Keine Macht für Niemand - Kai Sichtermann - E-Book

Keine Macht für Niemand E-Book

Kai Sichtermann

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Beschreibung

Ton Steine Scherben – das ist mehr als nur der Name einer Band. Ton Steine Scherben – das ist der Mythos der siebziger Jahre. Die Scherben repräsentierten das Lebensgefühl einer Generation, das rebellische, trotzige, träumerische und utopische Lebensgefühl der Jugend, die den Aufstand probte. Die Scherben schrieben den Soundtrack der linken Bewegung. Das Buch zeichnet die Geschichte der Scherben nach, von ihrer Gründung im Jahre 1970 bis zur Auflösung im Jahre 1985. Interviews mit Bandmitgliedern und Weggefährten von damals gehen der Frage auf den Grund, was die Scherben aus heutiger Sicht waren – und sind.

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Seitenzahl: 573

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Kai Sichtermann, Jens Johler, Christian Stahl

Keine Macht für Niemand

Die Geschichte der Ton Steine Scherben

INHALT

•DIE TAUFE 22

•DIE UR-SCHERBEN 26

•JIMI HENDRIX’ LETZTES KONZERT 31

•EIN KERL MIT ZIEGENBART 48

•DER BRUDER – GESPRÄCH MIT GERT MÖBIUS 57

•UMHERSCHWEIFENDE HASCHREBELLEN 68

•DIE SCHERBEN AUF TOURNEE 79

•YÜ GUNG VERSETZT BERGE 93

•HAUSBESETZUNG NR.1 96

•WARUM GEHT ES MIR SO DRECKIG – DIE ERSTE LP 105

•SCHLOTTERER UND DAS T-UFER 111

•NIKEL MIT DEM HACKEBEIL 118

•DAS IST UNSER HAUS – DIE RAUCH-HAUS-BESETZUNG 127

•DER VERSORGER – GESPRÄCH MIT NIKEL PALLAT 134

•DIE FRAGE DER GEWALT 145

•DIE SONGS DER NEUEN LP 149

•ALSTERSTUDIO HAMBURG 157

•SZENE-WECHSEL 170

•DROP-LIGHT 193

•HERR FRESSACK 208

•REUNION MIT FUNKY UND GINO 214

•DIE KURZEN KOMMEN 218

•DER GLITZER-GIG 222

•WENN DIE NACHT AM TIEFSTEN 229

•DER JÜNGER – GESPRÄCH MIT JOHN BANSE 234

•RUDI DUTSCHKES FÜSSE 246

•RADIESCHENKOMMUNISTEN 254

•DER BERATER – GESPRÄCH MIT JÖRG SCHLOTTERER 270

•TEUFEL HAST DU WIND 283

•WAHLKAMPF FÜR DIE SPD 286

•DIE KILLERBIENEN GREIFEN AN 294

•HALLO, HALLO, IST DORT DIE IRRENANSTALT 305

•PUNK 312

•DER DRUMMER – GESPRÄCH MIT FUNKY K. GÖTZNER 314

•VIER RAUS, DREI REIN 322

•ELSER MAXWELL 328

•CARAMBOLAGE 340

•DIE SCHERBENBRAUT – GESPRÄCH MIT ANGIE OLBRICH 347

•SPÖKENKIEKEREI 358

•DAS TAROT-GEHEIMNIS WIRD GELÜFTET 364

•PANNEN BEI DER PRODUKTION 389

•SCHERBE AUF ZEIT – GESPRÄCH MIT HANNES EYBER 396

•MEHR PROFESSIONALITÄT 407

•DIE ELSER-TOUR 422

•KATERSTIMMUNG NACH DER TOUR 429

•HOFFNUNG UND NEUER SCHWUNG 432

•DER FREUND – GESPRÄCH MIT MISHA SCHÖNEBERG 442

•SCHERBEN: Scherben 458

•DIE RAU-TOUR 465

•DER KEYBOARDER – GESPRÄCH MIT MARTIN PAUL 474

•ON THE ROAD AGAIN 484

•DIE GRÜNE – GESPRÄCH MIT CLAUDIA ROTH 491

•DER HAUSMEISTER STELLT DEN STROM AB 505

•DAS ENDE 507

•RADIO MOSKAU 516

•RIO AUF SOLOPFADEN 519

•COMEBACK OHNE RIO 530

•NEUES GLAS AUS ALTEN SCHERBEN 535

•DIE ERBEN 539

•ALLEIN MACHEN SIE DICH EIN 547

•ALLES IST RICHTIG 548

•ALLES LÜGE 548

•ALLES VERÄNDERT SICH 548

•ALLES WAS DU WILLST 549

•ARDISTAN 549

•AUF FREMDEN PFADEN 549

•BEI NACHT 550

•BIST DU’S 550

•BLEIB WO DU BIST 550

•DA! 550

•DURCH DIE WÜSTE 551

•EBBE UND FLUT 551

•DAS EINHEITSFRONTLIED 551

•FEIERABEND 551

•FIEBER 552

•FILMKUSS 552

•DER FREMDE AUS INDIEN 552

•GOLD 552

•GUTEN MORGEN 553

•HALT DICH AN DEINER LIEBE FEST 553

•(AUF EIN) HAPPY-END 553

•HAU AB 553

•HEIMWEH 554

•HEUT’ NACHT 554

•ICH GEH WEG 554

•ICH HAB NIX 554

•ICH WILL ICH SEIN 555

•ICH WILL NICHT WERDEN WAS MEIN ALTER IST 555

•JENSEITS VON EDEN 555

•JETZT IST FEIERABEND 555

•JETZT SCHLÄGT’S DREIZEHN 556

•JUNIMOND 556

•DER KAMPF GEHT WEITER 556

•KEINE MACHT FÜR NIEMAND 557

•KLEINE FREUDEN 557

•KÖNIG VON DEUTSCHLAND 557

•KOMM AN BORD 558

•KOMM SCHLAF BEI MIR 558

•KOMMEN SIE SCHNELL (IRRENANSTALT) 558

•KIBBEL KRABBEL 558

•LA REPONSE 559

•LAND IN SICHT 559

•LASS MICH LOS 559

•LASS UNS DAS DING DREHN 560

•LASS UNS’N WUNDER SEIN 560

•DIE LETZTE SCHLACHT GEWINNEN WIR 560

•MACHS GUT MACHS BESSER 560

•MACHT KAPUTT WAS EUCH KAPUTT MACHT 561

•MAMA WAR SO 561

•MEIN NAME IST MENSCH 561

•MENSCH MEIER 561

•MENSCHENJÄGER 562

•MOLE HILL ROCKERS 562

•MORGENLICHT 562

•NICHT NOCH MAL 563

•NIEMAND LIEBT MICH 563

•NIMM DEN HAMMER 563

•PAUL PANZERS BLUES 563

•RAUCH-HAUS-SONG 564

•RAUS (AUS DEM GHETTO) 564

•REGENTAG 564

•RUNTER ZUM HAFEN 564

•SEI MEIN FREUND 565

•S ’IS EBEN SO 565

•S.N.A.F.T. 565

•SAMSTAGNACHMITTAG 565

•SCHRITT FÜR SCHRITT INS PARADIES 566

•SHIT-HIT 566

•SKLAVENHÄNDLER 566

•SOLIDARITÄT 567

•DR. SOMMER 567

•STEIG EIN [INTRO – DIE GESCHICHTE] 567

•STEIG EIN [DER SONG] 567

•STERNSCHNUPPEN 568

•SUMPF SCHLOCK 568

•TANZ! 568

•DER TRAUM IST AUS 568

•TRAUM OHNE STERN 569

•DER TURM STÜRZT EIN 569

•VERBOTEN 569

•VORÜBERGEHEND GESCHLOSSEN 569

•WANN I. 570

•WARUM GEHT ES MIR SO DRECKIG 570

•WAS BLEIBT DAS BLEIBT 570

•WENN DIE NACHT AM TIEFSTEN 571

•WIE IN DEN TAGEN MIDIANS 571

•WIEDERSEHEN 571

•WIR MÜSSEN HIER RAUS 571

•WIR SIND IM LICHT 572

•WIR STREIKEN 572

•WO SIND WIR JETZT 572

•ZEITLOS 572

VORWORT ZUR NEUAUSGABE

Der Mythos Ton Steine Scherben – wir hatten uns bemüht, ihn mit unserem Buch zu entzaubern. Nicht um das ungeheure Verdienst von Rio Reiser und den Scherben um die deutsche Rockmusik und Rocklyrik zu schmälern, sondern weil wir ein realistisches Bild dieser Band zeichnen wollten, um die sich so viele Träume und Legenden gerankt haben. Aber der Mythos ist stärker.

August 2001. In der Berliner Hasenheide hat der Film »Der Traum ist aus« Premiere. Es ist ein event, zu dem die Band Neues Glas aus alten Scherben spielt und viele ehemalige Scherben und alte und neue Scherbenfans versammelt sind. Am Schluß werden die anwesenden Bandmitglieder auf die Bühne gebeten. Da drängt ein junges Mädchen nach vorn, erobert das Mikrofon und verkündet: »Die Scherben müssen jetzt aber auch Solidaritätskonzerte zugunsten von attac bringen. Rio hätte das so gewollt.«

Es war wie in alten Zeiten. Und es ist, wie es ist: Je weniger die Fans von der Geschichte der Scherben wissen, desto sicherer glauben sie zu wissen, was Rio und die Scherben gewollt haben.

