Kein Flug nach Liverpool - Nach deutschem Recht hinter schwedischen Gardinen - Udo Pütsch - E-Book

Kein Flug nach Liverpool - Nach deutschem Recht hinter schwedischen Gardinen E-Book

Udo Pütsch

4,7

Beschreibung

Begonnen hat alles damit, dass der Autor mit 0,01 Promille zu viel auf dem Fahrrad erwischt wurde. Fünf Jahre danach folgte eine Beamtenbeleidigung. Und deshalb kommt man in den Knast? Der Autor, diplomierter Deutsch- und Englischlehrer; beschreibt interessant und sehr spannend seinen mehrmonatigen Gefängnisaufenthalt, ein Milieu, das seine Leser hoffentlich nie selbst kennenlernen. „Ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich im Zusammenhang mit dem folgenden Geschehen nichts getan habe, wodurch auch nur eine einzige Person in irgendeiner Form zu Schaden gekommen ist. Mit anderen Worten: Niemand hat auch nur einen Kratzer erlitten oder ist um einen Cent geprellt oder geschädigt worden.“ INHALT: Vorgeschichte – zurück in die Vergangenheit Tag Eins Der Tag danach 3. – 5. Tag 6. Tag Die zweite Woche 2. Wochenende Die dritte Woche 3. Wochenende Die vierte Woche Die fünfte Woche 5. Wochende Die 6. Woche 6. Wochenende Der zweite Monat Vorzeitige Entlassung? Der dritte Monat Vorzeitige Entlassung Endlich frei Nicht nur ein Nachwort Anlagen Brief an die Polizei-Hauptwache Einladung nach Liverpool Buchung bestätigt Gnadenentschließung Ladung zum Strafantritt Gnadenantrag Strafaufschub Information für den Gefangenen des offenen Vollzuges Antrag auf Besuchsdurchführung Antrag auf Gewährung eines Wahlpaketes/ Festtagspaketes/ Zugangspaket/ sonstigen Paketes Antrag auf Zugangseinkauf Belehrung und Hinweise zur Erhebung und zum Schutz personenbezogener Daten Beschluss

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Impressum

Udo Pütsch

Kein Flug nach Liverpool - Nach deutschem Recht hinter schwedischen Gardinen

ISBN 978-3-86394-295-3 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Dieses Buch beruht auf einer wahren Begebenheit. Namen von Personen und Schauplätzen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und vom Autor nicht gewollt.

Statt eines Vorworts

Diese Geschichte hat einen schleichenden Anfang. Ein Teil davon liegt lange zurück. Ich hatte gelernt, dass man nicht lügt, Mitmenschen Respekt und Achtung verdienen und dass man sich mitunter quälen muss, um etwas zu erreichen.

Ich habe mich gequält, habe Unsinn gemacht (auch Dinge, auf die ich nicht stolz war), habe aber stets die Wahrheit und die Menschen respektiert und bin dann Lehrer geworden. Aus Leidenschaft und Liebe zum Beruf. Die 1970er Jahre mit John Lennon und dem FC Liverpool sorgten dafür, dass mein Hauptfach Englisch wurde.

Ich habe Leidenschaft und Liebe zum Beruf auf die Schüler übertragen und habe ihnen menschlichen Respekt und Achtung vermittelt. Dafür wurde ich geliebt (und musste damals noch nicht darauf hinweisen, dies nicht falsch zu verstehen), respektiert und geachtet. Von Schülern und Kollegen.

Aber nichts ist für die Ewigkeit. In der Schule ging es zunehmend um Verwaltungsangelegenheiten. Der Beruf des Lehrers wurde gesellschaftlich demontiert. Aus menschlichem Miteinander wurde Nebeneinander, Leidenschaft und Engagement mussten Zahlen und Statistiken weichen.

Es gab Schüler, die nicht lesen und schreiben konnten und dennoch versetzt wurden. Die Zeiten, da Lehrer, Eltern und Schüler gemeinsam in eine Richtung arbeiteten, waren vorbei.

All dies war für mich kein Gewitterguss, sondern eher ein aufsteigender Nebel, der meine Ideale und Wertvorstellungen mit sich nahm. Jeden Tag verschwand ein kleines Stück. Fast unbemerkt. Irgendwo im Grau.

Ich weiß nicht, ob Herzblut erkaltet oder leise verschwindet, wenn es nicht benötigt wird. Der Kopf wird stumpf. Der Begriff Burnout war noch nicht bekannt. Die Leidenschaft hatte mich irgendwann verlassen, die Gleichgültigkeit zog langsam ein, loderndes Feuer wurde mattes Glimmen. Ich hatte keine Lust mehr, in meiner Freizeit Ideen für den Beruf zu entwickeln, der gar nicht mehr mein Beruf war.

Dafür wurden die Feierabendbiere häufiger, die Kontakte zu Freunden und Geschwistern proportional geringer. Meine Ehe war längst geschieden. Irgendwann fiel mir auf, dass ich Leuten beim Reden nicht mehr in die Augen schaute. Warum nicht? Konnte oder wollte ich das nicht mehr? Und da wurde mir irgendwann kalt im Nebel und ich wünschte mir die menschliche Wärme zurück. Ich tat das jedoch so, als bräuchte ich nur auf die Morgensonne warten, die aufsteigt und mit ihrer Kraft den trüben Schleier entfernt und den Blick auf Vertrautes wieder freigibt. Das geschah aber nicht.

