Kennen wir uns nicht? - Sophie Kinsella - E-Book + Hörbuch

Kennen wir uns nicht? E-Book

Sophie Kinsella

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Beschreibung

Als Lexi Smart im Krankenhaus aufwacht, erleidet sie einen Schock: Nach einem Unfall sind die letzten drei Jahre komplett aus ihrer Erinnerung gelöscht, und sie erkennt sich selbst nicht wieder. Die junge Frau mit dem Mercedes-Cabrio, dem Chefposten und dem millionenschweren Ehemann soll sie sein? Offenbar hatte sie ein tolles Leben. Seltsam nur, dass sie mit ihren alten Kollegen im Streit liegt und ihre neue beste Freundin ein Hohlkopf ist. Und dann taucht auch noch ein höchst attraktiver Mann auf, der behauptet, ihr Liebhaber zu sein. Wie kann sie dieses Chaos in Ordnung bringen? Und vor allem: Wird sie je wieder herausfinden, wer sie wirklich ist?

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Seitenzahl: 582

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Die Originalausgabe erschien 2008unter dem Titel »Remember Me?«bei Bantam Press, London
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Sophie Kinsella Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Martina KlüverAB · Herstellung: Str.Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin
ISBN 978-3-641-06985-8V002
www.goldmann-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Buch

Lexi Smart hatte einen kleinen Unfall: Sie ist auf einer Treppe gestolpert und gestürzt. Zumindest ist dies das Letzte, woran sie sich beim Aufwachen im Krankenhaus erinnern kann. Dort versichert man der jungen Frau jedoch, dass sie nach einem Autounfall eingeliefert wurde. Allerdings besitzt Lexi gar kein Auto, sie kann ja nicht einmal fahren. Und wem gehört die edle Louis-Vuitton-Tasche in ihrem Krankenzimmer? Und die Visitenkarte mit dem Titel »Director« direkt unter ihrem Namen? Und dann wäre da noch der Ehemann, der sie im Krankenhaus besucht – Lexi kann sich beim besten Willen nicht an ihn erinnern. Schließlich muss sie erkennen, dass ihre letzte Erinnerung bereits drei Jahre alt ist und von 2004 stammt. Sie hat keine Ahnung, wer sie mittlerweile ist und welches Leben sie in den letzten Jahren geführt hat. Es muss jedenfalls ein tolles Leben gewesen sein, inklusive millionenschwerem Gatten, Traumwohnung und Chefposten. Doch nach und nach entdeckt Lexi merkwürdige Seiten an ihrem neuen Selbst. Offensichtlich hat sie sich mit all ihren alten Kollegen zerstritten; ihre neue beste Freundin ist ein kompletter Hohlkopf, und ihr Hobby ist exzessives Workout. Was ist nur mit ihr passiert? Wie kann sie das ganze Chaos in Ordnung bringen? Und vor allem: Wird sie je wieder herausfinden, wer sie wirklich ist?

Mehr zum Buch und zur Autorin unter www.sophie-kinsella.deund www.readsophiekinsella.com

Die Romane mit Schnäppchenjägerin Rebecca Bloomwood:Die Schnäppchenjägerin (45286) Fast geschenkt (45403) Hochzeit zu verschenken (45507) Vom Umtausch ausgeschlossen (45690) Prada, Pumps und Babypuder (46449)

Außerdem lieferbar:Sag’s nicht weiter, Liebling. Roman (45632) Göttin in Gummistiefeln. Roman (46087)

Inhaltsverzeichnis

BuchWidmungPROLOGEINSZWEIDREIVIERFÜNFSECHSSIEBENACHTNEUNZEHNELFZWÖLFDREIZEHNVIERZEHNFÜNFZEHNSECHZEHNSIEBZEHNACHTZEHNNEUNZEHNZWANZIGEINUNDZWANZIGDANKSAGUNGENCopyright

Für Atticus

PROLOG

Wenn das nicht der absolut beschissenste Abend meines ganzen scheißbeschissenen Lebens ist!

Auf einer Skala von eins bis zehn würde ich sagen … minus sechs. Und dabei sind meine Ansprüche noch nicht mal besonders hoch.

Regen läuft mir in den Kragen, während ich von einem blasen-übersäten Fuß auf den anderen trete. Weil ich natürlich keinen Regenschirm dabei habe, halte ich mir meine Jeansjacke über den Kopf, aber die ist alles andere als wasserdicht. Ich will nur noch ein Taxi, nach Hause, diese blöden Stiefel ausziehen und mir ein schönes, heißes Bad einlassen. Aber wir warten hier nun schon geschlagene zehn Minuten, und weit und breit ist kein Taxi in Sicht.

Meine Zehen bringen mich um. Nie wieder kaufe ich mir billige Schuhe. Diese Lackstiefel habe ich letzte Woche im Ausverkauf erstanden (mit superflachen Absätzen, ich trage eigentlich immer flache Schuhe). Sie sind eine Nummer zu klein, aber die Verkäuferin meinte, sie weiten sich beim Tragen und machen schön lange Beine. Und ich habe ihr auch noch geglaubt. Ehrlich – wie kann man nur so bescheuert sein!

Wir stehen an einer Straßenecke im Südwesten von London, und aus dem Club unter unseren Füßen wummert leise Musik. Carolyns Schwester macht Promotion und hat uns reingeschleust. Nur deshalb sind wir den ganzen Weg hier rausgefahren. Und jetzt wollen wir eigentlich nach Hause. Aber anscheinend bin ich die Einzige, die sich nach einem Taxi umsieht.

Fi hat den einzig brauchbaren Hauseingang mit Beschlag belegt und schiebt diesem Typen, den sie vorhin am Tresen angequatscht hat, ihre Zunge in den Rachen. Er ist eigentlich ganz süß, bis auf sein kümmerliches Bärtchen. Und außerdem ist er kleiner als Fi – aber das sind viele Männer, denn sie ist immerhin einsdreiundachtzig. Sie hat lange, dunkle Haare, einen großen Mund und eine dementsprechende Lache. Wenn Fi irgendwas besonders lustig findet, geht bei uns im Büro fast gar nichts mehr.

Ein paar Schritte weiter suchen Carolyn und Debs Arm in Arm unter einer Zeitung Schutz vor dem Regen und grölen It’s Raining Men, als stünden sie noch immer auf der Karaoke-Bühne.

»Lexi!«, kreischt Debs und streckt einen Arm aus, damit ich mich dazugeselle. »It’s raining men!« Ihre blonde Mähne ist vom Regen ganz zerzaust, aber ihre Augen leuchten noch immer vor Begeisterung. Debs Lieblingshobbys sind Karaoke und Schmuck basteln. Heute Abend trage ich sogar ein Paar Ohrringe, die sie mir zum Geburtstag geschenkt hat: kleine, silberne Ls mit baumelnden Perlen.

»Es regnet gar keine Männer!«, rufe ich missmutig. »Es regnet einfach nur!«

Normalerweise finde ich Karaoke ja auch toll. Aber heute Abend bin ich einfach nicht in der Stimmung zu singen. Ich fühle mich so klein und verwundbar, als sollte ich mich lieber irgendwo verkriechen, weit weg von allen anderen. Wenn doch nur Loser Dave wie versprochen aufgetaucht wäre. Nach all den hdl-Simsen, nach all den Beteuerungen, er wäre spätestens um zehn Uhr hier, habe ich die ganze Zeit nur dagesessen, gewartet und die Tür im Blick behalten, obwohl die Mädels ständig sagten, ich solle ihn endlich in den Wind schießen. Ich bin echt eine selten dusselige Kuh.