Aber der Kampf um Aufklärung geht weiter, daher die Neuausgabe dieses Buches. Wir hatten uns in unserer Darstellung ursprünglich streng an die Zeit zwischen 1970 und 1985 gehalten, zwischen Gründung und Auflösung der Band. Aber da immer wieder Fragen von Fans kamen, was denn danach geschah und was die Ex-Scherben heute machen, haben wir uns entschlossen, ein Bonus-Kapitel anzuhängen: »Das Erbe der Scherben«. Es war ja auch viel passiert, nachdem im Frühjahr 2000 unser Buch erschien: Die Band Neues Glas feierte Erfolge, die Boygroup Echt landete einen Top-Twenty-Hit mit Junimond, die Berliner Band Das Department brachte unter dem Titel Die Erben der Scherben eine Hiphop-Cover-Version der Keine Macht für Niemand-LP heraus, und der Film »Der Traum ist aus«, der ursprünglich auch »Die Erben der Scherben« heißen sollte, wurde gedreht. Das alles wollten wir nicht unerwähnt lassen. Unser Buch ist, das haben viele bemerkt, nicht nur die Biografie einer Band, sondern auch ein Stück Geschichtsschreibung über die 68er Zeit, über die Höhenflüge und Verirrungen einer inzwischen schon sagenumwobenen Generation.

Wir hatten uns bemüht, durch genaue Recherche, gewissenhafte Interviews und einen unverklärten Blick nichts als die Geschichte der Ton Steine Scherben zu schreiben. Aber wir mußten erkennen: der Mythos ist mächtiger.

Und so lebe er denn weiter.

Die Autoren

VORWORT

Wie bist du auf die Idee gekommen, ein Buch über die Scherben zu schreiben? Diese Frage ist mir, während ich an dem Manuskript arbeitete, immer wieder gestellt worden. Ich konnte darauf keine eindeutige Antwort geben. Ich war selbst überrascht von dieser Idee. Lange Zeit hatte ich gedacht, ich hätte die fünfzehn Jahre Scherben-Zeit ein für alle mal abgehakt. Nicht, daß ich damit nichts mehr zu tun haben wollte, ich hatte nur gedacht, es war eine aufregende und verrückte Zeit, aber was soll’s, sie ist vorbei!

Ich glaube, es waren zwei kleine Ereignisse, die mich dazu gebracht haben, das Buch zu schreiben. Als ich im Frühjahr 1998 meine Tochter Lisa auf dem Land besuchte, erzählte sie mir, ihre Cousine Juliana hätte in Griechenland jemanden getroffen, der ein großer Scherben-Fan war, und ihm daraufhin stolz erzählt, daß ihr Onkel der Bassist der Gruppe gewesen sei.

Ich weiß nicht mehr genau, was ich dazu gesagt habe, es war wohl irgend eine Bemerkung, mit der ich die Bedeutung der Scherben herunterspielen wollte. »Was?« rief Lisa entrüstet aus. »Die Scherben sind doch Kult!«

Das ließ mich aufhorchen. Kult – und ich war ein Teil davon?

Bald darauf berichtete mir Ingo, der Freund meiner Schwester Barbara, von einer Sightseeing-Tour mit dem Schiff auf Spree und Landwehrkanal unter dem Motto »Das rebellische Berlin«. Als das Schiff am Tempelhofer Ufer 32 vorbeifuhr, an dem Eckhaus, in dem die Scherben vor knapp dreißig Jahren gewohnt haben, schepperte auf einmal aus dem Bordlautsprecher der Song Keine Macht für Niemand, und der Ansager erzählte etwas über Ton Steine Scherben, über Teach-ins, Straßenkämpfe und Hausbesetzungen. Diese beiden Geschichten gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. So nach und nach verdichtete sich dann die Idee, ein Buch über die Scherben zu schreiben.

Im Oktober 1998 fragte ich Jens Johler, der mich vor dreißig Jahren zusammen mit Barbara zu den Scherben, oder genauer, zum Hoffmanns Comic Teater gebracht hatte, ob er mit mir zusammen das Buch schreiben würde. Das erste, was er sagte, war: Du mußt es aber in der Ich-Form schreiben. Ich zuckte zurück. Das wollte ich nicht. Den autobiographischen Rückblick, wenigstens für die Berliner Zeit, hatte schon Rio zusammen mit Hannes Eyber gebracht – sollte jetzt jeder, der mal dabei war, seinen Erfahrungsbericht schreiben? Nein, was mir vorschwebte, war ein vielstimmiges Buch, eines, in dem möglichst alle zu Wort kommen, die bei den Scherben eine Rolle gespielt haben. Auf dieses Konzept haben wir uns dann geeinigt, und ich bin Jens Johler dankbar dafür, daß er mir Mut gemacht und sich so dafür eingesetzt hat.

In einer späteren Phase kam dann Christian Stahl hinzu und hat uns vor allem mit seinem Know-How als Journalist unterstützt. Auch ihm bin ich zu Dank verpflichtet. Wir haben – besonders in der Endphase – das Buch zu dritt geschrieben, als Team, und es war für uns alle nicht nur interessant, sondern auch bewegend, all den Mitgliedern der Scherben-Family (wieder) zu begegnen, die uns mit ihren Interviews und Statements geholfen haben, Klarheit darüber zu gewinnen, was die Scherben eigentlich waren. Was wir nicht wollten, war: Glorifizierung. Nicht die Scherben als »Mythos« oder »Legende«, auch nicht die Scherben als »Kult«, was immer das sein mag, sondern die Geschichte einer Band, die exemplarisch war für ihre Zeit: Sie hat als rebellische Gruppe begonnen, hat die Hausbesetzungen populär gemacht, ist später vor der dogmatischen – und auch der terroristischen – Linken aufs Land geflohen, hat eine Landkommune gegründet, hat als Captain Hammer-Band Wahlkampf für die SPD gemacht, war Teil der Schwulenbewegung, hat sich mit Magie und Esoterik beschäftigt, hat mit der »Grünen Raupe« den Wahlkampf der Grünen unterstützt und sich schließlich, ächzend unter einer drückenden Schuldenlast, aufgelöst.

Mir ist das alles erst während der Arbeit an dem Buch klar geworden. Seltsam, man lebt in einer Geschichte – und weiß doch erst hinterher, was sie eigentlich war. Die Scherben waren jedenfalls weniger »Kult« als Geschichte – sie haben Geschichte in vorderster Front erlebt und gemacht.

Vielleicht wird durch dieses Buch auch eines klar, was den Scherben immer wichtig war: Wir waren nicht nur die Anarcho-Rockband, als die wir ursprünglich angetreten sind. Unsere Entwicklung ist weit darüber hinausgegangen. Das Kapitel über unsere vielleicht kreativste Phase – Comeback mit Tarot – wird das verdeutlichen. In diesem Buch wird erstmals ein lange gehütetes Geheimnis gelüftet, der Schlüssel zu der anspruchvollsten und rätselhaftesten Platte der Scherben: Die Schwarze.

Noch eine technische Anmerkung: Um lästige Fußnoten zu vermeiden, haben wir für fast alle Zitate die jeweilige Quelle in der Literatur-Liste am Ende des Buches oder im laufenden Text genannt. Fehlt die Quellenangabe, so handelt es sich um private Tonbandaufzeichnungen, Feldnotizen oder Gedächtnisprotokolle der Autoren. Die Zitate von Rio Reiser stammen fast ausschließlich aus den bislang unveröffentlichten Tonbandprotokollen, die Hannes Eyber mit Rio aufgenommen hat. Wir danken ihm und auch dem Rio Reiser-Archiv für die Freigabe dieser Texte.

Kai Sichtermann

ERSTER TEIL: DIE SCHERBEN IN BERLIN

1970: EINE BAND WIRD GEGRÜNDET

DIE TAUFE

August 1970, Berlin, Bezirk Kreuzberg, Oranienstraße 43. In einer ehemaligen Fabriketage sitzen vier langhaarige Typen auf zerschlissenen Matratzen, rauchen Filterzigaretten, lassen Joints kreisen und trinken Tee. West-Berlin ist in dieser Zeit ein Mekka für Jugendliche. Wer hier gemeldet ist, muß nicht zur Bundeswehr.

Auch die vier Freaks – Rio, Lanrue, Wolfgang und Kai – sind nicht gerade versessen darauf, 18 Monate Dienst in einer Institution abzuleisten, die ihnen als erstes die Haare schneiden würde. Vor ein paar Tagen, oder besser, ein paar Nächten, haben sie eine Band gegründet, eine Rockband, sie haben sogar schon eine Single aufgenommen mit einem Song, der Macht kaputt was euch kaputt macht heißt, aber die Gruppe hat noch keinen Namen. Der soll jetzt gefunden werden.

In der Hinterhaus-Etage des Marxisten Kad Friderichs, eines ehemaligen Regieassistenten von Bert Brecht, hält Rio einen Schreibblock auf den Knien und notiert die Vorschläge. Jeder darf so viele machen, wie er will. Als sich etwa vierzig Namen angesammelt haben, wird die Liste geschlossen. Das Auswahlverfahren beginnt. Die Regel, auf die sich alle geeinigt haben, sieht vor, daß die Namen der Reihe nach vorgelesen werden, von oben nach unten. Haben sich zwei oder mehr Stimmen gegen einen Vorschlag gefunden, wird er von der Liste gestrichen. Ist man unten angekommen, beginnt das Spiel wieder von vorn. Auf diese Weise wird ein Name nach dem anderen aussortiert. Schließlich bleiben nur noch zwei übrig. Der nächste, der auf der Liste steht, ist Lanrues Lieblingsvorschlag: De Galaxis, der Name der Band, in der er früher mit Rio zusammengespielt hat.

Es entsteht eine längere Pause. Der Joint kreist. Man hört, wie der Tee geschlürft wird. Alle lassen sich den Namen durch den Kopf gehen. De Galaxis. Hat man Lust, die nächsten Jahre unter dieser Bezeichnung zusammen zu spielen? Hat der Name etwas Magisches? Gehen von ihm gute Vibrations aus?

Es ist Rio, der ohne selbst etwas zu sagen, das Schweigen unterbricht. Er legt den Block beiseite, streicht sich die dunklen, strähnigen Haare aus dem Gesicht und blickt Wolfgang an.

