Keine Angst vorm Verzicht - Ulrich Wegst - E-Book

Keine Angst vorm Verzicht E-Book

Ulrich Wegst

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Beschreibung

Verzicht ist in etwa so beliebt, wie Zahnschmerzen zu haben. Niemand mag ihn, schon gar nicht, wenn man Verantwortliche in Politik und Wirtschaft fragt. Aber werden wir ohne ihn auskommen? Klimaschutz, Schonung von Umwelt und Ressourcen, Zusammenhalt der Gesellschaft, gute Gesundheitspolitik: Für all diese Ziele bietet sich Verzicht als eines der wirkungsvollsten Instrumente an – oft sogar als das einzige. Ulrich Wegst hat sich die wichtigsten Themenfelder angesehen und seine These lautet: Verzicht wird zur wichtigsten Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts. Wie aber soll das gehen? Zumal in einer Demokratie. Lässt sich Verzicht überhaupt durchsetzen, wenn man dafür Mehrheiten benötigt? Wegsts Antwort ist ein klares Ja. An zahlreichen Beispielen belegt er, dass wir auch jetzt schon manchen Verzicht üben – völlig unaufgeregt. Meist stellt sich heraus: Bedrohlich und als Zumutung erscheint das Thema nur, solange man theoretisch darüber diskutiert. In der Praxis stellt sich oft schnell Gewöhnung ein. Was anfangs als Verzicht wahrgenommen wurde, fällt später gar nicht mehr auf. Das stimmt versöhnlich: Alles halb so schlimm, sobald man einmal damit begonnen hat.

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Ulrich Wegst

Keine Angst vorm Verzicht

Ein Plädoyer für die wichtigste Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts

 

 

Ulrich Wegst

Keine Angst vorm Verzicht.

Ein Plädoyer für die wichtigste Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts

ISBN (Print) 978-3-96317-240-3

ISBN (ePDF) 978-3-96317-778-1

ISBN (ePUB) 978-3-96317-787-3

Copyright © 2021 Büchner-Verlag eG, Marburg

Coverabbildung: Oktay Ortakcioglu | istockphoto.com

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Inhalt

– Einleitung– Verzicht, Freiheit und Demokratie– Vermeidungsstrategien– Bequeme Auswege– Verzicht für das Klima– Verzicht für die Umwelt– Verzicht für die Gesundheit– Verzicht aus sozialen Gründen– Wie geht das? Verzicht in der Praxis – Teil 1– In medias res – die Herausforderungen (eine Auswahl)– Wie geht das? Verzicht in der Praxis – Teil 2– Von Lifestyle, Gutsherren und Trittbrettfahrern– Über Konsumenten und andere Extremisten– Nicht erschrecken – es ist nur Verzicht– Jetzt mal grundsätzlich …– Die Quintessenz– Endnoten

 

Einleitung

Es geht uns gut. Wir Glücklichen! Arbeit, soziale Sicherheit, Mobilität, Freizeitangebote: Alles da. Man nennt es Wohlstand. Darauf sind wir mächtig stolz – völlig zu Recht. Immerhin hat es die Arbeit vieler Generationen gebraucht, ihn aufzubauen. Es ist mehr als verdient, ihn jetzt zu genießen – nach all der Plackerei. Wenn »Geiz geil« ist, dann ist Wohlstand endgeil. Oder vielmehr: war es. Denn in den letzten Jahren mischt sich immer stärker ein schaler Beigeschmack in den Genuss. Wir merken nämlich, wie der einst wunderbare Wohlstand uns zu schaden beginnt. Das führt natürlich zu Irritationen: Etwas, das sich so gut anfühlt, wie kann das schädlich sein? Rauchen, Alkohol, klar, das haben wir mittlerweile eingesehen. Aber der Wohlstand als Ganzes? Der hat die Pest und das sind die Symptome:

• Klimawandel• Umweltzerstörung• Tierleid• Ressourcenverbrauch• Overtourism• Politikverdrossenheit• Flächenverbrauch• Müllberge• Überbevölkerung• Artensterben• Übergewicht• Antibiotikaresistenzen• Schuldenberge• Zeitnot

Wäre der Wohlstand ein Patient, dann würden sich spätestens jetzt die Verwandten um sein Krankenbett versammeln, weil offenbar die Zeit gekommen ist, Abschied zu nehmen. Wie soll man diese Ballung morbider Probleme je in den Griff bekommen? Und will man es überhaupt? Oft fehlt den Betroffenen ja bis zum Schluss die rechte Einsicht, trotz schlimmer Krankheit. Dabei ist die angezeigte Therapie einfach umschrieben: Wenn Dir etwas schadet, vermeide es. Für die Zukunft würde das bedeuten: Nicht mehr so beherzt zugreifen, auch wenn die Früchte des Wohlstandes noch so sehr locken. Ein Teil davon müsste schlicht liegen bleiben. Wir wären aufgefordert, sehenden Auges zu verzichten. Denn diese Gleichung geht auf: Je mehr Verzicht, desto weniger schlimme Folgen. Da wir momentan praktisch auf gar nichts verzichten, sind die Folgen zu einem Berg angewachsen wie eine Abraumhalde. Das konnte man lange ignorieren, aber heute ist der Berg einfach viel zu groß dazu. Er wirft auf nahezu alles, was wir tun, einen bedrohlichen Schatten. Überdies verschandelt das Riesending das ansonsten so gefällige Landschaftsbild der Wohlstandsgesellschaft. Den notwendigen Verzicht zu leisten, um diesen Berg wieder wegzubekommen, das wird die prägende Erfahrung eines Großteils der Menschheit in diesem Jahrhundert sein. Es wird das 21. Jahrhundert definieren. Die bange Frage, die uns stets begleitet – nämlich, was die Zukunft bringt – ist damit beantwortet: Es wird der Verzicht sein. Er wird nicht mehr nur eine Notlösung für Notzeiten sein, sondern zur herausragenden Kulturtechnik unserer Epoche aufsteigen.

Aber der Reihe nach:

Vor 150 Jahren hat die Industrialisierung alles in Bewegung gebracht. Nie zuvor war so viel Energie, Material und Gewalt durch den Menschen entfesselt worden. Die härtesten und widerständigsten Rohstoffe wurden bearbeitet, gepresst, geschmiedet, geschlagen und schlussendlich bezwungen. Wir waren vom Nutzer zum Gestalter geworden. Hatten wir zuvor von dem gelebt, was wir gefunden hatten, lebten wir nun von dem, was wir erfunden hatten. 150 Jahre lang sprühten Funken, glühte Eisen, wir entwickelten und bauten Flugzeuge, wir machten die Eisenbahn immer schneller und Schiffe immer größer. Eine gemeinsame, nie dagewesene, gewaltige Kraftanstrengung der Menschheit hat eine neue Qualität in unser Leben gebracht: den Wohlstand. Ab jetzt war es möglich, nicht mehr bloß zu überleben, sondern sogar gut leben. Plötzlich wurde man älter als 40. Die Zeit, die man hatte, reichte nun zu mehr, als lediglich die nächste Generation in die Welt zu setzen. Überhaupt: Das Leben bestand nicht mehr nur aus dem Notwendigen. Das augenfälligste Beispiel dafür: Es gab einen Ruhestand. Also Jahre, in denen man gar nichts mehr tun musste. Nie zuvor in der Geschichte war so etwas möglich gewesen. Bisher arbeitete man, überlebte – und dann starb man. Schluss.

