Zeiger zeigt beinahe senkrecht nach oben.

Bitte?

Und der kleine auch.

Von wo rufst du an?

Es ist dunkel.

Wo bist du?

Sie stehen beinahe vollkommen senkrecht.

Wie lange ist es her, dass wir uns zum letzten Mal gesprochen haben?

Beide.

Es waren bestimmt einige Jahre.

Der kleine steht vollkommen senkrecht.

Mindestens vier, vielleicht sogar noch mehr.

Und der große deckt ihn schon ein bisschen zu.

Ich weiß es tatsächlich nicht.

Sie rühren sich nicht.

Was?

Die Zeiger. Sie bewegen sich nicht.

Warum rufst du an?

Es ist kurz vor Mitternacht, ein bisschen Zeit bleibt.

Nach so vielen Jahren?

Sie stehen beinahe vollkommen still.

Ja. Kurz vor Mitternacht.

Man muss schon sehr genau hinschauen, um zu erkennen, ob sich überhaupt etwas bewegt.

Ist das wichtig?

Ja. Das ist wichtig.

Warum ist das wichtig?

Weil es nicht mehr lange dauert.

Lange dauert bis wohin?

Dann ist er wieder ganz herum.

Wieder ganz herum?

Zum zweiten Mal.

Was soll das?

Einmal herum ist ganz schön weit.

Was redest du da?

Und das zweite Mal dauert es genauso lange.

Ich verstehe nicht, was du sagst!

Aber es kommt einem länger vor.

Sag mal, was wird das hier eigentlich?

Weil er so langsam ist.

Sag mir, was du von mir willst!

Es ist … Eigentlich ist es anders.

Wie soll ich verstehen, was du sagst?

Nur die Mitte bleibt. Egal, was auch passiert: Einmal herum ist immer die Mitte.

Es ist dir völlig egal, ob ich dich verstehe, oder?

Doch die Zeit bis zur Mitte verändert sich immerzu. Du willst es gar nicht, stimmt’s?!

Schnecklupig.

Schnecklupig?

Wie eine Schnecke.

Eine Schnecke!

In Zeitlupe.

In Zeitlupe!

Schnecklupig.

Ich lege jetzt auf.

So, dass es keiner merkt.

Und wenn du vernünftig mit mir reden willst, kannst du ja wieder anrufen.

Aber ich merke es: Er bewegt sich. Immer. Und immer nur in eine Richtung.

Ich finde dich wirklich sehr seltsam!

Auch bei dir ist das so!

Was ist bei mir auch so?!

Auch bei dir kennt der Zeiger nur eine Richtung.

Hast du getrunken?

Immer nur vorwärts.

Drogen genommen?

Und um Mitternacht ist alles vorbei.

Es war gut, wenn alles genau seinen Platz hatte. Das hatte sie von ihrer Großmutter gelernt. Sogar sehr gut. Und was wichtig war, brachte ihr ihre Mutter bei. Ihre Mutter wollte nicht nur, dass alles genau seinen Platz hatte. Ordnung, betonte sie mindestens einmal täglich, Ordnung sei die wichtigste Voraussetzung für ein anständiges Leben. Und darum gehe es ja schließlich. Um ein anständiges Leben. Sie sagte anständig, ihre Mutter. Nicht »glücklich«. Nicht »zufrieden«. Sondern »anständig«.

Anständig.

Die Mutter sagte anständig und der Vater sagte nichts. Konnte nichts sagen.

Ohne Ordnung, betonte ihre Mutter mindestens einmal, meistens aber mehrmals am Tag, ohne Ordnung funktioniere nichts. Gar nichts. Innen nicht und auch nicht außen. Das könne man überall beobachten, behauptete sie, beispielsweise in den südlichen Ländern. Wann sie denn dort gewesen sei, fragte Anne sie einmal, in den südlichen Ländern, und ihre Mutter antwortete, dass das ja wohl keine Rolle spiele und überhaupt sie nicht erst dorthin fahren müsse, um zu sehen, was Unordnung alles anrichten könne. Den langen Weg könne sie sich sparen. Und Anne könne das auch. Aber für den Urlaub, erwiderte sie. Urlaub, entgegnete ihre Mutter, könne man auch ganz in der Nähe machen oder zu Hause. »Nicht wahr, Kind«, sagte sie, »hier ist es doch auch schön.« Manchmal, wenn Annes Mutter so redete, kam es Anne vor, als trügen ihre Worte die falsche Kleidung. Wenn sie von Ordnung sprach und den südlichen Ländern zum Beispiel.