»Nein«, sagt Wolfgang. »Ich bin dagegen.«

»Wieso«, protestiert Lanrue, »begründe das mal.«

»Muß er nicht«, sagt Rio. »Er braucht nur ja oder nein zu sagen. So hatten wir es abgemacht. – Kai?«

Kai hat nichts gegen De Galaxis, wirklich nicht. Er hat nur etwas dagegen, daß der Name einer alten Band wieder aus der Mottenkiste gekramt wird. Was sie jetzt vorhaben, ist doch etwas anderes als das, was Rio und Lanrue in Nieder-Roden gemacht haben, da, wo sie irgendwann mal hergekommen sind. Was weiß denn er, Kai, was das für eine Band war. Aber das ist es eben. Es geht doch nicht um die alte Band mit zwei neuen Mitgliedern, sondern um eine neue Band! Und wenn man die Songs der Single nimmt, die gerade aufgenommen wurden, Wir streiken und Macht kaputt …  – wie paßt denn das zu De Galaxis?

»Nee«, sagt Kai in seiner ruhigen, norddeutschen Art, »find ich nicht gut.«

»Heißt das, du bist auch dagegen?« fragt Lanrue. Er spricht mit einem merkwürdigen Akzent. Halb hessisch, halb französisch.

Kai schiebt seinen breiten Mund vor, so daß er einen leicht schmollenden Ausdruck bekommt, und starrt mit seinen blauen Augen vor sich hin. Er ist ein bißchen bekifft, aber das macht nichts. Fühlt sich gut an. Was hat Lanrue gesagt?

»Sei doch mal ehrlich«, sagt Lanrue. »De Galaxis, das ist doch gut, oder nicht?«

»Ja, schon«, sagt Kai und windet sich ein bißchen. Er ist konfliktscheu. Er will Frieden. Entscheidungen für etwas findet er okay. Entscheidungen gegen etwas fallen ihm schwer. Das Dumme ist nur, daß Entscheidungen für etwas meistens auch Entscheidungen gegen etwas sind. Genaugenommen immer.

»Seht ihr, Kai ist dafür«, sagt Lanrue.

»Nee, nee«, sagt Kai. »Ich finde den Namen nicht schlecht, aber ich bin dagegen.«

Der Name De Galaxis ist gestorben.

»Also, Leute, dann haben wir’s ja«, sagt Rio. »Dann sind wir durch.«

Der Name, der als einziger noch auf der Liste steht, lautet: VEB TON STEINE SCHERBEN. Der Vorschlag stammt von ihm selbst, von Rio. Der Name klingt sozialistisch, zumindest gewerkschaftlich. Er erinnert an die Industrie-Gewerkschaft Bau Steine Erden – aber auch an die volkseigenen Betriebe drüben in der DDR, für welche die Abkürzung VEB steht. Er enthält allerdings auch einen geheimen Gruß an die Band, die für alle das große Vorbild ist: Die Rolling Stones. Und auch an die Roten Steine, die Lehrlings-Theatergruppe, mit der Rio in letzter Zeit zusammengearbeitet hat, während Kai und Lanrue noch beim Hoffmanns Comic Teater mitgespielt haben, das von Rios ältestem Bruder geleitet wird. Ton Steine Scherben – der Name kann aber noch mehr bedeuten. Zum Beispiel: Wir machen Musik – Töne – , und die Töne führen dazu, daß Leute Steine in die Hand nehmen und sie gegen den Feind schleudern, gegen die Bullen, gegen die Banken, gegen das Kapital.

VEB Ton Steine Scherben, das ist der Name, der bleibt. Die Buchstaben VEB werden allerdings noch einmal in Frage gestellt. Sie klingen zu bürokratisch. Und sie binden die Band zu sehr an die da drüben, hinter der Mauer, die zwar den Sozialismus aufbauen, aber doch einen ziemlich grauen, freudlosen Sozialismus. Ironisch und provokativ wäre die Firmenbezeichnung VEB schon, aber der Scherz würde sich bald abnutzen. Nein. Weg mit dem VEB.

Was bleibt, ist der Name TON STEINE SCHERBEN. Später wird Rio auf die Frage, wie man zu diesem Namen gekommen sei, meist mit einer Gegenfrage antworten: »Was fand Heinrich Schliemann, als er Troja ausgrub?«

DIE UR-SCHERBEN

Rio, Lanrue, Kai, und Wolfgang waren die »Ur-Scherben«, wie sie später mit einer gewissen Ehrfurcht genannt wurden. Andere kamen hinzu, gingen wieder oder blieben bis zum Ende. Auch Wolfgang ging bald wieder – die anderen drei aber waren und blieben der harte Kern, um den alle später Hinzugekommenen sich gruppierten.

Rio wurde am 9. Januar 1950 als Ralph Möbius geboren. Den Künstlernamen Rio Reiser nahm er – inspiriert durch den Roman Anton Reiser von Karl Philipp Moritz –, erst 1978 an, als er für die Titelrolle in dem Film Johnny West einen klingenden Namen brauchte. Rio wuchs an verschiedenen Orten auf, in der Nähe von Rosenheim, in Mannheim, Nürnberg und in einer Neubausiedlung in Nieder-Roden bei Frankfurt am Main, die heute Rodgau heißt. Im Alter von etwa zehn Jahren ließ er sich von seinem Bruder Gert in die Geheimnisse der Dur- und Mollakkorde auf dem Klavier einweihen. Von da an spielte er alles, was ihm gefiel, von Lili Marleen bis zur Filmmusik aus Ben Hur. Als er zwölf war, bekam er Klavierunterricht, bald darauf brachte er sich auch noch das Gitarrespiel bei, um die Beatles-Songs nachspielen zu können. Später faszinierten ihn vor allem die Rolling Stones. Als seine älteren Brüder Peter und Gert eine Theater-Gruppe gründeten, schrieb er für sie seine ersten Songs. 1967 führten die drei Brüder in Berlin die erste Rock-Oper der Welt auf. Das Musical wurde ein Flop, aber die Möbius-Brüder blieben in Berlin. Unter dem Namen Hoffmanns Comic Teater machten sie agitatorische Bühnenkunst mit Szenen und Songs. Aus der Musiktruppe des Hoffmanns Comic Teater ging dann die Band hervor.

Lanrue wurde am 14. Januar 1950 in Grenoble, Frankreich, geboren. Sein richtiger Name lautet Ralph Peter Steitz. Als seine Familie nach Deutschland übersiedelte, landete sie in derselben Neubausiedlung wie Rios Familie. Im Januar 1966 klingelte Lanrue bei Rio zuhause und fragte ihn, ob er in seiner Band mitsingen wollte. Die Band hieß Beatkinks, später De Galaxis.

Lanrues Hauptinstrument war zunächst das Schlagzeug, in Berlin stieg er dann auf Gitarre um. Seine Lieblingsbands in jenen Tagen waren die Kinks, die Zombies und die Pretty Things.

Am Anfang trug er den Spitznamen »Fiffi«, weil er einmal mit einer Marionette gespielt und sie immer so genannt hatte. Den französischen Namen Lanrue bekam er von Manfred Lehmann, einem Schauspieler vom Forum-Theater. »Lanrue« ist eine Verballhornung von »de la rue«, von der Straße. Aber es gab auch mal einen »Frauenmörder von Paris«, der so hieß. Im Laufe der Zeit ging »Fiffi« irgendwie verloren und wurde durch die Initialen R.P.S. ersetzt.

Als Rio 1967 mit seinen Brüdern nach Berlin gegangen war, hatte Lanrue sich ihnen angeschlossen. Das Duo Rio & Lanrue war es, das im wahrsten Sinne des Wortes den Ton innerhalb der Band angab. Beide gehörten ihr vom ersten bis zum letzten Tag an.

Kai Sichtermann kam 1969 nach Berlin. Er war 1951 geboren und stammte aus Kiel. Sein Vater war Rechtsanwalt, seine Mutter Malerin.

Kai ging in Lübeck auf eine Musikschule, hatte von dort aus seine Schwester Barbara und ihren Freund Jens Johler in Berlin besucht und war von den beiden mit Rio, seinen Brüdern und den anderen Leuten vom Hoffmanns Comic Teater zusammengebracht worden. Wenig später brach er seine Ausbildung in Lübeck ab und ging ganz nach Berlin.

Kai war das ruhige Nordlicht der Band, blond, blauäugig, groß, schlank und introvertiert. Bevor er nach Berlin kam, spielte er Gitarre, etwas Trompete und ein bißchen Klavier. Rio drückte ihm einen Baß in die Hand, und von nun an war Kai Bassist. Bassisten sind in der Regel die ruhigen Pole einer Band, und Kais Temperament eignete sich hervorragend dafür. Im Zusammenspiel mit Rio und Lanrue war er so etwas wie der unsichtbare Dritte. Rio sagte einmal, wenn sie eine Drei-Mann-Band wären, könnten sie sich auch »Ralph, Ralph und noch mal Kai« nennen. Kai blieb ebenfalls, von einer kurzen Auszeit Mitte der 70er Jahre abgesehen, bis zum Ende dabei. Auf die damals oft gestellte Frage, ob die Beatles oder die Rolling Stones die bessere Band seien, war für Kai die Antwort klar: »Die Beatles natürlich!«

Der vierte im Bunde war Wolfgang Seidel. Er war 1949 in Berlin geboren, sein Vater war Polizist. 1968 verließ Wolfgang die Schule mit dem Abitur in der Tasche. Bereits 1965 hatte er angefangen, Schlagzeug zu spielen, später hatte er sein Schlagzeug verkauft, um sich mit dem Geld einen Urlaub in Südfrankreich zu finanzieren. Durch Sven Jordan, der später auch eine Zeit lang Schlagzeuger bei den Scherben war, erfuhr er von irgendwelchen Leuten, die eine Band aufbauen wollten und einen Schlagzeuger brauchten. So kam er in die Oranienstraße, wo in der Fabriketage ein Verschlag aus schallisolierenden Spanplatten aufgebaut war, den der Dichter und gelernte Schiffszimmermann Johannes Schenk gebaut hatte. Darin standen ein Schlagzeug, ein kleiner Verstärker, eine mit goldenem Kunstleder bezogene Höfner-Gitarre und – Ralph Möbius alias Rio Reiser.