Davon ist lange keine Rede mehr. Inzwischen sind wir in einem Leben angekommen, das, wie ein Supermarkt, fast alles im Angebot hat: eine Überfülle an Nahrungsmitteln, unsere eigenen vier Wände, Familienglück, endlose Reisemöglichkeiten, Sport und Spaß, Genussmittel, globale Kommunikation und Gesundheitsfürsorge. Wir müssen, so scheint es, auf nichts verzichten, außer darauf, ewig zu leben. Ein ziemlicher Aufstieg auf der Karriereleiter der Spezies, wenn man bedenkt, dass wir einmal als Höhlenbewohner angefangen haben.

Es war ein historisches Ziel unserer Gattung, und zwar eines, das alle anderen immer überragt hat: sich vom Verzicht zu befreien. Nie wieder ein Bedürfnis zu empfinden, das unbefriedigt bleibt. Frei sein von der Zumutung des bloßen Existierens. Heute können wir uns ins Zeugnis schreiben: Ziel erreicht. Herzlichen Glückwunsch! Mit dem Erfolg sind wir auch einige große Sorgen losgeworden, denn von ihnen hat uns der Wohlstand befreit. Er schafft Arbeitsplätze, sorgt für die Finanzierung der Sozialsysteme und führt damit zu gesellschaftlicher Stabilität. Im Großen und Ganzen profitieren wir alle von ihm.

Der Wohlstand brauchte bislang also keine Imageberatung, er war auch so ein Star. Jetzt aber leidet sein Ansehen. Man merkt es daran, dass die Umstände unserem Denken einen Richtungswechsel aufgezwungen haben. In den Hochzeiten der Industrialisierung dachten wir vor allem daran, wie wir die Fülle an Ressourcen möglichst intensiv ausschöpfen können. Heute dagegen müssen wir überlegen, was wir überhaupt noch davon antasten dürfen. Die Antwort ist inzwischen bekannt: Nichts mehr. Denn in vielen Fällen sind die Erschöpfungsgrenzen des Planeten bereits erreicht, überschritten oder zumindest in Sichtweite. Und für uns selbst gilt das ja auch. Wie viel Beschleunigung und Arbeitsverdichtung werden wir eigentlich noch aushalten können? Dieselbe Antwort: Nichts mehr. Es sieht ganz so aus, als hätten wir uns in eine Sackgasse hochgearbeitet.

In so einer Situation ist Vernunft gefragt – und Einsicht. Beides Qualitäten, mit denen die Menschheit wenig glänzt. Auch wir sind am Ende nur Tiere und leben als solche psychisch vor allem im Hier und Jetzt. Von Anbeginn bis heute haben die Umstände unser Dasein bestimmt. Kam eine Hungersnot, dann hungerte man – zwangsläufig. Ein einfacher Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Heute herrscht keine Hungersnot, heute herrscht Fettleibigkeit. Und viele Jahre in der Zukunft wird die zu einer Flut an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Gelenkproblemen führen. Das ist kein einfacher Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Wer dagegen etwas tun will, muss heute handeln, obwohl ihn noch nichts dazu zwingt. Was uns früher die Umstände abgenommen haben, muss heute von uns selbst getan werden – vorausschauend, mit Einsicht und Vernunft. Die Aufgabe lautet, mehr als nur die Gegenwart für unser Tun zum Anlass zu nehmen. Das mag zunächst wie ein Nebenaspekt erscheinen. Tatsächlich ist es aber eine ebenso große, wie wichtige Aufgabe. Würden wir sie bewältigen – also wirklich vorausschauendes Handeln zu unserer Richtschnur machen – wäre das gleichbedeutend mit dem Erreichen einer höheren Stufe der Zivilisation.

Freilich, Prüfungen historischen Ausmaßes werden und wurden dem Menschen dauernd schon abgefordert: Weltkriege, Mondflüge, Wirtschaftskrisen, Erstbesteigungen, Entdeckungen – es war nie ein Mangel an Bewährungsproben. Jetzt kommt die nächste: Verzicht. Wie immer ist das alles Neuland. Historische Leistungen erbringt man nicht auf fertigen Landkarten. Deshalb kann man nicht einfach losstapfen. Man sollte tunlichst darauf achten, wohin man den nächsten Schritt setzt. Man muss seinen Weg stets einer kritischen Prüfung unterziehen. Dazu gehört dann auch die Frage, ob Verzicht wirklich die einzige Lösung ist. Oder ob es auch anders geht. Ob auch in Zukunft ein Wohlstand denkbar ist, so wie früher – ohne schlechtes Gewissen, weil ohne negative Folgen? Das sind Fragen, denen dieses Buch nachgehen wird. Auf der Wegstrecke werden wir nicht nur auf die zahlreichen Verzichtsforderungen stoßen, mit denen sich der moderne Mensch konfrontiert sieht, sondern auch auf das ökonomische, philosophische und politische Geflecht, das sich darum herumrankt.

Bevor wir dazu kommen, muss aber erst einmal die Kardinalfrage gestellt werden: Will das überhaupt jemand? Wäre Verzicht überhaupt durchsetzbar? Er geht uns ja zweifellos mächtig gegen den Strich, egal ob wir gerade einkaufen gehen, beim Essen sitzen – oder eben in der Wahlkabine stehen. Verzicht ist der Gottseibeiuns des Wohlstandsbürgers. Er ist die verpönteste Art der Problembewältigung. Und weil das so ist, wird um den Verzicht auch ein solcher Wirbel gemacht. Das Wort selbst ist stets umgeben von einer Art Pesthauch und gehört zu den Aussätzigen in jeder Konversation. Das Gegenteil des Verzichts ist der Genuss. Er ist die Lichtgestalt, die leidenschaftlich verehrt wird. Man genießt den Urlaub, das gute Essen, die Shopping-Tour und tausend andere schöne Dinge des Lebens. Und nichts kann und soll uns davon abhalten. Genuss hat den Status eines Menschenrechts. Und Menschenrechte, die schafft man nicht ab, erst recht nicht, wenn gewählt wird.

