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Über 300 Menschen wurden nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland durch rechtsmotivierte Gewalttäter gejagt, verfolgt, verprügelt, gefoltert, misshandelt und getötet. Zu Opfern wurden die ermordeten Menschen – Jüd*innen, People of Color, Sinti*ze und Rom*nja, Punks, Obdachlose, Antifas – einzig und allein aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens, ihrer Religion, ihrer Lebensweise oder ihres politischen Engagements. Kein Vergessen ist die erste vollständige Dokumentation bekanntgewordener tödlicher Gewalttaten durch Rechte in Deutschland nach 1945. Jede einzelne Falldarstellung enthält neben der Beschreibung des Tathergangs auch Informationen zur juristischen Strafverfolgung, zur Täterstruktur und zu den Tatmotiven. Ergänzt wird sie jeweils durch ein illustriertes Porträt des Opfers. Das Buch will nicht nur der Opfer gedenken, sondern auch auf die unvermindert drohende Gefahr durch rechte Gewalt aufmerksam machen. Der Autor erklärt daher einleitend, was genau rechte Gewalt ist und wie sie sich von anderen Gewaltverbrechen abgrenzen lässt. Tatmotive wie Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus oder auch Sozialdarwinismus werden erläutert und Statistiken zu Gewaltverbrechen aufgeführt.
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Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2022
Thomas Billstein
Kein Vergessen
Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Thomas Billstein:
Kein Vergessen
1. Auflage, Oktober 2020
eBook UNRAST Verlag, Juni 2022
ISBN 978-3-95405-078-9
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung
sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
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Umschlag: moteus, Berlin
Satz: David Hellgermann, Münster
Vorwort
Todesopfer rechter Gewalt – Eine in vielerlei Hinsicht schwierige Definition
Rechtsextreme Ideologie und rechtsextreme Gewalt
Die Täter*innen und ihre Tatmotive
Statistiken zu den Todesopfern rechter Gewalt, Tatmotive und Täter*innen
Dokumentation der Todesopfer rechter Gewalt
Todesopfer innerhalb des rechtsextremen Milieus
Weitere Fälle mit Anfangsverdacht oder Hinweisen auf ein mögliches rechtes Tatmotiv
Zahlreiche Fälle mit Anfangsverdacht bei tödlicher Gewalt durch Polizei und Behörden
Todesfälle bei denen sich Verdachtsmomente nicht bestätigt haben
Gegenwärtige Entwicklung
Opfereinrichtungen und Initiativen
Opferverzeichnis
Anmerkungen
In Deutschland werden gerne Listen geführt, Statistiken ausgewertet und Publikationen geschrieben. Auch eine Gedenkkultur ist im öffentlichen Raum durchaus präsent, denken wir beispielsweise an die zahlreichen Veranstaltungen zum Gedenken an die Verstorbenen der Weltkriege oder Opfer an der ehemaligen innerdeutschen Grenze.
Anders bei Todesopfern rechtsmotivierter Gewalt. Öffentliche Trauerkundgebungen oder gar Gedenken durch staatliche Einrichtungen oder Institutionen finden kaum statt. Schlimmer noch: viele Opfer werden gar nicht oder erst nach Jahren als Opfer rechter Gewalt anerkannt. Offizielle Statistiken zu Tathergängen, Tatmotiven und Tatorten gibt die Bundesregierung nur in unregelmäßigen Abständen heraus und oftmals nur nach expliziter Nachfrage durch einzelne Bundestagsabgeordnete. Hinzu kommt eine starke Ungenauigkeit in der Datenerhebung. Manche Todesfälle werden erst nach Jahren in die Statistik aufgenommen, andere verschwinden plötzlich wieder in der Aufstellung. In den staatlichen Statistiken werden viele Fälle nicht berücksichtigt, die von Forscher*innen und Opferverbänden eindeutig als Opfer rechter Gewalt kategorisiert werden. Die Zahlen der Bundesregierung sind daher bestenfalls als lückenhaft zu bezeichnen.
Bei genauerer Betrachtung festigt sich der Eindruck, dass rechte Gewalt auch heute noch verschwiegen werden soll. Das Land, das für den faschistischen Terror und den Holocaust Verantwortung trägt, bekundet nur allzu oft, aus dem grausamen Kapitel der Geschichte gelernt zu haben. Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus – viele möchten diese und andere Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in die Geschichtsbücher verbannen und erkennen nicht an, dass dies auch heute noch Tatmotive sind, die immer wieder Todesopfer fordern. Bevorzugt wird bei rassistischen Übergriffen und Attentaten in der jüngeren Geschichte vom verwirrten und fehlgeleiteten Einzeltäter gesprochen.
Die lange Liste der Todesopfer in diesem Buch ist im Verhältnis zur tagtäglichen rechten Gewalt in der deutschen Gesellschaft nur die Spitze des Eisbergs. Im Durchschnitt gab es in den letzten Jahren kontinuierlich über 20.000 rechtsmotivierte Straftaten pro Jahr[1] und dies betrifft, wie bei Kriminalitätsstatistiken üblich, nur die polizeilich gemeldeten und erfassten Fälle. In den Jahren 2018/2019 wurden neben anderen rechten Gewalttaten fast täglich Anschläge von Rechtsextremen auf Unterkünfte für Geflüchtete verzeichnet.
Etwa seit dem Jahr 2015 ist in Deutschland ein Rechtsruck und eine breite Enttabuisierung von rechten bis faschistischen Positionen zu erkennen. Nazis sitzen mittlerweile nicht nur in fast allen Kommunal- und Landesparlamenten, sondern auch mit einem zweistelligen Ergebnis im Bundestag. Hetzparolen, die früher fast ausschließlich von extremen Kleinparteien wie NPD und DVU kamen, finden sich zunehmend im öffentlichen Raum wieder. Rassistische Gruppen mobilisieren zu Aufmärschen problemlos mehrere tausend Menschen, vollführen Schulterschlüsse über ideologische und parteipolitische Grenzen hinweg. Und während zur besten Sendezeit in zahlreichen Talkshows der rechte Flügel der AfD ungehindert zu Wort kommen kann, wird selbst in linksliberalen Wochenzeitungen debattiert, ob weiterhin Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden sollen, oder ob »man es lassen soll«.[2]
Angesichts des stärker werdenden rechten Klimas im Land, verwundert es fast, dass es in den letzten Jahren keine neuen Höchstwerte an Todesopfern rechter Gewalt gegeben hat. Hier sind die frühen 1990er-Jahre weiterhin trauriger Spitzenreiter in der Statistik. Diese Zeit war geprägt von Pogromen, dem Straßenterror rechter Gruppen sowie fast unzähliger Brandanschläge auf Einrichtungen von Geflüchteten und Menschen mit Migrationsgeschichte. Mölln und Solingen, aber auch Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen wurden zu Tiefpunkten in der jüngeren deutschen Geschichte und werden auch vielen jüngeren Menschen ein Begriff sein. Dennoch hat sich die Anzahl der Todesopfer in den letzten fünf Jahren verdreifacht, wenn sie mit den fünf Jahren davor verglichen wird. Dies liegt vor allem an den beiden rassistisch motivierten Mehrfachmorden von 2016 in München und 2020 in Hanau.
Todesopfer rechter Gewalt werden von staatlicher Seite oft nicht als solche anerkannt und so wird ihnen als solchen auch selten gedacht. In der Regel sind es lokale, meist ehrenamtliche und antifaschistische Initiativen, die Gedenkveranstaltungen durchführen und über Biografien der Opfer, Tathergänge und rechte Strukturen vor Ort und aufklären. Dass diese Daten detaillierter vorliegen, ist neben lokalen Opferverbänden und Beratungsstellen meist einigen wenigen Journalist*innen zu verdanken, die sich des Themas angenommen und über einen langen Zeitraum recherchiert haben.
Als mir vor einigen Jahren aufgefallen ist, wie wenig über Opfer rechtsmotivierter Gewalt bekannt ist und wie geringfügig ihnen gedacht wird, habe ich einen virtuellen Gedenkkalender als Social Media Projekt bei Twitter und Facebook gestartet. Erfreulicherweise war das Interesse recht groß und es dauerte nicht allzu lange, bis zehntausend Abonnent*innen den Kanälen gefolgt sind. Immer wieder stellte sich heraus, dass viele Menschen von den Schicksalen der Getöteten nichts gehört hatten und das vor allem die hohe Anzahl der Todesopfer sie sehr überraschte. Letztlich tritt durch die Taten auch die mörderische Konsequenz eines rechten Weltbildes zu Tage, das auf Ausgrenzung, Hass und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit basiert.
So fasste ich den Entschluss, die Dokumentation der vielen Todesopfer rechter Gewalt auch in gedruckter Form zugänglich zu machen. Als Mahnung über das Geschehene, aber auch im Sinne der Erinnerung und Ehrung für die einzelnen Menschen, die ihr Leben so sinnlos verloren haben.
