Johnny B. Goode im Weltraum - Kai Sichtermann - E-Book

Johnny B. Goode im Weltraum E-Book

Kai Sichtermann

0,0
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

ROCK'N'ROLL! Wann und wo ist er entstanden? Wofür steht er? Gab es eine Kulturrevolution der Jugend? Welches waren die wichtigsten Songs? Wer waren die einflussreichsten Protagonisten? Essayistisch, erzählend, manchmal auch aufzählend und auf knappem Raum rauscht der Autor Kai Sichtermann, Bassist und Gründungsmitglied der Band Ton Steine Scherben, einmal durch die Rock'n'Roll-Geschichte - von den 1950er bis Ende der 70er Jahre.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kai Sichtermann

Johnny B. Goode im Weltraum

Protest, Ekstase, Provokation - 25 Jahre Rock’n’Roll

Ein intuitives Essay für die Enkelgeneration

FUEGO

- Über dieses Buch -

ROCK’N’ROLL! Wann und wo ist er entstanden? Wofür steht er? Gab es eine Kulturrevolution der Jugend? Welches waren die wichtigsten Songs? Wer waren die einflussreichsten Protagonisten?

Essayistisch, erzählend, manchmal auch aufzählend und auf knappem Raum rauscht der Autor Kai Sichtermann, Bassist und Gründungsmitglied der Band Ton Steine Scherben, einmal durch die Rock’n’Roll-Geschichte - von den 1950er bis Ende der 70er Jahre.

Prolog

Zwei Kriege wüteten auf unserem Planeten, in die fast alle Länder involviert waren, direkt oder indirekt. Mehr als 70 Millionen Menschen verloren dabei ihr Leben. Das wäre so, als würden die Bewohner mehrerer Millionenstädte ausgelöscht, New York, Kairo, London, Madrid, Paris und Berlin mit Toten übersät. Hinzu kommen noch die Überlebenden mit körperlichen Verletzungen, die Verkrüppelten und Verstümmelten, sowie die mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Hat es jemals zuvor so viel entsetzliches Leid und Elend in so kurzer Zeit in unserer zivilisierten Welt gegeben?

Von 1914 bis 1918 tobte der Erste Weltkrieg. »Stirb den Heldentod fürs Vaterland!«, mit dieser zynischen Parole versuchten die Kriegstreiber ihr Handeln zu rechtfertigen. Zum Glück fanden sich damals auch Menschen – wenn auch viel zu wenige – die diesen Wahnsinn nicht mitmachen wollten. 1916 trafen sich in der neutralen Schweiz die Dadaisten, um auf ihre provokante Weise gegen das Blutvergießen zu protestieren. Totentanz, das Gedicht von Dada-Mitbegründer Hugo Ball, das auch vertont wurde, zeugt davon: Tod ist unser Zeichen und Losungswort. Kind und Weib verlassen wir: Was gehen sie uns an! Wenn man sich auf uns nur verlassen kann!

Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, gab es im musikalischen Kulturbetrieb einige Ereignisse, die Kultstatus erlangten. 1924 komponierte George Gershwin mit der Rhapsody in Blue ein sinfonisches Werk, das Jazz und Klassik miteinander verband und in New York seine Uraufführung feierte. – Im Juni 1928 nahm der legendäre Jazz-Trompeter Louis Armstrong mit seinen Hot Five in Chicago den richtungsweisenden West End Blues auf.

›Blue‹ und ›Blues‹? Die musikalischen Ursprünge dazu lagen im gesungenen Blues und die Roots dazu im Spiritual, die Musik der schwarzen Sklaven, die in der Frühen Neuzeit von Afrika in den Süden der USA deportiert worden waren. Ihr inbrünstiger Gesang, ihre afrikanischen Rhythmen, durchsetzt mit schamanisch-religiöser Ekstase und die ungewohnte Harmonik vermischte sich mit den liturgischen Gesängen, Psalmen, Hymnen und getragenen Chorälen der weißen christlichen Kultur. Im auslaufenden 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich aus dem Spiritual die geistliche Musik des hoffnungsvollen Gospels und als weltliche Entsprechung der meist melancholisch klingende Blues. Andere musikalische Mischformen dieser und späteren Zeiten nennen wir heute Ragtime, Boogie-Woogie, Jazz (New Orleans, Chicago, Swing, Bebop, Cool), Hillbilly, Country & Western, Folk, Rockabilly, Rhythm & Blues, Doo Wop, Funk, Reggae oder Weltmusik, vorgetragen von unzähligen großartigen Musikern auf der ganzen Welt.