Wolfgang schloß sich der Band an, blieb allerdings nur etwas mehr als ein Jahr dabei. Obwohl er im Vergleich zu den anderen ein Intellektueller war, der gern dozierte und endlose Vorträge über Marxismus-Leninismus hielt, hätte er, nach der Alternative Beatles oder Stones gefragt, wie aus der Pistole seines Vaters geschossen geantwortet: »Die Stones natürlich.«

Kai: »Als ich Rio kennenlernte, führten wir eine Menge Gespräche über Musik. In einem dieser Gespräche sagte Rio, die Beatles machten Musik für Oberschüler, die Rolling Stones dagegen für Proletarier. Ich verstand genau, was Rio damit meinte. Und eins war uns allen klar: Oberschüler-Musik wollten wir bestimmt nicht machen.«

JIMI HENDRIX’ LETZTES KONZERT

Bereits Anfang August hatte die Band, die noch nicht Ton Steine Scherben hieß, ihre ersten Schallplattenaufnahmen gemacht. Als Studio diente der ehemalige Beatclub von Drafi Deutscher, ein riesiger, schwarzer Ballsaal am Kottbusser Damm 76, gegenüber vom Zickenplatz. Klaus Riedel hatte ihn gemietet, und der Toningenieur Klaus Freudigmann hatte sich dort mit seinem bescheidenen Equipment eingerichtet. Der düstere, bizarr wirkende Raum diente damals als Probenraum für den Musiker Conrad Schnitzler, sowie für die Bands Tangerine Dream mit Edgar Froese, Karthago mit Joey Albrecht und Curly Curve mit Alex Conti. Lanrue erinnert sich gern daran, daß er dort einmal in Film- oder Fotoaufnahmen hineinplatzte, bei denen die Kommunardin Uschi Obermeier halbnackt vor der Kamera stand.

Rio Reiser und Klaus Freudigmann kannten sich aus der Zeit, in der die drei Möbius-Brüder die erste Beatoper der Welt aufgeführt hatten, Sommer 1967 im Theater des Westens. Robinson 2000 hieß das Stück. Gert war der Manager gewesen und hatte es geschafft, Klaus Hoser, den Direktor des Forum-Theaters, als Finanzier und Bürgen einzuspannen. Rio hatte die Musik komponiert, Peter den Text geschrieben, Paul Vasil Regie geführt, David Garrick (Dear Mrs. Applebee) die Hauptrolle gespielt, und das Ganze war ein gigantischer Flop geworden. Zum Glück war das Forum-Theater dem Berliner Senat unterstellt, der somit am Ende für einen knapp sechsstelligen Schuldenbetrag geradestehen durfte.

Drei Songs wollte die Band jetzt aufnehmen: Macht kaputt was euch kaputt macht, Wir streiken und Solidarität. Alle drei stammten aus Theaterstücken. Solidarität aus einem Theaterstück des Lehrlingstheaters Rote Steine. Die beiden ersten aus Stücken des Hoffmanns Comic Teaters, kurz H.C.T.

Das H.C.T war ein ungewöhnliches Theaterensemble, es spielte in der zweiten Hälfte der 60er Jahre Straßentheater mit phantasievollen Kostümen und kunstvoll gefertigten Masken, die über den Kopf gestülpt wurden. Es bestand im Kern aus Rios beiden Brüdern, Peter und Gert, sowie Dietmar Roberg und Wolfgang ›Blalla‹ Hallmann, einem Kunstmaler. Die Beziehung zwischen dem H.C.T. und den Scherben hat Dietmar Roberg einmal so formuliert: »Die unsichtbaren Wurzeln, die 1970 den scheinbar wildwüchsigen ›Scherben-Baum‹ aus dem Berliner Straßenpflaster trieben und die mit ihrem Saft seine Blüten gefärbt haben, waren in der Tiefe mit dem Wurzelwerk eines anderen, älteren Baumes verwachsen, aus dem sie zu einem wesentlichen Teil ihre Kraft zogen: dem Hoffmanns Comic Teater … und etliche Musiker der Ton Steine Scherben kamen – wie Rio und Lanrue – erst über eine ›Grundausbildung‹ beim H.C.T. zur Band: Kai, der Bassist, Werner Götz und später Martin, der Keyboarder. Alle haben sie irgendwann einmal unter den Schwellköpfen des H.C.T.s geschwitzt und in seinen Produktionen neben der Musik auch kleinere Rollen gespielt.«

Im Herbst 69, ein Jahr bevor die Scherben gegründet wurden, hatte das H.C.T. sein Singspiel Rita & Paul im Kreuzberger Jugendhaus in der Naunynstraße aufgeführt, und zwar im Auftrag der Sendung Report vom Bayrischen Rundfunk.

Die Handlung des Stücks bestand im wesentlichen darin, daß der Arbeitersohn Paul und die Fabrikantentochter Rita sich ineinander verlieben, aber nicht zu einander können und dürfen, weil sie aus verschiedenen Klassen der Gesellschaft stammen. Auf groteske und humorvolle Weise wurden mehrere gesellschaftliche Konfliktsituationen durchgespielt. Die Schauspieler trugen phantasievolle Masken, hantierten mit stilisierten, übertrieben großen Requisiten, und zum Abschluß jeder Szene wurde ein Song gespielt. In einer der Szenen schaltete der frustrierte Paul den Fernseher ein, sah auf dem Bildschirm den erzkonservativen Kommentator und Springer-Herold Matthias Walden und schmiß vor lauter Wut den Apparat auf den Boden. Der Song, der sich an diese Szene anschloß, war: Macht kaputt was euch kaputt macht.

Während der Aufführung wurden die Zuschauer immer wieder animiert, sich mit Fragen und Zurufen in das Geschehen einzumischen, und am Ende der Vorstellung wurden alle aufgefordert, sich Masken aufzusetzen und eigene Szenen zu entwickeln. An diesem Abend in der Naunynstraße waren im Publikum einige Kreuzberger Lehrlinge und Jungarbeiter, die der Aufforderung zum Mitspielen mit besonderer Begeisterung nachkamen. Sie bestachen durch so viel Witz, Präsenz und Schlagfertigkeit, daß ein Vergleich mit den Marx Brothers nicht abwegig war. ›Läppi‹ Lepin, Lkw-Fahrer, Raymond Fleschner, Steinsetzerlehrling, Bernhard Käßner, Betonbauerlehrling, und Jako Benz, angehender Speditionskaufmann, waren waschechte Kreuzberger Jungs. Zwischen ihnen und dem H.C.T. entwickelte sich im Laufe der nächsten Monate eine kreative Zusammenarbeit, aus der schließlich eine eigene Theatergruppe hervorging: das proletarische Lehrlingstheater Rote Steine. Der harte Kern der Gruppe bestand aus Bernhard und Jako. Während Läppi und Raymond die Truppe alsbald wieder verließen, kamen später andere hinzu, wie Bonner, Achim Müller, Annette Cozette oder Hansi Niete.

Den Text zu Macht kaputt was euch kaputt macht hatte Norbert Krause geschrieben. Krause war damals Mitglied des H.C.T. Er war groß, hatte blonde Locken, eine tiefe Stimme und lief immer in einem langen Ledermantel herum. Macht kaputt … war der einzige Songtext, den er je geschrieben hat. Er entstand angeblich unter dem Einfluß von Bob Dylans Subterranean Homesick Blues.

Rio hatte den Text schon einigemal vertont, war aber jedesmal unzufrieden gewesen und hatte die Ideen immer wieder verworfen. Als die Band nun in dem schwarzen Ballsaal anfing, an dem Stück zu arbeiten und jeder einzelne die Vibration einer vorher eingenommenen »Purpel Haze«, eines LSD-Trips, in sich zu spüren begann, entstand eine neue Version, passend zu dem düsteren Ambiente, in dem man sich befand. Der Gitarren-Riff am Anfang stammte aus der von Rio komponierten Bühnenmusik zu dem Stück Die Nacht der Puppen, das damals im Forum-Theater lief, aber der Rest entstand ganz aus dem Augenblick. Ähnlich war es bei Wir streiken. Die Aufnahmen der drei Playbacks – auch Solidarität wurde noch aufgenommen –, und die anschließenden Gesangsaufnahmen von Rio dauerten nicht länger als zwei bis drei Stunden, dann hatte Klaus Freudigmann alles auf dem Schnürsenkelband seiner Revox-Maschinen.

Damit waren die Songs für die erste Single eingespielt, aber wie sah es mit einem Plattenvertrag aus? Schlecht. Es gab keinen. Es gab zwar einen Produzenten, der sich für die Band mit den deutschen Rocksongs interessiert hatte, und das war kein geringerer als Peter Meisel gewesen, aber Macht kaputt …  hatte sie ihm nicht vorgespielt.