Für den Hauptteil des Buches, der aus den einzelnen Opferbiografien und Tathergängen besteht, habe ich die jeweiligen aufgeführten Quellen von Journalist*innen, Lokalzeitungen, Opferverbänden und antifaschistischen Gruppen genutzt. Zudem habe ich bei einigen Fällen Angehörige und Zeug*innen kontaktiert, was sich allerdings oftmals angesichts der zurückliegenden Zeit als schwieriges Unterfangen herausstellte. Sollte es Angehörige oder Freunde von Opfern geben, die Biografien und Tatbeschreibungen ergänzen möchten, würde ich mich über eine Kontaktaufnahme freuen. Die Informationen können dann in einer eventuellen nächsten Auflage berücksichtigt werden. Dies betrifft insbesondere auch die Bild-Illustrationen, die von moteus angefertigt wurden. Leider ist es bei Weitem nicht gelungen, ein Foto von jedem Opfer ausfindig zu machen.
Die größte Hoffnung für zukünftige Auflagen des Buches ist schnell formuliert und dennoch schwer zu erreichen: Auf dass nie wieder weitere Todesopfer rechter Gewalt hinzugefügt werden müssen.
Thomas Billstein
Beginnt man mit der Recherche zu den Opferzahlen rechter Gewalt, fallen sogleich unterschiedliche Zählweisen und Datenlagen auf. Die offiziellen Zahlen, die die Bundesregierung letztmalig im Juni 2018 auf Anfrage der Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau mitteilte, sind auf einem erstaunlich niedrigen Stand. Damals wurden 76 Tötungsdelikte mit 83 Todesopfern rechter Gewalt seit 1990 aufgeführt.[3] Auffällig ist bei dieser behördlichen Erfassung ein recht hoher Korrekturfaktor. So wurden auf der Liste acht neue Opferfälle ergänzt, welche nicht auf der vorherigen, im Jahr 2015 ausgegeben Liste, mit aufgeführt waren, obwohl diese Gewaltverbrechen bereits viele Jahre zurücklagen und eine rechte Tatmotivation bekannt war. Andere Fälle, wie beispielsweise ein namentlich unbekannter Obdachloser, der 1993 in Marl nach massiver Gewalteinwirkung verstarb, wurde in früheren Statistiken der Bundesregierung als Opfer genannt, verschwand zwischenzeitlich aus den Aufzählungen und wurde plötzlich, nach etlichen Jahren, wieder aufgeführt.[4] Auf Nachfrage teilte mir der Pressesprecher des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat im Mai 2020 mit, dass seit 1990 nun 106 Todesopfer rechter Gewalt von offizieller Seite gezählt werden. Noch vor dem Terroranschlag von Hanau hatte das bayrische Landeskriminalamt, die 2016 in München durch einen rassistisch motivierten Amoklauf Ermordeten, nachträglich als Straftat der PMK-rechts[5] eingestuft. Außer der Mutter des Täters, wurden zudem alle Ermordeten des rassistischen Anschlags von Hanau, als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.
Demgegenüber haben antifaschistische Initiativen und Opferberatungsstellen eigene Aufstellungen veröffentlicht. Stellvertretend sei hier die Amadeu Antonio Stiftung genannt. Sie wurde 1998 gegründet und arbeitet mit rund 30 Mitarbeiter*innen zu den Themenschwerpunkten Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Die Stiftung, die auch vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird, zählt 208 Fälle von Todesopfern rechter Gewalt seit 1990[6] und dreizehn Verdachtsfälle. Das sind gegenüber der Zählung der Bundesregierung mehr als doppelt so viele Personen. Zu einem sehr ähnlichen Ergebnis kommen unabhängige Journalist*innen die für eine umfangreiche Recherche der Medien Tagesspiegel und Zeit online diverse Daten überprüft haben. Sie veröffentlichten im September 2018 ihre Ergebnisse und kamen auf 169 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 und zählten zusätzlich 61 Verdachtsfälle, bei denen es zumindest deutliche Indizien für ein rechtes Motiv der Tat gibt.
Allerdings ist bei allen erwähnten Zählvarianten zu berücksichtigen, dass Todesopfer erst seit 1990, dem Jahr der Wiedervereinigung, in die Statistiken einfließen. Dies liegt nicht nur am sprunghaften Anstieg rechter Gewalt seit der Wende, sondern auch daran, dass die Bundesregierung selbst erst seit 1990 die entsprechenden Daten erhebt. Dieses Vorgehen ist aber irritierend und verschleiert, dass auch in den Jahrzehnten zuvor, sowohl in der BRD als auch in der DDR, rechte Gewalt stattfand und zu Dutzenden Todesopfern führte, welche somit in keiner der oben erwähnten Statistiken erscheinen.
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Erfassungspraxis von Todesopfern rechter Gewalt durch staatliche Stellen als zurückhaltend und fehlerbehaftet bezeichnet werden kann, auch wenn die Innenministerkonferenz im Jahr 2001 ein neues Erfassungssystem auf den Weg brachte[7], um präzisere Daten bei politisch motivierten Straftaten zu erhalten.
Doch wie kommt es dazu, dass nach offizieller, staatlicher Lesart wesentlich weniger Todesfälle erfasst werden? Zunächst spielt hier die zeitliche Komponente eine Rolle. Viele Todesfälle stammen aus den 1990er-Jahren, damals gab es noch ein veraltetes Erfassungssystem für rechte Gewalttaten, welches erst 2001 abgelöst wurde. Dementsprechend wurden in diesem Zeitraum nur besonders prägnante und bekannte Fälle in die Listen der Bundesregierung übertragen.
Aber auch im aktuellen Meldesystem gibt es deutliche Schwachstellen. Durch den Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität (KPMD-PMK) werden einerseits klassische Staatsschutzdelikte, wie beispielsweise Schmierereien mit verfassungsfeindlichen Parolen erfasst, aber auch allgemeine Straftaten, bei der die Umstände der Tat Anhaltspunkte für eine rechtsextreme Motivation bieten oder es Hinweise auf ein politisches Motiv der tatverdächtigen Person gibt. Diese Punkte sollen dann im Regelfall durch die vor Ort ermittelnden Polizeibeamt*innen erkannt und in das Meldesystem PMK eingetragen werden.
Im Gegensatz zur klassischen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), die sozusagen als Ausgangsstatistik geführt wird, ist die PMK-Statistik eine Eingangsstatistik. Das bedeutet, dass die statistische Erfassung der Tat unmittelbar nach ihrem Bekanntwerden bei der Polizei erfolgen soll. In dieser anfänglichen Stufe ist eine rechte Tatmotivation allerdings oftmals noch nicht zweifelsfrei ersichtlich. Eine später erfolgende Erkenntnis kann im PMK-System zwar innerhalb eines Jahres nachgetragen werden, davon wird allerdings nur selten Gebrauch gemacht, das birgt die Gefahr, dass Straftaten mit rechtem Hintergrund nicht korrekt erfasst werden. Die Richtlinien für die Anwendung des PMK-Systems und auch die Definitionen für politisch motivierte Straftaten sowie die Kriterien für die Anwendung dieser Definitionen und Richtlinien bei der Untersuchung dieser Delikte unterliegen der Geheimhaltung und sind somit der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Auch Opferberatungsstellen und antirassistische Initiativen haben bislang keine Einsicht erhalten.
Als anschauliches Negativbeispiel im Hinblick auf Erfassung der Straftaten im PMK-System fungieren die Morde der Terrorvereinigung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Da die Ermittlungsbehörden die zahlreichen Anschläge der Terrorgruppe über Jahre hinweg falsch zuordneten und keine rechtsextreme Tatmotivation erkannt haben, wurden die Verbrechen nicht korrekt in der Statistik erfasst. Stattdessen wurden sie dem Bereich ›Organisierte Kriminalität‹ zugeordnet. Nach der Enttarnung des NSU, war es zeitlich nicht mehr möglich, die Einordnung zu korrigieren. Die Bundesregierung erfasste die Mordopfer des NSU zwar ab 2012 in ihrer Liste der Todesopfer rechter Gewalt, aber die Zuordnung im PMK-System ist weiterhin falsch.[8]
Amnesty International veröffentlichte 2016 einen Bericht, für den sie 48 zivilgesellschaftliche Organisationen interviewten. Ein Ergebnis war, dass fast alle der 48 Organisationen ernsthafte Bedenken zur Einstufung von rassistisch motivierten Straftaten durch die Polizei hatten. Die Beratungsstelle für Opfer rassistischer Gewalt bemängelte im Gespräch mit Amnesty International besonders zwei Punkte, nämlich mangelnde Sorgfalt seitens der Beamt*innen und eine oftmals falsche Einstufung rassistisch motivierter Straftaten als gewöhnliche Straftatdelikte.[9] Die meisten zivilgesellschaftlichen Verbände, mit denen Amnesty International sprach, erklärten, dass politisch motivierte Kriminalität in quasi allen offiziellen Statistiken unterschätzt wird. Als mögliche Gründe nannten sie u.a. die mangelnde Kompetenz der Polizei, rassistische Straftaten anhand eines recht komplexen Prozederes wie dem PMK-System richtig zu erfassen und zu untersuchen. Zusätzlich wird eine mangelnde Sensibilität für Diskriminierung bei den Behörden benannt. Des Weiteren wird bei der Erfassungspraxis durch das PMK-System die Opferperspektive vernachlässigt. Die Hintergründe und Beobachtungen, die durch Angehörige und Zeug*innen gemacht werden und die letztlich für eine abschließende Gesamtbewertung notwendig sind, werden nicht berücksichtigt. So vergeht oftmals ein langer Zeitraum, bis eine ausreichende Bewertung und Einschätzung der Tat möglich ist.