Verzicht, Freiheit und Demokratie

Demokratie

Demokratie ist das einzige politische System, in dem der Kunde König ist. Ein Kaufhaus sozusagen: Die Bürger können wählen aus einem breiten Angebot und entscheiden sich dann für eines, das ihren Begehrlichkeiten entspricht. Da stellt sich natürlich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, in einer solchen Konstellation Verzicht durchzusetzen? Würde der nicht eher zum Ladenhüter? Immerhin wären diejenigen, die ihn bei einer Wahl unterstützen müssten, dann auch die Betroffenen. Es gibt Menschen, die deshalb behaupten, Demokratie sei ein Schönwetter-System. Würde das zutreffen, dann sähe es schlecht aus, nicht nur für den Verzicht, sondern mit allem, mit der Zukunft an sich. Man mag einwenden, dass beispielsweise das Strafrecht auch harsche Belastungen vorsieht, die von der Mehrheit getragen werden. Der Unterschied ist: Die Mehrheit geht davon aus, dass sie niemals davon betroffen sein wird. Harte Strafen sind immer nur für die anderen gedacht. Beim Klimaschutz geht das nicht. Da betrifft alles, was beschlossen wird, dann alle. Das ist der Unterschied zu fast jedem anderen Rechtsregime, das unsere demokratische Gesellschaft kennt: Hier wird die Mehrheit leiden müssen, nicht irgendeine Minderheit, von der man sich problemlos distanzieren kann. Die Gretchenfrage lautet also: Wird die Mehrheit Willens und in der Lage sein, für sich selbst Belastungen zu beschließen? Und wenn nicht, was wäre dann die Alternative? China – die Diktatur mit dem Ökoplan? Manch alte Klima-Aktivisten meinen genau das. Vielleicht auch müde geworden, ob all der Kämpfe und Diskussionen über Jahrzehnte hinweg, scheinen sie sich dem vermeintlichen Charme dieser Alternative nicht entziehen zu können. Die Versuchung ist offenbar groß, auf Leute zu setzen, die einfach mal auf den Tisch hauen und anordnen anstatt zu fragen. Kurzer Prozess anstatt unergiebige Debatten. Einer, der innige Sympathien für das chinesische Modell hegt, ist Jørgen Randers, Professor für Klimastrategien in Norwegen und immerhin Co-Autor von »Die Grenzen des Wachstums«.1 Das wird im neuen Bericht an den Club of Rome (erschienen 2012) deutlich. Randers ist der Hauptautor und verantwortet damit Sätze wie diesen: »Offensichtlich gibt es klare Grenzen, wie viel staatliche Einmischung in westlichen Demokratien und besonders in den Vereinigten Staaten geduldet wird. […] Bis 2052 wird China der Welt gezeigt haben, wie eine starke Regierung viel eher in der Lage ist, den Herausforderungen zu begegnen, die sich der Menschheit im 21. Jahrhundert stellen.« Das ist noch nicht alles, denn im weiteren Text wird den Lesern doch tatsächlich empfohlen, am besten nach China umzusiedeln, da es dort keine störende Demokratie gibt: »Ziehen Sie deshalb in ein Land, das fähig ist, proaktiv zu handeln. Das heißt, in eines, das in der Lage ist, seine Bevölkerung davon zu überzeugen, den schmalen Pfad [zu einem modifizierten Kapitalismus, Anm. d. Autors] zu wählen, oder ganz unverblümt – in eines, das sich nicht alleine auf die Demokratie und Marktwirtschaft verlässt. China hätte die Möglichkeit vorausschauend zu handeln.«2 Auch bei anderen Aktivisten scheint der Kampf gegen den Klimawandel zu einem Feldzug gegen die Demokratie ausgeartet zu sein. So ist von Roger Hallam, einem der Mitbegründer von Extinction Rebellion, folgender Satz überliefert: »Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant.«3

Absurde Gedankengänge. Gut, dass sie nur für eine Minderheitenmeinung stehen. Bei den Klimaschützern gibt es nach wie vor mehr Demokraten als Autoritäre. Aber auch die Demokraten sind keine feste Burg. Selbst bei ihnen hat inzwischen so mancher weiche Knie bekommen. Denn sie befürchten, dass die Klimakrise zu gewaltig für das System sei. Schließlich lasse sie ja so gar keine Handlungsalternativen, ohne Alternativen aber keine Freiheit und ohne Freiheit keine Demokratie.4 Folgt man diesem Angstszenario, dann würden wir momentan Zeugen, wie die Klimakrise mit ihrem enormen Gewicht die Demokratie erdrückt. Und die Demokraten müssten hilflos dabei zusehen.

Da reibt man sich dann doch verwundert die Augen. Die heute demokratischen Gesellschaften haben viele Generationen gebraucht, um zu freien, gleichen und demokratischen Gemeinwesen zu kommen oft mussten erhebliche Opfer dafür gebracht werden. Und jetzt steht man angeblich vor der Wahl, den einen Fortschritt gegen den anderen eintauschen zu müssen: Demokratie gegen Klimaschutz. Das ist so absurd, dass es nicht wirklich erwogen werden kann. Ein Fortschritt in der Klimafrage kann und darf nicht mit gesellschaftlichem Rückschritt erkauft werden. Viele, auch der Autor dieses Buches, sind nicht gewillt, die Demokratie aufzugeben – egal was kommt. Es gilt dann die Maxime: Lieber als Demokrat verglühen, denn als Untertan kühl bleiben. Bemerkenswert ist in diesem Fall allerdings schon, dass gebildete, intellektuelle Klima-Aktivisten auf Stereotype hereinfallen, welche die Demokratie schon seit Anbeginn verfolgen. Eines davon wurde eingangs schon erwähnt: Demokratien sind wenig belastungsfähige Schönwetter-Systeme. Wäre das so, dann hätte es beispielsweise den Kriegseintritt der USA im Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Das Land war schließlich nicht unmittelbar bedroht, es hätte sich die Belastung ersparen können. Die Kritik ignoriert auch vollkommen, dass sich die Demokratie als eines der erfolgreichsten und beständigsten Gesellschaftsmodelle erwiesen hat. Das Dritte Reich, die Sowjetunion oder die DDR, sie alle sind untergegangen. So manche Demokratie dagegen, wie die britische, hat sie sämtlich überdauert. Wäre Demokratie tatsächlich ein reines Schönwetter-System, sie hätte nie ein so respektables Alter erreicht. Politische Systeme überleben dann, wenn sie belastungsfähig, wandlungsfähig und legitimiert sind. Für eine gute Demokratie trifft das in der Regel zu. Und das gilt auch dann, wenn die äußeren Herausforderungen so große sind, dass nicht mehr viele Wahlmöglichkeiten bleiben. Es wurde ja erwähnt, dass so mancher meint, wo keine Alternativen mehr bleiben, da ist es auch mit der Demokratie nicht mehr weit her. Die Geschichte widerlegt das: Während der Ölkrisen der 1970er Jahre gab es auch keine Alternativen. Das einzige Mittel, welches zur Verfügung stand, war Verzicht. Man denke nur an die Fahrverbote während der sogenannten »Autofreien Sonntage« – ja genau, Fahrverbote gab es schon einmal in Deutschland, sie sind keine Erfindung aus Brüssel. Dass die Demokratie oder das demokratische Selbstverständnis der Republik dadurch Schaden genommen hätten, ist jedoch nicht bekannt. Die damals größte Herausforderung für die Demokratie hieß RAF – und nicht Fahrverbot.