Nur langsam begriff ich, dass Aufstieg und Kraft aus mir selbst kommen müssen. Aber ich hatte ja gelernt, dass Mitmenschen Respekt und Achtung verdienen und dass man sich mitunter quälen muss, um etwas zu erreichen. Ich begriff, dass ich mich auch selbst respektieren und achten musste. Die Sonne mit ihrem Feuer musste irgendwo in mir sein. Also fing ich an, diese Kraft zu suchen und alles Benebelnde zu entfernen. Weg mit diesem Arbeitsplatz in der Schule, der mich krank machte anstatt mir Kraft zu geben. Weg mit diesen „Chefs“, die vorrangig mit ihren Verwaltungsangelegenheiten zu tun hatten. Weg mit diesem Wohnort (der auch mein Arbeitsort war), den ich nach der Scheidung notgedrungen wählte, weil die Wohnungssituation in der Nachwendezeit nichts Besseres hergab. Weg von falschen Freunden und den „Bierkumpanen“.

Ich zog zurück in den Ort, indem ich vorher glücklich war, gründete meine eigene kleine Englisch-Schule, lernte eine Frau kennen und lieben, heiratete und wurde wieder vollkommen glücklich. Das kostete unglaublich viel Kraft und klingt dennoch sehr nach einem Märchen mit Happy-End. Soviel Glück war dem Schicksal dann wohl auch zuviel.

Und da beginnt sie nun, diese Geschichte. Sie kam wie ein langer Arm aus der Vergangenheit und wollte mich zurück in diesen Nebel ziehen.

Ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich im Zusammenhang mit dem folgenden Geschehen nichts getan habe, wodurch auch nur eine einzige Person in irgendeiner Form zu Schaden gekommen ist. Mit anderen Worten:

Niemand hat auch nur einen Kratzer erlitten oder ist um einen Cent geprellt oder geschädigt worden.

Sollte dieses Buch von jemandem gelesen werden, der im weiteren Sinne für die Justiz arbeitet, soll er mir bitte nicht damit kommen, dass einige Formulierungen so nicht korrekt seien oder die Einordnung in die größeren Zusammenhänge fehle. Einspruch abgelehnt, Euer Ehren! Ihr habt schon lange eure eigene Sprache erfunden, die es euren gewollten und ungewollten Opfern schier unmöglich macht, eure Befragungen korrekt und vollständig zu beantworten, ohne dabei in eine der zahlreichen Fallen zu tappen, die ihr dabei aufgestellt habt. Selbst ein mit „gut“ abgeschlossenes Germanistik-Studium hilft dabei gar nichts. Noch schlechter ist derjenige beraten, der nach dem Motto verfährt: „Ich habe zwar nicht jede Frage verstanden, aber ich versuche, alles wahrheitsgemäß darzustellen.“ So naiv war ich auch einmal. Ich denke, es gibt nicht viele Orte, an denen so viel gelogen wird wie im Gerichtssaal – außer vielleicht in politischen Gremien. Nicht alle Lügen kommen von der Anklagebank.

Andererseits bleibt das Problem der Einordnung in größere Zusammenhänge. Aber wer von euch hat sich die Mühe bei mir gemacht?

Außerdem erlaube ich mir in diesem Werk auch emotionale Formulierungen – etwas, das bei euch wertloses Beiwerk ist.

Nein – ihr seid auf der anderen Seite – und da wolltet ihr ja schließlich auch hin.

Bitte schön!

Vorgeschichte – zurück in die Vergangenheit

Es gibt ein Urteil des Amtsgerichts wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Straßenverkehr.

Ich war an einem Freitag in unserem Dart-Verein, nichts Besonderes. Man trinkt ein paar Bier, während man die Woche ausklingen lässt, wirft ein paar Darts, spielt ein paar Runden aus, so gegen 23 Uhr ist Schluss, ab nach Hause. Zehn Minuten mit dem Fahrrad auf dem Radweg.

Nach acht Minuten werde ich jedoch von einer Polizeistreife angehalten. Manchmal wird Faulheit eben bestraft – das Licht am Rad funktioniert schon seit ungefähr zwei Wochen nicht. Allgemeine Verkehrskontrolle. Alles kein Problem, bis die Frage kommt: „Haben Sie etwas getrunken?“ Lügen ist nicht mein Fall, also erkläre ich die Situation. Leider nur begrenztes Interesse.

„Pusten Sie freiwillig?“

„Naja, was ist, wenn nicht?“

Also, der Beamte hat leider Freitag kurz vor Mitternacht einen sehr begrenzten Humor. Später meinte er, ich hätte gesagt: „Nein, mach ich nicht.“ Festnahme wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt, Überführung zur Alkoholprobe in Handschellen. Der gemessene Wert lag um 0,01 (!) zu hoch. Gegen mich spricht, dass mir etwas Ähnliches schon einmal passiert war.