Als letzten, aber nicht unwesentlichen Kritikpunkt am staatlichen Meldesystem, muss die nicht ausreichende Kategorisierung und Bewertung aller Tatmotive aufgeführt werden. Denn die Eingangserfassung betrachtet nur Fälle, bei denen die rechte Motivation Auslöser der Tat war.[10] Eine auf den ersten Blick unauffällige Gewalttat, bei der aber eine stark tatbegleitende und eskalierende Motivation durch ein rechtsextremes Menschenbild zugrunde liegt, wird meist nicht in der PMK-Statistik berücksichtigt. Eine Gewalttat, bei dem ein rechter Täter beispielsweise einen Diebstahl begeht und sich dann für diese Tat bewusst einen Schwarzen Menschen als Opfer herausgesucht hat, weil dieser in den Augen des Täters ›ein unwertes Dasein‹ führt, wäre solch ein Beispiel.
Es ist festzustellen, dass die behördliche Zählung, welche zum Teil auf veralteten und fehlerbehafteten Bewertungssystemen beruht, kein objektiver oder gar wissenschaftlicher Maßstab ist. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Opferzahlen, sondern prinzipiell auch für die Zählung der rechtsmotivierten Straf- und Gewalttaten, da hier ebenfalls das PMK-System verwendet wird. Trotzdem wird im Buch, auch mangels Alternativen, gelegentlich auf diese offiziellen Daten zurückgegriffen. Für den Hauptteil des Buches, die Dokumentation und Auflistung der einzelnen Todesopfer, wurden hingegen alle verfügbaren Quellen herangezogen. Neben Veröffentlichungen aus regionalen Medien müssen diesbezüglich als Quellen vor allem antifaschistische Gruppen und Strukturen genannt werden sowie Recherchen der Opferberatungsstellen. Besonderer Dank gebührt auch der Recherchegruppe um Frank Jansen, Heike Kleffner, Johannes Radke und Toralf Staud. Die Journalist*innen haben für ein Gemeinschaftsprojekt von Tagesspiegel und Zeit Online die Namen der Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 zusammengetragen und kategorisiert.[11]
Was ist rechtsextreme Gewalt? Rechtsextreme Gewalt resultiert aus einem ideologischen Weltbild des Täters, das unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann, aber stets auf den folgenden Elementen basiert: Abwertung und Ausgrenzung anderer Menschen, bei gleichzeitiger Hervorhebung einer eigenen, vermeintlichen, bzw. konstruierten ›Rasse‹[12]. Sexismus, womit die Diskriminierung von Frauen und anderen nicht-männlichen Geschlechtern und nicht-heterosexuellen Geschlechtsidentitäten gemeint ist. Nationalismus als Denkweise durch welche die eigene Nation als besser und höherwertig erachtet wird. Daneben gibt es noch besondere Formen der Ausgrenzung wie etwa Antisemitismus, als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden, der sich von Rassismus unterscheidet, indem er jüdische Menschen nicht nur abwertet, sondern ihnen auch wahnhaft vorwirft für alles Übel in der Welt verantwortlich zu sein. Weitere Punkte finden sich in der Kategorisierung der Tatmotive zu den Opfern rechter Gewalt. Eingerahmt wird ein rechtsextremes Weltbild meist vom Autoritarismus, dem die Bereitschaft zu Grunde liegt, sich einem Stärkeren, einem Führer oder hierarchischen Strukturen zu unterwerfen.
Diese Punkte machen rechtsextreme Gewalt zu einer besonderen Form von Gewalt, die eben nicht mit regulären Straftaten verglichen werden kann, weil sie auf ideologischen Annahmen beruht. Ausschlaggebend für die Tat ist Hass auf (vermeintliche) Andersartigkeit, welche den Täter antreibt.
Reguläre, also nicht ideologisch motivierte Straftaten, so schlimm sie auch für die Betroffenen oder Angehörige sein mögen, lassen sich nicht durch Herkunft der Täter*innen oder gar an deren Hautfarbe messen, dies belegen statistische Auswertungen und Forschungsergebnisse.[13] Ohne detailliert auf den komplexen Bereich der Kriminalitätsforschung eingehen zu wollen, sollen kurz ausschlaggebende Faktoren für eine erhöhte Kriminalität genannt werden: sozialer Status, Lebensperspektive, Alter, Geschlecht, Wohnverhältnisse … Werden diese Sozialprofile im Hinblick auf Kriminalität und Herkunft verglichen, stellt sich heraus, dass Migrant*innen nicht stärker kriminell sind als Deutsche, im Gegenteil, Arbeitsmigration hat interessanterweise sogar eine höhere Gesetzestreue zur Folge.[14]
Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, das rechte Gewalt niemals in Relation mit regulärer Gewaltkriminalität gesetzt werden kann. Während letztere in jeder Gesellschaft und Kultur vorkommt und überwiegend soziale Ursachen hat, liegt bei rechter Gewalt ein ideologisches Weltbild zugrunde, das auf Ausgrenzung, Abwertung, Hass und Nationalismus beruht.
Viele Täter*innen rechter Gewalt eint ein menschenfeindliches und geschlossenes rechtes Weltbild, andere wiederum sehen sich selber nicht als Rechtsextremist*innen, haben aber trotzdem Teile dieser menschenverachtenden Ideologie verinnerlicht. In ihren Gewalttaten kommen historisch gewachsene und gesellschaftlich oftmals weit verbreitete Ausgrenzungsmuster zum Ausdruck. Was alle Taten gemeinsam haben, ist, dass sie sich nicht wahllos oder blind gegen alle Menschen richten. Stattdessen stehen ausgewählte Gruppen von Menschen im Fokus.
Im Wesentlichen lassen sich die Tatmotive in folgende Kategorien der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit eingrenzen.
Als Rassismus wird eine oftmals ideologische Gesinnung bezeichnet, die aufgrund einiger äußerlicher und kultureller Merkmale Menschengruppen bevorzugt oder abwertet. Zu diesen Merkmalen gehören beispielsweise Hautfarbe oder Sprache. Rassismus lässt sich in verschiedene Teilbereiche abgrenzen. Dazu gehören z.B. Anti-Schwarzer-Rassismus, der bereits tiefe, kolonialistische Wurzeln hat und sich gegen Schwarze Menschen richtet; Anti-Asiatischer Rassismus zielt gegen Menschen denen eine asiatische Herkunft zugeschrieben wird. Hier kam es beispielsweise im Rahmen der COVID-19-Pandemie zu einer Steigerung von Übergriffen. Antislawismus ist eine Form des Rassismus, die gegen Menschen aus den slawischen Staaten in (Süd-)Osteuropa gerichtet ist. Aufgrund des antislawischen Rassismus wurden beispielsweise rund um die EU-Osterweiterung 2004, viele Menschen mit (vermuteter) polnischer Herkunft Ziel von rechter Gewalt. In den vergangenen Jahrzehnten war anstelle von Rassismus, oft von den Begriffen ›Ausländerfeindlichkeit‹ oder ›Fremdenfeindlichkeit‹ zu lesen. Allerdings sind diese Zuschreibungen ungenau. Beispielsweise können Menschen ausländisch oder fremd sein, aber gleichzeitig nicht von rassistischer Stigmatisierung betroffen sein, weil sie weiß sind. Anderseits sind viele nichtweiße Menschen in Deutschland geboren und somit nicht fremd, werden aber dennoch Angriffsziel rassistischer Ausgrenzung. Da diese Begriffe somit wissenschaftlich ungenau sind, werden sie im Buch meist nur als Zitat genutzt.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass rassistische Täter*innen in Deutschland ihre (vermeintliche) kulturelle Identität aber vor allem ihre eigenen äußerlichen Merkmale als höherwertiger und besser ansehen. Menschen, die davon abweichen sind dementsprechend weniger wert oder werden mit abwertenden Kategorien stigmatisiert.Wissenschaftlich ist dementgegen schon lange belegt, dass es keine unterschiedlichen Rassen von Menschen gibt.[15] Körperliche und äußerliche Merkmale lassen niemals auf soziale Eigenschaften oder Fähigkeiten schließen.