Und dennoch hatte sie als Kind der Mutter noch alles geglaubt. Sie spielte fraglos und malte von rechts nach links und von unten nach oben und ebenso umgekehrt. Als Anne älter wurde, das Schreiben von links nach rechts lernte und immer öfter den Drang verspürte, auch zu verstehen, bekam sie zumindest eine Ahnung davon, was ihre Mutter meinte, wenn sie von Unordnung sprach. Ihre Mutter sagte nämlich fast immer: »Das verstehst du nicht« und fügte ernst hinzu: »Noch nicht.« Und von Vertrauen sprach sie auch. Sehr ernst und sehr bedeutungsvoll. Falsche Kleidung, vertraut irgendwann. Eine andere Geschichte.

Der Ordnung zuliebe und weil es so ernst und bedeutungsvoll klang, versuchte Anne, ihrer Mutter auch weiterhin zu glauben und dem Gefühl, dass dieses Glauben einsam sei und Vertrauen etwas ganz anderes, keine Bedeutung beizumessen, es zu überfühlen. Sie war schließlich ihre Mutter und hatte schon von der Großmutter gelernt, dass alles seinen Platz haben müsse. Trotzdem fühlte sich das Glauben oft leer an und das Vertrauen wie eine Vorsichtsmaßnahme. Anne aber gab sich weiterhin sehr viel Mühe.

Wenn alles erst einmal genau seinen Platz hatte und auch seine Ordnung, konnte sowieso nicht mehr allzu viel passieren. Und das beispielsweise, sagte ihre Mutter, könne man ja bei ihnen sehen, zu Hause. »Sehen?«, fragte Anne, und ihre Mutter sagte Ja. Dass nicht mehr allzu viel passieren könne?, fragte Anne weiter, und ihre Mutter sagte noch einmal Ja und ihre Stimme klang entschieden. Sogar etwas scharf.

Immer diese Fragerei, beschwerte sich ihre Mutter, wenn sie auf Annes Fragen nicht gleich eine Antwort wusste. Sie fasste sich dann mit beiden Händen an den Kopf und erklärte, dass diese Fragerei gar nichts bringe, höchstens alles nur durcheinander. Ihre Stimme klang vorwurfsvoll dabei. Beinahe heiser auch.

Dabei fragte Anne ihre Mutter längst nicht alles. Was passierte, wenn etwas seinen Platz einmal nicht haben oder in Unordnung geraten würde, was dann passierte, fragte sie sie beispielsweise nicht. Aber es gab sie, diese Fragen. Und noch andere. Manchmal glaubte Anne tatsächlich, sie seien ein Grund für die Unordnung in ihrem Leben. Vielleicht sogar der Grund.

Und damit für das, was geschah.

Erzählen Sie mir von dem Zimmer.

Welches Zimmer?

Das Zimmer mit den Rollläden.

Sie meinen mein Zimmer?

Waren denn dort die Rollläden heruntergezogen?

Ja.

Dann erzählen Sie mir von diesem Zimmer.

Was soll ich erzählen?

Wie war das?

War was?

Was war das für ein Zimmer? Wie sah es aus? Es war Ihr Zimmer?

Es war dunkel.

Und Sie wollten, dass es dunkel ist?

Meine Mutter wollte das.

Ihre Mutter?

Meine Mutter wollte, dass es dunkel ist.

Immer?

Dass man nicht hineinschauen konnte.

Und Sie? Was wollten Sie?

Ich weiß nicht. Warum fragen Sie?

Hätten Sie es lieber heller gehabt?

Im Winter war das egal.

Und wenn es nicht Winter war?

Dann hat sie das gemacht.

Das müssen Sie mir erklären.

Was soll ich da erklären?

Wer hat was gemacht?

Meine Mutter. Das sagte ich doch schon!

Was hat Ihre Mutter gemacht?

Sie hat die Rollläden heruntergezogen.

Einfach so?

Und dann war es dunkel.

Hatte sie einen bestimmten Grund?

Sie hatte eine Uhr.

Eine Uhr?