Verhandlung – Bewährungsstrafe!

Es geht noch weiter.

Post vom Jugendamt Stempelhof.

„Sehr geehrter Herr Pütsch, hiermit informieren wir Sie, dass Sie der Vater des 3-jährigen ... sind. (Ich würde jetzt gern in die Gesichter der Leser schauen – aber Sie haben meines damals ja auch nicht gesehen.) Wir bitten um Ausgleich des aufgelaufenen Unterhaltes in Höhe von ... sowie um Zahlung des monatlichen Unterhaltes in Höhe von ... . Weiterhin teilen wir mit, dass Ihnen Adresse und Aufenthaltsort des Kindes und der Kindesmutter aus sozialpädagogischen Gründen nicht genannt werden dürfen.“

Was ist das denn?

Ich bemühe mich um Klärung und werde an die Anwältin der Kindesmutter verwiesen. Diese teilt kurz und knapp mit, dass an einer Klärung kein Interesse bestünde und verweist auf die Zahlung auf das Anwaltskonto. Abgesehen davon, dass eine Nachzahlung über mehrere Jahre nicht so ohne Weiteres möglich ist, sehe ich das auch nicht sofort ein und beharre auf einer Klärung. Aber zum Glück (für die Mütter) haben wir ja ein funktionierendes Rechtssystem. Und dort liest sich das so: Zahlungsverweigerung.

Folge: Kontosperrung

Also ich zahle zähneknirschend den Unterhalt, damit das Konto gegen eine vierstellige Gebühr zugunsten der Anwältin der Kindesmutter von genau dieser Anwältin entsperrt wird. Das ist laut Gesetz keine Nötigung oder Ausnutzung einer Zwangslage durch die Anwältin, meint diese. Ich protestiere dagegen, weil ich das als Erpressung empfinde, aber ich muss ja irgendwie an mein Geld herankommen. Die Dame lässt meinen Protest abprallen und vorläufig nichts mehr von sich hören. Und auch eine Rechnung erhalte ich nicht.

Einige Wochen später teilt mir die Anwältin mit, ich wäre mit den laufenden Unterhaltskosten in Rückstand in Höhe von ...

Wie bitte???

Ich denke nur: „Blödsinn“, kopiere die Kontoauszüge und schicke sie an die Anwältin. Das Spiel wiederholt sich monatlich, nur der Betrag wird ständig höher. Ich weiß nicht, was das alles soll und bitte – zugegeben etwas forsch – um Aufklärung. Keine Reaktion, dafür neue Zahlungsaufforderungen und gerichtliche Drohungen. Ich sehe dem gelassen entgegen, weil ich mir keinerlei Schuld bewusst bin. Gerichtstermin mit bösem Erwachen: Die Unterhaltszahlungen hat Anwältin Rubert als Honorar verbucht. Sie darf das – auch ohne mich zu informieren, weil sie die Anwältin der Gegenpartei ist.

Sie muss mich nur über den Unterhaltsrückstand informieren, mehr nicht. Das hat sie getan. Dass ich geglaubt habe, ich hätte den Unterhalt bezahlt, interessiert niemanden und bleibt mein Problem. Also habe ich verloren. Dem Einspruch wurde übrigens nicht stattgegeben.

Dafür gab es aus der anderen Verhandlung eine Bewährungsauflage: Ich werde verpflichtet, einmal wöchentlich am Treff der anonymen Alkoholiker teilzunehmen und in regelmäßigen Abständen einen Bewährungshelfer zu konsultieren. Ich bin ja schließlich Wiederholungstäter.

Nun folgt ein Erlebnisbericht, dem eine ganze Menge Naivität vorausging. Zum Beispiel, dass die Polizei dein Freund und Helfer ist und Bewährungshelfer jemandem helfen, sich zu bewähren.

Heute weiß ich das natürlich besser. Dank Herrn Hohlwab und Frau Hönscher. Bewährungshelfer Hohlwab zum Beispiel erklärte mir eines Tages zu meiner Verblüffung, dass er nichts dafür könne, dass Bewährungshelfer an seiner Tür steht. Aus diesem Grund wird er jetzt die von mir gemachten Aussagen in den Gesprächen gegen mich verwenden und muss den von mir in Eigeninitiative bei der Suchtberatungsstelle geleiteten und von den Teilnehmern gewünschten Englischunterricht als Missachtung des Gerichtsentscheides werten, wöchentlich am Treff der anonymen Alkoholiker teilzunehmen.

Dass mein Unterricht mit freundlicher Zustimmung des Suchtberatungszentrums, der Kenntnis des Amtsgerichts sowie der Tatsache verknüpft ist, dass ich seit 30 Monaten keinen Cent Honorar nehme, tut nichts zur Sache. Mein Gefühl, hier etwas Sinnvolles getan zu haben, erhielt plötzlich ebenso unerwartet wie gnadenlos den Stempel „Bewährungsversager“. Wenn man sich bemüht, sich einen Gesamteindruck von solchen Menschen wie Herrn Hohlwab zu verschaffen, kann man sich nicht gegen die Frage wehren, was für Leute in diesem Staat für „Recht und Ordnung“ zuständig sind.

