Kein Sex kann's auch nicht sein - Katrin Bischof - E-Book

Kein Sex kann's auch nicht sein E-Book

Katrin Bischof

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Beschreibung

In ihrem zweiten Erzählungsband stellt Katrin Bischof Menschen vor, die in Abhängigkeiten ganz unterschiedlicher Art verstrickt sind. Sie alle durchlaufen einen Reflexionsprozess, an dessen Ende eine Erkenntnis steht. Und sie alle kommen schließlich an einen Punkt, an dem sie entscheiden müssen, welche Konsequenz sie aus dieser Erkenntnis ziehen werden. Wenn es kein Sex auch nicht sein kann: Was dann? Ausbrechen? Ausharren? Aufgeben? Die sechs neuen Geschichten der Autorin gehen dieser Frage nach und schlagen dabei ernste Töne ebenso an wie humorvoll-unbekümmerte.

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Für Janna

Inhalt

Ein modernes Dornröschen

Spür was Liebe mit uns macht

Das Glück nach Epikur

Kein Sex kann’s auch nicht sein

»Kenne ich die Frau?«

No reason to be clean

Danksagung

Ein modernes Dornröschen

Hey mein Prinz,

drei Wochen sind jetzt vergangen seit … na, du weißt schon. Ich glaube, deutlicher muss ich da nicht werden.

Könnte ich im Übrigen auch gar nicht. Denn was war das da mit uns, das vor drei Wochen?

Einmal, am Tag danach, hast du mich gefragt, ob es mir leidtue. Das war das einzige Mal, dass wir überhaupt darüber geredet haben. Keiner von uns hat den Vorfall danach wieder erwähnt. Aber immer, wenn wir uns über den Weg laufen, muss ich daran denken. Und du auch. Das kann ich dir ansehen.

Über den Weg laufen, das ist wohl die richtige Art, es auszudrücken. Vorher haben wir uns verabredet. Jetzt begegnen wir uns nur noch zufällig, wenn ich Unterricht bei Bianca habe oder mit Ausmisten dran bin. Vorher waren wir dauernd am Chatten; danach hast du den Kommunikationsfluss zu einem spärlichen Rinnsal auströpfeln und dann ganz verdorren lassen. Wenn diese unvermeidlichen zufälligen Begegnungen nicht wären, könntest du so tun, als sei nie etwas gewesen. Als gebe es nichts zu bereden. Sogar, als existierte ich gar nicht.

Der »männliche Rückzug«, klarer Fall, die Symptome sind offensichtlich, darüber liest man neuerdings ja überall. Scheint insbesondere im Anbahnungsstadium moderner Beziehungen schon wie selbstverständlich dazuzugehören. Erst läuft alles ganz prächtig, er legt sich ins Zeug, kann gar nicht genug von ihr kriegen, und dann plötzlich … stellt er sich tot. Sie ist natürlich am Boden zerstört, versteht die Welt nicht mehr, will ihn zur Rede stellen … Aus Unwissenheit begangene tödliche Fauxpas, die das zarte Band, das sich zwischen dem Kerl und ihr gebildet hat, wieder verschütten. So der typische Ablauf.

Die Lebenshilfebranche lebt ganz prima von diesem Phänomen. Wenn man »Rückzug« und »Mann« mal googelt, stößt man sofort auf Leitfäden mit Titeln wie »Er hat sich distanziert? Dann befolgen Sie diese drei Schritte«. Liebescoaches verheißen verunsicherten Frauen 95%ige Erfolgsgarantien, wenn sie ihre bewährten Methoden (von manchen auch selbstbewusst als »Glücksrezepte« angepriesen) nur konsequent anwenden. Zu regelrechten »Dompteusen« können sie auf diese Weise werden, die das Raubtier Mann nach ihrer Pfeife tanzen lassen, wie es ihnen gefällt. Der unschöne Umkehrschluss: Wenn es nicht klappt (und er trotz aller Expertentricks keine Anstalten macht, sich wieder anzunähern), ist es einzig und allein ihre Schuld. Nie die der Männer. Nein; die haben sie von sich weggetrieben. Weil sie bedürftig gewirkt haben.

Da ist es, das Wort, das auch mich zum Erschauern bringt. Bedürftig. Das ist, als hätte man eine Krankheit. Eine schlimme Krankheit. In etwa das, was früher Aussatz war.