Loser Dave ist Autoverkäufer, und wir sind seit letztem Sommer zusammen, seit diesem Barbecue bei Carolyns Freund. Ich nenne ihn nicht etwa Loser Dave, um ihn zu kränken. Das ist schlicht und ergreifend sein Spitzname. Keiner weiß mehr, wie er dazu gekommen ist, und er erzählt es mir einfach nicht. Ihm wäre ein anderer Name natürlich lieber. Neuerdings nennt er sich selbst »Butch«, weil er findet, dass er wie Bruce Willis in Pulp Fiction aussieht. Okay, er hat einen Bürstenschnitt – aber da hört die Ähnlichkeit auch schon auf.

Jedenfalls hat das mit dem neuen Image nicht so recht geklappt. Für seine Arbeitskollegen ist und bleibt er Loser Dave, genau wie ich das Frettchen bleibe. So hat man mich schon genannt, als ich elf war. Manchmal auch Zottelliese. Ehrlich gesagt ist mein Haar tatsächlich ziemlich strubbelig. Und meine Zähne stehen etwas schief. Aber ich sage mir immer, sie geben meinem Gesicht Charakter.

(Das ist gelogen. Eigentlich sagt nur Fi, dass sie meinem Gesicht Charakter geben. Ich möchte meine Zähne am liebsten richten lassen, sobald ich das Geld zusammengespart und mich seelisch darauf eingestellt habe, mit einer Spange im Mund herumzulaufen – was vermutlich nie der Fall sein wird.)

Ein Taxi taucht auf, und ich will es heranwinken, aber es hält bei ein paar Leuten weiter vorn. Na, toll. Mürrisch schiebe ich meine Hand wieder in die Hosentasche und suche die regennasse Straße nach dem nächsten leuchtenden Taxischild ab.

Es liegt aber nicht allein daran, dass Loser Dave mich versetzt hat. Heute war Jahresabschluss bei meiner Arbeit, und alle bekamen Umschläge, in denen stand,wie viel sie zusätzlich verdienen würden. Sie hüpften vor Begeisterung herum, weil die Verkäufe der Firma 2003/2004 besser ausgefallen sind als erwartet. Es war wie ein vorgezogenes Weihnachtsfest. Den ganzen Nachmittag redeten alle nur davon, was sie mit dem Geld anfangen wollten. Carolyn plante einen kleinen Ausflug nach New York, mit ihrem Freund Matt. Debs hat sich gleich einen Termin für Strähnchen bei Nicky Clarke geholt – da wollte sie schon immer mal hin. Fi hat bei Harvey Nichols angerufen und sich eine coole, neue Tasche zurücklegen lassen, die sich »Paddington« oder so ähnlich nennt.

Und da saß ich nun. Mit nada. Nicht,weil ich nicht hart genug gearbeitet hätte, nicht, weil ich meine Zielvorgaben nicht erreicht hätte, sondern einzig und allein, weil man, um eine Prämie zu bekommen, mindestens ein Jahr für die Firma gearbeitet haben muss, was ich um genau eine Woche verpasst habe. Eine Woche! Das ist so unfair! So was von knickrig! Also, wenn man mich fragen würde, wie ich das finde …

Träum weiter. Als ob Simon Johnson jemals eine Juniorassistentin der Abteilung Bodenbeläge um ihre Meinung fragen würde. Zu allem Überfluss habe ich die schlimmste Berufsbezeichnung, die es gibt. Richtig peinlich. Sie passt kaum auf meine Visitenkarte. Je länger der Titel, desto beschissener der Job. So kommt es mir jedenfalls vor. Anscheinend glauben die, sie könnten einen mit Worten blenden, damit man nicht darüber nachdenkt, dass man in der hintersten Ecke vom Büro die lausigsten Kundenkonten bearbeitet, mit denen sonst niemand zu tun haben will.

Ein Auto rast nah am Bürgersteig durch eine Pfütze, und ich mache einen Satz zur Seite – allerdings erst, nachdem ich die volle Ladung abbekommen habe. Im Hauseingang macht Fi den süßen Typen scharf, indem sie ihm was ins Ohr säuselt. Ich kann ein paar ihrer Worte verstehen und muss – trotz meiner Laune – die Lippen zusammenkneifen, um nicht laut loszuprusten. Vor ein paar Monaten sind wir an unserem Frauenabend zu Hause geblieben und haben uns kleine Geheimnisse anvertraut. Fi meinte, sie sagt immer dasselbe, nämlich: »Ich glaube, mein Höschen schmilzt gleich.«

Also, echt. Welcher Mann fährt denn auf so was ab?

Na ja. Nach Fis Trefferquote zu urteilen, wohl so einige.

Debs hat uns eröffnet, dass sie beim Sex nur ein einziges Wort über die Lippen bringt, ohne laut zu lachen – »heiß«. Also sagt sie immer nur: »Ich bin heiß«, »Du bist so heiß«, »Das ist echt heiß«. Tja, wenn man so toll aussieht wie Debs, braucht man wahrscheinlich kein besonders ausgefeiltes Repertoire.

Carolyn ist schon seit hundert Jahren mit Matt zusammen und hat erzählt, dass sie im Bett überhaupt nichts sagt, höchstens »Ohh« oder »Weiter oben!« oder einmal, kurz vor seinem Orgasmus: »Verdammt, ich hab das Bügeleisen angelassen.« Das könnte allerdings auch ein Scherz gewesen sein. Sie hat einen ziemlich schrägen Humor, genau wie Matt. Die beiden sind superschlau, fast zu schlau, aber ohne es groß raushängen zu lassen. Wenn wir zusammen ausgehen, knallen sie sich gegenseitig so viele Schimpfwörter an den Kopf, dass man nie weiß, ob es nun ernst gemeint ist oder nicht. Vermutlich wissen sie das selbst nicht so genau.

Dann war ich an der Reihe, mein kleines Geheimnis preiszugeben, und zwar dass ich den Männern immer Komplimente mache. Zu Loser Dave sage ich zum Beispiel: »Du hast echt tolle Schultern« und »Du hast so schöne Augen«.

Allerdings habe ich verschwiegen, warum ich das tue. Im Stillen hoffe ich nämlich, dass der Mann das Kompliment erwidert und mir dann sagt, wie schön ich bin.

Dementsprechend musste ich zum Glück auch nicht zugeben, dass es bisher noch nie vorgekommen ist.

Ach, egal. Was soll’s.

»Hey, Lexi.« Plötzlich steht Fi neben mir, die sich offenbar von dem süßen Typen losgeknutscht hat. Sie zieht meine Jeansjacke über ihren Kopf und holt einen Lippenstift hervor.

»Hi«, sage ich und blinzle Regenwasser aus meinen Wimpern. »Wo ist Loverboy denn hin?«

»Er sagt dem Mädchen, mit dem er hergekommen ist, dass er geht.«

»Fi!«

»Was?« Fi hat offenbar keinerlei Gewissensbisse. »Die beiden sind nicht zusammen. Oder jedenfalls nicht richtig.« Sorgfältig malt sie ihre Lippen knallrot an. »Ich werde mich komplett mit neuem Make-up ausstatten«, sagt sie angesichts des roten Stummels. »Christian Dior, die ganze Palette. Jetzt kann ich es mir ja leisten!«

»Unbedingt!« Ich nicke, versuche, begeistert zu klingen. Fi braucht einen Moment, bis sie merkt, was sie gerade gesagt hat.

»Oh, Scheiße. Entschuldige, Lexi.« Sie legt mir einen Arm um die Schulter und drückt mich an sich. »Du hättest auch eine Prämie kriegen müssen. Das war nicht fair.«

»Kein Problem.« Ich versuche zu lächeln. »Nächstes Jahr.«

»Alles okay bei dir?« Fi mustert mich. »Möchtest du noch was trinken gehen, oder so?«

»Nein, ich will endlich ins Bett. Ich muss morgen früh raus.«

Fi ist deutlich anzusehen, wie ihr alles wieder einfällt, und sie beißt sich auf die Unterlippe. »Auch das noch! Das hatte ich ganz vergessen. Erst die Prämie und dann … Lexi, es tut mir leid. Ist echt ’ne beschissene Zeit für dich.«

»Es geht schon!«, sage ich schnell. »Es ist … ich versuche einfach, kein großes Ding daraus zu machen.«

Kein Mensch mag Jammerlappen. Also zwinge ich mich irgendwie, fröhlich zu lächeln, um zu zeigen, wie wenig es mich berührt, dass ich schiefe Zähne habe, dass man mich versetzt hat, dass ich keine Prämie bekomme und gerade meinen Vater verloren habe.