Unter Sexismus wird ein benachteiligendes und diskriminierendes Verhalten aufgrund des Geschlechts verstanden. Grundlage von Sexismus sind sozial geteilte, implizite Geschlechtertheorien bzw. Geschlechtsvorurteile, die von einem ungleichen sozialen Status von Frauen und Männern ausgehen und sich in Geschlechterstereotypen, Affekten und Verhaltensweisen zeigen.[16]
Unter Homofeindlichkeit werden Angriffe auf nicht-heterosexuelle Menschen erfasst. Vom heteronormativen Rollenbild abweichende Formen der Sexualität werden von Menschen mit rechter Einstellung oftmals nicht akzeptiert und als unnatürlich und verachtenswert angesehen. Neben Angriffen aufgrund der sexuellen Orientierung gegen Schwule und Lesben gibt es auch Angriffe aufgrund der sexuellen Identität, etwa gegen Trans*Personen und andere.
Mit dem Oberbegriff Misogynie wird die Abwertung von Frauen bezeichnet. Eine rechtsextreme Einstellung geht untrennbar mit einem benachteiligenden Rollenbild der Frau einher. Dieses ist unterschiedlich stark ausgeprägt und führt in der stärksten Form zu tödlicher Gewalt gegen Frauen, zum Femizid. Unter den Todesopfern rechter Gewalt sind mehrere Frauen, bei denen Täter misogyne Motive hatten. Andere, wie beispielsweise Stephan B., der Täter des Doppelmordes von Halle, töteten nicht direkt aus frauenfeindlichen Motiven, haben aber einen extremen Hass gegen Frauen verinnerlicht. So hörte Stephan B. während der Tat ein Lied das einen misogynen Mehrfachmord glorifizierte. In den letzten Jahren hat sich eine Selbstbezeichnung für extrem frauenfeindliche junge Männer entwickelt. Die sogenannten ›Incel‹[17] sehen sich als Opfer moderner, selbstbestimmter Frauen, aufgrund derer sie angeblich keine romantische Beziehung und keine Sexualität zugestanden bekommen. Ideologische Verbindungen zwischen rechten Männern und Incel‹s wurden in den letzten Jahren zunehmend beobachtet.
Der Antisemitismus ist eine besondere Form der Ausgrenzung und richtet sich gegen Menschen jüdischen Glaubens, bzw. jüdischer Herkunft. Ähnlich wie Rassismus wertet der Antisemitismus eine Gruppe von Menschen ab. Darüber hinaus wird das Judentum aber auch als besonders bösartige und einflussreiche Gruppe dämonisiert, die angeblich das Schicksal der Welt steuert. Weitere Formen des Antisemitismus sind beispielsweise das kollektive Verantwortlichmachen von Jüd*innen für Handlungen des Staates Israel sowie die Leugnung des Holocausts.
Auch der Antiziganismus ist eine spezielle Form der Ausgrenzung. Er richtet sich gegen die Minderheit der Sinti*ze und Rom*nja, Jenischen und anderen Gruppen die von weiten Teilen der Öffentlichkeit immer noch stigmatisierend als ›Zigeuner‹ tituliert werden. Antiziganismus umfasst ein großes Spektrum an diskriminierenden Äußerungen und Handlungsweisen, darunter halten sich neben vielen offenen Vorurteilen (schmutzig, faul, ungebildet) auch viele versteckte und sogar romantisierend-stigmatisierende Zuschreibungen (musikalisch, abenteuerlich). Der Antiziganismus führte in der Vergangenheit zum Völkermord durch die Nationalsozialisten und bis heute zu zahlreichen mörderischen Pogromen gegen Sinti*ze, Roma*nja und andere Gruppen.
Beim antimuslimischen Rassismus ist der Hass gegen die religiöse Einstellung der Opfergruppe das entscheidende Merkmal. Bei der Feindseligkeit gegenüber muslimischen Menschen sowie deren kategorische Abwertung und Benachteiligung, greifen die Täter*innen Menschen oftmals aufgrund äußerer Merkmale wie Kleidungsstücke (Kopftuch, Gebetskleidung) an. Auch Moscheen und andere Orte an denen Muslime*a vermutet werden, werden Ziele dieser gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit.
Ein rechtsextremes Weltbild zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass in höherwertige und minderwertige Menschen unterschieden wird. Beispielsweise werden obdachlose oder erwerbslose Menschen von rechten Täter*innen als arbeitsscheu oder asozial diffamiert. Die Abwertung von Menschen, die am Rand der bürgerlichen Gesellschaft stehen kann dabei unterschiedlich ausfallen. Angefangen bei einer Abneigung gegen Menschen, die den Vorstellungen von einem ›geregelten bürgerlichen Dasein‹ nicht entsprechen, bis hin zum Wunsch Obdachlose zu ermorden, wie dies im Nationalsozialismus geschehen ist.
Zahlreiche Taten rechter Gewalt werden gegen politische Gegner*innen ausgeführt. Dabei muss die Definition recht breit gefasst werden. Oftmals reicht allein das Bekenntnis zu einer nicht rechten Subkultur, um zu einer Angriffsfläche von Nazis zu werden. So wurden in der Vergangenheit auch viele Punks zu Opfern rechter Gewalt. Eine besonders starke Feindschaft spüren aktive Antifaschist*innen und Menschen die couragiert gegen rechte Positionen einschreiten. Darüber hinaus werden aber auch Repräsentant*innen des Staates als politische Gegner*innen verstanden. So befinden sich unter den Todesopfern rechter Gewalt auch mehrere Polizeibeamt*innen.
Ähnlich wie bei der Abwertung von wirtschaftlich Benachteiligten und Obdachlosen, werden auch Menschen mit Behinderungen von Rechtsextremen als ›minderwertige‹ Menschen angesehen. Dementsprechend wurde bereits eine Vielzahl von Personen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung Opfer rechter Gewalt, falls die Behinderung den Täter*innen bekannt oder für sie sichtbar war. Zur Zeit des Nationalsozialismus führte der Hass gegen Menschen mit Behinderung oftmals zum staatlich verordneten Tod. Die nach der NS-Ideologie ›lebensunwerten‹ Menschen wurden aussortiert, erniedrigt und viele tausend von ihnen ermordet.
Neben den obigen Motiven können Rechtsextreme natürlich auch aus anderen Gründen Gewalttaten ausführen, die durch ein menschfeindliches und faschistisches Weltbild geprägt werden oder zumindest verstärkenden Einfluss auf die Tat haben. Beispielsweise können rechte Täter*innen Gewalt ausüben und andere Menschen bedrängen, auch wenn das Opfer nicht zu einer Gruppe gehört, die marginalisiert ist und ins klassische Feindbild rechter Ideologie gehört. Eine Motivation kann etwa der Drang sein, besser als eine andere Gruppe zu sein und diese aufgrund dessen gewalttätig zu schikanieren und zu dominieren. Oftmals gaben Täter*innen bei Prozessaussagen eine pauschale ›Lust auf Gewalt‹ an. Auch das Streben nach Profilierung der eigenen, individuellen Position innerhalb einer Gruppenstruktur, kann durch gewalttätige Handlungen erfolgen.
Wie anfänglich bereits erwähnt, werden von staatlichen Stellen im Zeitraum von 1990 bis heute 106 Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Zusätzlich lassen sich nach bisherigem Stand der Recherche weitere 168 Todesopfer rechtsmotivierter Gewalt feststellen. Das erste vollendete Tötungsdelikt ereignete sich 1970, wenngleich das Attentat auf Rudi Dutschke bereits 1968 stattfand, welches das prominente Opfer aber schwerverletzt überlebte und erst elf Jahre danach an den Spätflogen der Tat ums Leben kam.
Weiterhin gibt es 41 Verdachtsfälle, bei denen ein rechtsextremes Motiv, bzw. rechtsextreme Täter*innen sehr wahrscheinlich sind. Diese Fälle wurden ebenfalls in die Opferzahlen aufgenommen. Insgesamt sind somit von 1970 bis heute 315 bekannte Todesopfer zu verzeichnen.
Dabei verteilen sich die Opferzahlen in den letzten Jahrzehnten wie folgt:
Todesopfer rechter Gewalt nach Jahren[18]
Seit 1984 ist kein Jahr mehr vergangen in dem nicht mindestens ein Todesopfer rechter Gewalt zu beklagen ist. Trauriger Höhepunkt in puncto Opferzahlen sind die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung. Rechte Gewalt und Straßenterror war in diesem Zeitraum vor allem in den neuen Bundesländern alltäglich. Innerhalb der sozialen Medien hat sich diesbezüglich rückblickend das Hashtag #BaseballschlägerJahre etabliert. Ab dem Jahr 2009 sind die jährlichen Opferzahlen wieder auf ein niedrigeres Niveau gefallen und lagen bei jährlich ein bis vier Tötungsdelikten. Seit 2016 steigen die Tötungsverbrechen allerdings deutlich an, was sich durch den rassistisch motivierten Amoklauf in einem Münchener Einkaufszentrum (neun Todesopfer) und dem Hanauer Mehrfachmord (zehn Todesopfer) erklären lässt.