Um fünf Uhr ließ meine Mutter die Rollläden herunter. Immer um fünf?

Kaum, dass der große Zeiger senkrecht stand. Im Sommer etwas später. Aber es gab ja auch die Vorhänge.

Ihre Mutter ließ immer zur gleichen Zeit die Rollläden herunter?

In der ganzen Wohnung. Und dann war es dunkel. Aber es gab doch Licht in der Wohnung!

Natürlich! Natürlich gab es Licht!

Warum hat Ihre Mutter das gemacht?

Wegen der Ordnung.

Ordnung war Ihrer Mutter wichtig?

Alles muss seine Ordnung haben.

Und Sie?

Ich?

Finden Sie auch, dass alles seine Ordnung haben muss?

Ich glaube schon.

Sie glauben es?

Ich glaube, wenn alles seine Ordnung hat und seinen Platz, kann nicht mehr so viel passieren.

Was könnte denn passieren, wenn das einmal nicht so ist?

Sehr viel!

Können Sie mir das genauer erklären?

Sie wissen das nicht?

Vielleicht gibt es ein Beispiel?

Es ist einfach … es ist sicher.

Wenn es dunkel ist?

Wenn niemand hineinschauen kann.

In Ihr Zimmer?

Überall hin.

Hatten Sie denn etwas zu verbergen?

Ich bin sehr müde.

Irgendwann wurde es normal, dass ihr Vater nicht mehr nach Hause kam, und Anne fragte immer seltener, warum das so war. »Der Vater wohnt nicht mehr hier«, sagte Annes Mutter und es klang wie ein Befehl. Wann er wiederkomme, wollte Anne wissen, und ihre Mutter sagte erst gar nichts und dann: »Der Vater kommt gar nicht wieder. Der Vater will nicht mit uns wohnen.« »Der Vater« war eine Erfindung ihrer Mutter. Als er noch zu Hause wohnte, hieß er Papa oder Klaus. Dann kam er nicht mehr nach Hause und Annes Mutter redete kaum von ihm und wenn, dann nannte sie ihn den Vater. »Natürlich kommt Papa wieder«, dachte Anne, »wenn Mama erst wieder lacht, kommt Papa ganz bestimmt zurück und wird wieder mit uns wohnen.« Doch das Lachen kam nicht mehr zurück und Annes Vater auch nicht. Stattdessen ließ ihre Mutter die Rollläden noch früher herunter als sonst.

Anne konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann genau das Lachen ihrer Mutter verschwand. Sie konnte sich an das Lachen ihres Vaters erinnern, wie sie zusammen gelacht hatten, getobt und laut gelacht und dass ihre Mutter oft nur dastand und den Kopf schüttelte, sich mit beiden Händen an ihren Kopf fasste und »Nun passt doch auf!« sagte, und dass sie gerade erst aufgeräumt habe und Anne sich wehtun könne. Als würden sie kämpfen mit gefährlichen Waffen und ihr Lachen wäre Kriegsgeschrei. Und ein bisschen auch, als würden sie etwas Verbotenes tun, das eine Strafe verdiente. Wie Stehlen zum Beispiel.

Das Toben wurde weniger und das Lachen ihres Vaters leiser, und bevor es vollkommen verstummte, nahm er es einfach mit. Und kam nicht mehr zurück.

Wie auch das Licht, das die schweren Vorhänge verschluckte oder hinter den Rollläden verschwand. Es schmerzte Anne in den Ohren, wenn ihre Mutter die Kunststoffrollläden hinunterfallen ließ, als könne sie sie nicht halten, wenn sie fortan noch früher als zuvor hart auf die Fensterbank knallten, irgendwie trotzig.

Es machte Anne Angst, wenn sich die Lamellen aufeinanderstellten und alles Licht verschluckten nach und nach und die Wohnung verschlossen, als müsse sie geschützt werden wie eine empfindliche Wunde.

Irgendwann aber wird alles normal.

Der Vater kam nicht mehr nach Hause und Anne fragte immer seltener, warum das so sei und wann er wiederkomme.

Der Vater.

Annes Papa aber war niemals fortgegangen Nicht aus der Wohnung mit den großen Fenstern und dem knarrigen Holzfußboden und auch nicht aus der, in die Anne mit ihrer Mutter eines Tages zog und in die sie ihn heimlich einfach für sich mitnahm. Manchmal sprach sie mit ihm in ihrem dunklen Zimmer. Oft war ihr Flüstern das einzige Geräusch in der stillen, verwundeten Wohnung.