Fast hätte ich mir an diesem Punkt den Ratgeber »Was tue ich, wenn er sich nicht mehr meldet« auch gekauft, erhältlich als E-Book zum einmaligen, zeitlich begrenzten Sonderpreis von nur 35,90 Euro, 163 Seiten, inklusive »Notfallprogramm« mit Scripts für SMS, E-Mails, Chats und Telefongespräche nur 49,90 Euro. Eigentlich vor allem deswegen, um mich nach dem Lesen entweder beruhigt zurücklehnen zu können – alles gut, so schlimm steht es um dich nun doch noch nicht – oder aber, um mich – falls ich tatsächlich zu der niederschmetternden Selbstdiagnose »Bedürftigkeit« kommen sollte – zu exorzieren, sofort, auf der Stelle, sozusagen per Schnellkur. Mein Finger schwebte schon über dem »Jetzt bestellen«-Button. Aber dann habe ich mich ganz energisch zurückgepfiffen. Die Sprüche, mit der dieses Werk beworben wurde, klangen irgendwie dann doch zu sehr nach Reklame für teure Antifaltencreme. Wäre es so einfach, wären wir alle faltenlos, oder etwa nicht.

Und außerdem gehöre ich bei näherem Hinsehen auch gar nicht zu der Zielgruppe. Denn das sind ja nun einmal Frauen, die es auf prinzipiell ungebundene Männer abgesehen haben. Während ich eine derjenigen bin, die … Nun ja, dafür gibt es viele Umschreibungen. Entschuldigende, augenzwinkernde, verniedlichende, verdammende.

Bleiben wir mal bei den Fakten: Du bist mit Bianca zusammen. Ich mag Bianca, sehr sogar. Und was machen wir beide?

Früher hätte ich wohl zu denjenigen gezählt, die bedenklich den moralischen Zeigefinger gehoben und behauptet hätten, dass ihnen so etwas ja niemals passieren könne. Jetzt tendiere ich eher dazu, Entschuldigungen zu suchen. Aber das ist wohl menschlich. Wenn es einem selbst passiert, kommen einem all die Steine, die man auf andere geworfen hat, plötzlich selbst um die Ohren geflogen. Das lässt einen ganz schnell milder in seinem Urteil werden.

Trotzdem, ich frage mich immer noch, wie mir das mit dir passieren konnte. War ich zu wenig auf der Hut?

Anfangs habe ich wirklich überhaupt keinen Verdacht geschöpft. Wir kennen uns, seit ich mit dem Reiten angefangen habe, vor dreieinhalb Jahren. Du warst damals gerade frisch und sehr hässlich geschieden und vor kurzem mit Bianca zusammengekommen.

Attraktiv fand ich dich schon. Sympathisch sowieso. Aber weiter dachte ich da nicht. Du warst liiert. Und damit tabu. Wir waren Freunde, hätte ich gesagt. Punkt und aus. Das wiegt einen in Sicherheit. So dass man nicht merkt, wenn sich etwas ändert. Oder erst, wenn es zu spät ist.

Man muss rechtzeitig die Reißleine ziehen. Auf keinen Fall darf man diesen bestimmten Moment verpassen, die letzte Chance zum Absprung. Ist die Neugier erst einmal erwacht, gibt es kaum noch ein Zurück. Es reißt einen mit.

Mit einem Mal will und muss man alles wissen. Alles.

Auch bei uns waren die Anzeichen da, schon seit Wochen. Alle. Und der Moment, in dem wir noch den Absprung hätten kriegen können, längst verpasst.

Da war dieser plötzliche Berührungshunger. Von einem Tag auf den anderen konntest du nicht mehr hinter oder vor mir durch die Stalltür gehen. Sondern nur noch neben mir. Sehr, sehr dicht neben mir. So dicht, dass sich dein Arm beinahe ganz wie von selbst um meine Hüfte legte; legen musste. Und dann natürlich die Sitzkorrekturen. Früher reichte ein Kommando vom anderen Ende des Reitplatzes aus, wenn ich mal wieder die Schultern hängen ließ oder die Beine hochzog; jetzt schien es dir mit einem Mal effektiver, das betreffende Körperteil (Wade, Oberschenkel zunächst, später dann auch Rücken und, mit nervös zitternden Händen, Hüfte und Bauch) umständlich zurechtzurücken. Wobei du jedes Mal um Erlaubnis fragtest, mit vor Aufregung ganz belegter Stimme. Das war das eigentlich Verräterische daran. Sonst hätte ich mir vielleicht gar nicht allzu viel dabei gedacht.

Das Kaffeetrinken vor der Stunde dauerte von Woche zu Woche länger und wurde auf nach der Stunde ausgeweitet. Geredet haben wir, atemlos, gespannt, als müssten wir binnen einer Stunde alles erfahren, was wir voneinander in dreieinhalb Jahren nicht unbedingt hatten wissen müssen. Regelrecht ausgefragt hast du mich; nichts gab es, was dich nicht interessierte. Warum David und ich nicht verheiratet waren. Ob ich ihn noch sehr vermisste. Und was ich gerne machen würde, wenn ich mal wieder ausgehen könnte.