Fi schweigt einen Moment. Ihre grünen Augen schimmern im Licht der vorüberfahrenden Autos.

»Es wird alles wieder gut«, sagt sie.

»Meinst du?«

»Mh-hm.« Sie nickt energisch. »Du musst nur daran glauben. Komm schon!« Sie drückt mich. »Was bist du, Prinzessin oder Erbse?« Schon als wir fünfzehn waren, brachte Fi diesen Spruch, und jedes Mal bringt sie mich damit zum Lachen. »Und weißt du was?«, fügt sie hinzu. »Ich glaube, dein Dad hätte gewollt, dass du verkatert bei seiner Beerdigung auftauchst.«

Sie hat meinen Vater nur ein paar Mal getroffen. Wahrscheinlich hat sie recht.

»Hey, Lexi.« Plötzlich wird Fis Stimme sanfter, und ich muss mich richtig zusammenreißen. Ich bin sowieso schon ziemlich angeschlagen, und wenn sie jetzt was Nettes über meinen Vater sagt, fange ich vielleicht an zu weinen. Zwar kannte ich ihn gar nicht besonders gut, aber man hat ja schließlich nur einen Vater … »Leihst du mir ein Gummi?« Ihre Stimme bohrt sich in meine Gedanken.

War ja klar. Die Sorge, mit Mitgefühl überschüttet zu werden, hätte ich mir getrost sparen können.

»Für alle Fälle«, fügt sie mit vielsagendem Lächeln hinzu. »Ich meine, wahrscheinlich werden wir uns eh nur über die politische Weltlage und so was unterhalten.«

»Ja. Wahrscheinlich.« Ich krame in meinem grünen Handtäschchen, das ich zum Geburtstag bekommen habe, nach meinem ebenso grünen Portemonnaie und hole ein Kondom heraus, das ich ihr diskret zustecke.

»Danke, Süße.« Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Hör zu. Willst du morgen Abend zu mir kommen? Wenn du es hinter dir hast? Ich mach uns Spaghetti Carbonara.«

»Ja!« Ich lächle dankbar. »Das wäre toll. Ich ruf dich an.« Ich freue mich jetzt schon darauf. Einen Teller leckere Pasta, ein Gläschen Wein, und ich erzähle ihr von der Beerdigung. Fi hat so eine Art, selbst den düstersten Dingen des Lebens etwas Lustiges abzuringen, und wir werden uns bestimmt schlapplachen …

»Hey, da kommt ein Taxi! Taxiiii!« Ich springe zum Kantstein, als der Wagen hält, und winke Debs und Carolyn, die gerade Dancing Queen kreischen. Carolyns Brille ist voller Regentropfen, und sie singt etwa fünf Töne höher als Debs. »Hi!« Ich beuge mich durchs Fenster zum Taxifahrer hinein, mit tropfenden Haaren. »Wären Sie wohl so freundlich, uns erst nach Balham zu bringen, und dann …«

»Keine Chance, Süße, nix Karaoke«, schneidet mir der Fahrer das Wort ab, mit bösem Blick auf Debs und Carolyn.

Ich starre ihn verdutzt an. »Wie meinen Sie das: kein Karaoke? «

»Ich will diese Mädchen nicht in meinem Wagen haben. Von dem Geheul krieg ich Kopfschmerzen.«

Bestimmt macht er Witze. Man kann doch niemanden aussperren, weil er singt.

»Aber …«

»Mein Taxi, meine Regeln. Keine Betrunkenen, keine Drogen, nix Karaoke.« Bevor ich noch etwas sagen kann, legt er den ersten Gang ein und gibt Gas.

»›Nix Karaoke‹-Regeln sind verboten!«, schreie ich dem Taxi wütend hinterher. »Das ist … Diskriminierung! Das ist gegen das Gesetz! Das ist …«

Hilflos zucke ich mit den Schultern und sehe mich auf dem Gehweg um. Fi liegt wieder in den Armen von Mister Cutie. Debs und Carolyn führen die schlimmste Dancing Queen-Version auf, die ich je gesehen habe, so dass ich es dem Taxifahrer kaum verdenken kann. Der Verkehr rauscht vorbei, setzt uns unter Wasser. Regen trommelt auf meine durchgeweichte Jeansjacke und sickert mir ins Haar. Meine Gedanken rotieren im Kopf wie Socken im Wäschetrockner.

Wir werden nie ein Taxi finden. Wir werden die ganze Nacht hier draußen im Regen stehen. Diese Bananen-Cocktails sind Gift für mich. Ich hätte nach dem vierten aufhören sollen. Morgen wird mein Vater beerdigt. Ich war noch nie auf einer Beerdigung. Was ist, wenn ich anfange zu schluchzen und mich alle anstarren? Loser Dave liegt in diesem Moment wahrscheinlich mit irgendeiner anderen im Bett und sagt ihr, wie schön sie ist, während sie »Butch! Butch!« stöhnt. Ich habe Blasen an den Füßen und Frostbeulen …

»Taxi!« Instinktiv schreie ich das Wort heraus, fast noch bevor ich das gelbe Licht in der Ferne entdeckt habe. Der Wagen kommt auf uns zu – blinkt links. »Nicht abbiegen!« Ich winke wie verrückt, leicht panisch. »Hier drüben! Hier!«

Ich muss dieses Taxi unbedingt kriegen. Ich muss. Mit der Jeansjacke auf dem Kopf renne ich den Bürgersteig entlang, stolpere fast und schreie, bis ich heiser bin: »Taxi! Taxi!« An der nächsten Ecke drängen sich die Menschen auf dem Bürgersteig. Ich weiche ihnen aus und hetze die Treppe zu einem protzigen Verwaltungsgebäude hinauf. Zu einer Art Balkon mit Stufen an beiden Seiten. Von da oben werde ich das Taxi heranwinken, dann die Treppe runterwetzen und einfach reinspringen. »TAXI! TAAA-XI!«

Ja! Es hält an. Gott sei Dank! Endlich. Ich kann nach Hause. Mir ein Bad einlassen und den Tag vergessen.

»Hier!«, rufe ich. »Ich komme schon, warten Sie …«

Fassungslos sehe ich einen Mann im Anzug, der unten auf dem Bürgersteig direkt auf das Taxi zusteuert. »Das ist meins!«, kreische ich und springe die Stufen auf der anderen Seite hinunter. »Das gehört uns! Ich hab das Taxi angehalten! Wagen Sie ja nicht … Ahhh! Ahhhhhhhh!«

Selbst als mein Fuß schon schliddert, bin ich mir nicht sicher, was hier vor sich geht. Dann, als ich falle, kann mein Hirn es immer noch nicht fassen. Ich bin doch tatsächlich auf der gemeingefährlich glatten Sohle meiner blöden Billigstiefel ausgerutscht. Verzweifelt versuche ich, mich an die steinerne Balustrade zu klammern, schürfe mir die Haut ab, verrenke mir die Hand, lasse meine Handtasche fallen, greife nach irgendwas, verliere den Halt …

Oh, Scheiße.

Der Bürgersteig kommt direkt auf mich zu, unausweichlich. Das tut bestimmt weh.

EINS

Wie lange bin ich wach? Ist schon Morgen?

Ich fühl mich ganz schön angeschlagen. Was habe ich gestern Abend bloß getrieben? Meine Güte, hab ich einen Schädel. Okay, ich trink nichts mehr, nie wieder.

Mir ist so duselig, dass ich gar nicht richtig denken kann, und schon gar nicht …

Auuuuutsch. Wie lange bin ich schon wach?