Im August 1928 wurde im Berliner Theater am Schiffbauerdamm Bertolt Brechts und Kurt Weills Dreigroschenoper uraufgeführt, in der die Unterwelt den Raubtier-Kapitalismus spiegelt. Aus dem Eröffnungs-Titel, Die Moritat von Mackie Messer wurde in den 50ern der Song Mack the Knife und ist heute ein Jazz-Standard. Es war wiederum Louis Armstrong, der mit seinen Interpretationen großen Anteil daran hatte, dass eine deutsche Moritat im neuen Gewand internationalen Ruhm erlangte. – Im November 1928, im Zuge des Impressionismus, sah und hörte in Paris ein geschocktes Publikum das Ballett Boléro von Maurice Ravel, erotische Bewegungen einer Tänzerin zu einer hypnotischen Musik, die ihresgleichen sucht. – 1935 wurde die American Folk Opera Porgy and Bess aus der Taufe gehoben, wieder mit Musik von George Gershwin. Von den vielen schönen Liedern ragt eines heraus: Summertime.

Exkurs – Evergreen

 

Im New Yorker Stadtteil Manhattan, zwischen der 5. und 6. Avenue, gibt es in der 28. Straße einen Häuserzug, der Anfang des 20. Jahrhunderts, Tin Pan Alley (Straße der Zinnpfannen) genannt wurde. In diesen schönen alten Gebäuden befanden sich die Büros der Musikverlage, die ihre angestellten Textdichter und Hauskomponisten dazu anhielten, den ganzen lieben langen Tag auf dem Klavier zu klimpern, um neue Songs zu kreieren. Tin Pan Alley – das Klimpern der Klaviere wurde mit dem Klappern der Zinnpfannen der Häuser verglichen. Die Bedeutung der Tin Pan Alley-Ära für die Musikgeschichte hat der deutsche Autor Hans-Jürgen Schaal hervorgehoben: »Wer Tin Pan Alley sagt, rümpft dabei meistens die Nase: Der Begriff steht für kommerzielle Unterhaltung und leichteste Broadway-Kost. Sehr zu Unrecht, denn in ihrer Blütezeit zwischen 1925 und 1945 erlebte die Alley die glückliche Geburt der amerikanischen Klassik aus dem Geiste des Jazz Age. Von diesen Meisterwerken des Great American Songbook profitiert der Jazz bis heute.« Nicht nur der Jazz, überhaupt die populäre Musik. Und es gibt wohl kaum einen Musikfreund, gleich welchen Genres, der sich nicht schon einmal von einem Lied aus dieser Zeit tief berührt fühlte. Schaal fährt fort: »Es waren die Jahre des Cotton Club1 und der Harlem Renaissance2: Das Leben war elektrisiert, die Musik bekam einen nervösen Sound, die Menschen änderten ihren Rhythmus und ihre Sprache. Die Songschreiber der Alley gerieten in den kreativen Sog dieses neuen Lebensgefühls, verbanden den Witz der Zeit mit dem Willen zur Kunst und komponierten Schlager für die Ewigkeit. George Gershwin, Ivring Berlin (White Christmas, 1940), Jerome Kern (Smoke Gets In Your Eyes, 1933), Richard Rodgers (Blue Moon, 1934), Cole Porter (Night and Day, 1932), Harold Arlen (Over the Rainbow, 1938), Harry Warren (Chattanooga Choo Choo, 1941) und Arthur Schwartz (You and the Night and the Music, 1934) schufen eine neue Ästhetik der Unterhaltungsmusik: den Love-Song als Kunstwerk, als klingende Miniatur, die über die wirre Broadway-Show und den banalen Hollywood-Film hinauswächst zum Klassiker.«

 