Fotos von mir wolltest du angucken, auch alte, sogar die Babybilder, die dazwischen lagen, auf denen ich noch zerknautscht und speckig bis zur Unkenntlichkeit war. Spätestens, als du die Videos, in denen ich mich selbst beim Klavierspielen gefilmt habe, sehen wolltest, hätte es bei mir klingeln müssen. Wer schaut sich das schon freiwillig an. Zumal ich in diesen Videos kaum zu sehen bin. Nur zu hören. Genauer gesagt: mein dilettantisches Klavierspiel.

Nein. Ich kann mich nicht mit Unerfahrenheit herausreden. Ich bin nicht überrumpelt worden. Es war wohl eher so, dass ich nichts merken wollte. Verständlich wäre es ja. Dass man nach drei Jahren einfach zu ausgehungert ist, um noch die Reißleine zu ziehen, wenn sich jemand um einen bemüht, der einem gefällt.

Ich habe nicht gelogen, als du fragtest, wann ich mein letztes Date hatte. Vor drei Jahren war das. An dem Abend, bevor David sich mit dem Motorrad totgefahren hat. Seither war nichts. Gar nichts.

Ich habe dir angesehen, dass du überrascht warst. Das hattest du nicht erwartet. Drei Jahre kein Date. Und auch kein Sex, hast du verdutzt gefragt. Nein, auch kein Sex. Wie kann das nur sein, las ich in deinem Blick.

Tja, wie? Die ersten zwei Jahre wollte ich nicht und konnte ich nicht. Unvorstellbar, dass da jemand Davids Platz einnehmen sollte, am Tisch, im Bett, wo auch immer. Ich hätte mir damit nur wehgetan. Und diesem anderen Menschen auch.

Das dritte Jahr wollte ich dann schon allmählich wieder. Aber in meiner unmittelbaren Nähe gab es niemanden, der in Frage kam. Auch nicht auf den dritten oder vierten Blick. Und auf die Suche gehen … Ich hocke seit drei Jahren abends zu Hause und hüte das Kind. Wie die Henne auf den Eiern. Aber selbst wenn ich weg könnte ... Ein paar Mal hätte ich ja die Gelegenheit gehabt, als Antonia bei einer Freundin schlief, aber mir fehlte der Antrieb. Wohin hätte ich gehen sollen? Mich in Bars herumtreiben? Ich sah den Sinn darin nicht. Denn ich war sicher: Den Mann, den ich brauchte, würde ich nicht in einer Bar kennenlernen. Wozu also der ganze Aufwand. Mit Anfang zwanzig, ja, da war das okay, völlig okay sogar, dass man sich aufdonnerte, losging und die Leinen auswarf, um sich ein leckeres Fischlein zu fangen, für den Abend, für die Nacht, vielleicht auch für länger, man würde sehen, so etwas wie eine »langfristige Perspektive« interessierte mich damals noch nicht. Aber jetzt bin ich Mitte vierzig und habe ein Kind. Und alles, was mich interessiert, ist die langfristige Perspektive.

Nein, auch mit Online-Dating habe ich es nicht versucht. Ich weiß, ganz viele schwören darauf, irgendwie kennt jeder irgendjemanden, bei dem das funktioniert hat, aber ich glaube nicht an sowas. Das ist wie eine Ware im Katalog bestellen. Schon diese Parameter, die man festlegen muss. Alter, Gewicht, Größe von bis. Ausbildungsniveau nicht unter. Und in welche Ernährungskategorie falle ich als fünfundneunzigprozentiger Vegetarier eigentlich? Bei dieser Schubladensortiererei verliere ich sofort die Lust.

David hatte nie eine Uni von innen gesehen und wäre schon deswegen gnadenlos ausgesiebt worden. Downdating im Internet, das macht man einfach nicht. Wenn schon, denn schon. Ein ähnliches Bildungsniveau ist nun einmal einer der erfolgversprechendsten Faktoren überhaupt. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Den möchte ich sehen, der sich von diesem Druck freimacht.