Ich hab fürchterliche Kopfschmerzen und fühl mich total benebelt. Und mein Mund ist völlig ausgetrocknet. Das ist der schlimmste Kater meines Lebens. Ich trink nichts mehr, nie wieder .

Ist das eine Stimme?

Nein, ich muss schlafen …

Wie lange bin ich wach? Fünf Minuten? Eine halbe Stunde vielleicht? Ist irgendwie schwer zu sagen.

Welcher Tag ist heute eigentlich?

Ich liege einfach nur still da. In meinem Schädel pocht der Schmerz wie ein Presslufthammer. Mein Hals ist trocken, und mir tut alles weh. Meine Haut fühlt sich an wie Sandpapier.

Wo war ich gestern Abend? Was ist in meinem Kopf los? Als läge über allem dichter Nebel.

Okay. Ich trinke nie wieder. Wahrscheinlich habe ich eine Alkoholvergiftung. Ich gebe mir alle Mühe, mich an gestern Abend zu erinnern, aber mir fällt nur wirres Zeug ein. Alte Erinnerungen und Bilder von früher, die in wahlloser Folge aufblitzen, als hätte ich einen iPod-Shuffle im Kopf.

Sonnenblumen schwanken vor blauem Himmel …

Amy als neugeborenes Baby, das aussieht wie ein kleines rosa Würstchen im Schlafrock.

Ein Teller salzige Pommes frites auf einem Holztisch im Pub, warmer Sonnenschein in meinem Nacken, Dad sitzt mir mit seinem Panama-Hut gegenüber, bläst Zigarrenrauch aus und sagt: »Iss auf, mein Schatz!« …

Sackhüpfen in der Schule. Oh Gott, bitte nicht schon wieder diese Erinnerung. Ich will sie verdrängen, aber es ist zu spät, sie kommt einfach über mich: Ich bin sieben Jahre alt, auf dem Sportfest, und habe mindestens einen Kilometer Vorsprung, aber ich fühle mich nicht wohl, so weit voraus, also warte ich auf meine Freunde. Sie holen mich ein, und dann – im Durcheinander – stolpere ich und komme als Letzte ins Ziel. Klar und deutlich spüre ich die Erniedrigung, höre das Gelächter, fühle den Staub in meiner Kehle, hab den Geschmack von Bananen im Mund …

Bitte? Ich zwinge mein Gehirn, kurz innezuhalten.

Bananen.

Im Nebel schimmert eine andere Erinnerung. Verzweifelt versuche ich, sie wachzurufen, danach zu greifen …

Ja. Hab sie. Bananen-Cocktails.

Wir haben in irgendeinem Club Bananen-Cocktails getrunken. Daran kann ich mich noch erinnern. Beschissene Bananen-Cocktails. Was zum Teufel haben die da reingetan?

Ich krieg nicht mal die Augen auf. Sie fühlen sich schwer und zugekleistert an, wie damals, als ich falsche Wimpern getragen habe, mit so einem ominösen Kleber vom Flohmarkt. Am nächsten Morgen bin ich ins Badezimmer getaumelt und musste feststellen, dass ein Auge zugeklebt war und darauf etwas saß, das wie eine tote Spinne aussah. Sehr attraktiv, Lexi.

Vorsichtig lege ich eine Hand auf meine Brust. Die Bettwäsche raschelt – meine klingt aber anders. Und außerdem liegt so ein komisch zitroniger Geruch in der Luft, und ich trage ein weiches, leinenartiges T-Shirt, das ich nicht kenne. Wo bin ich? Was zum Teufel …

Hey, ich hab mir doch wohl niemanden angelacht, oder?

Oh, wow. Habe ich Loser Dave etwa betrogen? Trage ich womöglich das überdimensionale T-Shirt von irgendeinem heißen Typen, nachdem wir die ganze Nacht leidenschaftlichen Sex hatten, weshalb ich jetzt auch so wund und angeschlagen bin?

Nein, ich war in meinem ganzen Leben noch niemals untreu. Wahrscheinlich habe ich bei einem der Mädchen übernachtet. Vielleicht sollte ich aufstehen, kurz unter die Dusche springen …

Unter ungeheuren Anstrengungen öffne ich langsam die Augen und richte mich ein paar Zentimeter auf.

Scheiße. Was zum …

Ich liege in einem trübe beleuchteten Zimmer auf einem eisernen Bettgestell. Rechts von mir ist ein Pult mit Knöpfen. Auf dem Nachttisch erkenne ich ein paar Blumen. Ich atme tief ein und sehe einen Schlauch an meiner linken Hand, der an einem Beutel mit irgendeiner Flüssigkeit befestigt ist.

Das kann doch nicht sein. Ich bin in einem Krankenhaus …

Was ist hier los? Was ist passiert?

Ich durchforste mein Gehirn, aber es ist ein großer, leerer Luftballon. Ich brauche sofort einen starken Kaffee. Ich versuche, mich umzusehen, doch meine Augen spielen nicht mit. Sie wollen keine Informationen, sie wollen Augentropfen und drei Schmerztabletten. Kraftlos sinke ich aufs Kissen, schließe die Augen und hole tief Luft. Komm schon. Ich muss mich doch daran erinnern können, was passiert ist. So betrunken kann ich doch gar nicht gewesen sein … oder?

Ich klammere mich an meinen einzigen Erinnerungsfetzen wie an einen Strohhalm. Bananen-Cocktails … Bananen-Cocktails … denk nach … denk nach …

Destiny’s Child. Ja! Langsam fallen mir ein paar Sachen wieder ein, bruchstückhaft. Nachos mit Käse. Diese kaputten Barhocker, aufgeplatztes Plastik.

Ich war mit den Mädels von der Arbeit unterwegs. In diesem schmuddeligen Club mit der pinken Neon-Decke in … irgendwo. Ich weiß noch, wie ich meinen Cocktail getrunken habe, kreuzunglücklich.

Warum war ich so niedergeschlagen? Was war passiert?

Prämien. Natürlich. Bittere Enttäuschung packt mich. Und Loser Dave ist auch nicht aufgetaucht. Große Klasse. Aber nichts davon erklärt, weshalb ich im Krankenhaus liege. Ich verziehe das Gesicht, konzentriere mich so gut wie möglich. Ich erinnere mich noch daran, dass ich wie verrückt zu Kylie getanzt habe und wir zu viert We Are Family in die Karaoke-Maschine gesungen haben, Arm in Arm. Vage erinnere ich mich daran, dass wir vor die Tür getorkelt sind, um uns ein Taxi zu suchen.

Aber danach … nichts. Alles leer.

Das ist seltsam. Ich sollte Fi ansimsen und sie fragen, was passiert ist. Ich greife zum Nachttisch und muss feststellen, dass da kein Handy liegt. Auch nicht auf dem Stuhl und nicht auf der Kommode.

Wo ist mein Handy? Wo sind meine ganzen Sachen?

Oh Gott. Bin ich etwa überfallen worden? Das muss es sein. Irgend so ein Teenie mit Kapuze hat mir eins über den Schädel gegeben, ich bin hingefallen, und dann haben sie einen Krankenwagen gerufen und …

Ein grauenvoller Gedanke packt mich. Wie sieht meine Unterwäsche aus?

Unwillkürlich stöhne ich auf. Das könnte ziemlich peinlich werden. Womöglich ist es der ausgeleierte Slip mit dem grauen BH, den ich nur anziehe, wenn der Wäschekorb voll ist. Oder der verwaschene String mit dem Bild von Snoopy drauf.

Es war bestimmt nichts Elegantes. Ich meine, so was würde ich für Loser Dave nicht anziehen. Das wäre reine Verschwendung. Unter Schmerzen bewege ich meinen Kopf hin und her, aber ich sehe keine Kleider oder irgendwas. Wahrscheinlich haben die Schwestern sie in einem Spezialofen für Sondermüll verbrannt.