Betrachtet man die absolute Zahl der Todesopfer rechter Gewalt nach Bundesländern, weist Bayern mit 48 Fällen die meisten Tötungsdelikte auf. Dies liegt auch daran, dass es in Bayern mit dem Oktoberfestattentat von 1980 und dem rassistisch motivierten Amoklauf von 2016, zwei Taten gab, die besonders viele Opfer forderten. Dicht dahinter liegt Nordrhein-Westfalen mit 47 Tötungsdelikten. Das relativ kleine Brandenburg, das von nur rund 2,5 Millionen Menschen bewohnt wird, belegt mit 34 Todesfällen den dritten Platz unter allen Bundesländern. Würde man die Todesopfer in Relation zu den Einwohner*innen eines Bundeslandes setzen, würde Brandenburg eine solche Auflistung anführen. Bremen ist als das kleinste Bundesland zugleich auch das mit der erfreulichsten Statistik. Im Stadtstaat gab es bislang kein Todesopfer aufgrund rechter Gewalt. Allerdings verzeichnete die Beratungsstelle Soliport in ihrem Bericht über das Jahr 2019 eine Intensivierung und Verschärfung rechter Gewalt in Bremen.[19]
Todesopfer rechter Gewalt nach Bundesländern[20]
Die meisten Fälle rechter Gewalt werden in Statistiken unter dem Tatmotiv Rassismus subsumiert. Die Tatmotive Sozialdarwinismus und Politische Gegnerschaft treten weniger häufig auf und zeitgleich werden bei diesen Taten meist einzelne Personen getötet, während bei Angriffen mit dem Tatmotiv Rassismus häufig mehrere Menschen gleichzeitig getötet werden, etwa durch Brandanschläge auf Wohnhäuser. Während aus sozialdarwinistischen Gründen überwiegend von Armut und Obdachlosigkeit betroffene Männer getötet wurden, ist die Gruppe der Opfer im Bereich des Tatmotivs Politische Gegner*innen weitaus heterogener. Hierzu zählen nicht nur aktive Antifaschist*innen und Anhänger*innen einer linken Subkultur, sondern auch Menschen, die spontan Zivilcourage gezeigt haben und Polizeibeamt*innen.
Zu anderen Motiven gehören z.B. Machdemonstrationen von rechtsextremen Gruppen gegen Außenstehende, Raubmorde und tödliche Gewalt am Rande von Sportereignissen. Auch die Opfer des Bombenattentats am Münchener Oktoberfest wurden hier eingeordnet.
Todesopfer rechter Gewalt nach Tatmotivation
Rechtsmotivierte, tödliche Gewalttaten werden selten von Alleintäter*innen begangen. Im Gegenteil. Fälle, bei denen nur eine Person allein die Tat ausführt und für den Tod von Menschen verantwortlich ist, sind die Ausnahme.
Wenn die Daten von allen 225 bekannten Angriffen mit einem oder mehreren Todesopfern verglichen werden, bei denen die Anzahl der Täter*innen bekannt ist, kommt folgendes Ergebnis heraus: 71 Täter*innen haben, nach Stand des dokumentierten Tathergangs und der behördlichen Ermittlungen, in der Tatsituation allein gehandelt. Bei 40 Angriffen war eine weitere Person an der Tat beteiligt oder anwesend und bei 114 Fällen handelte es sich um Gruppen von drei bis zu 85 Personen, die entweder selber an den Gewalttaten beteiligt waren oder diese mitverfolgten und den Täter*innen als Gruppe Rückhalt gaben.
Da unter den 71 erfassten Alleintäter*innen allerdings auch Taten erfasst sind, die nur mangelhaft aufgeklärt sind, bzw. bei denen es möglich ist, dass weitere involvierte Tatbeteiligte verschwiegen werden, ist es wahrscheinlich, dass die tatsächlichen Zahlen noch drastischer ausfallen.
Allein- und Gruppentäter*innen bei tödlicher rechter Gewalt
Allerdings ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass insbesondere die Mehrfach-Mörder allein agieren und zudem aus einem klassischen, neonazistischen Hintergrund herausfallen. Während Täter*innen bis 2010 oft in rechtsextremen Parteien, Strukturen oder Subkulturen verankert waren, ist dieser Hintergrund bei den Tätern von Hanau (2020), Halle (2019) und München (2016) nicht mehr zu beobachten. Diese Personen haben ihr menschenverachtendes und verschwörungstheoretisches Weltbild in großen Teilen durch rechte online Netzwerke gefestigt und sind den Behörden vor der Tat, wenn überhaupt, nur in kleinem Maße einschlägig aufgefallen.
Die Definition des Alleintäters bewertet hier allerdings nur die konkrete Tatsituation, in der die tödliche Gewalt ausgeübt oder herbeigeführt wurde. Personen, die die Tat im Hintergrund unterstützten, beispielsweise durch das Beschaffen von Waffen, wurden bei dieser Untersuchung nicht betrachtet, ebenso wie ein gesellschaftliches Klima, das durch Enttabuisierung von rechter Hetze Täter*innen zum Handeln ermuntert.
Wenn eine Erkenntnis bei der Datenanalyse besonders heraussticht, dann zweifelsfrei das Geschlecht der Tatausübenden. Weibliche Täterinnen sind eine absolute Ausnahme. Unter den 263 bekannten Haupttäter*innen tödlicher, rechter Gewalt waren nur fünf weibliche Personen, was gerade einmal 2 % entspricht.
Allgemein sind in der Bevölkerung seit jeher Frauen deutlich weniger straffällig als Männer, dies ist insbesondere bei Gewalttaten der Fall. Dennoch sind Frauen bei regulären Gewaltverbrechen wesentlich öfter tatverdächtigt als bei den Tötungsdelikten durch rechte Gewalt. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) von 2006 weist beispielsweise 15,4 % weibliche Tatverdächtige bei Mord aus, bei Totschlag sind es 12,2 %.[21]
Ursache für den enormen Überhang von männlichen Tätern dürfte im rechtsextremen Weltbild an sich zu suchen sein, welches ein stark patriarchales Rollenbild transportiert, in dem Maskulinität, Ehre, Stolz und Gewalt eine zentrale Rolle spielen. Für die Frau ist im rechtsextremen Milieu ein zurückhaltender Platz vorgesehen, sie gilt als zu beschützende Person und in der Regel nicht als gewalttätig agierende.
Ergänzend dazu ist auch der Anteil von Frauen in der extremen Rechten eher als gering einzuschätzen, wodurch sich natürlich auch weniger potentielle Täterinnen ergeben. Expert*innen schätzen den Anteil von Frauen in der rechten Szene auf maximal 20 %.[22]
Täter*innen tödlicher rechter Gewalt nach Geschlecht
Auch bei der Anzahl der Todesopfer nach Geschlecht fällt ein Ungleichgewicht auf, denn nur rund ein Fünftel der Opfer sind weiblich. Dieser Unterschied würde noch deutlicher ausfallen, wenn die nicht individuell ausgewählten Opfer (z.B. infolge eines Brandanschlags) abgezogen würden.
Wenn sich Rechtsextreme ein Opfer aussuchen sind dies meist Männer. Die Gründe dafür sind aber vielschichtig. Beispielsweise gilt in einem patriarchalen, rechten Weltbild schwere Gewalt gegen Frauen als das vermeintlich ›schwache Geschlecht‹ als verpönt. Zudem sind die potentiellen Opfer rechter Gewalt nicht gleichmäßig nach Geschlecht aufgeteilt. So liegt beispielsweise der Anteil der männlichen Obdachlosen, je nach Region und Untersuchung, zwischen 75 % und 84 %.[23]
Todesopfer rechter Gewalt nach Geschlecht
Von 250 Haupttäter*innen tödlicher rechter Gewalt konnte das Alter zum Tatzeitpunkt ermittelt werden. Fassen wir diese in Altersgruppen zusammen wird deutlich erkennbar, dass die Taten überwiegend von jungen Männern begangen werden.
Rund 80 % der Täter*innen sind nach der Auswertung 30 Jahre alt oder jünger. Die Hälfte der Täter*innen fallen sogar in den Altersbereich zwischen 14 und 23 Jahren. Aber auch hier gibt es statistische Ausreißer. So war beispielsweise eine rassistische Brandstifterin, die für den Tod einer Hausbewohnerin verantwortlich ist, bereits 70 Jahre alt.
Alter der Täter*innen zum Tatzeitpunkt
Befassen wir uns abschließend mit der Höhe des Strafmaßes bei den Haupttäter*innen. Die Fragestellung »Wie lange muss ein Mensch, der aus rechten Motiven tötet, dafür ins Gefängnis gehen?«, ist interessant, aber natürlich nicht einfach zu beantworten, da die Taten im strafrechtlichen Sinn sehr unterschiedlich bewertet werden. Da viele Täter*innen zudem sehr jung sind wird oft vom Jugendstrafrecht Gebrauch gemacht.