Weitere Fragen und Beispiele werden folgen.

Polizeibeamtin Hönscher zum Beispiel, seiner Zeit Nachtdiensthabende der zuständigen Polizeidienststelle. Von mir angerufen, weil jemand zum wiederholten Male nach 3 Uhr nachts in unserem Garten herumstreicht und auch deutlich an der Haustür wahrnehmbar ist, reagiert sie mit der Frage, ob etwas wie ruhestörender Lärm vorliegt – laute Musik vielleicht. Ich versuche es noch einmal: „Da ist jemand ...“

„Nein, da kann man nichts machen. Melden Sie das morgen ...“ Tut, ... tut, ... tut, ...

Ich versuche es dennoch mit drei weiteren Anrufen. Ohne Erfolg – zumindest ohne den gewünschten. Nachdem ein Streifenwagen mal doch zugesagt war – und dann mal wieder nicht – wurde ich leider ungehalten und habe auch die gute Wortwahl etwas vermissen lassen.

Etwas resignierend habe ich am folgenden Tag noch einen etwas sarkastischen Entschuldigungsbrief folgen lassen, der eher witzig als bösartig gemeint war. Und jetzt kommt’s:

Strafanzeige wegen Beamtenbeleidigung. Nein, es spielt keine Rolle, dass die Frau Beamtin mir am Telefon die Hilfe verweigert und mich belogen hat. Es spielt keine Rolle, dass sie in ihren Aussagen zu Protokoll weitere Lügen hinzugefügt hat und es spielt auch keine Rolle, dass sie in ihrer Stellungnahme zu meiner Dienstaufsichtsbeschwerde weitere Unwahrheiten zu Papier gibt, die sogar im Widerspruch zu ihren bisherigen Aussagen stehen.

Sie bekommt Recht – und ich werde verurteilt.

Und bin erneut „Bewährungsversager“.

Es folgen „Aufhebung der Bewährung“ durch die Staatsanwaltschaft, Einspruch meines Anwalts, Ablehnung des Gnadengesuchs, Anwaltskosten in vierstelliger Höhe sowie die nächsten weniger lustigen Kapitel.

Tag Eins

Ein trüber Oktobermorgen. Es gießt aus Kannen. Der einzige Lichtfleck, der rot-weiße Liverpoolschirm, verschwindet mit Astrid am anderen Ende der Straße. Sie weiß nicht, dass ich ihr nachsehe, und ich weiß nicht, dass ich sie so schnell nicht wiedersehe.

Strömberg – JVA, Eingangstor. Als ich auf der anderen Seite bin, habe ich eine andere Welt betreten. Ich beginne nur langsam zu begreifen, dass völlig unerwartete Dinge auf mich zu kommen. In einem Raum, der in einem ruinenartigen Teil einer Baracke gelegen ist, sitze ich einem Mann in Uniform gegenüber. Ich kann nicht sagen, dass er unsympathisch ist, aber hier hat alles etwas Befremdliches. Eine unwirkliche Situation in einer unwirklichen Umgebung. Die Aufforderungen des Mannes kommen automatenartig und bestimmend und treffen mein Hirn dennoch wie im Nebel. Mein Ausweis verschwindet über den Tisch und die Automatenstimme meint, dass ich diesen für längere Zeit nicht sehen werde. Es soll nicht nur beim Ausweis bleiben. Ausziehen bis auf die Unterwäsche und alle Sachen abgeben. Es beginnt eine Kette von Abläufen, die völlig fremd in meinem Leben ist und für die mir jegliche Zuordnung fehlt.

Und dann kommt ein völlig neues Zeitgefühl. Wie man das erreicht? Ein Raum, Tür von außen verschlossen, vier weiße Wände, kein TV, kein Radio, kein Telefon, nichts zu lesen, niemand zum Reden, kein Blick aus dem Fenster möglich – und endlose Stunden Zeit. Aus Udo Pütsch ist 170/08 geworden; ohne Ausweis und damit ohne Identität.

Einmal geht die Tür noch auf und eine graue Mülltüte wird hereingereicht. Vier Scheiben Brot und zwei Kleckse Marmelade – mein Abendbrot. Abendbrot aus einer Mülltüte ist eine ebenso neue Erfahrung wie die Zimmerausstattung. Ich erinnere mich an die Farbe weiß, an blankes Metall und an Schrauben. Der Hocker, auf dem ich sitze, ist aus Metall; mit Schrauben am Boden befestigt. Der Tisch, auf dem meine Hände liegen und nicht wissen, was sie tun sollen, ist aus Metall, mit Schrauben am Boden befestigt. Mein Blick wandert durch das Zimmer. Die Wände. Weiß. An einer Wand ein Bett. Metall. Daneben ein Toilettenbecken. Metall. Wieder daneben das Waschbecken. Metall. Die Tür. Grau oder grün. Ich weiß es nicht mehr. Sehr stabil jedenfalls – und Schlösser. Viele. Wieder Wand. Weiß. Fenster. Weiß. Irgendwann liege ich auf dem Metallbett. Die Zimmerdecke. Weiß. Das Licht an der Decke. Kann man es an- und ausschalten? Egal. Die Zeit wird zu einer Röhre. Ich bin da irgendwo drin. Je länger dies dauert, desto weniger weiß ich, wie weit ich von den Enden der Röhre entfernt bin. Ist der Anfang der Röhre näher oder das Ende? Wie weit ist es eigentlich? Ich weiß es nicht. Die Umgebung wird zu einer dämmrigen Milchstraße, die das Gefühl für Zeit und Wirklichkeit schluckt. Wie ein Schwarzes Loch.