Und letzten Endes geht es doch wieder nur nach dem Äußeren. Man guckt die Bilder an, und wenn die das Beuteschema ansprechen, schaut man weiter. Genau wie damals in der Disko. Visuelles Abchecken, bei Gefallen eine erste unverbindliche Kontaktaufnahme. Der Unterschied ist nur: In der Disko war schnelles Entweichen möglich, unter irgendeinem Vorwand, der es beiden ermöglicht, ihr Gesicht zu wahren, wenn sich beim ersten Drink an der Bar herausstellt, dass es so der Hit doch nicht ist. Bei der Online-Variante hingegen muss man gleich auf ein Date. Ein Blind Date noch dazu. Mit einer Checkliste im Kopf. Für mich das Gegenteil von Unbefangenheit. Wie soll so was funktionieren? Allein der Gedanke daran macht mich klaustrophobisch.

Einmal war ich ganz kurz in so einer Singlebörse angemeldet, zwei Stunden lang oder so. Mein Foto war noch nicht mal freigegeben, da hatte ich schon zehn Interessensbekundungen. Wahrscheinlich, weil ich lange Haare und schlank angegeben hatte. Es ging mir nur um Selbstbestätigung, das war mir nach diesen zwei Stunden klar. Ich wollte wissen, ob es noch Kandidaten geben würde, obwohl ich – wenn man nach den Diskussionen geht, die in einschlägigen Foren geführt werden, vor allem in denjenigen, die sich als »elitär« bezeichnen – nur noch für den hinterletzten Grabbeltisch tauge. Akademikerin im fünften Lebensjahrzehnt. Und das schlimmste: Alleinerziehend. Kein physisch und psychisch gesunder Mann, schrieb einer der elitären Diskussionsteilnehmer verächtlich, würde je etwas mit einer Alleinerziehenden anfangen. Nichts für ungut, aber so etwas habe er doch gar nicht nötig. Wenn er Kinder wolle, brauche er nur mit dem Finger schnippen, und unverbrauchte Frauen stünden Schlange.

Ich habe mein Profil dann gleich wieder gelöscht. Abgesehen davon, dass ich genug gesehen hatte: An den Bildschirmen da draußen sitzen schließlich Menschen. Die es wahrscheinlich nicht so großartig fänden, dafür missbraucht zu werden, Balsam auf mein Ego zu träufeln.

Ich würde nicht suchen, sondern warten müssen, bis jemand mich fand. Wie früher eben auch. Aber früher hatte es mehr Kandidaten gegeben; ich war da wohl noch nicht so anspruchsvoll gewesen, nicht so wie jetzt, seit David. Jetzt war ich wie Dornröschen in ihrem Schloss. In Schockstarre verfallen, seit dem Moment, in dem die Polizei bei mir vor der Tür gestanden und mir die Nachricht überbracht hatte. Von selbst, so kam es mir vor, würde ich nie mehr aufwachen können. Und ich glaubte schon nicht mehr daran, dass jemand unerschrocken genug sein würde, sich durch die lähmende Verzagtheit zu wühlen, die zwischen mir und der Männerwelt mittlerweile gewachsen war, wie die fatale Hecke im Märchen.

Du wusstest, wie das mit David und mir geendet hatte, und trotzdem hast du dich nicht abschrecken lassen. Du hattest keine Angst vor Vergleichen. Das hat mich zum ersten Mal wieder Hoffnung schöpfen lassen.

Du hattest gesagt, du würdest kommen, wenn irgendwas wäre, auch um drei Uhr nachts. Die Gelegenheit, dich beim Wort zu nehmen, kam ganz von selbst, wenn auch weit weniger dramatisch um halb zwei nachmittags. Ich war die Treppe runtergefallen, ein paar Stufen, und böse gelandet. Es war kein Vorwand, jedenfalls nicht nur. Mir war schon ganz schön schwummerig, als ich dich anrief. Der Schreck vor allem. Und mein Knöchel tat weh, sogar ganz ordentlich. Na ja, sicher, ich hätte mich schon noch selbst hochrappeln können, wenn es um mein Leben gegangen wäre. Aber du hattest in den letzten Wochen immer mal wieder herumgewitzelt: Wetten, dass ich dich einfach so hochheben kann.

Nun durftest du mal.

Ein bisschen malerisch hindrapiert hatte ich mich natürlich, im Rahmen meines Bewegungsradius eben, als du ankamst. Aber ich lag schon platt auf dem Boden. Trotzdem, du konntest es tatsächlich: mich einfach so hochheben. Du schienst selbst ein bisschen verdutzt. Kein Wunder; Bianca ist einen Kopf größer als ich, ziemlich barock gebaut und bestimmt fünfundzwanzig Kilo schwerer. Die hättest du wohl kaum so anlupfen können. Ich kam mir selbst gemein vor, weil ich das dachte. Aber ich konnte nicht anders.