Jens Johler: »Ich hab die Situation noch vor Augen, es muß kurz vor der Gründung der Scherben gewesen sein. Rio hatte zwei Songs geschrieben und mit der Band geprobt. Der eine hieß Baby, Baby, der andere Freitagabend. Der Refrain lautete: Ich warte auf den Freitagabend, Freitagabend bin ich frei. Rio, Lanrue, Kai, Dietmar Roberg und ich sind zum Potsdamer Platz getigert, wo das Studio von Meisel war. Ich hatte die Aufgabe, auf einer Kinderflöte einen Refrain zu spielen. Wir haben den Song aufgenommen und sind dann alle in Meisels Büro gegangen. Meisel saß hinter einem riesigen Schreibtisch, Rio auf einem Stuhl davor, und in gemessenem Abstand saßen wir anderen. Dann kam der Moment, den ich überhaupt nicht begriffen habe. Meisel schob Rio ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber über den Tisch und sagte: Okay, der Sänger oder die ganze Band? – Rio saß da, starrte vor sich hin und sagte nichts. Vielleicht hat er auch was gemurmelt, so genau weiß ich das natürlich nicht mehr. Jedenfalls sind wir aus dem Studio gegangen, auf den leeren Potsdamer Platz hinaus, und ich habe gedacht: Jetzt hat er sich seine Karriere versaut.«

Es gab keinen Vertrag, aber es gab Gert Möbius. Rios Bruder war damals zusammen mit Lothar Binger, einem politischen Hansdampf-in-allen-Gassen, der immer in einer abgeschabten braunen Ernst-Thälmann-Lederjacke herumlief, im Raubdruckgeschäft tätig. Sie druckten illegal Bücher nach. Der Sinn dieser Raubdrucke war es, verschollene oder in der Zeit des Nationalsozialismus verbrannte und verfemte Bücher auszugraben und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, Bücher über Marxismus, Anarchismus, Syndikalismus, wie auch über Psychoanalyse. Die Raubdrucker der ersten Stunde waren Entdecker, Pioniere, Idealisten. Im Laufe der Zeit wurde mehr und mehr ein Geschäft daraus. Und das Geschäft ging nicht schlecht.

Rio: »Wenn du mit nem guten Buch, das gerade sehr gefragt war, in die Mensa gegangen bist, wo die ganzen fliegenden Händler standen, da konntest du einen guten Schnitt machen. Das ging ziemlich schnell. Zwar waren die Bücher wesentlich billiger als in Buchgeschäften, aber trotzdem hattest du den Schnitt. Es war aber nicht immer angenehm, weil jeder immer sagte, die Bücher seien zu teuer. Wir, die die Bücher verkauft haben, hatten ja nicht die Preise gemacht. Wir waren ja letztlich doch nur Angestellte der Raubdrucker, aber das durfte man so nicht sagen, daß es sich eigentlich schon wieder um ein Angestelltenverhältnis handelte.«

Gert und Lothar Binger boten sich nun an, die Herstellung der Single zu organisieren und sie vorzufinanzieren. Nach Gerts Einschätzung war es kein Problem, wenigstens so viele Platten zu verkaufen, daß die Kosten wieder hereinkamen. 1000 Stück – die würde man allein schon in Berlin loswerden.

Der Song Macht kaputt was euch kaputt macht sollte auf die A-Seite kommen, Wir streiken auf die B-Seite. Der gerade gefundene Bandname wurde in einem besonders schönen Schriftzug von Blalla Hallmann gezeichnet. Rio und Gert gestalteten gemeinsam einen ersten Entwurf für das Cover, den Gert im Laufe der nächsten Wochen noch zweimal änderte. Gert druckte das Cover auf seiner uralten Rotaprint-Maschine, die übrigens einst im Besitz der berühmt-berüchtigten Kommune Eins gewesen war. Als die erste Auflage der Single von der Pressfirma ankam, durften die Scherben-Musiker, sowie alle Freunde und Bekannten, die weißen Papierschutzhüllen, in denen die Singles steckten, mit dem gedruckten Cover bekleben.

Ende August 1970, die Studioaufnahmen für die Single waren abgeschlossen, die Pressungen lagen noch nicht vor, begannen die Scherben für ihren ersten Live-Auftritt zu proben. Der sollte Anfang September bei einem Open-Air-Festival auf der Ostseeinsel Fehmarn stattfinden. Zu diesem, von der Erotik-Versandunternehmerin Beate Uhse gesponserten »Festival der Liebe« waren so bekannte Musik-Acts wie Jimi Hendrix, Ginger Bakers Airforce, Canned Heat, The Faces mit Rod Stewart und Sly and the Family Stone angekündigt worden. International bekannte Rockgrößen also, die für ein deutsches Woodstock sorgen sollten.

Aber Ton Steine Scherben? Eine völlig unbekannte, gerade erst gegründete deutsche Rockband, deren einzige Platte eine selbst produzierte Single war? Wie kam diese Band auf die Bühne? Eigentlich gar nicht. Nicht die Scherben waren eingeladen, sondern die Roten Steine. Der Grund dafür war ein sehr pragmatischer: Theater ist Kultur, Kultur ist steuerbegünstigt, und die Kieler Veranstalter des Fehmarn-Festivals wollten eine Theatergruppe im Programm haben, um Steuern zu sparen. So war Gert gefragt worden, ob die Roten Steine nicht für eine Gage von 500 Mark auf dem Festival der Liebe auftreten wollten.

Gert Möbius: »500 Mark für uns war zwar ein Pappenstiel, aber einmal vor 100.000 Besuchern zu spielen, kann auch ein sehr erregendes Gefühl sein. Und da die Roten Steine damals keinen richtigen Bock oder nicht das richtige Stück hatten, um dort aufzutreten, vereinbarten wir, daß Ton Steine Scherben auf Fehmarn ihre Songs vorstellen sollten. Aber auf die Frage, wer dorthin mitkommt, gab es nur eine Antwort: Alle. Chris Sievernich, damals in Berlin verschuldet, heute erfolgreicher Filmproduzent in den USA, unter anderem für Wim Wenders, machte seinen alten Post-Opel-Bus klar, und in ihm verstauten wir die Instrumente, Verstärker, Tonbandmaschinen, die alte Raubdrucker-Rotaprint und das Stromaggregat. Wir hatten in diesem Bus alles geladen, womit man eine mittlere Revolution in Alices Wonderland hätte anzetteln können. Berlin wollte nun den Nordlichtern zeigen, wo es lang geht … 

Zusätzlich wurde noch der VW-Bus eines Kreuzberger Psychiaters samt Fahrer gechartert und andere diverse Personenkraftwagen zwangsrekrutiert. Schließlich standen 28 Leute am Grenzpunkt Dreilinden und begehrten Durchlaß. Gegen morgen kamen wir – bei strömendem Regen – auf der Insel an. Begrüßt wurden wir am Stacheldrahtzaun, den man um das Spielgelände gezogen hatte, von mehreren Hamburger Rockern, die als Wachtposten von den Veranstaltern angeheuert waren. Sie schlugen erst einmal mit ihren Gummiknüppeln auf unsere Wagen ein, nur so zum Spaß, als Einstimmung sozusagen auf das ›Festival der Liebe‹. Mit einer kleinen Abordnung eilte ich zuerst einmal in das Containerbüro des Veranstalters. Aber der war bereits vor dem eigentlichen Ereignis dermaßen mit den Nerven fertig, daß er statt des Telefonhörers die Kaffeetasse hochhob und sich mit der anderen zittrigen Hand zwei Zigaretten gleichzeitig anzündete. Ein anderer Kollege, sein Assi, fummelte schweißgebadet an einem Monitor herum, der heute abend die Bilder mittels Fernsehkamera von der Bühne in ihren Verschlag übertragen sollte – zur Kontrolle – damit man alles fest im Griff hat.

Ich wollte eigentlich schon wieder das Büro verlassen, aber Bernhard und Jako (von den Roten Steinen) hauten auf den Tisch und fragten auf Kreuzbergisch: ›Wo jib’s denn hier wat zu pennen?‹ Der Mann am Monitor drehte seinen Kopf um 3 Grad nach rechts und starrte dann völlig geistesabwesend ins Leere, und der Mann mit der Kaffeetasse schaute uns aus seinem unrasierten Gesicht an, als hätte genau in diesem Augenblick sein Herz versagt. Bernhard wollte ihn schon mit seinen Betonbauerhänden zurück ins Diesseits schütteln, griff dann aber doch zu der Kaffeetasse und trank sie mit einem Schluck aus. So, jetzt dämmerte dem Pop-Festival-Geschädigten etwas, und er brachte sogar richtige Worte heraus: ›Ach, seid ihr die Roten Steine aus Berlin? … Ja, da müßt ihr mal sehn … da draußen …haben wir so Zelte aufgebaut, müßt ihr mal sehn … ja.‹

›Zelte, Zelte?‹ Jako murmelte immer wieder diese Worte vor sich hin und zog uns dabei ins Freie. Immer noch strömender Regen, dann öffnete er noch einmal die Bürotür und schrie etwas sehr laut: ›Zelte! Aha!‹ und dann noch: ›Wir sehen uns die Zelte mal an!‹

Draußen stand der frierende und nasse Rest und wartete auf eine Botschaft. Zelte. Unruhe machte sich breit.

Wir suchten den ganzen Platz ab. Überall lagen schon Open-Air-Süchtige in Planen gehüllt und ihre Rumflaschen umarmend auf dem feuchten Ackerboden. Kurz und gut, wir stellten fest, daß Zelte wohl auf dem Lager gewesen waren, da aber keiner wußte, wer sie und wie man sie aufstellen sollte, hatten sich die erstbesten Besucher die einzelnen Planen gegriffen und sich in Bundeswehrmanier regenabweisende Biwaks gebaut.

Jetzt wurde eine etwa zehnköpfige Delegation aus unseren Reihen gewählt, die noch einmal nach Unterkunft fragen sollte. Diesmal aber war das Büro dermaßen überfüllt, daß man kaum zum Schreibtisch des Veranstalters vordringen konnte. Rio schrie deshalb über die Köpfe hinweg: ›Wir wollen in unser Hotel!‹ Der Assistent des Chefs brüllte auf hamburgisch und ironisch zurück: ›Hier gibt’s keine Hotels‹. O-Ton Rio: ›Und wo wohnt Jimi Hendrix?‹ Jetzt schaltete sich wieder der Entnervte ein: ›Wir werden schon was für euch finden, kommt später noch mal vorbei‹, und dann schob er noch die Frage hinterher: ›Wieviel seid ihr denn eigentlich?‹ Worauf ich meinen Einsatz hatte und die Zahl korrekt mit 28 angab. Ich habe noch genau im Ohr, wie er nur noch die Worte: ›Seid ihr denn wahnsinnig?‹ herausheulte.