Und ich habe immer noch keine Ahnung, was ich hier soll. Mein Hals fühlt sich unangenehm kratzig an, und für ein kühles Glas Orangensaft würde ich alles geben. Wenn ich so darüber nachdenke: Wo sind eigentlich die Ärzte und Schwestern? Was ist, wenn ich sterbe?

»Hallo?«, krächze ich. Meine Stimme klingt, als würde jemand eine Egge über einen Holzfußboden ziehen. Ich warte auf Antwort … aber alles bleibt still. Durch die dicke Tür kann mich sicher niemand hören.

Da fällt mir ein, dass ich vielleicht einen Knopf an dem kleinen Schaltpult drücken könnte. Ich nehme den, der wie ein kleiner Mensch aussieht – und kurz darauf geht die Tür auf. Es hat geklappt! Eine grauhaarige Krankenschwester in dunkelblauer Uniform tritt ein und lächelt mich an.

»Hallo, Lexi!«, sagt sie. »Alles in Ordnung?«

»Mh, okay, danke. Ich hab schrecklichen Durst. Und mein Kopf tut weh.«

»Ich gebe Ihnen was gegen die Schmerzen.« Sie bringt mir einen Plastikbecher mit Wasser und hilft mir auf. »Trinken Sie das.«

»Danke«, sage ich, nachdem ich einen Schluck Wasser genommen habe. »Also … entweder bin ich hier in einem Krankenhaus oder auf einer High-Tech-Schönheitsfarm …«

Die Schwester lächelt. »Leider in einem Krankenhaus. Wissen Sie noch, wie Sie hierhergekommen sind?«

»Nein.« Ich schüttle den Kopf. »Ehrlich gesagt, bin ich etwas benommen.«

»Das liegt daran, dass Sie einen kräftigen Schlag abbekommen haben. Direkt auf den Kopf. Können Sie sich an Ihren Unfall erinnern?«

Unfall? Unfall? Und plötzlich – in einem Schwall – ist alles wieder da. Natürlich. Meine Jagd nach dem Taxi, die Treppe nass vom Regen, und wie ich dann auf meinen blöden, billigen Stiefeln ausgerutscht bin …

Junge, Junge! Ich muss mir den Kopf aber ordentlich angeschlagen haben!

»Ja. Ich glaub schon.« Ich nicke. »Mehr oder weniger. Und … wie spät ist es jetzt?«

»Es ist acht Uhr abends.«

Acht Uhr abends? Wow. Ich war den ganzen Tag weg?

»Ich bin Maureen.« Sie nimmt mir den Becher ab. »Sie sind erst vor wenigen Stunden auf dieses Zimmer verlegt worden. Wir haben uns schon ein paarmal unterhalten.«

»Tatsächlich?«, sage ich überrascht. »Was habe ich denn so gesagt?«

»Sie waren kaum zu verstehen, aber Sie haben mich immer wieder gefragt, ob irgendetwas ›ausgereihert‹ ist.« Sie runzelt die Stirn, wirkt ratlos. »Oder ›ausgeleiert‹?«

Toll. Schlimm genug, dass ich überhaupt ausgeleierte Unterwäsche trage. Muss ich es dann auch noch wildfremden Leuten erzählen?

»Ausgeleiert?« Ich gebe mir alle Mühe, verdutzt zu wirken. »Keine Ahnung, was ich damit gemeint haben könnte.«

»Na, jetzt scheinen Sie ja wieder ganz klar zu sein.« Maureen schüttelt mein Kissen auf. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Ich hätte gern ein Glas Orangensaft, wenn Sie welchen haben. Und ich kann mein Handy nirgends finden, und meine Handtasche …«

»Ihre Wertsachen wurden sicher verwahrt. Da muss ich erst fragen.« Sie geht hinaus, und ich sehe mich im Krankenzimmer um, noch immer ganz umnebelt. Es kommt mir vor, als hätte ich erst eine winzig kleine Ecke des Puzzles zusammengesetzt. Ich weiß noch immer nicht, in welchem Krankenhaus ich liege. Wie ich hierhergekommen bin. Hat jemand meine Familie informiert? Und irgendwas zieht und zerrt an mir wie eine Unterströmung …

Ich wollte dringend nach Hause. Ja. Stimmt genau. Immer wieder habe ich gesagt, dass ich nach Hause wollte, weil ich am nächsten Tag früh hoch musste. Weil …

Oh, nein. Oh, Scheiße.

Dads Beerdigung. Um elf. Das bedeutet …

Habe ich sie verpasst? Instinktiv versuche ich, aus dem Bett zu steigen, aber schon vom Sitzen wird mir schwindlig. Schließlich gebe ich mich widerwillig geschlagen. Wenn ich sie verpasst habe, dann habe ich sie eben verpasst. Daran kann ich jetzt auch nichts mehr ändern.

Es ist ja nicht gerade so, als hätte ich meinen Dad gut gekannt. Er war nie sonderlich oft da und kam mir eher wie ein Onkel vor. So ein lustiger, spitzbübischer Onkel, der einem zu Weihnachten Süßigkeiten mitbringt und nach Schnaps und Zigaretten riecht.

Und es war auch kein allzu großer Schock, als er starb. Er hatte eine komplizierte Bypass-Operation, und alle wussten, dass die Chancen fifty-fifty standen. Aber trotzdem hätte ich heute dort sein sollen, zusammen mit Mum und Amy. Ich meine, Amy ist erst zwölf, und ängstlich ist sie außerdem. Plötzlich sehe ich sie vor mir, wie sie da neben Mum im Krematorium sitzt und ihren heißgeliebten blauen Löwen an sich drückt, todernst unter ihrem Pony. Sie ist noch zu klein und sollte nicht vor dem Sarg ihres Vaters stehen, ohne dass die große Schwester ihre Hand hält.

Während ich dort liege und mir vorstelle, wie sie versucht, tapfer und erwachsen auszusehen, kullert mir eine Träne über das Gesicht. Heute wurde mein Dad zu Grabe getragen, und ich liege im Krankenhaus, mit Kopfschmerzen und einem gebrochenen Bein oder irgendwas. Und wahrscheinlich hat der Räuber alle meine Kreditkarten geklaut und mein Telefon und meine neue Handtasche mit den Troddeln auch.

Außerdem hat mich mein Freund gestern Abend versetzt. Und plötzlich wird mir klar, dass mich gar keiner besucht. Wo sind meine besorgten Freunde und Verwandten, die um mein Bett herumsitzen und meine Hand halten sollten?

Na ja. Mum war vermutlich mit Amy bei der Beerdigung. Und Loser Dave kann mir sowieso gestohlen bleiben. Aber Fi und die anderen. Wo sind sie? Wenn ich daran denke, wie wir alle zusammen Debs besucht haben, als sie sich ihren eingewachsenen Fußnagel hat entfernen lassen. Wir haben praktisch auf dem Fußboden campiert und ihr Kaffee von Starbucks und Zeitschriften mitgebracht und ihr eine Pediküre spendiert, als alles abgeheilt war. Nur für einen Fußnagel.

Wohingegen ich bewusstlos war, mit Tropf und allem, was dazugehört. Aber das scheint wohl niemanden zu interessieren.

Na, toll. Find ich richtig … super.

Die nächste dicke Träne kullert über mein Gesicht, als die Tür aufgeht und Maureen wieder hereinkommt. Sie trägt ein Tablett und eine Tüte, auf der mit einem Filzer »Lexi Smart« geschrieben steht.