Getragen hast du mich. Dabei hätte es ja gereicht, mich unter den Armen zu fassen, zu stützen und zur nächsten Sitzgelegenheit humpeln zu lassen. Aber nein, du hast darauf bestanden, partout. Und wenn es dir schwer fiel, hast du es dir nicht anmerken lassen. Nicht mal den kleinsten Schnaufer hast du von dir gegeben.

Du hast mich zum Sofa im Wohnzimmer geschleppt und mich auf das Sofa gebettet. Sehr romantisch eigentlich. Das, was danach folgte, war dann aber nicht mehr so märchenprinzmäßig. Sondern nur noch gierig. Prinzessinnenhaft sittsame Gegenwehr kam von mir allerdings auch nicht, keine Spur, da will ich mich nicht besser machen, als ich bin. So war das mit Dornröschen und ihrem Heckenüberwinder damals ganz sicher nicht.

Ich fiel noch einmal, wie überreifes Fallobst, da musstest du den Baum nicht mehr groß schütteln. Ein sanftes Antippen reichte. Vergessen war der lädierte, hühnereigroß angeschwollene Knöchel. Im Nachhinein ist es mir ein bisschen peinlich. Vielleicht war ich zu ungeniert. Und zu laut. Und zu rot im Gesicht. Also nicht gerade sehr anmutig.

Aber wenigstens war nichts davon gespielt.

Ich glaube nicht, dass ich dich jetzt noch anrufen würde. Und wenn ich mir sonstwas gebrochen hätte. Du würdest immer noch kommen, sicher. Aber nur noch widerstrebend. Und ich glaube, jetzt würdest du mich auf einem Bein zum Sofa humpeln lassen. Um dich dann – Pflicht getan – schnellstens zu empfehlen.

Nachdenken müsstest du, hast du gesagt, als du von meinem Sofa aufgestanden warst und deine Zigarette auf der Terrasse rauchen gingst. Aber mir scheint, die einzige, die das macht, bin mal wieder ich. Neulich habe irgendwo diesen Spruch gelesen: Dass Frauen mehr Zeit damit verbringen, darüber herumzugrübeln, was Männer denken könnten, als Männer in ihrem ganzen Leben überhaupt je denken. Damals fand ich das auch witzig, aber im Moment ist mir das Lachen vergangen. Denn ich grübele tatsächlich darüber herum, was du jetzt bloß wollen könntest. Meine Gedanken fahren Endlosrunden, mein armes Hirn ist schon ganz wund davon.

Und du, was machst du? Stürzt dich in die Arbeit. Um eben nicht denken zu müssen. Hast du neulich sogar noch selbst ganz nonchalant grinsend zugegeben. Da hätte ich dich am liebsten angeschrien und geschüttelt. Aber so funktioniert das nun mal nicht. Das lernt man spätestens, wenn man Kinder hat.

Immerhin, du scheinst es nicht darauf anzulegen, einfach die Pferde zu wechseln. Das spricht sehr für dich. Denn wie viele machen ja genau das, wenn der alte Zossen nicht mehr so spritzig läuft. Oft in vollem Galopp. Umso weicher die Landung in diesem Fall für den einen, umso brutaler wird sie für den anderen. Und dann gibt es natürlich noch die besonders abgebrühten Kunstreiter, die eigentlich immer mit beiden Beinen auf jeweils einem Gaul stehen. Aber das, hast du mir versichert, sei nie das gewesen, was du im Sinn hattest. Denn für so etwas sei ich viel zu schade.

Du meintest es auch so; das habe ich dir geglaubt. Aber was in aller Welt hattest du dann im Sinn?

Hattest du bloß Druck? Mal ganz primitiv gesagt? Das wäre bitter, denn das würde alles, was ich jemals über Männer zu wissen glaubte, auf den Kopf stellen. Oder, auch denkbar: Wolltest du nur mal sehen, wie das so ist, ein schlummerndes Dornröschen wachküssen? Dir beweisen, dass du es schaffst? Rein aus sportlichem Ehrgeiz? Wo drei Jahre lang alle anderen in der Hecke hängengeblieben sind?

Oder hast du dir rein gar nichts dabei gedacht? Einfach nur zugegriffen, wie ein Kind, das bei der ersten günstigen Gelegenheit die Keksdose plündert, um die es schon lange mit sehnsüchtigen Augen herumgestrichen ist, und in diesem Moment jeden Gedanken an mögliche Folgen entschlossen beiseiteschiebt?