Natürlich waren wir wahnsinnig, sonst wären wir ja gar nicht hergekommen, und im Geiste schmissen wir schon unsere Druckmaschine mit eigenem Aggregat an. Papier hatten wir genug geladen, damit hätten wir ganz Fehmarn, samt Ureinwohnerschaft, agitatorisch gegen die Veranstalter aufstacheln können. Aber wir taten es nicht, wir harrten der Dinge, die nun oben auf der Bühne geschehen sollten: Im gleißenden Discolicht und in weißen Hawaii-Anzügen war soeben die erste Formation des Abends, Ginger Bakers Airforce, angetreten, und unten im Dreck saßen die von weit Anmarschierten und ließen sich vom starken Ostseewind und Regen den letzten Hoffnungsschimmer ausblasen, historischer Zeuge eines deutschen Woodstock gewesen zu sein. Fronttheater!

Aber nun bekamen wir plötzlich unser Hotel. Auf Fehmarn. Es gab nämlich doch eins, und es war das gleiche, in dem auch Jimi Hendrix wohnte. Und dort haben wir erst einmal gut gegessen und getrunken, denn am nächsten Tag, es war der 6. September 1970, sollte Jimi in seine Gitarre beißen und später Ton Steine Scherben ihre Premiere haben.

Vor dem Auftritt der Scherben zupfelte noch die Münchner Gruppe Embryo auf ihrem fernostindischen Instrumentarium, und sie merkte dabei nicht, daß sich bereits Unruhe auf dem Gelände breit gemacht hatte: Es sprach sich nämlich in Windeseile herum, daß mehrere angekündigte Gruppen, zum Beispiel die Taste, nicht mehr auftreten würden, da der Veranstalter sich bereits hoch verschuldet aus dem Staub gemacht hatte. Blitzartig dämmerte uns, daß, wenn wir diesen Auftrittsort noch nutzen wollten, alles ganz schnell gehen mußte. Und so wurden Ton Steine Scherben kurzerhand Abschlußband des Festivals auf Fehmarn. Rio schrie erst einmal zum Auftakt ins Mikrofon: ›Hauen wir die Veranstalter ungespitzt in den Boden!‹ Applaus. Nach zwei Tagen Regen, Desorganisation in jeglicher Beziehung, traf er damit die allgemeine Stimmung auf dem Platz. Und dann spielten sie frisch drauflos, ihre ganze Darbietung war ohne jegliche Technic-Control, da die Tontechniker auch bereits entschwunden waren, und so wurde das Finale dieses ›Festival der Liebe‹ ganz einfach und unbürokratisch den Punks der beginnenden siebziger Jahre überlassen.

Eine halbe Stunde später stand alles in Flammen. Als wir mit Chris Sievernich und seinem Postauto diesen Ort des Feuers der enttäuschten Seelen verließen, kamen uns jede Menge Feuerwehrautos mit Blaulicht entgegen.«

Noch hinzuzufügen wäre: Jimi Hendrix’ Auftritt war sehr gut. Und leider auch sein letzter. Jimi starb zwei Wochen später, am 18. September, in London; die Todesursache ist bis heute nicht eindeutig geklärt, eine Version sagt, er sei an einer Überdosis Tabletten gestorben, eine andere sagt, er sei an seinem Erbrochenen erstickt, eine dritte behauptet, es sei ärztliches Versagen gewesen.

Für die Scherben war es der erste öffentliche Auftritt unter diesem Namen; gespielt hatten sie die drei Stücke, die sie für die Single geprobt hatten: Solidarität, Wir streiken und zum Schluß Macht kaputt …

Kai, auf die Frage, ob sie nicht nervös und aufgeregt gewesen seien, vor einer so großen Kulisse zu spielen: »Na ja, ein bißchen schon. Immerhin waren die Zuschauer schon dabei, Gegenstände auf die Bühne zu werfen, obwohl die Musiker am allerwenigsten für das allgemeine Chaos verantwortlich gemacht werden konnten. Aber obwohl das Haschisch auf der Insel knapp war, hatten wir vorgesorgt: Rechtzeitig vor dem Auftritt war ein Joint zur Stelle gewesen!«

Wochen später bekam Gert Möbius von der Hamburger Staatsanwaltschaft eine mehrere Seiten lange Anzeige. Unter anderem wurde den Scherben Brandstiftung und Aufruf zur Gewalt vorgeworfen. Zum Glück verlief die ganze Sache irgendwie im Sande. Leider auch die Bezahlung. Die 500 Mark Gage erhielt Gert in Form eines ungedeckten Schecks.

Was aber nicht mehr so schlimm war. Denn am 28. September 1970 strahlte das Erste Deutsche Fernsehen einen Film über die politische Linke aus, mit dem Titel Fünf Finger sind eine Faust. Co-Regisseur Michael Böhme hatte dafür gesorgt, daß die drei Songs der Scherben als Hintergrundmusik zu hören waren. In den folgenden Tagen wurde der Sender von einer Flut von Briefen überschwemmt, in denen es immer um die gleiche Frage ging: Von wem stammt die Musik? Und: Wo kann man sie kaufen?

In den normalen Plattenläden gab es sie kaum. Der Vertrieb lief hauptsächlich über die linken oder politischen Buchhandlungen. So wie es heute in jeder Stadt eine esoterische Buchhandlung gibt, so gab es damals Buchläden, in denen von Mao-Bibeln über die Werke von Marx, Engels, Lenin und Bakunin bis hin zu den Schriften von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse alles zu kriegen war, was sich politisch als links einordnen ließ. Die Scherben-Single paßte gut in das Programm. Und bald gab es auch keine linke Szenekneipe, in deren Musikbox die Platte nicht gespielt wurde. Zu Weihnachten waren dreitausend Stück verkauft.

Die erste Single war aus dem Stand zum Szene-Renner geworden, der erste Auftritt vor immerhin 50.000 Zuschauern ein Riesenerfolg, die Reaktion auf die Musik im Fernsehen überwältigend. War das der Durchbruch? Der unaufhaltsame Aufstieg von Ton Steine Scherben zu den deutschen Stones? Zu Geld, Groupies und goldenen Schallplatten?

Trotz der über Nacht entstandenen Scherben-Fangemeinde war an einen Massenerfolg mit dem ungewöhnlichen Songmaterial der Band Anfang der Siebziger nicht zu denken. Die Aggressivität der Rhythmen und Gitarrenriffs, vor allem aber auch die radikalen Texte paßten nicht in das gut sortierte deutsche Plattenregal. Rockmusik durfte zwar provokant sein, aber bitte auf Englisch, die deutsche Sprache war für Schlager und Herz-Schmerz-Reime reserviert.

Mit einem ZDF-Auftritt bei Dieter Thomas Hecks Hitparade war nicht zu rechnen. Vor allen Dingen der Titel Macht kaputt …  begründete den Ruhm der Scherben und sorgte zugleich für finanziellen Dauerstreß. Bis spät in die 80er Jahre hinein wurden sie mit diesem Titel identifiziert, und das, obwohl sie ihn nur bis Mitte der 70er live spielten. Von den knapp 80 veröffentlichten Scherben-Songs kann man die Stücke mit radikalem Text an einer Hand abzählen. Trotzdem gibt es auch heute noch Leute, die fragen: »Ton Steine Scherben? War das nicht diese Gruppe, die gefordert hat: Macht alles kaputt?«

EIN KERL MIT ZIEGENBART

Im Oktober, einige Wochen nach dem Auftritt auf Fehmarn, hatten die Scherben ihren ersten öffentlichen Auftritt als Ton Steine Scherben in Berlin. Das Konzert fand im Veranstaltungssaal der Hochschule für bildende Künste, HfbK, am Steinplatz statt. In einer Pause wurde Drummer Wolfgang Seidel von einem Kerl mit Ziegenbart angesprochen, der sagte, er hätte was, das die Scherben todsicher interessieren würde, und ob er nicht mal vorbeikommen dürfe.

Ein paar Tage später erschien er in einem blauweiß gestreiften Sommeranzug in Gert Möbius’ damaliger Wohnung in der Görlitzer Str. 74 und erzählte, daß er auch auf Fehmarn im Publikum gewesen sei. Er hieß Nikolaus Pallat, genannt Nikel, und sollte als »Scherben-Mitglied, dabei, mit einem Hackebeil das Studio zu zertrümmern« in die Geschichte deutscher Fernseharchive eingehen.

Was Nikel dabei hatte und was die Scherben interessierten sollte, waren nicht, wie insgeheim gehofft, eine paar Schachteln Zigaretten oder ein Klumpen »Schwarzer Afghane«, sondern – Songtexte. Nikel hatte sie geschrieben und bestand nun darauf, sie der Band vorzutragen. Wohlgemerkt, er hatte nur die Texte geschrieben, die Melodien dazu gab es schon, aber er ließ sich trotzdem nicht davon abbringen, die Texte vorzusingen, anstatt sie bloß aufzusagen oder in geschriebener Form zu verteilen. So stand jetzt also einer in blauweiß gestreiftem Anzug in Gerts Wohnzimmer, sah aus wie ein mittlerer Mafioso, sang ohne Begleitung seine Songs, und die Scherben wußten nicht, wie sie sich das Lachen verkneifen sollten.

»Und sonst?« fragte Rio, als Nikel fertig war, »was machst du sonst?«

»Steuern«, sagte Nikel.

»Autos?«

»Nee, Geld. Ich mach in Steuerberatung. In so nem Büro. Aber ich häng nicht an dem Beruf.«

Es kommt nicht alle Tage vor, daß einem ein Steuerberater, oder was der Ziegenbart nun genau war, a capella Songtexte vorträgt. Für die Scherben war es jedenfalls das erste Mal. Was sollten sie mit dem Kerl machen? Singen konnte er nicht besonders, die Texte waren so lala, der Anzug faschingsreif, und der Bart paßte dazu. Aber er war charmant, verrückt und fest entschlossen, bei der Band mitzumischen.