Eine Anklage wegen Mordes ist nicht der Standard, im Gegenteil, bei vielen Prozessen verurteilt das Gericht lediglich wegen Körperverletzung mit Todesfolge oder Totschlag. Bei den untersuchten 226 Anklagen von Haupttäter*innen tödlicher rechter Gewalt, wurden neun Personen sogar freigesprochen. Dies geschah meist aufgrund mangelnder oder sich widersprechender Zeug*innenaussagen, oder weil die Angeklagten das Gericht von ihrem Handeln aus Notwehr überzeugen konnten.
78 Haupttäter*innen, also mehr als ein Drittel aller Angeklagten, wurden insgesamt mit relativ kurzen Haftstrafen von bis zu sechs Jahren verurteilt. Eine lebenslängliche Haftstrafe wurde nur zweiunddreißigmal verhängt.
Hier eine Übersicht über die bekannten, letztinstanzlichen Urteilssprüche.
Übersicht Strafmaße der ermittelten Täter*innen
Auf den folgenden Seiten sind die Todesopfer rechter Gewalt dokumentiert. Unterschieden wird in offiziell anerkannte und nicht offiziell anerkannte Fälle sowie Verdachtsfälle.
Offiziell anerkannt bedeutet, dass der getötete Mensch offiziell von der Bundesregierung als Todesopfer rechter Gewalt genannt und ›anerkannt‹ wird. Da die Bundesregierung auf Anfrage und nur in bestimmten Jahren Opferlisten herausgab, ist das Jahr der Erstnennung vermerkt.
Nicht offiziell anerkannt meint, dass das Todesopfer nicht, oder nicht mehr, in der Statistik der Bundesregierung erscheint. Ein rechtes Tatmotiv, welches zur Tötung führte oder stark tateskalierend wirkte, ist aber belegt. Auch Fälle ohne eindeutige rechte Tatmotivation werden aufgeführt, sofern den Täter*innen ein gefestigtes rechtsextremes Weltbild nachgewiesen werden kann.
Verdachtsfall bedeutet, dass die Tat sehr wahrscheinlich aus rechten Motiven oder durch Rechte als Täter*innen erfolgte. Diesbezüglich gibt es Hinweise und starke Verdachtsmomente, allerdings keine konkreten Beweise.
Martin Katschker
Verstorben am 29. August 1970
Tatort: Konstanz, Baden-Württemberg
Status: Nicht offiziell anerkannt
Motiv: Sozialdarwinismus
Martin Katschker wurde von einem Rechten Täter mit einem Bolzenschussgerät für Tiere getötet.
Der 17-jährige ist das erste dokumentierte Todesopfer rechter Gewalt in der Bundesrepublik. Martin Katschker war Auszubildender an einer Tankstelle. Am Tattag traf er sich nach der Arbeit mit zwei Freunden am Konstanzer Blätzle-Platz, einem damaligen Treffpunkt junger Menschen.
Plötzlich kam ein Mann auf die Gruppe zu. Der Täter drückte Martin Katschker aus heiterem Himmel einen sogenannten ›Hasentöter‹ auf die Brust und sagte: »Ich bin von der Bürgerwehr und zähle bis drei, dann seid ihr verschwunden – oder es passiert was!«. Er hielt die Jugendlichen für sogenannte ›Gammler‹. Der 10-jährige Sohn des Täters, der mit seinem Vater mitging, versuchte noch, seinen stark alkoholisierten Vater wegzuziehen. Das gelang ihm aber nicht. Innerhalb weniger Sekunden löste der Täter das Gerät aus und verschoss den Bolzen. Vor Gericht behauptete der Täter, sein Sohn habe den Schuss ausgelöst, weil er an ihm gezogen hatte. Martin Katschker wurde direkt ins Herz getroffen und verstarb dreißig Minuten nach der Tat im Konstanzer Krankenhaus.
›Jugendliche Gammler‹ wurden 1970 in Konstanz zum großen Thema, da es in der Stadt mehrere musikalische Großveranstaltungen gab, die die unkonventionellen und freiheitsliebenden Jugendlichen anzog. Im Bürgerausschuss forderte daraufhin der NPD-Mann Walter Eyermann, Konstanz von »diesen Figuren« zu säubern. Er sei bereit, mit 40 Bürgern dafür zu sorgen, dass »die Gammler wegkommen«. Hans Obser, der Mörder von Martin Katschker, fühlte sich angesprochen. Er wurde bereits vor der Tat auffällig. Polizisten, die ihn nach einer Trunkenheitsfahrt aus dem Auto zerren mussten, hatte er u.a. mit den Worten »So etwas wie euch hätte Hitler im Dritten Reich vergast«, beschimpft.
Das Schwurgericht am Landgericht Konstanz verurteilte den Täter Hans Obser im März 1972 zu drei Jahren Haft wegen fahrlässiger Tötung und Nötigung. Der NPD‹ler Walter Eyermann, geistiger Urheber der Tat, blieb unbestraft. Er machte in den 1980er-Jahren Karriere und wurde u.a. langjähriger Geschäftsführer des Eigentümervereins Haus- und Grund.[24]
Neşet Danis
Verstorben am 21. Mai 1974
Tatort: Norderstedt, Schleswig-Holstein
Status: Nicht offiziell anerkannt
Motiv: Politische Gegnerschaft
Neşet Danis wurde von rechten Türken auf einer Veranstaltung zusammengeschlagen und verstarb an schweren Kopfverletzungen.
Der Verstorbene kam aus der Türkei und arbeitete in Norddeutschland als Bauingenieur. Neşet Danis verstarb im Alter von 30 Jahren.
Die Gewalttat ereignete sich am 5. Mai 1974. In der Gaststätte Zum tiefen Brunnen in Norderstedt, sollte der zweite Anlauf für eine Vorstandswahl des Vereins türkischer Arbeitnehmer in Hamburg und Umgebung stattfinden. Gewerkschaften und Vertretungen von Arbeiter*innen kritisierten, dass leitenden Posten durch rechtsextreme Funktionäre besetzt werden sollten. Viele Menschen protestierten lautstark in der Halle und schlugen eigene Kandidat*innen vor. Am Versammlungsort, an dem sich mehrere hundert Personen aufhielten, eskalierte die Lage schließlich und rechte Schläger griffen mit Knüppeln und Stuhlbeinen zahlreiche Menschen an. Laut Berichten von Zeug*innen sollen die Angreifer vom türkischen Konsulat aus Hamburg beauftrag und gesteuert worden sein. Bei der Attacke wurde u.a. »Schlagt zu! (…) Wer seinen Gott liebt, erschlägt die Kommunisten!« gerufen.
Neşet Danis ging mit schwersten Kopfverletzungen zu Boden. Dennoch wurde weiter auf ihn eingeschlagen. Er verstarb am 21. Mai im Heidberg Krankenhaus in Hamburg. Vier weitere Personen wurden schwer verletzt.
Nach den Gewalttätigkeiten nahm die Polizei ausschließlich Personen aus den Reihen der linken Aktivist*innen fest. Diese wurden laut Berichten von Zeug*innen von Mitarbeitern des Konsulats ausgewählt und verbrachten jeweils 18 Tage in Untersuchungshaft. Letztlich wurden die Ermittlungsverfahren eingestellt. Die Personen, die für den Tod von Neşet Danis verantwortlich waren, wurde nie juristisch zur Rechenschaft gezogen.[25]
Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret
Verstorben am 12. August 1979
Tatort: Merseburg, Sachsen-Anhalt
Status: Nicht offiziell anerkannt
Motiv: Rassismus
Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret starben bei rassistischen Pogromen nach einem Diskobesuch.
Bei den beiden Opfern handelte es sich um Vertragsarbeiter, die unter bestimmten, restriktiven Vorgaben in der DDR arbeiten konnten. Beide junge Männer kamen aus Kuba. Delfin Guerra wurde 18 Jahre alt, Raúl Garcia Paret verstarb im Alter von 21 Jahren.
Bereits am Vorabend der tödlichen Tat kam es in einer Gaststätte zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen vier Kubanern, vier Ungarn und etwa einem Dutzend DDR-Bürgern. Anschließend zogen die Deutschen weiter durchs Stadtgebiet und griffen zwei aus Kuba stammende Menschen an, die nicht mit dem vorherigen Streit in Verbindung standen. Aufgrund der rassistischen Ereignisse beschlossen einige Kubaner die Eskalation mit einem Racheangriff am Folgetag zu beantworten.
Dies geschah zunächst auch. Einige kubanische Vertragsarbeiter griffen Deutsche in einer Gaststätte an. Die Deutschen, die deutlich in der Überzahl waren, wehrten sich und jagten die Kubaner weg. Die Flüchtenden bewegten sich entlang des Saaleufers, verfolgt von etwa 30 bis 40 Deutschen. Da ihnen von anderen Deutschen, die auf der vor ihn liegenden Brücke standen, der Weg versperrt wurde, sprangen die Verfolgten in die Saale. Deutsche die sich auf der Brücke und am Ufer befanden, bewarfen anschließend die schwimmenden und im Fluss watenden Kubaner mit Weinflaschen und Ziegelsteinen. Infolge dieser Ereignisse starben Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret.