Bei unserem Treffen vor zehn Tagen – der letzten Reitstunde, zu der wir uns noch mal verabredet hatten – warst du die ganze Zeit über in Habachtstellung. So angespannt warst du, ich hatte fast schon Mitleid mit dir. Ich warf eine kleine Anspielung hin – irgendwas über Tagträume, die mich seit neuestem immer wieder überfielen. Vor vier Wochen noch hättest du den Köder begierig aufgepickt. Jetzt machtest du einen großen, vorsichtigen Bogen darum, als ob ich dir irgendein bei Mondschein aus irgendwelchen zweifelhaften Ingredienzen zusammengemixtes Zauberpülverchen da hereingemischt haben könnte, das deine Gegenwehr ausschalten und dich willenlos machen würde. Nur noch Floskeln kamen von dir, die allerglattesten, an denen ich einfach abprallte. In meiner Ratlosigkeit versuchte ich, die verbale Armlänge Abstand zwischen uns durch eine – ja, ich gebe es zu, ziemlich verzweifelte – physische Annäherung zu überbrücken: Ich legte meine Hand auf deine.

Und du? Du zucktest zurück. Als hättest du aus Versehen den Zaun der Pferdekoppel angefasst, wenn Strom darauf steht.

Ich musste daran denken, dass du vor diesem bewussten Nachmittag deine Hände kaum noch bei dir behalten konntest. Ganz zu schweigen davon, wo du sie überall an diesem bewussten Nachmittag hattest. Entspann dich, Mann, hätte ich dir da am liebsten gesagt. Was glaubst du, was passiert, wenn du meine Hand nimmst? Dass wir dann übereinander herfallen, gleich hier, auf dem Fußboden in der Teeküche? Oder dass dich eine kleine Geste der Zuneigung zu irgendetwas verpflichtet?

Keine Angst. Wir modernen Dornröschen wollen nicht gleich geheiratet werden. Das einzige, was selbst wir nicht wollen, ist, behandelt zu werden wie ein One-Night-Stand, der einem am nächsten Morgen peinlich ist.

Dieses letzte Treffen vor zehn Tagen schmerzt bis heute nach. Darum verstoße ich jetzt gegen ein weiteres Guru-Gebot: Ich schreibe diesen Brief.

Eine Todsünde. Niemals einen Mann mit deinen wahren Gefühlen bedrängen. Vor allem nicht einen, der gerade auf dem Rückzug ist. Darin sind sie sich einig, diese selbsternannten Heilsbringer, es steht in den Klappentexten ihrer Bibeln, als Appetizer, mit dem sie ihre frustrierten, nach Erleuchtung hungernden Jüngerinnen einfangen.

Versuche nicht, Dinge zu klären. Nicht in diesem Stadium. Damit zerstörst du alles und verlierst deine Würde. Sei spielerisch, leicht, gelassen, locker. Zelebriere deine weibliche Kostbarkeit, egal was passiert, und lasse dich niemals von deiner Verlustangst oder deinem Schmerz über das, was er macht oder eben auch nicht macht, irritieren oder gar verletzen. Du stehst da drüber. Notfalls auch monatelang. Nein? Das schaffst du nicht? Es ist auch ganz, ganz schwer. Und manchmal kommen dir auch so gewisse Zweifel, ob sich die ganze Tortur wirklich lohnt. Oder ob er nicht doch einfach nur ein gedankenloser, infantiler Mistkerl ist, ohne den du besser dran wärst. Aber diesen Zweifeln solltest du nicht nachgeben. Er kann ja gar nichts dafür. Der Mann an sich ist nun mal so, er muss diese Unverbindlichkeitsphase durchlaufen, um sich überhaupt ernsthaft verlieben zu können. Und du musst ihn da sanft durchlotsen wie durch eine mit Untiefen gespickte Meerenge. Dein feminines, souveränes Selbst muss dein Kompass sein.

Aber wehe, der versagt. Ein Fehler von dir, und das Boot bekommt Schlagseite oder kentert gleich ganz. Hast du jetzt Angst bekommen? Das solltest du auch, denn diese Angst ist ja so berechtigt. Nur ganz, ganz wenige Frauen sind so talentierte Navigatorinnen, dass sie sich auf ihre Intuition blind verlassen können. Alle anderen brauchen professionelle Instruktion, glaub mir. Auch du. Denn schließlich willst doch nicht du diejenige sein, die dafür verantwortlich ist, dass die Liebe deines Lebens auf Grund läuft!

Aber mach dir keine Sorgen. Hier ist dein Rettungsring. Du brauchst nur danach zu greifen. Ein Mausklick, Kreditkartendaten eingeben, Männerbedienungsanleitung herunterladen. Und ihn aus der Hand fressen lassen.