Man sieht: Freiheit und Demokratie auf der einen, sowie Verzicht auf der anderen Seite sind keine unüberwindlichen Gegensätze. Auch deshalb nicht, weil demokratische Offenheit erst ermöglicht, Probleme zu erkennen und zu benennen. »Die Grenzen des Wachstums« sind seinerzeit jedenfalls nicht in China erschienen und auch ein Buch mit dem Titel »Keine Angst vorm Verzicht« hätte dort wenig Chancen – jedenfalls solange die Parteilinie eine komplett gegenteilige ist. Dass wir begonnen haben, über Klimaschutz zu diskutieren, ist deshalb ganz sicher nicht der chinesischen oder anderen Diktaturen zu verdanken, sondern den Demokratien.

Freiheit

Wer verzichtet, verlässt das Reich der Freiheit und betritt das der Beschränkungen. Und das ausgerechnet jetzt, wo wir nach Kaiserreich, Faschismus und DDR erfolgreich alle Diktaturen hinter uns gelassen haben. Nun soll uns diese so schwer errungene Freiheit wieder genommen werden, und zwar ausgerechnet dort, wo wir es jeden Tag zu spüren bekommen: im Supermarkt, im Internet, Kaufhäusern, Reisebüros, Restaurants, Flughäfen und all den anderen Orten, die dem Konsum dienen. Es war, so gesehen, eine kurze Freiheit: gerade mal etwas mehr als 70 Jahre. Und wer in Ostdeutschland lebt hatte noch weniger, nämlich 30. Alles vorbei! Denn viele meinen, jetzt werfe schon das nächste Regime seine Schatten voraus: die Ökodiktatur. Der Verzicht, den sie mit sich bringt, wird zum Synonym für Freiheitsentzug. Es gibt ihn, den ewigen gesellschaftlichen Kampf zwischen »Freiheit und Autorität«5. Der liberale Vordenker John Stuart Mill hat ihm ein ganzes Buch gewidmet. Aber Hand aufs Herz: Ist das, was wir gegen den Klimawandel tun müssen, wirklich so bedrohlich, dass es eine weitere Runde dieses Kampfes einläutet? Beantworten lässt sich das, indem man erörtert, wo man seine Freiheit verliert und wofür. Das nämlich macht durchaus einen Unterschied. Dass man Freiheit aufgibt, passiert viel öfter im Leben als man sich bewusst ist. Menschen, die sich für Kinder entscheiden, geben beispielsweise erhebliche Freiheitsgrade auf. Sie tun das aber freiwillig und gerne, denn das wofür fühlt sich so gut an, dass es mehr Gewicht auf die Waage bringt als der Freiheitsverlust. Ganz ähnlich spielt sich das auch anderswo ab – beim Glauben beispielsweise. Denn wer sich einer Religionsgemeinschaft anschließt, unterwirft sich deren Regeln und muss im Gegenzug von der ein oder anderen Freiheit lassen. In Deutschland wird niemand gezwungen, eine Religion zu haben. Trotzdem entscheiden sich Millionen dafür. Sie tun das in dem vollen Bewusstsein, damit ein Stück Freiheit zu verlieren, wenn man die Sache ernst nimmt. Der Glauben ist ihnen wichtiger als die Freiheit.

Wir geben also ganz oft in unserem Leben Freiheiten auf, wenn wir im Gegenzug etwas bekommen, das als höherwertig empfunden wird. Ein wesentlicher Teil der Idee des Staates basiert darauf. Wo viele Menschen zusammenleben, können nicht alle alle Freiheiten genießen. Es braucht Regeln, an die sich ausnahmslos jeder halten muss. Nur dann kann das Zusammenleben funktionieren. Man bekommt aber auch etwas zurück dafür: nämlich soziale Absicherung sowie Schutz vor Kriminalität und Gewalt. Der Deal ist: Ein bisschen von seiner Freiheit gibt man auf, dafür bekommt man diese Sicherheiten. Die meisten Menschen finden, dass das ein guter Tausch ist. So ähnlich muss man auch den Freiheitsverzicht einordnen, der für Klimaschutz erforderlich ist. Das bringt uns zurück zur Ausgangsfrage: Wofür und wo verlieren wir denn hier Freiheiten? Das wofür ist das Überleben der Menschheit, und das wo sind nicht die Meinungsfreiheit oder freie Wahlen. Das wo ist stattdessen die Freiheit, ein Fahrzeug mit Verbrennungsmotor zu fahren, Plastiktüten zu benutzen, jeden Tag Billigfleisch essen zu können oder für 30 Euro übers Wochenende nach Mallorca fliegen zu können. Man sollte dieses Wo und Wofür in aller Ruhe gegeneinander abwägen. Bei vernünftiger Betrachtung erkennt man schnell: Das ist keine weitere blutige Runde im ewigen Kampf der Menschheit um die Freiheit. Es geht nicht darum, dass Aktivisten im Namen des Umweltschutzes »die Macht ergreifen« wollen oder die Wiederkehr kommunistischer Phantasien orchestrieren. Im Gegenteil: Die Demokratie kann und wird weiter voll bestehen, alle politischen Freiheiten ebenso. Der Klimaschutz steht dem nicht entgegen. Was dagegen aufgeschlagen wird, ist ein neues Kapitel kollektiver menschlicher Vernunft. Selbstbeschränkung aus purer Einsicht in fern in der Zukunft liegende Notwendigkeiten hat man schließlich im globalen Maßstab bisher nicht gesehen.