»Oje!«, sagt sie, als sie sieht, dass ich an meinen Augen herumwische. »Haben Sie Schmerzen?« Sie reicht mir das Tablett und einen kleinen Becher mit Wasser. »Das wird Ihnen helfen.«

»Vielen Dank.« Ich schlucke die Pille herunter. »Aber das ist es nicht. Es ist mein Leben.« Hoffnungslos spreize ich die Hände. »Es ist totaler Mist. Von vorne bis hinten.«

»Das ist es sicher nicht«, sagt Maureen beschwichtigend. »Es mag schwierig aussehen …«

»Glauben Sie mir. Es ist schlimm.«

»Bestimmt …«

»Meine sogenannte Karriere führt ins Nirwana, mein Freund hat mich gestern Abend versetzt, ich hab kein Geld mehr. Und aus meinem Waschbecken tropft braunes Rostwasser in die Wohnung unter mir«, füge ich hinzu. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, als es mir wieder einfällt. »Wahrscheinlich werden mich meine Nachbarn verklagen. Und mein Vater ist gerade gestorben.«

Maureen schweigt. Sie scheint aus dem Konzept gebracht.

»Nun, das klingt alles ziemlich … schwierig«, sagt sie schließlich. »Aber ich denke, es kommt bestimmt bald alles wieder in Ordnung.«

»Das hat meine Freundin Fi auch gesagt!« Plötzlich erinnere ich mich sehr genau an Fis leuchtende Augen im Regen. »Und sehen Sie mich an: Ich bin im Krankenhaus gelandet!« Verzweifelt deute ich auf mich selbst. »Inwiefern ist da alles besser geworden? «

»Ich … weiß nicht so genau.« Maureens Blicke zucken hilflos hin und her.

»Immer wenn ich denke, alles ist absolute Scheiße … wird es nur noch beschissener!« Ich putze mir die Nase und stoße einen schweren Seufzer aus. » Wäre es nicht schön, wenn sich ein Mal, nur ein einziges Mal, alles im Leben wie von Zauberhand selbst klären könnte?«

»Nun. Wir können alle nur hoffen, oder?« Maureen lächelt mich mitfühlend an und hält mir die Hand hin, um den Becher entgegenzunehmen.

Ich gebe ihn zurück, und dabei fallen mir plötzlich meine Fingernägel auf. Was ist das?

Meine Nägel waren immer abgekaute Stummel, die ich verstecken musste. Aber diese hier sehen fantastisch aus. Ganz sauber und in hellem Rosa lackiert … und lang. Staunend blinzle ich sie an und frage mich, wie das angehen kann. Waren wir gestern Abend noch bei einer Maniküre, und ich weiß nichts mehr davon? Habe ich mir welche aus Acryl besorgt? Die müssen irgendeine großartige, neue Klebetechnik haben, denn man sieht gar keinen Übergang und nichts.

»Ihre Handtasche ist übrigens hier drinnen«, fügt Maureen hinzu, als sie die Tüte auf mein Bett stellt. »Ich geh nur eben und hole Ihnen den Saft.«

»Danke«, sage ich und betrachte staunend die Plastiktüte. »Und danke für die Tasche. Ich dachte schon, man hätte sie mir geklaut.«

Na, wenigstens ist meine Handtasche wieder da. Mit etwas Glück ist mein Handy noch aufgeladen, und ich kann ein paar SMS verschicken … Als Maureen die Tür öffnet, um hinauszugehen, greife ich in die Tüte … und hole eine echte Louis Vuitton-Tasche mit kalbsledernen Griffen hervor, schick und teuer.

Na, super. Ich seufze enttäuscht. Das ist nicht meine Tasche. Man hat mich mit jemandem verwechselt. Als würde ich – Lexi Smart – eine Louis Vuitton-Tasche besitzen.

»Entschuldigen Sie, diese Tasche gehört mir nicht!«, rufe ich, doch die Tür ist schon zu.

Wehmütig betrachte ich das gute Stück eine Weile und überlege, wem sie wohl gehören könnte. Bestimmt irgendeinem reichen Mädchen hier auf dem Gang. Dann lasse ich sie auf den Boden fallen, sinke in mein Kissen und schließe die Augen.

ZWEI

Ich wache auf. Morgenlicht dringt durch die Ritzen unter den zugezogenen Vorhängen herein. Ein Glas Orangensaft steht auf dem Nachttisch, und Maureen macht sich in einer Ecke des Zimmers zu schaffen. Der Tropf ist wie von Zauberhand aus meinem Arm verschwunden, und ich fühle mich schon viel normaler.

»Hi, Maureen«, sage ich mit rauer Stimme. »Wie spät ist es?« Sie dreht sich um, mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Sie erinnern sich an mich?«

»Natürlich«, sage ich überrascht. »Wir haben uns doch gestern Abend schon unterhalten.«

»Ausgezeichnet! Das bedeutet, Sie haben die posttraumatische Amnesie überstanden. Machen Sie nicht so ein besorgtes Gesicht!«, fügt sie hinzu. »Eine gewisse Orientierungslosigkeit ist nach Kopfverletzungen nichts Ungewöhnliches.«

Unwillkürlich fasse ich mir an den Kopf und ertaste einen Verband. Wow. Ich muss auf dieser Treppe wirklich schlimm gestürzt sein.

»Sie machen sich gut.« Sie streicht mir über den Arm. »Ich hole Ihnen frischen Orangensaft.«

Es klopft an der Tür, und eine große, schlanke Frau von Mitte fünfzig kommt herein. Sie hat blaue Augen, hohe Wangenknochen und gewelltes, blondes Haar, leicht ergraut und strähnig. Sie trägt eine rote Steppweste über einem langen, bedruckten Rock und eine Bernsteinkette. In der Hand hält sie eine Papiertüte.

Es ist Mum. Jedenfalls bin ich zu neunundneunzig Prozent sicher, dass sie es ist. Ich weiß gar nicht, wieso ich eigentlich zögere.

»Wie überheizt es hier drinnen immer ist!«, ruft sie mit ihrer dünnen Kleinmädchenstimme.

Okay, das ist definitiv meine Mutter.

»Ich kipp gleich um!« Sie wedelt sich Luft zu. »Und ich hatte eine schrecklich stressige Fahrt …« Sie wirft einen Blick zum Bett herüber, als fiele es ihr jetzt erst ein, und sagt zu Maureen: »Wie geht es ihr?«

Maureen lächelt. »Lexi geht es heute schon viel besser. Längst nicht mehr so verwirrt wie gestern.«

»Gott sei Dank!« Mum spricht etwas leiser. »Es war ja, als würde man mit einer Verrückten sprechen oder einer … geistig Behinderten.«

»Lexi ist nicht verrückt«, sagt Maureen ganz ruhig, »und im Übrigen versteht sie alles, was Sie sagen.«

In Wahrheit höre ich kaum zu. Ich kann mich gar nicht von Mum abwenden. Was ist bloß los mit ihr? Sie sieht so anders aus. Dünner. Und irgendwie … älter. Als sie näher kommt und das Licht vom Fenster auf ihr Gesicht fällt, wird es nicht besser. Im Gegenteil.

Ist sie krank?

Nein. Das wüsste ich. Aber, ehrlich: Sie sieht aus, als wäre sie über Nacht vergreist. Ich werde ihr zu Weihnachten Crème de la Mer schenken.

»Da bist du ja, Schätzchen«, sagt sie überdeutlich, mit lauter Stimme. »Ich bin’s. Deine Mut-ter.« Sie reicht mir die Papiertüte, in der sich eine Flasche Shampoo befindet, und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Als ich ihren vertrauten Duft nach Hunden und Teerosenparfüm rieche, kommen mir glatt die Tränen. Mir war gar nicht bewusst, wie verlassen ich mich gefühlt habe.

»Hi, Mum.« Ich will sie umarmen, greife aber ins Leere. Sie hat sich schon wieder abgewendet und sieht auf ihre kleine, goldene Uhr.