Nach der Tat sahen die Behörden der DDR 1979 keinen Grund, Ermittlungsverfahren gegen die Personen aus dem Mob einzuleiten. Vielmehr hieß es in einer Information des Ministeriums des Inneren: »Gegen die (…) beteiligten DDR-Bürger werden keine Ermittlungsverfahren eingeleitet, da sich ihre Handlungen auf die Abwehr richteten und demzufolge Notwehr vorlag.« Als der Historiker Dr. Harry Waibel 2016 die Taten aufdeckte und an die Öffentlichkeit brachte, sollte die Staatsanwaltschaft Halle auf Antrag der Familien der Getöteten juristisch klären, ob aufgrund der neu bekannt gewordenen Fakten eine Wiederaufnahme der Ermittlungen erfolgen müsste. Die Staatsanwaltschaft lehnte dies jedoch ab. Der leitende Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Halle erläuterte, dass nach seiner Auffassung u.a. »zureichende Anhaltspunkte […] nicht ersichtlich« wären, um die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen Mord zu begründen. Dementsprechend bleiben die schweren, rassistisch motivierten Gewalttaten auch weiterhin ungesühnt.[26]
Rudi Dutschke
Verstorben am 24. Dezember 1979
Tatort: Berlin
Status: Nicht offiziell anerkannt
Motiv: Politische Gegnerschaft
Rudi Dutschke wurde von einem Rechtsextremisten angeschossen und verstarb 1979 an Spätfolgen des Attentats.
Der bekannte politische Aktivist wurde Opfer eines der ersten rechtsextremen Mordversuche in der Bundesrepublik. Rudi Dutschke überlebte die Tat schwer verletzt und verstarb erst elf Jahre danach an den Spätfolgen des Anschlags.
Rudi Dutschke wurde 1940 geboren und wuchs in der DDR auf, wo er eine Ausbildung zum Industriekaufmann machte. Schon in jungen Jahren interessierte er sich politisch und ergriff Partei für einen freiheitlichen, demokratischen Sozialismus. Er kritisierte sowohl den Staatssozialismus der SED als auch den Kapitalismus im Westen. Ein Sportjournalistikstudium wurde ihm in der DDR verwehrt. Unter anderem für ein solches zog er drei Tage vor dem Bau der Mauer nach West-Berlin. Dort engagierte er sich bald in der sich entwickelnden außerparlamentarischen Opposition und wurde bis zum Anschlag auf ihn einer der bekanntesten und charismatischsten Sprecher der Bewegung.
Am Tag der Tat, dem Gründonnerstag vor Ostern ‹68, verließ Rudi Dutschke das SDS-Büro am Kudamm. Auf der Straße wartete bereits der Neonazi Josef Bachmann auf ihn und rief ihm »Du dreckiges Kommunistenschwein« entgegen. Dann zog er eine Pistole und feuerte drei Schüsse ab. Der Täter flüchtete zunächst, wurde aber kurz danach von der Polizei gefasst. Er hatte einen Artikel der rechtsextremen Deutschen National-Zeitung bei sich, auf dem fünf Fotos von Dutschke als Steckbrief eingefügt waren und der die Überschrift: »Stoppt Dutschke jetzt!« trug. Auch die Bild-Zeitung hetzte in den Wochen und Monaten vor der Tat gegen die außerparlamentarische Bewegung und forderte die Leser*innen u.a. mit der Überschrift »Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt!« zum Handeln auf. Jahrzehnte später enthüllte der Spiegel u.a. durch Stasi-Akten, das Josef Bachmann kein isolierter Einzeltäter war, sondern enge Kontakte zur NPD und neonazistischen Kreisen hatte. Zudem plante er für die Zukunft weitere Attentate. Rudi Dutschke wurde durch zwei Schüsse in den Kopf schwer verletzt und überlebte nur knapp. Er hatte mehr als ein Jahrzehnt später, am 24. Dezember 1979, einen epileptischen Anfall (eine Spätfolge der durch das Attentat erfolgten Kopfverletzungen) in der heimischen Badewanne und ertrank infolgedessen.
Das Landgericht Berlin verurteilte den Attentäter Josef Bachmann 1969 wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren Haft. Rudi Dutschke schrieb ihm in mehreren Briefen, dass er keinen persönlichen Groll gegen ihn hege, und versuchte ihm sozialistische Positionen nahezubringen. Bachmann beging am 24. Februar 1970 im Gefängnis Selbstmord.[27]
Celalettin Kesim
Verstorben am 5. Januar 1980
Tatort: Berlin
Status: Nicht offiziell anerkannt
Motiv: Politische Gegnerschaft
Der Lehrer Celalettin Kesim wurde während des Verteilens politischer Flugblätter von rechten Türken ermordet.
Bei der Tat handelt es sich wahrscheinlich auch um den ersten Mord mit islamistischen Hintergrund in Deutschland. Celalettin Kesim war neben seiner Tätigkeit als Lehrer auch politisch sehr engagiert. Er war Sekretär des Vereins Berliner Türkenzentrum, Mitglied der Lehrergewerkschaft GEW sowie in der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP) aktiv. Am 5. Januar verteilte er nahe des Kottbusser Tors in Berlin-Kreuzberg, zusammen mit anderen Aktivist*innen, Flugblätter gegen die drohende Militärdiktatur in der Türkei.
Zu den Aktivist*innen stieß eine Gruppe von 70 türkischen Rechtsextremen, welche aus der benachbarten Mevlana-Moschee kamen. Bei den Personen handelte es sich um Mitglieder der Grauen Wölfe und der Milli Görüş-Bewegung. Nach einem Wortgefecht kam es zur Attacke durch die Rechtsextremen, wobei diese Ketten, Schlagstöcke und Messer einsetzten. Celalettin Kesim wurde durch einen Stich in die Beinarterie schwer verletzt. Seine Freunde schafften es noch, ihn Richtung Landwehrkanal in Sicherheit zu bringen, aber der Blutverlust war stark und der Notarzt brauchte zu lange. Celalettin Kesim verstarb noch vor Ort. Augenzeugen berichteten, dass es fast eine halbe Stunde gedauert haben soll, bis der Rettungswagen eintraf.
Die Polizei nahm zunächst sieben Tatverdächtige fest. Einer der beiden Angeklagten wurde freigesprochen, der andere, der sich im Prozess als ›geistiger Führer‹ von Milli Görüş in Berlin bezeichnete, wurde u.a. wegen Landfriedensbruchs verurteilt.
Zum Trauermarsch kamen einige Tage nach dem Mord rund 10.000 Menschen. An Celalettin Kesim erinnert eine Gedenktafel an der Ecke Reichenberger Straße/Kottbusser Straße. Anfang der 1990er-Jahre wurde zudem eine Gedenkstele zu seinem Andenken errichtet.[28]
Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân
Verstorben im August 1980
Tatort: Hamburg
Status: Nicht offiziell anerkannt
Motiv: Rassismus
Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân starben durch einen Brandanschlag der rechtsterroristischen Deutschen Aktionsgruppen.
Die beiden jungen Männer waren Geflüchtete aus Vietnam und gehörten zu den sogenannten ›Boat-People‹, die vom Rettungsschiff Cap Anamur im Südchinesischen Meer aufgenommen worden waren. Nguyễn Ngọc Châu wurde in Saigon geboren und war ein junger Lehrer. Er starb mit 22 Jahren. Đỗ Anh Lân wurde nur 18 Jahre alt. Er kam ebenfalls aus Saigon und war vor seiner Flucht noch Schüler. Nach ihrer Aufnahme in Deutschland lebten beide in einer Flüchtlingsunterkunft in der Hamburger Halskestraße.
Im Februar 1980 trat erstmals die rechtsterroristische Vereinigung Deutsche Aktionsgruppen, der vier Personen angehörten, in Erscheinung. Zwei von ihnen begingen den Anschlag gegen das Wohnheim in dem unter anderem die beiden Opfer lebten. Dazu warfen sie drei Literflaschen mit Benzin, eine davon mit brennender Putzwolle versehen, in ein Fenster im Hochparterre. Dahinter schliefen die beiden Opfer. Beide erlitten durch den Brandanschlag schwerste Verbrennungen. Nguyễn Ngọc Châu verstarb an bereits am nächsten Morgen an seinen Verletzungen, Anh Lân Dô kam zunächst noch in eine Spezialklinik und verstarb wenige Tage später an seinen Brandwunden. Die in Brand gesteckte Unterkunft beschmierten die Täter*innen mit dem Schriftzug »Ausländer raus!«.
Kurz nach dem Anschlag, im September 1980 wurden die Deutschen Aktionsgruppen enttarnt. Insgesamt führten die Täter*innen sieben Brand- und Sprengstoffanschläge durch. Bei den anderen sechs Taten wurden keine Menschen getötet. Erst im Juni 1982 wurde Manfred Roeder vom Oberlandesgericht Stuttgart als Rädelsführer zu 13 Jahren Haft verurteilt. Letztlich wurde er allerdings wegen guter Führung nach nur acht Jahren entlassen. Er hat anschließend weiter in der rechten Szene Karriere gemacht und u.a. für die NPD in Mecklenburg-Vorpommern kandidiert.