Die Gegner

Kein Kampf ohne Gegner. Bei vielen Wohlstandsproblemen stehen wir da einem gegenüber, der für seine Erbarmungslosigkeit bekannt ist: Es ist die Evolution. Gerade Demokratien haben es mit diesem Widersacher schwer, weil sie nicht einfach mit Unterdrückung auf ihn reagieren können. Die Evolution ist deshalb ein solches Problem, weil sie dafür sorgt, dass Verzicht nicht belohnt wird, jedenfalls nicht von unserem Gehirn. Sein Konzept des Daseins beruht im Kern immer noch auf der einen, uralten Überlebensstrategie, die sagt: »Nimm, was Du kannst, solange es da ist.« Unser internes Belohnungssystem, so die eindeutige Erkenntnis der Wissenschaft, ist darauf ausgerichtet, dass wir zugreifen, und nicht, dass wir es uns verkneifen. Mehr noch: Wir werden von unseren Hormonen regelrecht dazu abgerichtet, von Situation zu Situation noch entschlossener einzusacken, was nur geht.6 Dazu braucht es nicht viel, nur ein bisschen Dopamin. Es kommt immer dann zum Einsatz, wenn wir Leistungen erbringen, die unserem Überleben dienen. Dann werden wir mit einem Hormonregen belohnt, der für Kaiserwetter im Gemüt sorgt. In längst vergangenen Zeitaltern war das angebracht. Denn das Überleben war schwer, das Durchhalten auch, und da hat Dopamin dann die nötige Motivation geliefert. In entwickelten Ländern kämpft heute aber niemand mehr ums Überleben. Das Prinzip läuft deshalb ins Leere. Es motiviert uns zu etwas, das gar nicht mehr notwendig ist. Das wird uns regelmäßig beim Einkaufen zum Verhängnis. Denn nachweislich wird sogar schon vor dem Kauf Dopamin ausgeschüttet, um alles in seligem Wohlgefühl zu ertränken, das uns vom Zugreifen abhalten könnte.7 Unser Körper behandelt Einkaufen als Überlebensfrage. Das kommt davon, wenn man das Erbe längst vergangener Zeitalter immer noch mit sich herumträgt. Auf den Punkt gebracht heißt das: Verzicht ist gegen die Natur. Der Gegner ist die Evolution selbst. Ein bekannter US-Evolutionsbiologe, Robert Trivers, hat das einmal so zusammengefasst: »Wir haben uns zu Maximierungsmaschinen entwickelt. Es gibt nicht unbedingt einen Stopp-Mechanismus in uns, der sagt: Entspann dich, du hast genug.«8

Und nicht nur die Evolution stellt sich gegen uns. Unser Unterbewusstsein tut es ihr gleich. Denn wir Menschen haben ja als Gattung ein sehr langes Gedächtnis. Wir wissen, der längste Teil der Menschheitsgeschichte war geprägt von Hunger, Krankheit und frühem Tod. Wenn wir heute umso beherzter zugreifen, dann bekämpfen wir höchstwahrscheinlich auch diesen Dämon, der da in unserem kollektiven Bewusstsein haust. Jeder Bissen, den wir genießen, jeder Luxus, den wir uns leisten, ist ein historischer Sieg über die Unbill früherer Zeiten. Der Mensch fühlt sich am souveränsten und sichersten, wenn er im Wohlstand schwelgt. Das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg kann ganz wesentlich interpretiert werden als rauschende Siegesparty über den traumatisch erlebten Verzicht. Man konnte sich wieder sattessen, musste nicht mehr in Ruinen hausen und hin und wieder war sogar ein Urlaub drin, der nicht nur auf Balkonien verbracht werden musste. Der Konsum wurde gefeiert und niemand wäre auf die Idee gekommen, dass daran etwas falsch ist. Im Gegenteil: Man hatte es sich verdient. Auch nicht viel anders war es nach dem Fall der Mauer. Ein Großteil der Menschen bejubelte damals das Ende der Mangelwirtschaft mindestens genauso wie das Ende der Unfreiheit. Wenn man diesen Menschen heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, mit der Botschaft kommt, »die Sause ist vorbei, jetzt ist wieder Mangelwirtschaft angesagt, nur eben freiwillig«, dann fühlen sie sich um den Sieg über das DDR-System betrogen.

Das Fazit lautet: Verzicht ist machbar, jedoch nur, wenn man sich der Kräfte bewusst ist, die gegen ihn wirken. Denn historisch, biologisch und psychologisch ist da einiges vorhanden, das beträchtliche Energie aufbringt. Mit Appellen und Aufrufen alleine wird das nicht zu überwinden sein. Wer das glauben machen will, ist entweder in Wahrheit gegen Verzicht oder er hat die Mechanismen, die auf ihn wirken, nicht verstanden. Mit gutem Zureden wird man insbesondere auch deshalb nicht weiterkommen, weil der Mensch ja ungeheuer kreativ ist, wenn es darum geht, sich unangenehmen Dingen nicht stellen zu müssen. Wenn es eine Umgehungsstraße gibt, dann nehmen wir die auch. Welche sich da anbieten, das soll in den nächsten Kapiteln beleuchtet werden.

Vermeidungsstrategien

Widerstand

Jeder kennt das aus dem eigenen Leben: Je mehr man etwas muss, umso weniger will man. Was auf einzelne Menschen zutrifft, gilt auch für ganze Gruppen. Druck, ausgeübt von der Gesellschaft, löst reflexhaft Widerstand aus. Und weil das ein Automatismus ist, setzt er selbst dann ein, wenn der Druck ausgesprochen vernünftig ist. Stromtrassengegner, Impfopponenten, Windradfeinde, Anti-Mobilfunk-Aktivisten – die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Allen Fällen ist gemein, dass sie sich gegen Angelegenheiten richten, die in den Augen der Mehrheit als gerechtfertigt gelten. Gerade beim Impfen wird das deutlich. Systematische Impfungen haben seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Verbreitung gefunden. Es ist unbestreitbar, dass sie seitdem Millionen von Menschen das Leben gerettet haben. Trotzdem formierte sich Opposition – und zwar fast von Anfang an. Heute ist sie sogar lauter und schriller als je zuvor – den sozialen Medien sei Dank. Nicht nur beim Impfen, sondern bei ausnahmslos allem scheint Widerstand in Zeiten von Facebook, Twitter und Co. die unvermeidliche Begleitmusik zu sein. Klar, dass der Klimaschutz da nicht ausgespart wird. Hier geht der Widerstand sogar soweit, dass er sich eine eigene Partei hält: die AfD. Auf deren Homepage war auch noch im September 2019 ein Satz wie dieser zu lesen: »Wir wollen das Projekt der Dekarbonisierung über die ›Große Transformation‹ beenden und den ›Klimaschutzplan 2050‹ der Bundesregierung aufheben.«9 Und in Flyern der Partei ist die Rede davon, die Energiewende zu stoppen.10