Der Tag danach

Irgendwann wird an der Zellentür geschlossen. Ich falle aus dieser Zeitröhre und werde in den Keller – oder die Kammer – gebracht, wo nochmals meine Sachen in Augenschein genommen werden. Draußen ist es hell; wie ich durch Flurfenster erkennen kann. Dann sitzt ein Mann an einem Holztisch vor mir. Es ist der Mann aus der Barackenruine. Ist er noch oder schon wieder hier? Ich weiß es nicht. Bekleidung und Waschzeug erhalte ich zurück (außer Sprays und Flüssigkeiten). Von anderen Sachen muss ich mich vorerst verabschieden, so von meinem Mobiltelefon und Pittiplatsch, unserem Glücksbringer, sowie sämtlichem Geld und Geldkarte.

Es folgt die sogenannte Aufnahme; kurzer Check beim Arzt und anschließendes kurzes Gespräch mit dem Leiter der Anstalt. Dabei wird mir so langsam klar, dass hier etwas in Gang gesetzt wurde, dass ich bis hierher immer noch nicht vollständig begriffen habe. Es wird mir mitgeteilt, dass die Anstaltsleitung nach eingehender Beratung zu dem Entschluss gekommen sei, dass ich hier bleiben dürfe. Er sagte wirklich dürfen. Dies wiederum bedeutet, dass ich nicht in den geschlossenen Vollzug muss. „Wenn Sie damit einverstanden sind, unterschreiben Sie bitte hier.“ Wie hatte mein Vater immer gesagt, wenn jemand ein selten dummes Gesicht gemacht hat? – ‚Du guckst wie ‘ne Gans, wenn’s donnert!’ Genau so muss ich in jenem Moment ausgesehen haben.

Kein Wort zu meinem vorher gestellten Antrag zur Gestaltung der Haftbedingungen oder Antrag auf Gewährung von Hafturlaub für das Supporters Meeting in gut zwei Wochen in Liverpool. Da mein Gesicht offenbar noch deutlich von Konfusion gezeichnet ist, nimmt mein Gegenüber an, dass mir die Begriffe ‚offen’ und ‚geschlossen’ im Sinne der Justiz nicht klar seien. Er hat recht. Dabei ist die Erklärung so einfach: ‚Geschlossen’ heißt, dass die Türen des Haftraumes geschlossen sind für 23 Stunden am Tag. ‚Offen’ hingegen bedeutet, dass die Türen des Haftraumes offen – also nicht geschlossen – sind und sich der Strafgefangene (genau das bin ich jetzt) innerhalb der vorgeschriebenen Zeiten im Gebäude oder Innenhof aufhalten darf, sofern er nicht anderweitige Pflichten zu erfüllen hat. Mein Geist will kurz rebellieren: „Aber meine Arbeit, ... muss meine Familie versorgen, ... Termine, ... tagsüber zu Hause arbeiten, nachts hier ...“

Ich beginne zu erahnen, wie naiv ich bisher war.

Dann wieder die Stimme an meinem Ohr: „Dass Sie hier sind, haben Sie sich selbst zuzuschreiben, private Dinge interessieren nicht. Haftlockerungen können Sie hier frühestens nach der Lockerungskonferenz erhalten.“ „Lockerungskonferenz – wann ist die?“ „Voraussichtlich im Januar oder Februar.“ „Aber heute ist der 2. Oktober.“ „Dass Sie hier sind, haben Sie sich selbst zuzuschreiben.“ Das war’s.

Schlagartig wird mir klar, dass ich weitaus mehr Probleme habe, als bisher angenommen. Am bittersten wird es dabei wohl für Astrid und Lotti zu Hause. Denn niemand von uns ist ernsthaft davon ausgegangen, dass ich mehrere Monate lang nicht zu Hause sein werde. Offener Vollzug hieß für mich, dass ich tagsüber meiner Arbeit nachgehen kann und mich von abends bis morgens hier aufhalten muss. Fataler Irrtum, in dem man mich allerdings vorher von Seiten der Justiz schweigend belassen hat.

Der Tag geht weiter – Haftraumzuweisung. Nach einigem Hin und Her komme ich auf ein Doppelzimmer, o. k. – Doppelhaftraum. Mein Haftraummitbewohner ist mit seinen 25 Jahren hier schon Stammgast. Er sitzt wegen Drogenhandel; immerhin schon zum fünften Mal. Ich werde ihn in diesem Buch Hippy nennen, auch wenn ihm das wahrscheinlich nicht recht ist.