Der Arzt Heinz Colditz erhielt eine Strafe von sechs Jahren, der als Werkarbeiter tätige Raimund Hörnle wurde wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und nach 17 Jahren Haft in die Freiheit entlassen. Auch Sibylle Vorderbrügge, eine Radiologie-Assistentin, die zudem ein Liebesverhältnis mit Manfred Roeder hatte, wurde zunächst zu einer lebenslangen Strafe verurteilt. Nachdem der BGH einer Revision stattgegeben hatte, wurde sie in einem zweiten Verfahren 1984 zu nur noch zwölf Jahren Haft verurteilt.[29]
Gabriele Deutsch, Robert Gmeinwieser, Axel Hirsch, Markus Hölzl, Paul Lux, Franz Schiele, Ignaz Platzer, Ilona Platzer, Angela Schüttrigkeit, Errol Vere-Hodges, Ernst Vestner und Beate Werner
Verstorben am 26. September 1980
Tatort: München, Bayern
Status: Nicht offiziell anerkannt
Motiv: Anderes
Zwölf Menschen starben bei dem sogenannten Oktoberfestattentat, dem Sprengstoffanschlag mit den meisten Todesopfern in der Geschichte der BRD.
Das Attentat ereignete sich gegen 22:20 Uhr, kurz bevor die Festzelte geschlossen wurden und sich viele Menschen von der Oktoberfestwiese auf den Heimweg machten. In einem Abfallkorb aus Metall detonierte eine Bombe die 1,4 kg militärischen Sprengstoff enthielt. Die Wucht war so heftig, dass insgesamt zwölf Menschen starben. Zusätzlich fand auch Gundolf Köhler, der Rechtsextremist der die Bombe deponierte, den Tod. Zudem wurden mindestens 211 Menschen verletzt, viele davon verloren Körperteile.
Schnell wurde der verstorbene Gundolf Köhler, der u.a. Anhänger der Wehrsportgruppe Hoffmann war, der Öffentlichkeit als wirrer Einzeltäter präsentiert, der von Planung bis Ausführung des Attentats alles allein durchgeführt haben soll. Zum Tatzeitpunkt befand sich die Bundesrepublik in der heißen Phase des Wahlkampfes und der Kanzlerkandidat der Unionsparteien, Franz Josef Strauß, hatte kein Interesse an einer Debatte über Rechtsterrorismus und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Strauß hatte auch die Wehrsportgruppe Hoffmann jahrelang als Gruppe weniger »Spinner« und »Verrückter« bezeichnet, im März 1980 deren Verbot als unverhältnismäßig kritisiert und die Gefahr von Anschlägen aus diesem Umfeld negiert. So ging auch das Oktoberfest nach nur einem Tag Pause wie gewohnt weiter und erfreute sich zudem auch nach dem furchtbaren Anschlag großer Beliebtheit.
Obwohl der Tathergang nicht gänzlich nachvollzogen werden konnte, stellte das bayerische LKA die Ermittlungen im Mai 1981 ein. Eineinhalb Jahre später, im November 1982, schloss auch die Generalbundesanwaltschaft ihre Ermittlungen ab.
Aber die Einzeltäterthese wurde seit dem ersten Tag immer wieder bezweifelt. Zeug*innen hatten den Ermittelnden schon 1980 Hinweise auf Mittäter gegeben. Zwei Personen gaben beispielsweise in Befragungen an, dass Köhler vor der Explosion mit zwei Männern diskutierte. Dazu verdichteten sich Hinweise, dass der Sprengstoff in rechtsextremen Kreisen verarbeitet worden war. Zudem fanden Ermittler*innen eine abgetrennte Hand am Anschlagsort, die vermutlich keinem Opfer gehörte, sondern einem unbekannten Mann der Mittäter sein könnte.
Zahlreiche Initiativen und Einzelpersonen forderten dementsprechend in den letzten Jahrzehnten die Wiederaufnahme der Ermittlungen. Im Dezember 2014 hatte die Bundesanwaltschaft diesem Gesuch stattgegeben. Gemeinsam mit der eigens vom Bayerischen LKA gegründeten Soko 26. September wurden sämtliche das Attentat betreffende Akten neu gesichtet, darunter auch Geheimdienstakten, die bislang unter Verschluss lagen. Im Juli 2020 wurden die Ermittlungen vom Generalbundesanwalt allerdings wieder eingestellt, da keine relevanten neuen Hinweise zur Tat aufgedeckt wurden. Allerdings bestätigte die Bundesanwaltschaft deutlich die neonazistische Motivation des Täters und teilte mit, dass Gundolf Köhler aus einer »rechtsextremistischen Motivation heraus gehandelt« hatte. [30]
Shlomo Lewin und Frida Poeschke
Verstorben am 19. Dezember 1980
Tatort: Erlangen, Bayern
Status: Nicht offiziell anerkannt
Motiv: Antisemitismus
Shlomo Lewin und Frida Poeschke wurden von einem Neonazi erschossen.
Die beiden Ermordeten engagierten sich für den christlich-jüdischen Dialog und planten den Aufbau einer jüdischen Gemeinde in Erlangen.
Shlomo Lewin war vor dem Zweiten Weltkrieg als Lehrer u.a. in Homburg tätig. Er kämpfte nach Kriegsausbruch mit der britischen Armee gegen die Nazis und war anschließend Mitglied der Hagana. Einige Jahre nach dem Krieg ging er wieder zurück nach Deutschland, wo er als Verleger arbeitete und Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg wurde. Shlomo Lewin wurde 69 Jahre alt. Frida Poeschke war Witwe des ehemaligen Erlanger Oberbürgermeisters und Lebensgefährtin von Shlomo Lewin. Sie verstarb mit 57 Jahren.
Am Tatabend hatte Uwe Behrendt, ein militanter Neonazi und Mitglied der rechtsterroristischen Wehrsportgruppe Hoffmann, an der Tür des Bungalows von Shlomo Lewin und Frida Poeschke geklingelt. Als der 69-jährige öffnete, wurde er sofort durch drei Schüsse aus einer Maschinenpistole ermordet. Anschließend ging der Täter einige Schritte in die Wohnung und tötete Frida Poeschke mit vier Schüssen.
Nacht der Tat hielt sich Uwe Behrendt erst einige Tage im Wohnsitz des Gründers der Wehrsportgruppe Hoffmann auf. Dieser half ihm auch beim Beseitigen von Spuren. Danach war der Täter wenige Tage bei seinen Eltern in der DDR, bevor er nach Syrien und in den Libanon zu anderen Mitgliedern der zu diesem Zeitpunkt bereits verbotenen Wehrsportgruppe Hoffmann reiste. Im Libanon beging Uwe Behrendt im September 1981 Selbstmord.
Obwohl dem Wehrsportgruppenführer Hoffmann und seiner Lebensgefährtin der Prozess gemacht wurde – u.a. stammte die Tatwaffe aus dem Besitz von Hoffmann - stellte das Gericht nach 185 Verhandlungstagen fest, dass Uwe Behrendt die Morde aus freien Stücken alleine geplant und durchgeführt hatte. Aus Mangel an Beweisen wurden beide Angeklagten freigesprochen. Hoffmann wurde dann allerdings 1984 wegen anderer Delikte zu neun Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Er kam allerdings im Jahr 1989 wegen guter Führung und ›günstiger Sozialprognose‹ wieder frei. Bis heute verweigert im Übrigen das Bundesamt für Verfassungsschutz die Freigabe der Akten zu diesem Fall.[31]
Sydi Battal Koparan
Verstorben am 1. Januar 1981
Tatort: Gündelbach, Baden-Württemberg
Status: Nicht offiziell anerkannt
Motiv: Rassismus
Sydi Battal Koparan wurde von Mitgliedern eines rechten Motorradclubs erschlagen.
Das spätere Opfer betrat in der Silvesternacht die Wirtschaft Krone, während er nach seinem Sohn suchte. Dort kam es zum Streit mit Mitgliedern der Bikergruppe Stander Greif MC. Infolgedessen warf ihn die Wirtin aus dem Lokal und sagte: »Scheißtürken, macht dass ihr wegkommt. Haut ab.« Im Verlauf des Abends fand Sydi Battal Koparan seinen Sohn, anschließend traf er mit einigen Bekannten aber erneut auf die Stander Greif Gruppe. Diese griffen an und schlugen dem 45-jährigen drei Löcher in den Kopf, zudem erlitt er mehrere Rippenbrüche. Seinem Sohn mit Behinderung wurden zwei Zähne aus- sowie beide Augen blaugeschlagen.
Sydi Battal Koparan verstarb einige Stunden nach der Attacke im Krankenhaus, er hinterließ seine Frau und fünf Kinder. Nach der Tat zogen die Schläger weiter durch den Ort und grölten: »Wo wohnen hier noch Scheißtürken?«