»Steuerberatung«, sagte Rio und wiegte nachdenklich den Kopf. »Dann kannst du also rechnen.«

»Klar«, sagte Nikel. »Zwei mal zwei sind fünf.«

»Und organisieren.«

»Logisch.«

»Wie wär’s, wenn du uns bei unserem nächsten Auftritt hilfst?«

So kam es, daß Nikel gleich das nächste Konzert in Berlin mitorganisierte. Der Job war genau der richtige für ihn. Er hatte kaufmännisches Know-how, Organisationstalent, ein grandioses Gedächtnis für Namen und Zahlen und war Besitzer eines etwas klapprigen Triumph-Cabrios, das gute Dienste leistete. Daß er zudem noch ein Bariton-Saxophon besaß, dem er einige Töne zu entlocken wußte, spielte eine eher untergeordnete Rolle.

Seinen Beruf behielt er zunächst noch, was finanziell für alle von Vorteil war. Erst Ende 1971 kündigte er seinen Job und wurde der Manager von Ton Steine Scherben.

Kai: »Die Zeit vor der Bandgründung und die erste Anfangszeit waren schon sehr hart. Wir haben oft gehungert. Monatelang sind Lanrue und ich ohne eine einzige Mark in der Tasche mit der U-Bahn – schwarz natürlich – zur TU-Mensa gefahren und haben dort Raubdrucke verkauft, meistens waren das politische Themen. Der absolute Renner war ein Buch von Paul Sweezy mit dem Titel Die Entwicklung des Spätkapitalismus. Aber auch so exotische Sachen wie zum Beispiel Das Tibetanische Totenbuch hatten wir damals schon im Angebot. Wenn wir die ersten zwei Bücher verkauft hatten, ging einer von uns los und kaufte erstmal was zum Frühstücken. Nach dem dritten oder vierten Buch reichte es dann für eine Schachtel Zigaretten. Als Nikel zu uns stieß, ging es uns etwas besser. Er brachte bei jedem Besuch Kuchen und Martini mit, und später, als er unser Manager geworden war, schaffte er es immer irgendwie, daß wir was zu essen hatten.« Mit dem Essen war das so eine Sache für sich. Später, als die Scherben am T-Ufer wohnten, wurde fast jeden Tag gemeinsam gekocht. Aber in dieser Zeit ernährten sie sich fast ausschließlich von Junk-Food.

Kai: »Am Kottbusser Tor gab’s ’n kleinen Freiluft-Stand, an dem ein älterer Typ seine Currywürste verkaufte. Das Besondere daran war, daß sie nicht gebraten wurden, sondern gekocht. Daher waren sie nicht so fett. Es waren mit Abstand die leckersten Currywürste in ganz Berlin. Monatelang haben Lanrue und ich so gut wie nichts anderes gegessen als diese Dinger. Wir waren richtig süchtig danach. Lanrue sagte, der Typ hätte wahrscheinlich Opium in die Currywürste gemischt, und bestellte immer ›Eine Currywurst mit O‹. Der immer lächelnde Verkäufer tat dann, als hätte er nicht richtig verstanden und fragte höflich zurück ›Mit Ketchup?‹ Nikel machte sich einen Heiden-Spaß daraus, immer noch einen draufzusetzen, wenn wir an der Bude waren. ›Kommt, laßt uns woanders hinfahren‹, sagte er, ›ich kenn da ne Currywurstbude, da werden die mit altem Fett gemacht.‹ Auch dazu lächelte der Verkäufer. In ganz Kreuzberg kursierte das Gerücht, der Typ sei Millionär.«

Der nächste Schritt für die Band hieß: Langspielplatte. Neben den drei schon erwähnten Songs, von denen Wir streiken allerdings nicht mit auf die LP sollte, gab es noch andere Lieder aus Theaterstücken: Alles verändert sich wenn du es veränderst stammte aus dem Singspiel Rita & Paul. Gert Möbius und Rio hatten den Text gemeinsam geschrieben.

Sklavenhändler war der Titelsong eines Theaterstücks der Roten Steine. »Sklavenhändler« – so nannte man die Arbeitsvermittler in Kreuzberg, die einem für einen Tag oder manchmal nur für ein paar Stunden schlecht bezahlte Hilfsarbeiten vermittelten.

Ich will nicht werden was mein Alter ist war ein Text, den Rio aus den Gesprächen mit den Roten Steinen entwickelt hatte. Die Titelzeile stammte übrigens von Raymond Fleschner. Rio und er waren zu einer Geburtstagsparty gegangen und hatten vorher ihren ersten LSD-Trip genommen.

Rio: »Durch den Trip kam so eine telepathische Beziehung zu Raymond auf. Ich wußte genau, wo er gerade war. Die anderen haben geredet und geredet, nur wir nicht. Wenn mich jemand was gefragt hat, dann mußte er damit rechnen, daß es ne Stunde dauerte, ehe ich ihm eine Antwort darauf gebe. Das war bei mir ja immer so, aber durch den Trip wurde es noch verstärkt. Und Raymond hat auch nicht mehr als einen Satz in der Stunde gesagt, über den dann aber alle lachen mußten, weil er irgendwie genau den Punkt traf. Irgendwann hat Raymond dann gesagt: ›Ich will nicht werden, was mein Alter ist.‹ Das war so ein Satz – genau in der richtigen Reihenfolge. Den hab ich mir natürlich sofort aufgeschrieben.«

Darüber hinaus entstanden für die LP drei neue Songs: Mein Name ist Mensch,Warum geht es mir so dreckig und Der Kampf geht weiter.

Der Musikjournalist Albrecht Koch schreibt in seinem Buch Angriff aufs Schlaraffenland über die Scherben und den Text von Mein Name ist Mensch: »Selbst mit den einfachen Bildern rissen sie die Widersprüche auf, statt sie mit einer vollautomatischen marxistischen Dialektik zuzukleistern. Das war schon allein eine Leistung in einer Zeit, da man Werke von Marx, Lenin und Mao im Kopf haben mußte, um verstehen zu können.«

Der Song Warum geht es mir so dreckig, der zum Titelsong der LP werden sollte, geht auf einen Einfall von Lanrue zurück. Von ihm stammen die Zeilen »Warum geht es mir so dreckig, was kann ich allein dagegen tun«, mit denen der Song beginnt. Rio griff die Idee auf und schrieb den ganzen Text, den Lanrue dann wiederum vertonte.

Das Lied Der Kampf geht weiter hat eine besondere Entstehungsgeschichte. Es war ein Auftragswerk. Die politische Lage in der BRD und besonders in West-Berlin hatte sich verschärft. Der wegen Kaufhausbrandstiftung verurteilte Andreas Baader – er hatte im April 1968 gemeinsam mit Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein in zwei Frankfurter Kaufhäusern Brände gelegt, um gegen Vietnamkrieg und Konsumterror zu protestieren – wurde im Mai 1970 von Gesinnungsgenossen befreit, als er sich gerade in einer Bibliothek des Instituts für soziale Fragen aufhielt. An der Befreiung beteiligt waren die Journalistin Ulrike Meinhof, Baaders Freundin Gudrun Ensslin und Astrid Proll. Dabei wurde ein 62jähriger Angestellter des Instituts durch einen Schuß lebensgefährlich verletzt, und die Vier mußten in den Untergrund gehen. Dies war die Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion, kurz RAF, die in der Boulevardpresse mit dem romantischen Namen »Baader-Meinhof-Bande« bedacht wurde.

Gleichzeitig mit den vier Gründungsmitgliedern der RAF tauchte der renommierte Berliner Rechtsanwalt Horst Mahler unter und schloß sich der Gruppe an. Fünf Monate später, im Oktober 1970, wurde er in Berlin verhaftet. Um ihn zu unterstützen, planten einige Gesinnungsgenossen ein Teach-In, bei dem auch ein Videofilm gezeigt werden sollte.

Cristina Perincioli und Angela Lutter von der Videogruppe nahmen Kontakt zu den Scherben auf, weil sie einen Song zu dem Video haben wollten. Später kam noch ein Schweizer dazu, der sich Philip nannte. Das Motto des Videos lautete: Freiheit für Mahler! Freiheit für alle politischen Gefangenen! Die Antwort der Scherben hieß: Freiheit für alle Gefangenen! Rio schrieb zu diesem Anlaß den Text Der Kampf geht weiter, Lanrue vertonte ihn, und die Band nahm den Song erst einmal provisorisch auf, damit er rechtzeitig für das Teach-in fertig wurde.

Angela Lutter und Philip, der eigentlich Werner Sauber hieß, wurden später steckbrieflich als RAF-Mitglieder gesucht; letzterer wegen mutmaßlicher Beteiligung an der Entführung des Vorsitzenden der Westberliner CDU, Peter Lorenz, Ende Februar 1975. Werner Sauber arbeitete zu der Zeit unter falschem Namen bei Klöckner-Humboldt in Köln an der Stanze und wurde am 9.5.75 auf einem Parkplatz in Köln-Gremberg bei einem Schußwechsel mit der Polizei tödlich verletzt. Cristina Perincioli war später maßgeblich an der Gründung einer der ersten deutschen Frauenbands beteiligt, den Flying Lesbians.

Noch im Dezember 1970 begannen die Scherben mit den Proben für die LP. Erste Aufnahmen fanden in einem Jugendzentrum in Berlin-Borsigwalde statt, in dem sich ein kleines Tonstudio befand. Die Aufnahmetechnik war, von heute aus gesehen, denkbar primitiv. Erst wurde ein Playback aufgenommen, also die reine Instrumentalfassung. Beim nächsten Durchgang wurde das Playback abgespielt und die Overdubs kamen darauf, also weitere Instrumente, zum Beispiel Klavier, und schließlich der Gesang. Dabei durfte es nicht zu viele Überspielungen geben, weil sonst die Klangqualität zu sehr gelitten hätte. Zwei oder drei Overdubs waren das Äußerste. Man konnte auch nicht, wie heute, nachträglich Klangeffekte produzieren, man mußte sich vorher überlegen, in was für einen Raum man ging und wie es klingen sollte. In Borsigwalde gab es einen großen Duschraum, und der Techniker stellte eine Box und ein Mikrofon in diesen Duschraum und nahm das, was sich dort an Klang ergab, auf, um einen Halleffekt zu bekommen. Die Dusche als Hallgerät, sozusagen. Trotz allem waren die Scherben, als sie die fertigen Bänder abhörten, nicht zufrieden. Die Borsigwalde-Bänder blieben unveröffentlicht. Die Aufnahmen der ersten LP wurden später doch wieder von Klaus Freudigmann gemacht. Der hatte sich bis dahin im Hinterhof der Kreuzberger Admiralstraße 36 ein neues Studio eingerichtet und wieder alle Räume schwarz gestrichen.