»Ich fürchte, ich kann nicht lange bleiben«, sagt sie angespannt, als bliebe die Welt stehen, wenn sie nicht darauf aufpasste. »Ich habe einen Termin bei einem Spezialisten wegen Roly.«

»Roly?«

»Von Smokys letztem Wurf, Schätzchen.« Mum wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du erinnerst dich doch an die kleine Roly.«

Ich weiß nicht, wie Mum darauf kommt, dass ich mir die Namen ihrer Hunde merken kann. Es sind mindestens zwanzig und alle Whippets, und jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, scheint da ein neuer zu sein. In unserer Familie hatte es nie Haustiere gegeben, bis zu jenem Sommer, als ich siebzehn war. Im Urlaub in Wales kaufte Mum spontan einen Whippet-Welpen. Und über Nacht wurde daraus eine wahre Manie.

Ich mag Hunde. Eigentlich. Außer, wenn einen sechs auf einmal anspringen, sobald man die Haustür aufmacht. Und jedes Mal, wenn man sich auf das Sofa oder einen Sessel setzen will, sitzt da schon ein Hund. Außerdem sind die größten Geschenke unterm Weihnachtsbaum immer für die Hunde.

Mum hat ein Fläschchen homöopathische Notfalltropfen aus ihrer Tasche hervorgeholt. Sie träufelt sich drei Tropfen auf die Zunge, dann atmet sie scharf aus. »Der Verkehr auf dem Weg hierher war fürchterlich«, sagt sie. »Die Menschen in London sind so aggressiv. Ich hatte eine sehr unangenehme Auseinandersetzung mit einem Mann in einem Lieferwagen.«

»Was ist passiert?«, sage ich, weiß aber schon, dass Mum den Kopf schütteln wird.

»Sprechen wir lieber nicht davon, Schätzchen.« Sie verzieht schmerzhaft das Gesicht. »Vergessen wir es einfach.«

Mum möchte über so vieles lieber nicht sprechen. Etwa darüber, wer an Weihnachten meine neuen Sandalen so zugerichtet haben mag. Oder über die regelmäßigen Beschwerden wegen der Hundehaufen in unserer Straße. Oder – um ehrlich zu sein – über Scherereien ganz allgemein.

»Ich habe eine Karte für dich«, sagt sie und wühlt in ihrer Tasche herum. »Wo ist sie nur? Von Andrew und Sylvia.«

Ratlos starre ich sie an. »Von wem?«

»Andrew und Sylvia von nebenan!«, sagt sie, als wäre es selbstverständlich. »Unsere Nachbarn!«

Unsere Nachbarn nebenan heißen nicht Andrew und Sylvia. Sie heißen Philip und Maggie.

»Mum …«

»Jedenfalls lassen sie dir liebe Grüße bestellen«, unterbricht sie mich. »Und Andrew braucht deinen Rat. Er will zum Skilaufen. «

Skilaufen? Ich kann doch gar nicht Skilaufen.

»Mum …« Ich fasse mir an den Kopf, vergesse meine Verletzung und zucke zusammen. »Was redest du da?«

»Da bin ich wieder!« Maureen hält ein Glas Orangensaft in der Hand. »Doktor Harman will gleich mal nach Ihnen sehen.«

»Ich muss los, Schätzchen.« Mum steht auf. »Ich hab den Wagen auf einem Wucherparkplatz abgestellt. Und erst die City-Maut! Acht Pfund musste ich bezahlen!«

Das stimmt doch auch nicht. Die City-Maut kostet keine acht Pfund. Ich bin mir sicher, dass sie nicht mehr als fünf Pfund beträgt, auch wenn ich nie Auto fahre …

Mir ist ganz flau im Magen. Mein Gott, Mum wird langsam dement. Daran muss es liegen. Sie wird senil, und das mit vierundfünfzig. Ich muss mal mit einem der Ärzte über sie sprechen.

»Ich komme später mit Amy und Eric wieder«, sagte sie auf dem Weg zur Tür.

Eric? Sie gibt ihren Hunden wirklich sonderbare Namen.

»Ist gut, Mum.« Ich lächle sie an, um sie aufzuheitern. »Kann es kaum erwarten.«

Ich bin ziemlich aufgewühlt, als ich meinen Saft trinke. Wahrscheinlich hält jeder seine Mutter für ein bisschen verrückt. Aber das eben war richtig verrückt. Was ist, wenn sie in ein Heim muss? Was soll ich dann bloß mit ihren Hunden machen?

Das Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken, und ein junger Arzt mit dunklen Haaren kommt herein, gefolgt von drei weiteren Leuten in weißen Kitteln.

»Hallo, Lexi«, sagt er forsch aber freundlich. »Ich bin Dr. Harman, einer der Neurologen hier im Haus. Das sind Nicole, eine Stationsschwester, Diana und Garth, unsere beiden Assistenz-ärzte. Wie geht es Ihnen?«

»Gut! Nur meine linke Hand fühlt sich ein bisschen komisch an«, räume ich ein. »Als hätte ich daraufgelegen und jetzt funktioniert sie nicht mehr richtig.«

Als ich meine Hand hebe, um sie ihm zu zeigen, staune ich einmal mehr über meine sensationelle Maniküre. Ich muss Fi dringend fragen, wo wir gestern Abend waren.

»Okay.« Der Doktor nickt. »Das sehen wir uns gleich an. Sie werden wahrscheinlich Physiotherapie brauchen. Aber vorher möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Haben Sie Geduld mit mir, falls diese Ihnen allzu offensichtlich erscheinen.« Er schenkt mir ein professionelles Lächeln, und ich habe das Gefühl, als hätte er das schon tausendmal gesagt. »Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«

»Mein Name ist Lexi Smart«, antworte ich sofort. Dr. Harman nickt und hakt etwas in seinem Ordner ab.

»Und wann sind Sie geboren?«

»1979.«

»Sehr gut.« Er macht sich eine weitere Notiz. »Okay, Lexi. Bei Ihrem Autounfall sind Sie mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt, was eine leichte Hirnschwellung hervorgerufen hat, aber es scheint, als hätten Sie großes Glück gehabt. Allerdings muss ich noch ein paar Tests durchführen.« Er hält seinen Kugelschreiber hoch. »Behalten Sie bitte die Spitze von meinem Stift im Auge, während ich ihn hin und her bewege …«

Ärzte lassen einen nie zu Wort kommen, oder?

»Entschuldigung!« Ich winke ihm zu. »Sie verwechseln mich mit jemandem. Ich hatte keinen Autounfall.«

Dr. Harman runzelt die Stirn und blättert in seinem Ordner zwei Seiten zurück. »Hier steht: Die Patientin war in einen Autounfall verwickelt.« Er dreht sich um, sucht Bestätigung.

Warum fragt er die Schwestern? Ich war doch dabei.

»Na, dann hat man es offenbar falsch aufgeschrieben«, sage ich entschlossen. »Ich war jedenfalls mit ein paar Freundinnen unterwegs, wir sind auf ein Taxi zugelaufen, und dabei bin ich gestürzt. Das ist passiert. Ich kann mich ganz genau daran erinnern. «

Dr. Harman und Maureen tauschen fragende Blicke.

»Es war definitiv ein Autounfall«, murmelt Maureen. »Zwei Fahrzeuge, seitlicher Aufprall. Ich war in der Notaufnahme und habe gesehen, wie sie hereingebracht wurde. Und den anderen Fahrer auch. Ich glaube, er hatte eine leichte Unterarmfraktur.«

»Ich kann keinen Autounfall gehabt haben.« Ich versuche, die Geduld zu bewahren. »Ich besitze gar kein Auto. Ich kann überhaupt nicht fahren!«

Eines Tages werde ich es noch lernen. Aber bisher bestand nie ein Anlass, da ich mitten in London wohne, und außerdem sind Fahrstunden teuer, und ich kann mir sowieso kein Auto leisten.