Ich muss wieder in den Keller zum Sachenempfang und habe es wieder mit Herrn Claasen zu tun, jenem Bediensteten, der mich bereits gestern hier in Empfang genommen und heute Mittag meine persönlichen Dinge sortiert hat. Trotz seiner Uniform hat er etwas Sympathisches an sich, was sich zunächst nicht erklären lässt. Vielleicht liegt es daran, dass ich das Gefühl habe, dass er einfach nur korrekt ist – auch menschlich – ohne das zu zeigen.

Er gestattet mir sogar, zu Hause anzurufen. Und das wird jetzt ganz schwer. Ich weiß, dass Astrid seit gestern auf nichts anderes wartet. Ich weiß, dass die Grenze zum verzweifelten, verkrampften Weinen ganz nah ist und sie sich zwingen muss, die Kontrolle zu bewahren, obwohl sie innerlich zittert und die Nerven zu zerreißen drohen. Dass sie jetzt nicht zu Hause sondern auf Arbeit ist, macht die Sache nicht leichter. Wie bringe ich ihr das bei? Wie sage ich ihr, dass sie lange ohne mich auskommen muss und dass wir in den nächsten Wochen nicht einmal telefonieren können, weil mir ein genehmigtes Haft-Handy erst in ca. drei Wochen zur Verfügung steht, wenn es genehmigt wird?

Ich tippe die Zahlen in das Telefon im Keller ein und höre es am anderen Ende klingeln. „Ja bitte“. „Hallo Schatzi.“ Dann einige Sekunden nichts. Wir verstehen uns trotzdem. Ich habe Mühe, hier die Tränen zu unterdrücken, sie kämpft dort mit ihren. Behutsam fange ich an zu reden, ganz sachte, weil ich um alles in der Welt vermeiden möchte, ihr wehzutun, wo es nicht sein muss. Sie ist tapfer, hört zu und lässt mich reden – und weint nicht. Dann fragt sie mit dünner, zittriger Stimme. Was kann man sich schon in drei oder vier Minuten sagen – sie auf Arbeit am Ladentisch und ich hier mit Claasen im Knastkeller? Es funktioniert trotzdem. „Wir können ja erst mal schreiben.“ „Ja, ganz oft – jeden Tag.“ „Ich hab dich lieb, Schatzi.“ „Ich dich auch, bleib tapfer.“ „Du auch, wir schaffen das, wir drei.“ „Na klar – bis dann!“

Zurück zur Tagesordnung, Sachen hochbringen und Zimmer aufräumen. Das ist schnell erledigt, viel gibt es ja nicht.

Es ist schon wesentlich komplizierter, mit den neuen Umständen klarzukommen. Häftlingsalltag. Aus Hippy ist nicht viel herauszubekommen. Er ist eher ein Phlegmatiker. Vom Bett um die Ecke kommt so etwas wie: „Naja, is manchmal schwer zu peilen.“ Soweit bin ich auch schon.

Aus anderen Quellen erfahre ich etwas mehr. Was ist, wenn man kein Mobiltelefon, Radio, Fernseher usw. hat? Kann man im Prinzip alles haben, aber man darf es nicht selber mitbringen und auch nicht mitbringen oder schicken lassen. Man muss es hier kaufen und natürlich vorher beantragen. Und das kann dauern. Radio und Fernseher kann man auch auf Antrag leihen – und das kann erst recht dauern, falls überhaupt gerade Geräte verfügbar sind. Man kommt auf eine Warteliste, vergleichbar mit der Wohnraumvergabeliste im Osten vor 1989 – manche Leute kommen nie oben an. Warum? – Fragt die Uniformierten.

Anträge werden von diesem Tag an ein wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens. Es gibt Anträge dafür, dass man Besuch empfangen darf (Zweimal im Monat je zwei Personen für 90 Minuten, wenn es mindestens zwei Wochen vorher beantragt und genehmigt wurde),

Anträge für den Empfang von Paketen (Nahrungsmittelpakete von max. 3 kg brutto dreimal im Jahr unter Einhaltung der Vorschriften – Sehen sie sich das Formular an und überlegen Sie, was Sie ihrem Mann/Verlobten/Sohn usw. ... bzw. Ihrer Frau/Verlobten/Tochter usw. schicken würden! – Versuchen Sie es wirklich mal!),

Anträge für Arztbesuch,

Anträge für Arbeit,

Anträge für Taschengeld (12 €/Monat),

Anträge für Suchtberatung,

Anträge jemanden sprechen zu dürfen ...

Jaja, alles schriftlich – man kann da nicht einfach so hingehen und jemanden ansprechen.

Was ist sonst noch neu? Die Verpflegung! Es beginnt ein Leben vollgestopft mit altem Brot, Margarine, Marmelade und Pfefferminztee. Salz, Zucker und Kaffee dagegen erhalten den Status von Luxusgütern, bestimmte Wurst- und Fleischprodukte werden mit dem Etikett ‚Nostalgie’ versehen und in den wohlbehüteten Erinnerungsschubladen abgelegt.