In der Psychologie gibt es für dieses Phänomen einen Begriff: Reaktanz. Man versteht darunter eine Abwehrreaktion gegen die Einschränkung von subjektiven Freiheiten.11 Zu den Nebenwirkungen der Reaktanz gehört, dass selbst die unmöglichsten Alternativen zum jeweils abgelehnten Verbot in den höchsten Tönen gelobt werden.12 Bei den Impfgegnern ist dies zum Beispiel eine regelrecht skurrile Verherrlichung von Krankheit. Impfen ist aus Sicht, zumindest einiger von ihnen, der Versuch, der Natur und ihrem Lauf ins Handwerk zu pfuschen.13 Auch bei anderen Gesundheitsfragen führt Reaktanz zu einem unüblichen Ausmaß von Toleranz gegenüber dem Siechtum. So ist es inzwischen eine Binsenweisheit, dass Rauchen zu einem tödlichen Strauß an Problemen führen kann. Atemwegs-, Herz-, Kreislauf- und Krebserkrankungen gehören dazu. Ihnen hat es der Raucher zu verdanken, dass er im Schnitt zwischen sieben und neun Jahren Lebenszeit drangibt.14 Angesichts dieser Faktenlage müsste man meinen, dass Zigaretten nur noch im Museum zu bestaunen sind und der Name des letzten bekannten Rauchers längst in den Geschichtsbüchern geschrieben steht. Wir alle wissen aber: Das Rauchen lebt und der Raucher stirbt weiterhin. Mehr noch: Es gibt Menschen, die sich sogar verbissen dafür verkämpfen. So haben sich beispielsweise Gastronomen in den Jahren 2007 und 2008 mit Händen und Füßen gegen die Einführung von großflächigen Rauchverboten gewehrt. Die Raucher selbst natürlich auch. Es ging, wohlgemerkt, nur um das Rauchen in Gaststätten. Zu Hause wollte und will es den Rauchern niemand verbieten, sich ihre Gesundheit zu ruinieren. Aber das war nicht der Punkt. Die Auseinandersetzung drehte sich vielmehr um die Einschränkung von Freiheit. Ein führender Suchtforscher von der Frankfurter Universität bestätigt dies: »Das Thema Rauchen ist deshalb so emotionsgeladen, weil es da um Genuss geht und persönliche Freiheit. Und die Zigarettenindustrie, die Tabakindustrie hat das natürlich auch wunderbar in ihre eigene Werbestrategie umgesetzt und umgemünzt, dass sie uns suggeriert, Rauchen wäre an sich schon Freiheit. Aber natürlich haben viele Raucher und Raucherinnen ein Gefühl, ihnen würde durch das Rauchverbot ein Teil ihrer persönlichen Entscheidungsfreiheit genommen.«15 Die Folge: Reaktanz – und das wie nach Lehrbuch. Es ist nicht verwunderlich, dass man dieses Phänomen bei praktisch jeder Verzichtsforderung antrifft. Es gehört zu den ältesten und häufigsten Vermeidungsstrategien überhaupt. Im Grunde handelt es sich um ein Weltkulturerbe.

Absolution

Aus Reaktanz wird insbesondere in den hochgradig kommunikativ vernetzten Industriegesellschaften schnell massenhafter Widerstand. Die Steigerungsform geht so: eine Reaktanz, mehrere Reaktanze, das Ganze. Dass sich hier eine Marktlücke auftut, nicht nur für politische Parteien, sondern auch für allerlei falsche Propheten und Gefälligkeitswissenschaftler, liegt auf der Hand. Nach nichts giert dieser Widerstand mehr als nach Rechtfertigung für das Unvernünftige. Wie oft hat man von irgendwelchen Bloggern und sonstigen Schreibern schon das Argument hören müssen, dass es genügend Leute gäbe, die starke Raucher waren und trotzdem uralt geworden sind. Garniert wird das dann meist mit abgenutzten Beispielen wie Helmut Schmidt und Winston Churchill.16 Problem gelöst, Rauchen geht in Ordnung. Oder die zahlreichen Bücher, die lustvoll suggerieren, dick zu sein sei nichts, das geändert gehört. Das sind dann so Titel wie »Ich bin nun mal dick – ein Wohlfühlbuch«17 oder »Ich bin dann mal dick! Mein Weg zu mehr Gelassenheit und Zufriedenheit trotz Übergewicht«18, letzteres sogar von einer Ärztin verfasst. Auch immer wieder schön: »Enthüllungsartikel« über die gesundheitsfördernde Wirkung von Genussmitteln wie zum Beispiel Kaffee.19 Die sind dann versehen mit verheißungsvollen Überschriften wie »Länger leben dank Kaffee?«.20 Grundlage dafür sind meist Beobachtungsstudien, die rein systematisch schon wenig Beweiskraft haben.21 Trotzdem wird das natürlich gerne gelesen, vorzugsweise bei einem schönen Tässchen Kaffee. Randnotiz: Was man da trinkt, ist ein Insektizid, das der Kaffeestrauch vor allem in seiner Zeit als Keimling einsetzt, um sich gegen gefräßige Krabbler zur Wehr zu setzen. Trotzdem hat sich das Heißgetränk zum Kerosin der Leistungsgesellschaft entwickelt. Länger arbeiten, weniger Schlaf – Kaffee macht es möglich.

Wir trinken also Insektenvernichter, und selbst dafür wird noch der Segen erteilt. Man greift gerne und viel auf solche Absolutionen zurück. Die sind auch deshalb eine beliebte Vermeidungsstrategie, weil bei vielen Menschen ein Gefühl der Bedrängnis herrscht. Von allen Seiten drücken Forderungen auf sie ein: Klimaschutz, Gesundheit, Soziales. Und sie laufen alle auf dasselbe hinaus: Hört auf mit der Prasserei, beschränkt Euch. An allen Fronten ist Verdruss. Da verschafft Absolution wieder Erleichterung. Man kann dann entspannter all jenen entgegentreten, die bei fast allem, was man tut, anklagend den Zeigefinger heben. Beim Essen, wo der Zeigerfinger-Mensch sagt: Bloß nicht zu viel davon. Beim Autofahren: Denk ans Klima. Beim Surfen im Netz: Werde nicht süchtig danach. Und beim Reisen: Muss das denn jetzt auch noch sein? Viele sind davon genervt, und dass gar ein Zeitalter des Verzichts heraufzieht, möchten sich nur die Allerwenigsten eingestehen. Die große Mehrheit hat sich für Absolution entschieden und wählt Politiker wie Trump, Bolsonaro oder Erdogan. Sie alle sind Anti-Verzichts-Politiker. Ihre Botschaft lautet: »Niemand soll sich etwas versagen müssen. Lasst Euch nicht einschüchtern von Klimaschützern, Gesundheitsaposteln und Wissenschaftlern. Was Ihr macht, ist in Ordnung und kann für immer so weitergehen.« Das ist natürlich gelogen, aber vielen ist das lieber als die Wahrheit.