1929 veröffentlichte Erich Maria Remarque seinen Antikriegsroman Im Westen nichts Neues. Das Buch wurde ein Weltbestseller, und auch die Dadaisten waren länderübergreifend erfolgreich. Aber die Nationalsozialisten waren stärker. 1933 kam Hitler an die Macht. Der Überfall auf Polen 1939 stürzte die Welt in den zweiten großen Krieg. Charlie Chaplins satirischer Film Der große Diktator, der 1940 seine Uraufführung hatte, war und ist bis heute die großartigste Entlarvung eines sogenannten Führers. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 lag halb Europa in Schutt und Asche. Viele Männer befanden sich in Kriegsgefangenschaft oder lebten nicht mehr. Einen großen Anteil beim Wiederaufbau der Städte hatten die Trümmer-Frauen. Für ihre Kinder hatten sie wenig Zeit; sich selbst überlassen wurden viele unangepasst und aufmüpfig, nicht nur in Europa. Das Bewusstsein zahlreicher junger Menschen änderte sich. Das Weltbild ihrer Eltern wollten und konnten sie nicht übernehmen.

Das betraf besonders die Bohème- und Subkultur-Szene in den USA und Frankreich während der zweiten Hälfte der 1940er Jahre. Im New Yorker Bezirk Manhattan stießen Schriftsteller und Dichter wie William Burroughs, Jack Kerouac und Allen Ginsberg als Beat Generation3 auf schwarze Jazz-Musiker wie Dizzy Gillespie, Charlie »Bird« Parker und Thelonius Monk. Sie alle reflektierten den Zeitgeist. Das Ergebnis waren Bücher wie Naked Lunch, On the Road - Unterwegs oder Das Geheul, sowie eine neue Form des Jazz – der virtuose und aufwühlende Bebop, wie z.B. das Stück Be-Bop (1945) von Dizzy Gillespie oder Donna Lee (1947) von Charlie Parker. »Dieser Bebop war mehr als Musik: Er verkörperte das Lebensgefühl der Unangepassten, die aus den Konventionen der amerikanischen Gesellschaft flohen...«4

Zeitgleich trat im Pariser Künstlerviertel Saint Germain de Près eine unkonventionelle Lebenseinstellung in Erscheinung, ausschweifend, leicht melancholisch: der Existentialismus – Die Welt an sich ist absurd. Der Philosoph Jean-Paul Sartre, einer der Köpfe dieser Bewegung postulierte: »Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein.« Die Existenzialisten jener Tage waren hauptsächlich kritische Intellektuelle, trugen bevorzugt schwarze Kleidung und Rollkragenpullover, tranken Rotwein und verkehrten in verrauchten Kellerlokalen, in denen natürlich auch Musik gespielt wurde. Ihr Existenzialisten-Frühstück am Mittag bestand aus einer Tasse schwarzem Kaffee und einer filterlosen Gauloises-Zigarette – manchmal auch ein Croissant. Juliette Gréco, Chansonsängerin und Muse der Existenzialisten, hat über diese Bewegung mal gesagt, sie »steht für Freiheit und Verantwortung«. Außer den französischen Chansons, wie sie von Juliette Gréco (Si tu t'magines, 1950) und anderen gesungen wurden, gehörte die Jazzmusik dazu, besonders der Cool Jazz wie Miles Davis oder Gerry Mulligan (Bernie's Tune, 1952/53) ihn spielten. Es gab auch eine Vereinigung der beiden Musikrichtungen, Chanson und Jazz, in Form eines Liebespaares: Juliette Gréco, die »Schwarze Rose von St. Germain« und Miles Davis, zu jener Zeit der coolste Mann der Welt, lernten sich 1949 in Paris kennen und lieben.

 