Natürlich kommt dann irgendwann der Zeitpunkt, zu dem es sich nicht verdrängen lässt, dass es noch eine Familie und ein Zuhause gibt, dass jeder von uns auf Liebe und viele schöne Stunden verzichten muss, kein Geld verdient wird und Pflichten liegen bleiben. Meinetwegen mache ich mir keine Sorgen. Ich weiß, dass ich einen Willen besitze, mit dem ich alles schaffen kann. Astrid und Lotti haben es da vielleicht viel schwerer, aber ich glaube an die Kraft, die wir uns gegenseitig geben – Astrid, Lotti und ich. Und deshalb schaffen wir das auch, das haben wir uns versprochen.

3. – 5. Tag

Der nächste Tag läutet ein verlängertes Wochenende ein. Es ist Freitag, der 3. Oktober, Tag der deutschen Einheit. Damit an solch einem Feiertag alle Häftlinge mal so richtig ausschlafen können, gibt es kein Frühstück. Klar, würde ja sowieso keiner essen. Hippy bewegt sich auch nicht von seinem Bett runter, schaut von da aus fern, da er einen Haftfernseher hat. Von mir aus gesehen ist der Apparat hinter der Trennwand aus zwei Kleiderschränken und mir bleibt der Ton der unablässig laufenden Reality-TV-Shows, die ich hasse wie die Pest. Makabererweise scheint Hippy eine Schwäche für die sogenannten Gerichts-Shows zu haben. Ich bin mir nicht sicher, ob er etwas masochistisch veranlagt ist oder immer noch die Gründe dafür sucht, warum er stets wieder hier landet. Auf jeden Fall weiß ich spätestens ab jetzt, dass es nicht nur Dealer mit Goldkette, Rolex und Ledermantel gibt, die im eleganten Porsche mit den Baywatchgirls verschwinden. Nein, es gibt auch noch diejenigen, die bei jeder Razzia als Erste ihren Allerwertesten hinhalten, um den oben genannten den eleganten Abgang zu verschaffen und um dann selber hier zu landen. Er ist sozusagen der Egon unter den Dealern, nur ohne Plan. Mit anderen Worten, Hippy ist eigentlich ein armes Schwein, auf den nach eigenen Aussagen ‚draußen’ ohnehin niemand wartet und der für sich akzeptiert hat, dass er nicht alt wird und sich ein Großteil seines Lebens hier abspielen wird. So macht es ihm auch nichts aus, mich nach ‘nem Euro und einer Tasse Kaffee anzupumpen. Auf meine verdutzte Frage, wo ich das nach zwei Tagen herhaben soll, meint er dann auch nur: „Hätte ja sein können.“ Stimmt, fragen kostet nichts.

Es wird mir zu langweilig und ich beschließe, den offenen Vollzug mit allen Möglichkeiten zu nutzen. Ich gehe vor die Tür. Der Innenhof ist eine Rasenfläche von ca. 40 mal 40 Metern, die von einem Gehweg umrahmt wird. Auf dem Rasen stehen drei kleine Eschen sowie drei größere Tannen und eine Linde. Also sogar etwas Natur.

Das auf den Feiertag folgende Wochenende verläuft ähnlich, bringt aber doch zwei wichtige Veränderungen. Auf dem Flur spricht mich Randy an, der Häftling aus der Kammer, der mir vor zwei Tagen meine Häftlingsklamotten rausgesucht hat. Er hatte mitbekommen, dass ich bei meiner Ankunft von Claasens Telefon nach Hause anrufen wollte. Er bietet mir an, im Notfall sein Handy benutzen zu können. Netter Typ, wir kommen ins Gespräch und ich somit sogar zu meiner ersten Tasse Kaffee nach vier Tagen. Begeistert nehme ich Randy’s Angebot an und rufe Astrid an.

Einfach schön, dass trotz der brutalen Wahrheit, die ich ihr jetzt sagen muss, wieder Klarheit herrscht und wir wissen, was vor uns liegt. Dass es so kommt, wie es jetzt ist, haben wir beide nicht geahnt. Natürlich gibt es unendlich viele Fragen, natürlich ist viel Aufregung im Spiel, aber sie erträgt es tapfer und man hört sie förmlich aufatmen, als ich ihr sage, dass sie diese Nummer im Notfall anrufen kann. Die Ungewissheit und das nervenzehrende Warten haben erst mal ein Ende.

Ich habe von draußen auf der Rasenfläche angerufen. Die Sonne strahlt, Rotschwänzchen hüpfen auf den Ästen umher. Wieso ist da hinter dem Weg ein kleiner eingezäunter Sportplatz? Die Welt sieht plötzlich ganz anders aus. Ich gehe an einem üppig blühenden Herbstblumenbusch, auf dem sich unzählige Hummeln tummeln, vorbei und auf den Sportplatz zu. Aber da ist sie wieder, die Realität. Sie hat die Gestalt eines grasgrünen verschlossenen Eisentores, das mich und den Sportplatz trennt. Aber an diesem vierten Tag ist meine Laune einfach zu gut um aufzugeben. Die Welt der schriftlichen Anträge ignorierend schreite ich zur Glaskanzel (auch Hausbüro genannt) des Diensthabenden und erkundige mich nach dem Sportplatz. Nach heutigem Wissen hätte ich eigentlich Pech haben müssen, denn Herr Graukopf war an diesem Wochenendnachmittag der Herrscher des Geländes und für seine Ein-Satzkommunikation mit den Häftlingen bekannt: „Gehen Sie weg!’’