Das gilt insbesondere für den Klimawandel. Ein Thema, das uns gar nicht mehr in Ruhe lässt, tagtäglich umschwirrt wie eine lästige Fliege. Viele macht das mürbe. Denen hilft die AfD. Sie hat sich das Muster der eben zitierten Dicken-Bücher zum Vorbild genommen: Der Klimawandel kommt, ja, aber wir fühlen uns trotzdem gut. Das hört sich dann im Originalton so an (Zitat aus dem Europawahlprogramm der AfD 2019): »Wir bezweifeln aus guten Gründen, dass der Mensch den jüngsten Klimawandel, insbesondere die gegenwärtige Erwärmung, maßgeblich beeinflusst hat oder gar steuern könnte. Klimaschutzpolitik ist daher ein Irrweg.«22 Herrlich: SUV fahren, Kreuzfahrten machen, Interkontinentalflüge – Absolution für alles. Aber das Wichtigste ist – das ist bei konservativen und nationalistischen Parteien immer das Wichtigste: Es muss sich nichts verändern, alles kann so weitergehen wie bisher. Widerstand kennt ja viele Gesichter: Oft tritt er für eine Änderung der Verhältnisse ein, beispielsweise, wenn es gegen Unterdrückung geht. Aber es gibt eben auch den Beharrungswiderstand, der gegen jede Veränderung auftritt. Es ist der hinhaltende Unmut des störrischen Esels, der nicht vom Fleck will, weil er das Stillstehen mehr liebt als das Vorwärtsgehen. Und beim Verzicht ist es nicht anders: Er fordert ja nicht nur, dass man etwas aufgibt, sondern auch, dass man mit diesem Aufgeben etwas verändert. Manchmal scheint es, als ob dieser Aspekt des Verzichts, also die Veränderungserfordernis, für viele der eigentliche Grund ihrer Verweigerung ist. Man kann natürlich auf einen SUV verzichten, es fehlt einem nichts, wenn man stattdessen einen Kleinwagen mit E-Antrieb fährt. Und in einem urbanen Umfeld fehlt einem nicht einmal dann etwas, wenn man ganz auf einen Pkw verzichtet. Aber die Veränderung, die das mit sich bringt, die wird als psychischer Aufwand empfunden, der vielen zu anstrengend ist. Es handelt sich dabei zweifellos um ein Phänomen von Wohlstandsgesellschaften, denn die können es sich schlicht leisten, zu beharren. In ärmeren Gesellschaften würde sich beispielsweise gar nicht die Frage stellen, ob man gegen neue Stromtrassen oder Windräder ist. Man wäre schlicht froh, dass es überhaupt Strom gibt. Wohlstand bringt Beharrlichkeit. Das muss nicht immer schlecht sein, kann aber in Erstarrung enden.

Ignoranz

Der Mensch ist ein großer Ignorierer. Kein Tier könnte wagen, was wir uns andauernd leisten: Die Umstände, unter denen wir leben, einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen. In der Natur würde so ein Verhalten früher oder später – eher früher – einen tödlichen Ausgang nehmen. Tiere sind gezwungen, sich immer und überall sofort mit den Herausforderungen ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Wir Menschen nicht, denn wir haben zwischen der Natur und uns einen Puffer angelegt, bestehend aus Technologie. Der dämpft zuverlässig alles ab und sorgt dafür, dass existenzielle Bedrohungen bei uns nur noch als Unannehmlichkeiten ankommen. Das ist der Grund, warum wir auf einem immer wärmer werdenden Planeten nicht längst damit beschäftigt sind, das Feuer zu löschen. Stattdessen drehen wir einfach die Klimaanlage höher: Problem gelöst. Auf solche Weise lässt sich schon seit Jahrzehnten der Klimawandel, zumindest in den wohlhabenden Ländern, ganz zuverlässig ausblenden. Auch andere Phänomene, wie beispielsweise die zunehmende Fettleibigkeit, erfahren eine gekonnte Ignorierung. Hier verlegt man sich darauf, sie einfach verbal wegzudefinieren. Wer fett ist, dem sagt man das nicht mehr so, sondern bezeichnet ihn als »vollschlank«. Zweifellos eine der absurdesten Wortkreationen der Moderne.

Wie gesagt, der Mensch ist groß im Ignorieren. Man könnte auf den Verdacht kommen, je intelligenter eine Spezies, umso mehr ignoriert sie. Denn Intelligenz führt zu Wissen. Das ist nicht immer angenehm. Ohne eine gewisse Kunstfertigkeit im Verdrängen würde man womöglich irgendwann den Verstand verlieren. Und natürlich erspart uns Ignoranz ja auch einiges mehr: schmerzhafte finanzielle Opfer, das Verlassen unserer Komfortzone oder die Gewöhnung an Neues. Ignoranz ist die intellektuelle Wohnzimmercouch. Ein Ort, an dem keine Anstrengung gefordert wird und sich nie etwas verändert, außer dass man von der linken auf die rechte Pobacke rutscht. Es ist ein erstaunliches Phänomen: Denn natürlich weiß jeder, dass die Probleme nicht weggehen und das dicke Ende irgendwann mit Macht kommt. Die Anstrengung, das zu verhindern, scheint aber viele noch mehr abzuschrecken als das dicke Ende selbst. Das liegt ja auch meist in der Zukunft, während der Mensch eben doch psychologisch eher im Hier und Jetzt lebt. Da ist ignorieren oft die bequemere Option. Ein Gefühl für eine eher abstrakte Zukunft und die dort drohenden Konsequenzen zu entwickeln, scheint den meisten schwerzufallen. Jeder Raucher ist der lebende Beweis für diese These. Ignoranz dürfte somit die Mutter aller Sünden sein. Das kann man auch daran ablesen, dass sie überall gleichermaßen die Rolle des Bösewichtes spielt: Umwelt, Gesundheit, Gesellschaft. Wenn man also fragt, auf was wir als erstes verzichten sollten, wenn wir uns die Zukunft nicht ruinieren wollen, dann wäre das die Ignoranz. Aber gut, das ist ja ein alter Menschheitstraum …

Zynismus

Eine weitere beliebte Vermeidungsstrategie ist der Zynismus. Das geht so: Man weiß, was kommt, tut aber nichts dagegen, außer ein verächtliches Lächeln aufzusetzen. Menschen verfallen dem Zynismus unter zwei möglichen Umständen:

Umstand eins: Die Gefahr, die heraufzieht, erscheint so übermächtig, dass sie nicht zu bewältigen ist. Was soll man da noch machen, außer gute Miene zum bösen Spiel?

Umstand zwei: Man ist sich der eigenen menschlichen Schwächen sehr bewusst. Man weiß, dass man bestimmte Laster trotz ihrer Gefahren nie wird abstellen können. Deshalb bleibt kaum etwas anderes übrig, als schicksalsverachtend weiter dem Laster zu frönen.

Ein gutes Beispiel für Umstand eins ist der Klimawandel, eines für Umstand zwei das Rauchen. Großprobleme und Laster bringen uns also an unsere Grenzen und dort wartet dann der Zynismus. Er gibt sich als guter Freund, mit dem zusammen man alles leichter ertragen kann. Letztlich ist er natürlich alles andere als gut, da er uns mit seinem fatalistischen Einfluss davon abhält, etwas gegen die Probleme zu unternehmen. Wer sich mit dem Zynismus anfreundet, bleibt eigentlich immer unter seinen Möglichkeiten. Da ist der Zyniker dem Gewohnheitskiffer wesensverwandt. Psychologen wissen längst um diesen Umstand und warnen, weitgehend ungehört, seit Jahren davor, Menschen mit Katastrophenszenarien in den Zynismus zu treiben. Je brutaler der Klimawandel geschildert wird, umso mehr Menschen haben das Gefühl, ohnehin nichts mehr ausrichten zu können.23 Und wer einem immer wieder aufs Brot schmiert, dass schon ab der ersten Zigarette das Lungenkrebs-Risiko steigt24, der löst bei einem starken Raucher nur den einen Gedanken aus: Dann ist ja eh schon alles egal.