Die 1950er Jahre standen in West-Deutschland für den Aufschwung nach den Entbehrungen des Krieges, aber auch für Rebellion der Jugend und die Sehnsucht nach individueller Freiheit. Finanzminister Ludwig Erhard hatte »Wohlstand für alle« in Aussicht gestellt und seine Prognose erfüllte sich. Das so genannte Wirtschaftswunder fand tatsächlich statt, und fast jeder war bereit, dafür die Ärmel hochzukrempeln. Der überraschende Gewinn des Weltmeistertitels durch die Deutsche Fussballnationalmannschaft 1954 in der Schweiz5 sorgte zusätzlich für ein neues Wir-Gefühl, frei nach dem Motto: »Wir sind wieder wer.« – 1953 fand die sinnliche Cool Jazz-Aufnahme My Funny Valentine, auch ein Great American Songbook-Titel aus der Tin Pan Alley-Ära, gespielt vom Gerry Mulligan Quartett, große Beachtung. Einer der vier Musiker war der Trompeter und Sänger Chet Baker, der in dieser Dekade zum Popstar des Jazz aufstieg. – Im selben Jahr, im geistigen Klima der Existenzialisten, wurde in der Seine-Metropole das absurde Theaterstück Warten auf Godot von Samuel Beckett zum ersten Mal aufgeführt. Doch Godot kommt nicht. Ist Warten sinnlos? Nichts tun...

 

New Orleans, die bunte Hafenstadt am Mississippi River, mit dem Rotlicht-Vergnügungsviertel von Storyville, war Anfang des 20. Jahrhunderts ein brodelnder Schmelztiegel verschiedener Kulturen und die Wiege des Jazz und des Rhythm & Blues. Zwei Protagonisten, die in dieser Zeit dort Musik machten, waren Louis Armstrong und Sidney Bechet. Als der britische Jazz-Musiker Ken Colyer nach zweijährigem New Orleans-Aufenthalt 1953 nach England zurückkehrte, brachte er den New Orleans-Jazz mit nach Europa. Davon beeinflusst formierten sich Colyers Musiker-Kollegen zu der Chris Barber's Jazzband, die 1955 die erfolgreiche Vinyl-Single Ice Cream/Down by the Riverside auf dem dänischen Label Storyville6 veröffentlichten. Drei Jahre später folgte die Bechet-Komposition Petite Fleur, gespielt von dem Klarinettisten Monty Sunshine. Die Instrumental-Nummer, wurde schnell zum internationalen Millionenseller mit Seltenheitswert: schwarzes New Orleans-Feeling in den Charts überwiegend weißer Hörer. Der Traditional- oder Dixieland-Jazz von Musikern wie Ken Colyer, Chris Barber, Kenny Ball (Midnight in Moscow, 1961) oder dem »King of Skiffle« Lonnie Donegan (Rock Island Line, 1956) war nicht nur ein Revival aus frühen Tagen der Metropole des Blues und Jazz am Old Man River7, die Musik wirkte auch als Katalysator für die spätere Beat-Musik in Liverpool.

 

In den USA produzierte das Kingston Trio 1958 den auf Tatsachen beruhenden Folksong Tom Dooley aus den zwanziger Jahren. Besungen wurde ein vermeintlicher Mörder, der 1867 für seine Tat zum Tod durch den Strang verurteilt wurde: Hang down your head, Tom Dooley, Hang down your head and cry, Poor boy, you're bound to die - Senk deinen Kopf, Tom Dooley, Senk deinen Kopf und weine, Armer Junge, du musst sterben.Das bedrückende Lied war in dieser sparsamen Folk-Interpretation außer in den USA auch in Europa ein großer Hit. – Im selben Jahr erschien auch Wilhelm Reichs Werk The Murder of Christ. Misha Schoeneberg schrieb dazu in seinem deutschen Rock'n'Roll-Märchen Als Wir das Wunder waren: »Die Ermordung alles Lebendigen durch das gepanzerte Menschentier, das ist Reichs Thema, es geschehe tagtäglich, seit Generationen. Schuld sei die Angst vor Liebe und Zärtlichkeit, welche die Kinder von ihren Eltern eingebläut bekämen und dann bewusst oder unbewusst an die nächste Generation weitergäben. Das sei die tatsächliche ›Erbsünde‹, sagt Wilhelm Reich. Reich nennt sie die ›Emotionale Pest‹. Anstatt Bestätigung in der Liebe zu erfahren, lernen wir persönliche Gier. Das schlägt sich nieder in seelischer wie körperlicher Verspannung. Am Ende steckt ein jeder in einer Panzerung, so als wäre er lebendig eingemauert.«

In diesem Sinne sind die berühmten Hollywood-Dramen zu verstehen, in denen Marlon Brando (Der Wilde, 1953) und James Dean (Denn sie wissen nicht was sie tun, 1955) protestierende Jugendliche spielen, die sich unverstanden fühlen und so – wie schon nach dem Ersten Weltkrieg – zu der von der Nachkriegsentwicklung enttäuschten »Lost Generation« wurden. In der BRD sprach man in diesem Zusammenhang von den »Halbstarken«. »Die Isolation des Individuums in der modernen Gesellschaft«8 ist ein gemeinsames Thema dieser Unzufriedenen.