Aus bis heute unerfindlichen Gründen wird mir die Ehre des folgenden Dialogs zuteil (Vielleicht liegt es auch daran, dass das Wort Sportplatz schon seit sehr langer Zeit in keiner Unterhaltung vorgekommen war):

„Entschuldigung, darf der Sportplatz benutzt werden?“

„Äh, der Sportplatz? Ja ..., mal sind die Frauen und mal die Männer dran.“

„Wer ist heute dran?“

„Heute, ähm, heute müsste offen sein.“

Das ist zwar nicht die Antwort auf meine Frage, stimmt aber sowieso nicht.

„Nein, das Tor ist verschlossen.“

Ich befürchte, dass der Aufenthaltsort des Schlüssels seit längerer Zeit zu den ungelösten Rätseln der Anstalt gehörte.

Aber nein: „Ich komme aufschließen.“

Halleluja! Nur noch ein winziger Schritt ... „Gibt es auch einen Ball?“

„Einen Ball? Da müssen Sie den Sportwart fragen!“

O.K.- Instinkt und Verstand lassen mich den Mund halten und ahnen, dass ich Graukopfs Geduld für diesen sonnigen Nachmittag genug strapaziert habe. Stattdessen lenke ich meine Füße in Richtung Häftlingstrakt, um den Sportwart ausfindig zu machen. Dabei ist mir klar, dass auch dies mit einem gewissen Risiko verbunden ist, denn es kann sich natürlich nur um einen etablierten Häftling handeln, der solch eine Funktion innehat. Genau den will ich jetzt womöglich in seiner Samstagnachmittagsruhe stören!

Kurzum, es geht gut. Nach weniger als 10 Minuten habe ich ihn in seinem Zimmer gefunden. Bereits nach leichtem Klopfen öffnet sich die Tür und der Häftling starrt mich unbekanntes Wesen an. Nachdem ich mein Anliegen so kurz wie möglich vorgetragen habe, rollt kommentarlos ein Ball über die Schwelle und die Tür fällt wieder zu.

Sportsachen habe ich noch nicht, also mache ich Torschussübungen in Jeans und Straßenschuhen. Es geht erstaunlich gut. Nach etwa 30 Minuten kommen ein paar Neugierige dazu. Schließlich sind wir neun Leute und es kommt ein kleines Spielchen zustande. Aber selbst damit lässt sich die Realität nicht lange wegschieben. Ein Fehlschuss reicht. Der Ball fliegt über den Zaun auf den Frauenhof. Mehrere Versuche, Graukopf zu überreden, uns den Ball zu holen, scheitern natürlich. „Pech gehabt, da müsst ihr ordentlich spielen“. Game over.

Zwei Stunden Ablenkung und der Alltag ist zurück. Während ich hier bei idealem Pilzwetter Bälle durch die Gegend schieße, fährt Astrid sonntags zu Hause Zeitungen aus, um den finanziellen Einbruch etwas zu kompensieren. Mir ist es egal, was andere darüber denken, ich ziehe meinen Hut vor ihr.

Ich brauchte ein System und Ordnung, sowohl für zuhause als auch für hier. Fangen wir zu Hause an. Da ist die familiäre Trennung und der finanzielle Schaden, der sehr viel höher wird als erwartet. Die Trennung ist besonders so kurz nach der Hochzeit nicht schön, aber das schaffen wir. Finanziell wird es Härten geben, das steht fest; vermutlich wird es sogar Löcher geben, für die Lösungen gefunden werden müssen. Wichtig ist, dass wir zu Hause einen gemeinsamen Weg finden und da vertraue ich unserem Zusammenhalt und unseren Ansichten, mit Problemen umzugehen. Wir werden das ausführlich besprechen müssen.

Fast alle meiner Kunden wissen über den Sachverhalt Bescheid, trotzdem bleibt es an Astrid hängen, überall anzurufen und die überraschende Nachricht zu übermitteln, wie lange die Pause dauert. Aber wie lange dauert sie überhaupt?

Und da sind wir wieder bei meinem Aufenthalt hier. Darüber weiß ich eigentlich nach wie vor gar nichts nach fünf Tagen. An dem langen Wochenende hat sich hier niemand von den Uniformierten blicken lassen. Also befrage ich meine Eindrücke und mein Gefühl. Genau da wird es schwierig, weil ich in gewissen Dingen noch völlig orientierungslos bin. Ich weiß, dass mir ein harter Kampf bevorsteht und dann denke ich daran, was mir mein Vater und mein Opa beigebracht haben. Zu irgendetwas muss die Erziehung ja getaugt haben. Regel Nr.1: „Bevor du kämpfst, überlege dir, ob es sich lohnt.“ Das ist sehr schnell beantwortet. Wenn es die Familie und die berufliche Existenz nicht wert sind, was dann? Regel Nr.2: „Bevor Lanzen und Schilde splittern, sieh dich um, wer hinter dir und wer dir gegenüber steht. Und ganz wichtig: Achte darauf, wessen Gesichter beim Durchzählen fehlen! Man weiß nie, wo sie auftauchen!“