Das Jahr 1970 neigt sich dem Ende zu. Die neu gegründete Rockband Ton Steine Scherben hat es geschafft, etwas wirklich Neues zu kreieren: Rockmusik mit deutschem Text, ohne daß es peinlich wirkte oder ins Schlagerhaft-Banale abdriftete. Alles verändert sich war ihre Version von The times they are a-changing, aus We gotta get out of this place machte sie Wir müssen hier raus und Macht kaputt was euch kaputt macht war ihre Antwort auf I can’t get no satisfaction.

DER BRUDER – GESPRÄCH MIT GERT MÖBIUS

Gert, du warst der mittlere der drei Möbius-Brüder – Peter, Gert, Rio. Rio war der jüngste. Was für eine Rolle hast du für ihn gespielt?

Ich bin ja sieben Jahre älter als Rio. Schon früher in Traunreut / Bayern war ich oft so eine Art Beschützer von ihm. Habe ihn beschützt vor den Stärkeren, zum Beispiel auf dem Spielplatz. Dieses Betreuersyndrom hatte ich gegenüber meinem Bruder bis zu seinem Tod. Besonders auch Ende Sechzig, als es bei uns allen losging mit Trips und Shit, immer hatte ich Angst, es könnte ihm was passieren.

Ihr drei Brüder hattet ein sehr enges Verhältnis?

Es war ja so: Wir als Familie sind damals alle paar Jahre umgezogen, das hieß, wir waren immer die Fremden, wo wir auch waren, ob in Schwaben, Bayern oder Hessen, überall waren wir die »Zugereisten«, dadurch hat die Familie dann auch so einen engen Zusammenhalt gehabt. Die ganze Familie hat sich sehr für Kultur interessiert. Mein Vater war ein begeisterter Fotograf, meine Mutter hat Klavier gespielt, Peter hat gemalt, nur ich wußte immer nicht so recht, was aus mir werden wird. Rio wußte spätestens mit 12 ganz genau, daß er Musik machen will.

Es heißt, du hättest Rio zur Musik gebracht.

Ich war bei den Nerother Wandervögeln, und da haben alle ein bißchen Gitarre gelernt, ich auch. Und das hat Rio interessiert. Besser konnte ich Blockflöte spielen, aber dieses Instrument hat ihn nie interessiert. Irgendwann hat er sich meine Gitarre gegriffen und konnte in einer Woche mehr Griffe als ich.

Ihr wart künstlerisch veranlagt und habt unwahrscheinlich viel gemacht. Ihr seid mit einem Theaterwagen über Land gezogen, habt in Berlin im Theater des Westens die erste Rockoper der Welt herausgebracht, – und wenn auch fast alles schief ging, die Möbius-Brüder haben weitergemacht. Was war eure Motivation?

Na ja, da gab’s auch viel Pleiten, Pech und Pannen. Ich glaube, das hängt damit zusammen, daß keiner von uns angestrebt hat, im bürgerlichen Sinne Karriere zu machen. Auch bei Rio war es so, er hätte ja aus seiner Solokarriere viel mehr rausholen können, aber das hat ihn überhaupt nicht interessiert. Auch mein Bruder Peter macht ständig künstlerisch gute Sachen, schreibt Theaterstücke und schafft optische Erlebniswelten, hat aber nie so richtig den Ehrgeiz, damit berühmt zu werden. Bei mir ist es nicht anders. Aber warum das so ist, weiß ich nicht. Rio hat mal gesagt: »Je bekannter man ist, desto höher sind die Erwartungen, die an einen gestellt werden – und dann wird es Streß«. Erregtheit über diese Welt hat was mit Kunst zu tun – Streß nicht. Schau ins Fernsehen, die machen sich alle einen riesigen Streß, aber es kommt nur lauwarme Luft durch den Äther.

Der ganz große Durchbruch ist auch Rio nicht gelungen. Aber er hat mit unglaublicher Power weitergemacht. Was war sein Ziel?

Rio war immer so ein Gerechtigkeitsfanatiker. Er wollte sich zum Beispiel nicht konfirmieren lassen, wir waren ja in der evangelischen Kirche, aber er hat das nicht gemacht, er wollte Quäker werden, weil er meinte, daß diese Religionsgemeinschaft ehrlicher ist, eine genauere Bibelauslegung hat und auch mehr für Gewaltverzicht ist. Das war so eine starke Motivation. Er war auch ein unglaublicher Fan von diesem Film Ben Hur – jeden Tag lief damals die Platte mit dem Soundtrack bei uns. Das hat ihn sehr beeinflußt, also der christliche Gedanke. Gerechtigkeitssinn und Wunsch nach Liebe, diese beiden Sachen spielen eine ganz große Rolle, das kommt ja auch in allen seinen Songs durch.

Kann man sagen, die zwei wichtigsten Figuren für Rio waren Gott und Karl May?

Ich glaube, daß Gott eine große Rolle für ihn gespielt hat. Rio hat fast jeden Tag in der Bibel gelesen. Da hat er immer so ein silbernes Lesezeichen gehabt, das hat er immer so reingesteckt. Das vom letzten Tag vor seinem Tod steckt noch immer drin. Eine interessante Seite übrigens. Er hat sich auch für andere Religionen interessiert, wir haben ja hier im Rio-Reiser-Archiv alle Bücher von ihm, er hatte speziell viele Werke über alle Religionen. Er hat sich auch für Sprachen interessiert, er hat versucht Arabisch zu lernen und auch Hebräisch zu verstehen. Karl May war sicher nicht sein Gott, aber er liebte ihn dafür, daß er versuchte, die verschiedenen Glaubensrichtungen und Mentalitäten zu verstehen. Rio war auch Mitglied der Karl-May-Gesellschaft. Mindestens ebenso wichtig war für Rio die Beat-Bewegung ab 1962. Zuerst die Beatles, dann die Rolling Stones und Bob Dylan – das waren für ihn seine großen musikalischen Vorbilder. Ziemlich bald konnte er ihre Songs auf seiner Gitarre spielen und sie singen. Er war sowieso eine lebende Musikbox, auch deutsche Schlager und Volkslieder konnte er auswendig. Er hat sich überhaupt für alles interessiert. Ob er sich einen Quelle-Katalog oder Ameisenstraßen angeguckt oder in der Bibel gelesen hat, ihm war alles gleich wichtig.

Hat er eigentlich innerhalb der linken Bewegung sein Christentum verschwiegen? Damit ihn die Linken nicht für einen religiösen Spinner hielten?

Nein, kann ich mir nicht vorstellen. Das wäre auch nicht seine Art gewesen. Aber Rio ist auch nicht herumgerannt und hat versucht, es den anderen aufzudrängen. Es war ja mehr so, daß die anderen ihm was aufzwingen wollten. Daß die gesagt haben, du mußt jetzt die und die Dinge schreiben. Hat er ja auch oft gerne gemacht, Rio war ja ein begnadeter Auftragskünstler. Er hat immer versucht, die Sache auf den Punkt zu bringen, das hat er bei Theaterstücken, bei Filmmusiken und bei der linken Bewegung geschafft.

Du warst gegen die ganzen RAF-Geschichten. Rio sagt, das war der einzige Punkt, wo du gesagt hast, »Komm, laß den Scheiß«.

Ich hab das auch nicht mitgemacht. Auch nicht bei der Bewegung 2. Juni. Weil ich das für absoluten Blödsinn halte und immer gehalten habe, diese ganze Schiene mit Bommi, Inge Viett und dieser ganzen Truppe, die dann in den Untergrund abtauchen mußten. Die waren ja öfters auch am T-Ufer. Da hat sich dann auch einiges auf die Scherben abgefärbt. Aber Rio liebte ja auch die Dramatik, und wenn er dann singt: »Wieviel sind hinter Gittern, die wir draußen brauchen … «, dann merkt man schon, aha, da war ein guter Werbetexter am Werk. Später ging es ihm aber auf den Keks, diese Geheimnistuerei, dieses konspirative Gehabe, das war auch der Grund, warum die Scherben 1975 aus Berlin weggegangen sind. Diese ständige Beeinflussung, jetzt mußt du unbedingt das unterschreiben, jetzt mußt du unbedingt auf diese Demo rennen. Schluß mit Lustig war für Rio ein Konzert im TU-Audimax 1974. Zwei Mädels aus dem Georg-von-Rauch-Haus tanzten zu ihrer Musik auf der Bühne, und die strenge puritanische Linke pfiff sie aus, weil sie meinten, die Scherben hätten zwei GoGo-Girls engagiert.

War Fresenhagen eine Art von Flucht vor dieser Linken?

Ja, sag ich doch. Bin ich ganz fest von überzeugt.

Fresenhagen ist also ein Bruch, ein Wendepunkt in der Scherben-Geschichte?

Na auf jeden Fall. Schlotterer, Nikel, Kai und Funky wurden plötzlich zu Bauern. Die haben das Haus ausgebaut, die haben versucht, das Reetdach zu decken, was nicht einfach ist, aber sie haben es mit Hilfe von Fachleuten getan. Aber als Scherben haben sie erstmal nicht mehr viel gemacht. Außer Lanrue und Rio, die kleinere Auftragswerke angenommen haben.

Es sollte dann eine richtige große Familie sein. War das nicht die Verwirklichung der elterlichen Spießerträume mit anderen Mitteln?



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