Der Tod als Chance

Für nahezu jede Zumutung im Leben haben wir uns spirituell Tranquilizer geschaffen. Für die größte von allen, den Tod, ist das die Religion. Alle Weltreligionen halten die angstlösende Botschaft bereit, dass es auch nach dem physischen Ende eine Fortexistenz gibt. Und die ist oft noch vielversprechender – Stichwort Paradies – als es das schnöde irdische Dasein war. So wird dann der Tod umgewidmet zur Chance auf ein besseres Leben. Das ist Dialektik in höchster Vollendung. Und für Milliarden von Menschen funktioniert es. Sie reden sich auf diese Weise die Zumutung schön, dass ihr Leben endlich ist. Das ist ein Effekt, den sonst nur noch Drogen bereithalten. Die sind aber aufwendig zu beschaffen und teuer dazu. Eine Religion als Flucht aus der Realität kommt da entschieden günstiger und ist auch bequemer erreichbar als der nächste Dealer.

Das entrückte Schönreden ist eine so probate Methode, dass sie in tausend Abwandlungen für die großen und kleinen Probleme des Lebens gleichermaßen eingesetzt wird. Da wäre zum Beispiel die Wohnungsnot. Man könnte sich dagegen auflehnen, gar empört sein. Nicht wenige machen aber genau das Gegenteil: Verklärende Akzeptanz. Sie begnügen sich mit radikal weniger Platz und machen sich das erträglich, indem sie es als Reduktion aufs Wesentliche adeln, ja sogar als spirituelle Rückkehr zum eigentlichen Selbst. Das Ganze bekommt dann noch den niedlichen Namen »Tiny Houses« und fertig ist der Trend. Von außerhalb der rosa Wolke betrachtet handelt es sich dabei aber im Grunde um bewohnte Schuhschachteln. Denn die kleinsten dieser Mini-»Häuser« weisen deutlich unter 20 Quadratmetern Grundfläche auf. Nicht selten sind sie aus rechtlichen Gründen auch noch auf Anhänger montiert, was bedeutet, dass es sich um bessere Wohnwagen handelt.25 Eine andere Zumutung, bei der wir uns mit Selbsttäuschung behelfen, ist die massive Ausweitung des Niedriglohnsektors. Wer wenig verdient, kann sich wenig leisten und besitzt oft kaum mehr als das Nötigste. Kein Problem, das ist doch eigentlich großartig, sagen da manche Prediger und preisen den Minimalismus als Pfad der Erleuchtung und nachhaltigen Lebensstil der Zukunft.26

Es bleibt nicht aus, dass auch beim Verzicht, der beispielsweise für den Klimaschutz notwendig ist, manche auf diese Weise versuchen, aus der schwer verdaulichen Realität Schonkost zu machen. Klar ist: Wir werden Verzicht üben müssen, um das Klima zu retten. Je deutlicher das jedoch wird, umso mehr Schönrederei wird darum betrieben. Der Sache hilft das nicht unbedingt. Es wird trotzdem spannend sein zu beobachten, wie viele Menschen am Schluss tatsächlich daran glauben oder zumindest glauben wollen, dass Verzicht, wie von manchen suggeriert, keine Zumutung, sondern eine begrüßenswerte Chance darstellt. Der Klimawandel ist ein globales Phänomen, der Kampf dagegen muss auch global geführt werden. Demzufolge hat Verzichtsethik gute Chancen, die nächste große Weltreligion, und damit der beliebteste aller Tranquilizer, zu werden.

Was bleibt unter dem Strich? Das Erwartbare: Vermeidungsstrategien funktionieren für uns, nicht für die Probleme. Deren Lösung bleibt liegen, während wir uns einen schlanken Fuß machen. Eine Erkenntnis, die uns, wenngleich auch unwillig, dann doch zwingt, über konkretes Handeln nachzudenken. Natürlich muss man dabei nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschütten. Vielleicht gibt es ja bequeme Varianten des Handelns.

Bequeme Auswege

Schlechte Nachrichten aus Schlaraffenland

Das Schlaraffenland existiert – das ist die gute Nachricht. Wir dürfen aber nichts davon haben – das die schlechte. Das kommende Zeitalter wird vor allem eines bringen: Verzicht. Klima, Gesundheit, Moral – alle sagen uns: »Lass die Finger von diesem und jenem.« Was dann am Schluss noch übrig bleibt, ist weniger von allem: Genuss, Lebensfreude, Freiheit und Sorglosigkeit. Wir hatten nie zuvor in der Geschichte einen größeren Wohlstand. Und doch mutet man uns zu, darauf zu verzichten. Immer stärker wird uns das ungute Gefühl beherrschen, inmitten von Wohlstand und Überfluss tatsächlich darben zu müssen.

Mehr noch: Wir sollen nicht nur auf einen beträchtlichen Teil dessen verzichten, was wir aktuell haben, sondern auch auf das, was wir zukünftig mehr haben könnten. Monika Meyer, die Geschäftsführerin des Forschungs-Institutes Wohnen und Umwelt in Darmstadt, hat das vorgerechnet. Das sieht dann folgendermaßen aus: Seit Kriegsende bewohnen wir pro Person in jedem Jahrzehnt fünf Quadratmeter mehr. Deshalb kommen wir heute im Schnitt auf 46,7 Quadratmeter. Die ständig zunehmenden Quadratmeter haben die ebenfalls ständig steigende Energieeffizienz der Wohnungen zu einem beträchtlichen Teil einfach aufgefressen. Wohlstand und Wirtschaftswachstum haben uns somit größere Wohnungen beschert, aber trotz aller Bemühungen keinen merklich sinkenden Energieverbrauch. Unsere vergeblichen Anstrengungen erinnern da sehr an den tragischen Steineroller Sisyphos. Deshalb sieht Frau Meyer vor allem diese Lösung: »Ein Nullwachstum wäre hilfreich.«27 Die Dimension dieser Forderung kann man sich klarmachen, indem man sich vorstellt, was passieren würde, wenn man einem Zehnjährigen sagte: »Die nächsten paar Geburtstage gibt es keine Geschenke.« Verständnis und Einsicht wird man da sicherlich am allerwenigsten erwarten können. In Bezug auf Wirtschaftswachstum geht es uns allen letztendlich aber wie dem Zehnjährigen: Den Anspruch auf ein zukünftiges Mehr halten wir für gottgegeben und daher nicht verhandelbar.