Was hast du gemacht in all den Jahren?

Du weißt, was ich gemacht habe.

Was hast du mit deinem Leben gemacht?

Wie meinst du das: mit deinem Leben?

Ist es so wie früher?

Wohnst du immer noch in der Hindenburgstraße?

Schon lange nicht mehr.

Wo wohnst du jetzt?

Dein Leben, was hast du damit gemacht?

Warum willst du das wissen?

Es interessiert mich.

Es interessiert dich?

Ja.

Einfach so, ja?

Nein, nicht einfach so.

Sondern?

Nichts ist einfach so.

Was soll ich schon gemacht haben?

Ich weiß so wenig von dir.

Ich habe das Leben entdeckt.

Das Leben?

Ja! Die Philosophen haben mich immer schon fasziniert.

Tote Philosophen!

Die meisten schon.

Tote.

Ja und?

Wiederkäuer.

Was soll denn das jetzt?

Selber denken!

Was weißt denn du schon?

Selber finden.

Du erinnerst mich an deine Mutter!

Ein Secondhandleben.

So tun, als wüsstest du alles.

Eine Familie: Ist das kein Leben?

Wie soll ich denn das verstehen?

Da gibt es doch nicht viel zu verstehen.

Warum sagst du das so vorwurfsvoll?

Ich weiß nicht, warum es so klingt!

Deine Mutter hat dich mir weggenommen.

Weggenommen?

Sie hat mir keine andere Wahl gelassen.

Du bist weggegangen!

Ich bin nicht weggegangen!

Und nicht wiedergekommen.

Deine Mutter hat mich rausgeworfen!

Du wolltest nicht mit uns wohnen.

Natürlich wollte ich mit euch wohnen!

Warum bist du dann gegangen?

Deine Mutter hat mir keine andere Wahl gelassen.

Was hat sie gemacht?

Sie hat mich vor die Wahl gestellt: eine andere Arbeit oder ein anderes Leben.

Wie anders?

Ohne Orchester.

Ohne Orchester?

Mit Unterrichten.

Unterrichten?

Sie hat gesagt: Du kannst ja genauso gut Unterricht geben, dann wärst du wenigstens auch mal zu Hause.

Du solltest deine Orchesterstelle aufgeben?

Und stattdessen Unterricht geben.

Aber es war doch eine feste Stelle.

Sie war sicher. Nicht toll, aber sicher.

Und sie hat verlangt, dass du das aufgeben solltest? Oder gehen.

Und du bist gegangen!

Ich hatte keine andere Wahl.

Du hättest unterrichten können.

Geige unterrichten. Weißt du, was das heißt: Kindern Geige beizubringen?

Ich glaube schon.

Ich glaube nicht.

Ich weiß, was es heißt, Kindern Klavier beizubringen. Genau. Klavier!

Klavierspielen zu lernen ist genauso schwer wie Geigespielen zu lernen.

Natürlich ist es das. Aber ein Klavier ist gestimmt und klingt von Anfang an richtig. Bei der Geige, das weißt du selber, dauert das ziemlich lange. Das kann sehr, sehr anstrengend sein.

Und sie hat das Anstrengende von dir verlangt?

Sie hat gesagt, dass sie dieses Leben nicht länger mitmacht.

Welches Leben?

Morgens Probe, abends Vorstellung, Extratermine, kaum freie Wochenenden, wenig Ferien.

Es war auch ihr Leben.

Es war nie ihr Leben.

Es war nur dein Leben?

Sie wollte ein Leben von Montag bis Freitag, ein Leben mit Wochenende und Sommerferien, ein Leben, von dem du heute weißt, wie es morgen aussehen wird. Und übermorgen. Und danach. Das wollte sie. Ein Leben wie meine Orchesterstelle. Nur ohne Orchester.

Alles in Ordnung.

Wie bitte?

Ein Leben, in dem alles in Ordnung ist.

In unserem Leben war alles in Ordnung.

Alles seinen Platz hat.

Deine Mutter hat es nicht gewollt.

Du bist weggegangen.

Was hätte ich tun sollen?

Hast es in Unordnung gebracht.

Was hätte ich tun sollen?