Interlog

 

Welche Musik hörten die Armen, die Schwarzen, unangepasste Künstler, Rebellen und Desperados während und nach dem großen Krieg in den USA? Wahrscheinlich eher schwarze Race-Music (Jazz und Rhythm & Blues), vielleicht besonders Bebop. Eventuell auch Lieder wie Strange Fruit (1939) von Billie Holiday. Die schwarze Jazz-Sängerin schaffte es »jenen ergreifenden Titel Strange Fruit so zu interpretieren, dass er regelrecht zur Hymne aller wurde, die die Erinnerung an die Plantagenarbeit nicht gelöscht hatten, so wie sie in Billie Holidays eigener Familie wach war. Und die Sängerin, die oft nur Hintereingänge zu den Clubs benutzen durfte, in denen sie vor Weißen auftrat, war intelligent genug, in ihrem eigenen gekennzeichneten Leben eine Verlängerung der Plantage zu erkennen und den ergreifenden, einen Akt von Lynchjustiz thematisierenden Song zu hinterlassen.«9

Andere populäre Songs waren This Land Is Your Land (1940) von Woody Guthrie oder das anklagende Sixteen Tons (1947) von Merle Travis, bei dem es um Ungerechtigkeiten im Bergbau geht. Angesagt waren auch Rhythm & Blues-Songs à la Louis Jordan (Caldonia, 1945) oder von Big Joe Turner Chains of Love (1951). Aber wem gebührt die Ehre den ersten »echten« Rock'n'Roll-Song veröffentlicht zu haben? Natürlich kann es darauf keine allgemein gültige Antwort geben. Ein möglicher Kandidat könnte Fats Domino mit seinem Titel The Fat Man sein, produziert 1949 in New Orleans von Dave Bartholomew. Alternativ dazu wäre Rocket 88 zu nennen, aufgenommen 1951 von Ike Turner und Jackie Brenston and his Delta Cats, produziert von Sam Phillips in Memphis, der ein Jahr später sein eigenes Platten-Label Sun Records gründete und Mitte der fünfziger Jahre wichtig für das frühe Rock'n'Roll-Business war. Sam Phillips produzierte u.a. Stars wie Elvis Presley, Jerry Lee Lewis, Carl Perkins, Roy Orbison und Johnny Cash in ihrer Anfangszeit.

Dann folgte der April 1954. Bill Haley & his Comets gehen in New York ins Studio und covern von Sonny Dae & his Knights den Song Rock Around the Clock; Produzent ist Milt Gabler. One, two, three o clock, four o clock, rock! Eine Mischung aus schwarzem Rhythm & Blues und weißer Country-Musik, wird zum Rock'n'Roll. Ein Jahr später hat der Regisseur Richard Brooks die Idee, den Titel am Anfang und Ende des US-amerikanischen Films Die Saat der Gewalt einzuspielen. Der Song Rock Around the Clock wird zum internationalen Superhit. Dieser Umstand war für die Film-Produzenten Grund zum Handeln und »Hollywood reagierte mit einem Rock'n'Roll-Film: Rock Around the Clock kam im März 1956 in den USA, im September in Deutschland ins Kino. Der deutsche Titel Außer Rand und Band war Programm: Während der Vorstellung brachen randalierende ›Halbstarke‹ Stuhlreihen kaputt, anschließend demolierten sie Telefonhäuschen und riefen Sprechchöre wie ›Rock and Roll‹. In allen Großstädten gab's Straßenschlachten mit der Polizei.«10 »Dieser erste Rock'n'Roll-Film hatte im Herbst 1956 erhebliche gesellschaftliche Außenwirkungen in vielen westlichen Ländern sowie in Australien und Südamerika.«11