Ich habe genug von diesem Quatsch. Endgültig. Früher hat es ja auch geklappt, oder nicht? Trotz all der vielen Fehler, die wir gemacht haben. Der Mann und ich. Und trotzdem haute es irgendwie hin. Ganz ohne Textvorlagen zum Auswendiglernen und sonstige Regieanweisungen. Und niemand wäre auf den Gedanken gekommen, Gedankenlosigkeit und Infantilität mit durch die männliche Bindungspsychologie bedingten »Rückzugsphasen« zu entschuldigen.

Meine Mutter sagte immer: Lauf keinem Mann hinterher, Kind. Das hast du gar nicht nötig. Sei einfach du selbst. Falsch und richtig gibt es nicht. Wenn es sein soll, wird es auch werden.

Danke, Mama. Du sagst es. In gerade mal fünf kurzen Sätzen.

Ich nehme mir jetzt die Freiheit, auf meine eigene, gänzlich ungescriptete Intuition zu hören. Und die sagt: Wenn du in mich verliebt bist, kann ich nichts verkehrt machen. Wenn nicht, auch nicht. Und eines weiß ich genau: Sobald dieser Brief versandt ist, werde ich auch wieder spielerisch, leicht, gelassen und locker sein können. Und nicht nur so tun als ob.

Mein lieber Prinz, mir ist letzten Endes alles recht. Wir können so tun, als wäre nichts gewesen, wenn es das ist, was du willst. Klar, es ist nicht gerade die feine Art, Eskapaden dieser Art mit Freunden abzuziehen. Aber ich würde darüber hinwegkommen. Schließlich habe ich dich ja sozusagen selbst in mein Schloss eingeladen. Wir modernen Dornröschen werden nicht im Schlaf überfallen. Wir können »nein« sagen. Und darum haben wir uns auch nicht zu beschweren, wenn der Prinz sich gleich wieder verdrückt, während wir uns noch den hundertjährigen Schlaf aus den Augen reiben.

Und was, wenn du dich doch fragst, ob ich dir wohl Einlass gewähren würde, wenn du ans Schlosstor klopfen kämst?

Ich werde mutig sein und ehrlich antworten. Denn dasselbe verlange ich ja auch gerade von dir, da kann ich jetzt nicht feige herumlavieren. Also klares Statement: Ja. Würde ich.

Okay, jetzt ist es raus. Und? Macht dir das die Sache nun leichter oder schwerer? Oder sowohl als auch?

Es ist wie in all diesen Märchen, in denen eine Prinzessin vorkommt. Sofort und bedingungslos kriegt man sie nicht. Erst gilt es, Prüfungen zu bestehen. Bei denen die Bewerber die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten unter Beweis stellen müssen. Oft geht es dabei um Leib und Leben. Zauderer bleiben auf der Strecke. Nur die wahrhaft Entschlossenen können die Prinzessin gewinnen.

Wahrhaft entschlossen, das musst du auch sein, sonst wirst du an den Prüfungen, die dich erwarten, scheitern. Und das wiederum kannst du nur sein, wenn du weißt, dass der Preis, den es zu gewinnen gibt, höher ist als der Preis, den du zu zahlen haben würdest. Schau dir dein Dornröschen darum genau an, jetzt, da sie wach ist. Dann wirst du irgendwann schon wissen, ob ihr Reiz nicht vor allem darin lag, dass sie so schön unerreichbar schien. Und selbst dann gibt es noch immer keine Garantie, dass sich all deine Mühen und Strapazen am Ende lohnen werden und du »das Richtige« getan hast. Nicht umsonst enden Märchen ja immer rechtzeitig. Traumhochzeit. Und – Klappe.

Nimm dir alle Zeit, die du brauchst, mein lieber Prinz. Du trägst das höhere Risiko. Denn du müsstest dein Leben, das du nach deiner Scheidung mühsam wieder in Ordnung gebracht hast, noch einmal komplett umkrempeln. Ich verstehe sehr gut, dass das Mut kostet, den man erstmal sammeln muss. Auch die Prinzen sind heutzutage keine unbeschriebenen Blätter mehr wie die Jünglinge der guten alten Märchenzeit, sie haben manche Schlacht geschlagen und auch so ihre Wunden davongetragen, und sie überlegen sehr genau, ob es sich lohnt, noch einmal in den Kampf zu ziehen. Das sehe ich ein. Darum kann ich warten. So gelassen, dass selbst der strengste Beziehungsdoktor nichts mehr zu nörgeln hätte.

Wenn du dich also mit dem Gedanken trägst, zu mir aufs Schloss zu ziehen, schlage ich vor, dass wir jetzt so etwas wie eine offizielle Kennlernphase einläuten. Ganz so mustergültig wie im Lehrbuch wird die nicht mehr sein können. Aber wir sollten uns um Ergebnisoffenheit bemühen.