Bleiben!

Bleiben?

Bleiben.

»Früher«, erzählte Annes Großmutter, »früher gab es im Winter immer Schnee, viel Schnee. So viel«, sagte sie und ließ mit beiden Händen Schneeberge vom Boden bis über ihren Kopf wachsen. Und sie erzählte von Schneemännern groß wie Menschen, knisternden Öfen in der Küche und von Nächten, in denen der Schnee glitzerte wie ein Teppich aus Diamanten. Anne liebte es, dabei auf dem Schoß ihrer Großmutter zu sitzen und aus den Geschichten Bilder mit nach Hause zu nehmen.

Die Geschichten der Großmutter kamen Anne vor wie Geschichten aus einer anderen Welt, einer Welt ganz am Ende der tiefen Seufzer, die die Großmutter immer wieder zwischen ihren Sätzen ausstieß und deren wehmütige Melodie Anne nicht mehr vergessen sollte.

Immer sonntags besuchte Anne ihre Großmutter. Nach dem Frühstück am sorgfältig gedeckten Tisch im Wohnzimmer machte sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter auf den knapp halbstündigen Weg an der Hauptstraße entlang und unter der Eisenbahnbrücke hindurch, vorbei an den Schrebergärten, aus denen niemals Geräusche zu hören waren und vor denen sich Anne genau deshalb lange fürchtete, bis zu dem unscheinbaren Mietshaus, in dem die Großmutter schon mit dem Großvater gelebt hatte und in dem Annes Mutter aufgewachsen war. An der Haustür warteten sie, bis die Großmutter öffnete, und gingen in den zweiten Stock, Anne liebte diese immer gleichen Besuche, bei denen die Großmutter die Tür öffnete und sagte: »Da ist ja mein Schatz!«, und die Arme ausbreitete in der Gewissheit, dass ihre Enkeltochter nicht zögern würde, sie in den Arm zu nehmen und sehr fest an sich zu drücken, bis ihre Mutter sagte, dass es jetzt aber gut sei, schließlich solle die Oma ja noch Luft bekommen. »Nun lass die Oma doch wieder los, du tust ihr ja sonst noch weh«, sagte Annes Mutter und die Großmutter sagte nichts, drückte Annes Kopf noch einmal sanft an ihren weichen Bauch und ließ ihn dann los und lächelte still in ihr frohes Herz hinein.

Bevor sie ging, sagte Annes Mutter zur Großmutter: »Wir sehen uns am Mittwoch«, und verabschiedete sich bei Anne mit einem Kuss auf die Stirn. »Ich hole dich um sechs wieder ab.« Manchmal sagte sie auch, so, dass es die Großmutter hören konnte: »Sag dem Vater, dass er das Geld nicht vergessen soll. Sag ihm, dass er es schon wieder vergessen hat. Sag ihm auch, dass ich es langsam leid bin, ihn immer wieder daran erinnern zu müssen.« Wenn sie so redete, klang es in Annes Ohren, als redete ihre Mutter über einen Unbekannten. Über etwas, das Unheil bringt. Oder zumindest Unordnung.

Auf dem Foto im Wohnzimmer war Annes Großmutter eine junge Frau, und ihr Bauch sah nicht weich aus und Anne fragte sich manchmal, ob ihre Mutter sie vielleicht deshalb niemals umarmte. Weil sie nicht wissen konnte, wie schön sich so ein weicher Bauch anfühlte.

Fast immer, nachdem Annes Mutter gegangen war, setzten sich Anne und ihre Großmutter an den Küchentisch, und Anne sollte all die Dinge erzählen, die sich seit ihrem letzten Besuch ereignet hatten, Dinge, die ihre Mutter oft nicht zu interessieren schienen und die Anne flüsternd der Dunkelheit ihres Zimmers anvertraute. Meistens erzählte Anne ihrer Großmutter sehr viel und gerade dann wuchs die eigene Ungeduld mit jedem Wort, denn noch größer als Annes Wunsch zu erzählen war ihre Neugier auf die Überraschung, die Sonntag für Sonntag im Küchenschrank der Großmutter auf sie wartete.