Man kann wohl sagen, der Film, aber besonders der Haley-Song und damit der Rock'n'Roll als Musikströmung, lösten ein kulturelles Erdbeben aus. Ein Weltphänomen war geboren! Eine neue Form der Ekstase! Eine archaisch-rhythmische Urkraft, verbunden mit Freiheit, Schweiß und Erotik. Ein aufregendes Lebensgefühl, gepaart mit materiellen Errungenschaften wie Petticoat, Blue Jeans (Nietenhosen), Kaugummi, Coca-Cola, Zigaretten & Whiskey, Comics, Ketchup, tragbaren Plattenspielern und kleinen Transistorradios. Tanz nach Musik mit Strom-Gitarren, Bass und Schlagzeug als Grundlage, die den Mainstream erobert. Coole Lässigkeit aus Amiland, das Gegenteil von Strammstehen in Uniform. Der Protest der Nachkriegsjugend gegen bürgerliche Zwänge und Normen, gegen militante Traditionalisten findet in dieser Musik seinen Ausdruck. We're gonna rock around the clock tonight! – Wir werden die ganze Nacht durchrocken! Das weiße Establishment empörte sich über die Radaumusik, die »Negermusik« und – in Deutschland, über das »Amigeheul«. Doch das hinderte viele Jugendliche auch und gerade aus armen Verhältnissen nicht daran, nach Rock'n'Roll-Musik zu tanzen oder sich eine günstige Gitarre zu kaufen, um Rock-Musik zu spielen – so der verkürzte Name, der sich im Laufe der Jahre als Oberbegriff durchsetzte. Im Vergleich zur klassischen Musik der Hochkultur war es für Anhänger des Rock'n'Roll auch ohne längere Ausbildung, wie Notenlesen und Harmonielehre, möglich eine Band zu gründen, um sich musikalisch auszudrücken.

 

Exkurs – Rausch der Sinne

 

Peter Schneider, einer der 68er-Aktivisten: »Natürlich war Bill Haleys Rock Around the Clock im Vergleich zu einer Kantate von Johann Sebastian Bach das Werk eines musikalischen Analphabeten. Nur änderte diese Einsicht nichts daran, dass Bill Haley – im Unterschied zu Bach – meinen Körper in helle Aufregung versetzte und meine Füße elektrisierte. [...] Es war dieses sture wunderbare Dadadámdamdám, das meinen Körper – und die von Millionen junger Leute – in ein und denselben Rhythmus einschwingen ließ und in Trance versetzte.« – Auch wenn die Trance Tanz-Expertin Ulrike Freimuth mit ihrem folgenden Statement eher von elektronischer Musik ausgeht, lassen sich dennoch Teile ihrer Aussage auf den Rock'n'Roll übertragen: »Für mich ist Trance Tanz Magie, Heilung, ein Ventil um emotionalen Druck abzubauen, ein Weg, um wieder den Rhythmus des Lebens in mir zu spüren, mich in meinem Körper zu Hause zu fühlen. Ich begegne mir selbst, authentisch im Hier und Jetzt. Trance Tanz schenkt mir Kraft, Freude, Lebendigkeit, leuchtende und klare Augen, Ekstase, Frieden und Liebe.«

»Wenn das, was gute Rockbands auf der Bühne präsentieren, vom Publikum aufgenommen wird, dann ergibt sich, ich würde fast sagen, so etwas wie eine magische Einheit. An einem guten Tag ist das wirklich möglich. So etwas wie Massenhypnose, eben das was gute Rockkonzerte immer auslösen.«12

»Im Genusse dieses Tanzes, Halberstickt in diesem Wirbel, Vergessend die Ziele des heißen Begehrens, Widmet der Geist sich dem Spiel der Berauschung. Auf mächtigen Flügeln Neuen Begehrens, Wird er getragen, Ins Reich der Ekstase.

Diese Verse sind dem Gedicht entnommen, das Alexander Skrjabin seinem 1908 fertiggestellten Orchesterwerk Le poème de l´extase beigefügt hat. [...] Zu allen Zeiten und in allen Kulturen haben Menschen außergewöhnliche Zustände des Erlebens gesucht (oder auch gefürchtet) und den damit verbundenen, nicht alltäglichen Erfahrungen besondere Bedeutung zugemessen.«13