Damit meine ich nicht, dass wir so tun sollten, als sei »nichts passiert«. Das wäre ja unaufrichtig. Und auch unrealistisch. Und ehrlich gesagt: Kleine Signale, die daran erinnern, dass sehr wohl »etwas passiert« ist, und in Aussicht stellen, dass irgendwann auch wieder mehr passieren könnte, würde ich schon zu schätzen wissen. Kompliziert ausgedrückt, ich weiß; ich könnte auch einfach sagen, dass gegen Händchenhalten nichts einzuwenden ist, wenn uns beiden danach ist. Aber ich denke, du verstehst schon, was ich meine. Nichts muss. Aber alles darf.

Mit einer Einschränkung: Aufs Sofa dürfen wir vorerst nicht mehr. Müssen wir aber ja auch gar nicht. Denn dass das bei uns gut passt, haben wir ja nun schon feststellen können. Jetzt sollten wir uns auf alles Übrige konzentrieren. Das schaffen wir, oder?

Und noch eine letzte Sache. Ganz egal, wie deine Entscheidung letztendlich ausfällt – du hast für mich schon jetzt viel mehr getan, als du selbst jemals ahnen könntest. Du hast dich beherzt zu mir durchgeschlagen und mich wachgeküsst, aus diesem Schlaf, von dem ich nicht sicher war, ob er jemals enden würde. Du warst genau das, was ich brauchte. Der rechte Mann am rechten Ort zur rechten Zeit. Allein dafür gebührt dir ein Tapferkeitsorden.

In diesem Sinne: Wir sehen uns … Mit anderen Augen.

Deine Carolina

Spür was Liebe mit uns macht

»Ich komme nach Deutschland, Katja.« Das ist das erste, was Saida hervorsprudelt. Atemlos vor Aufregung. Sie muss neben dem Telefon gewartet und gleich beim ersten Klingeln den Hörer hochgerissen haben. »Vorgestern habe ich die Zusage bekommen.«

Ich freue mich für sie, ich freue mich für mich selbst. Aber am stärksten ist das Gefühl der Genugtuung, das mich von Kopf bis Fuß wohlig warm durchrieselt.

»Wo wohnen die Leute?«, frage ich.

»In Dannenberg«, sagt sie. »Weißt du, wo das ist? Ich habe schon auf der Karte nachgeschaut. Das ist ein ganz kleiner Ort, oder?«

Ich weiß, wo Dannenberg ist, in der Tat. Aber auch nur, weil ich früher ein paar Mal mit meinen Großeltern dort in den Ferien war. Es liegt im östlichsten Landkreis von Niedersachsen, in der Nähe der ehemaligen Zonengrenze. Ein strukturschwaches, stark agrarisch geprägtes und sehr dünn besiedeltes Gebiet. Als Drei- und Vierjährige fand ich es toll, an der Elbe am Strand Dämme zu bauen und zu sehen, ob sie den großen Wellen standhielten, die die Boote des DDR-Grenzschutzes machten.

»Schon«, sage ich munter. »Aber es ist nicht so weit von Hamburg entfernt.« »Weit« ist natürlich relativ. »Und es gibt viel Natur da draußen.« Wenn es auch sonst fast nichts gibt. Aber mir scheint, alles muss besser sein als die Tristesse des russischen Kleinstädtchens in der Nähe von Kaliningrad, in dem sie, wie sie mir gesagt hatte, noch den Verstand verlieren würde.

»Ich bin hier lebendig begraben, Katja«, hatte sie unter Tränen beteuert, als ich vor einem halben Jahr noch einmal zu Besuch war. Niemals würde sie eine Arbeit finden, von der sie sich eine eigene Wohnung leisten könne. All die guten Jobs liefen über Beziehungen. Oder Bestechung, zu der ihrer Familie aber das Geld fehle. Sie würde heiraten müssen, möglichst bald. Ihre Mutter beginne schon zu drängen. Mit Mitte zwanzig werde es langsam Zeit, hatte sie gemahnt, sonst sei der Markt leergefegt. Außerdem werde ihr Zimmer zu Hause benötigt, für ihre Oma, die nicht mehr alleine zurechtkomme und bald zu ihnen würde ziehen müssen.

Damals hatte ich Saida versprochen, eine Möglichkeit zu finden, wie sie nach Deutschland kommen könne. Und dann war mir die Idee mit der Au-pair-Stelle gekommen.

Ich habe mein Versprechen gehalten. Anfang August, in sechs Wochen, kann sie anfangen.

»Danke schön, Katja«, flüstert sie in den Hörer. »Ich liebe dich.«