Als kleines Mädchen schaute Anne ihrer Großmutter oft beim Kochen zu, während ihre Eltern spazieren gingen oder, wenn sie nur zu zweit zu Besuch kamen, ihre Mutter im Wohnzimmer Fernsehen schaute, den Tisch deckte oder in Illustrierten blätterte. Anne sah ihrer Großmutter beim Vorbereiten des Mittagessens zu, wie sie mit großem Geschick und wie selbstverständlich aus zahlreichen Zutaten nach und nach eine Mahlzeit kreierte. Und wie sie blind Kartoffeln schälte. Zwei Dinge konnte Annes Großmutter mit geschlossenen Augen: stricken und Kartoffeln schälen. Sie konnte, während sie ihrer Enkeltochter ein Buch vorlas, einen ganzen Topf voll Kartoffeln schälen, ohne auch nur ein einziges Mal aufzublicken oder sich zu verletzen. So jedenfalls kam es Anne vor.

Kartoffeln gab es immer. Annes Großmutter achtete darauf, dass sie alle die gleiche Größe hatten. Schließlich müsse alles seine Ordnung haben. Später durfte Anne beim Kochen helfen, die Kartoffeln aber schälte stets nur ihre Großmutter. Möglichst dünn musste die Schale nämlich sein, alles andere wäre Verschwendung gewesen.

Später, das war, als Annes Vater alle zwei Wochen am Sonntag ebenfalls zu ihrer Großmutter kam, um einige Stunden mit seiner Tochter zu verbringen. Annes Mutter wollte nicht, dass er zu ihnen in die neue Wohnung kam, nicht einmal, um Anne abzuholen. Und noch viel weniger wollte sie, dass Anne ihren Vater besuchte. »Das ist nichts für dich«, sagte sie, ohne jemals zu erklären, was »das« war. Die Art aber, wie sie das sagte, das Scharfe in ihrer Stimme, klang nach etwas, das nicht richtig war, nicht gut für Anne. Nach Durcheinander in jedem Fall. Und so kam ihr Vater also jeden zweiten Sonntagnachmittag zu Annes Großmutter, um seine Tochter zu sehen. Er mochte die Großmutter, obwohl sie die Mutter von Annes Mutter war, nicht seine eigene. Und die Großmutter mochte Annes Vater, vielleicht auch nur deshalb, weil er eben Annes Vater war.

Diese Nachmittage mit ihrem Vater und ihrer Oma waren schöne Nachmittage. Nach ihrem Mittagsschlaf erzählte die Großmutter beim Kaffeetrinken Geschichten von früher. Immer gab es Geschichten von früher und selbst gebackenen Kuchen. Annes Vater liebte den selbst gebackenen Kuchen. Die Geschichten von früher, das zumindest glaubte Anne, liebte er nicht so sehr. Anne liebte diese Nachmittage genau so, wie sie waren, Nachmittage, an denen sie mit ihrem Vater und ihrer Oma oft auch lachte. An denen Anne unbeschwert war trotz allem.

Dass sie lachten, erzählte Anne ihrer Mutter nicht. Wenn sie nachfragte, erzählte ihr Anne, was für einen Kuchen die Großmutter gebacken und was ihr Vater mitgebracht hatte. Mehr nicht. Ein paarmal hatte sie mehr erzählt, zum Beispiel von den Überraschungen. Das hatte für Unordnung gesorgt, für große Unordnung. Wenn sie ihrer Mutter weiterhin auch von den anderen Dingen erzählt hätte, wäre nichts an seinem Platz geblieben. Also hat Anne ihrer Mutter niemals so von den Nachmittagen erzählt, wie sie wirklich waren. Sie sagte höchstens noch, dass ihr Vater das Geld überweisen würde, sobald das Konto wieder ausgeglichen sei, und ihre Mutter sagte »Ja ja« und »Immer das Gleiche« und rollte mit den Augen und Anne fand das unheimlich und dass ihre Mutter hässlich aussah dabei.

Ob alles anders gekommen wäre, wenn sie ihrer Mutter mehr erzählt hätte von diesen Nachmittagen, ob das wirklich etwas geändert hätte, war eine von den Fragen, auf die Anne keine Antwort fand, die sich ihr aber immer wieder in den Weg stellten. Sich wichtig machten. Andere hingegen stellte Anne gar nicht erst, beispielsweise, warum ihre Mutter so gut wie nie wissen wollte, wie die Nachmittage mit Anne und der Großmutter waren. Warum ihr Vater niemals in den immer seltener werdenden Fragen der Mutter vorkam. Oder auch, warum ihre Mutter sich absichtlich so hässlich machte.

Sie wissen, warum Sie hier sind.

Weil ich hierherkommen sollte.

Sollte?

Ja.

Wer hat das gesagt?

Der Arzt.

Dr. Galubitz?

Ja! Aber das wissen Sie doch alles. Das steht doch alles in Ihren Unterlagen. Warum fragen Sie mich das?

Weil ich Ihnen helfen möchte.

Ich brauche keine Hilfe!

Dr. Galubitz schreibt hier, dass Sie Gewicht verlieren.

Das ist Quatsch!

Soll ich es Ihnen vorlesen?

Das ist Quatsch! Ich weiß, was da steht.

Und?

Was und?

Wenn Sie wissen, was da steht, dann wissen Sie ja auch, warum Sie hier sind.

Ich sagte das doch schon: Das ist Quatsch!

Sie finden, dass Dr. Galubitz Quatsch schreibt?

Es stimmt nicht!

Ich vertraue, ehrlich gesagt, da ganz meinem Kollegen. Und er schreibt, dass Sie deutlich an Gewicht verlieren und dass Sie an einem Punkt angekommen sind, wo das gefährlich werden kann.

Ich lebe noch und es geht mir gut.

46 Kilogramm sind eindeutig zu wenig. Wenn Sie noch mehr Gewicht verlieren, kann das schwerwiegende Folgen haben.

Was heißt eindeutig zu wenig? Wer sagt das?

Die Medizin sagt das.

Die Medizin!

Es gibt klare Anhaltswerte. Und in Ihrem Fall ist es eindeutig.

Eindeutig was?

Sie haben Untergewicht.

Das ist Quatsch!

Und es gibt auch einen Spiegel.

Na und?

Stellen Sie sich hier vor den Spiegel: Was sehen Sie?

Was soll das?

Sagen Sie mir, was Sie sehen!

Natürlich sehe ich mich!

Das ist eine gefährliche Situation.

Was soll an mir gefährlich sein?

Wenn Sie noch mehr Gewicht verlieren, können Sie ernsthaft erkranken.

Warum sollte ich noch mehr Gewicht verlieren?

Sie könnten sogar sterben!

Wollen Sie mir Angst machen?

Ich will Ihnen helfen.

Wenn Sie mir helfen wollen, dann hören Sie mit Ihren blöden Fragen auf.

Fragen gehören nun mal zu meinem Beruf.

Aber Sie nerven mich. Ihr kluges Gequatsche nervt mich auch. Alles nervt mich. Lassen Sie mich in Ruhe!

Sie finden nicht, dass Sie Hilfe brauchen?

Nein!

Nein?

Nein!!

Zeigen Sie mir Ihre Arme.

Eines Tages kam das Blut. Es kam ohne Vorwarnung, ohne Erklärung. Es war einfach da und erschreckte Anne mehr als alles andere bisher in ihrem Leben. Der Schreck war größer als die Scham und wurde zur Angst, als sie ihrer Mutter dennoch davon erzählte. »Da ist Blut«, sagte Anne leise und hoffte, dass ihre Mutter den Schrecken würde nehmen können.

Sie konnte es nicht. »Mein Gott«, sagte Annes Mutter stattdessen und wurde sehr bleich und schloss hastig die Küchentür hinter Anne, als könne sie so Gott oder wen auch immer auf Abstand halten. Natürlich hatte Anne davon gehört, dass Mädchen zu Frauen werden und was sich da verändert. Aber das waren ja nur Worte, Geschichten. Das Blut aber konnte Anne sehen.

Wem sonst hätte sie davon erzählen sollen? An diesem Morgen? Bis Sonntag waren es noch vier Tage. Zu viele für ihren Schrecken. Für eine Wunde ohne Ursprung. Eine unsichtbare Verletzung.

»Es ist nur«, sagte ihre Mutter nach einer langen, einer sehr langen Pause, »ich wusste nicht, dass du das jetzt auch hast, so früh, ich hatte doch keine Ahnung, dass es schon so weit ist«, und die Art, wie sie »das« sagte, machte Anne Angst, größere noch als die Ungewissheit, die sich in der viel zu langen Pause vermehrt hatte wie lästiges Ungeziefer.