»Sie besitzen kein …«, Dr. Harman blättert eine Seite um und liest ab, »… Mercedes Cabrio?«

»Einen Mercedes?« Ich schnaube vor Lachen. »Soll das ein Witz sein?«

»Aber hier steht …«

»Hören Sie …« So freundlich wie möglich schneide ich ihm das Wort ab. »Ich verrate Ihnen, wie viel eine fünfundzwanzigjährige Juniorassistentin bei Deller Carpets verdient, okay? Und dann verraten Sie mir, wie ich davon ein Mercedes Cabrio bezahlen soll.«

Dr. Harman macht den Mund auf, um zu antworten, doch die Assistenzärztin tippt ihm an die Schulter. Sie kritzelt etwas in meine Akte, und Dr. Harman macht ein erschrockenes Gesicht. Er sieht die junge Ärztin an, die ihre Augenbrauen hochzieht, einen Blick zu mir herüberwirft und dann wieder auf die Akte deutet. Die beiden sehen aus wie zwei unbegabte Pantomimenschüler.

Jetzt kommt Dr. Harman näher heran und betrachtet mich mit ernster, aufmerksamer Miene. Plötzlich wird mir ganz flau im Magen. Ich habe Emergency Room gesehen. Ich weiß, was dieser Blick bedeutet.

Lexi, bei der Computertomografie haben wir etwas gefunden, mit dem wir nicht gerechnet hatten. Möglicherweise hat es nichts zu bedeuten.

Nur dass es niemals nichts zu bedeuten hat, oder? Sonst wäre es ja nicht in der Serie.

»Stimmt was nicht mit mir?«, frage ich fast aggressiv, um das plötzliche Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Sagen Sie es mir einfach, okay?«

Schon spiele ich alle Möglichkeiten durch. Krebs. Ein Loch in der Herzwand. Beinamputation. Vielleicht haben sie mir schon ein Bein amputiert, und sie trauen sich nur nicht, es mir zu sagen. Verstohlen taste ich unter der Decke herum.

»Lexi, ich möchte Ihnen eine andere Frage stellen.« Dr. Harmans Stimme klingt sanfter. »Können Sie mir sagen, welches Jahr wir haben?«

»Welches Jahr wir haben?« Ich starre ihn an, sprachlos.

»Keine Sorge«, sagt er beschwichtigend. »Sagen Sie mir einfach, was Sie glauben, welches Jahr wir haben. Es gehört zu unseren Standard-Checks.«

Mein Blick wandert von einem zum anderen. Ich sehe ihnen an, dass sie irgendein Spielchen mit mir treiben, aber ich komme nicht darauf, was es sein könnte.

»Wir haben 2004«, sage ich schließlich.

Eine sonderbare Stille erfüllt den Raum, so als hielten alle die Luft an.

»Okay.« Dr. Harman setzt sich aufs Bett. »Lexi, heute ist der 6. Mai 2007.«

Er verzieht keine Miene. Auch die anderen wirken ernst. Es fühlt sich an, als würde alles schwarz um mich herum, doch dann geht mir ein Licht auf. Sie nehmen mich auf den Arm!

»Ha, ha!« Ich verdrehe die Augen. »Sehr komisch. Hat Fi Sie dazu angestiftet? Oder Carolyn?«

»Ich kenne keine Fi und auch keine Carolyn«, antwortet Dr. Harman, ohne sich von mir abzuwenden. »Und ich mache keine Witze.«

»Im Ernst, Lexi«, bestätigt die Assistenzärztin. »Wir haben 2007.«

»Aber … das ist die Zukunft«, sage ich blödsinnigerweise. »Wollen Sie mir erzählen, jemand hätte eine Zeitmaschine erfunden? « Ich stoße ein gepresstes Lachen aus, aber keiner lacht mit.

»Lexi, das ist ganz bestimmt ein Schock für Sie«, sagt Maureen und legt mir freundlich eine Hand auf die Schulter. »Aber es stimmt. Wir haben Mai 2007.«

Mir ist, als hätten meine beiden Hirnhälften irgendwie den Kontakt verloren. Ich höre, was man mir sagt, aber es ist einfach lächerlich. Gestern war noch 2004. Wie sollen wir drei Jahre übersprungen haben?

»Hören Sie, es kann nicht 2007 sein«, sage ich schließlich und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie erschüttert ich bin. »Es ist 2004. Ich bin doch nicht blöd …«

»Regen Sie sich nicht auf«, sagt Dr. Harman und wirft den anderen warnende Blicke zu. »Lassen Sie uns das Ganze langsam angehen. Erzählen Sie erst einmal, woran Sie sich als Letztes erinnern.«

»Okay, also …« Ich wische mir übers Gesicht. »Ich erinnere mich, dass ich gestern Abend mit ein paar Arbeitskolleginnen ausgegangen bin. Freitagabend. Wir sind durch die Clubs gezogen … und dann standen wir im Regen und haben versucht, ein Taxi zu bekommen, und ich bin auf den Stufen ausgerutscht und hingefallen. Und dann bin ich im Krankenhaus aufgewacht. Das war der 20. Februar 2004.« Meine Stimme zittert. »Ich bin mir mit dem Datum absolut sicher, weil mein Dad am nächsten Tag beerdigt wurde! Und das habe ich verpasst, weil ich hier festsitze.«

»Lexi, das ist alles schon drei Jahre her«, sagt Maureen sanft.

Sie scheint davon überzeugt zu sein. Sie wirken alle so absolut sicher. Panik steigt in mir auf, als ich in ihre Gesichter sehe. Es ist 2004, ich weiß es genau. Es fühlt sich auch an wie 2004.

»Woran können Sie sich noch erinnern?«, fragt Dr. Harman. »Ausgehend von diesem Abend.«

»Ich weiß nicht …«, sage ich unsicher. »Meine Arbeit … wie ich in meine Wohnung eingezogen bin … alles!«

»Ist Ihre Erinnerung irgendwie schwammig?«

»Ein … ein bisschen«, räume ich zögernd ein, als die Tür aufgeht. Die Assistenzärztin war eben kurz rausgegangen und kommt jetzt mit einer Ausgabe der Daily Mail wieder. Sie tritt an mein Bett und wirft Harman einen Blick zu. »Soll ich?«

»Ja.« Er nickt. »Das ist eine gute Idee.«

»Sehen Sie, Lexi.« Sie deutet auf das Datum. »Das ist die Zeitung von heute.«

Mir fährt ein massiver Schock in die Glieder, als ich das Datum lese: 6. Mai 2007. Na, wenn schon … das sind doch nur Worte auf Papier. Das beweist überhaupt nichts. Weiter unten auf der Seite sehe ich ein Foto von Tony Blair.

»Mein Gott, ist der alt geworden!«, rutscht es mir heraus, bevor ich es verhindern kann.

Genau wie Mum, denke ich, und plötzlich läuft es mir kalt über den Rücken.

Aber das beweist doch auch nichts. Vielleicht war einfach die Beleuchtung unvorteilhaft.

Mit zitternden Händen blättere ich um. Es ist ganz still im Zimmer. Alle beobachten mich gespannt. Mein Blick fährt über die Schlagzeilen – Zinsanstieg erwartet … Queen Elizabeth II. besucht die Vereinigten Staaten – und bleibt an der Werbung einer Buchhandlung hängen:

Halber Preis auf alle Fantasyromane, einschließlich Harry Potter und der Halbblutprinz.

Okay. Jetzt stehen mir doch leicht die Haare zu Berge. Ich habe definitiv alle Harry Potter-Bücher gelesen, alle fünf. Aber an einen Halbblutprinzen kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.

»Was ist das?« Ich gebe mir Mühe, es beiläufig klingen zu lassen und deute auf die Anzeige. »Was ist Harry Potter und der Halbblutprinz?«

»Das ist das letzte Buch«, sagt die junge Ärztin mit der Brille. »Es ist schon vor einer ganzen Weile erschienen.«

Unwillkürlich schnappe ich nach Luft. »Es gibt einen sechsten Harry Potter?«

»Bald erscheint schon der siebte!« Die Assistenzärztin tritt vor. »Und raten Sie mal, was am Ende vom sechsten …«

»Schscht!«, macht Nicole. »Nichts verraten!«

Sie zanken noch etwas, aber ich höre nicht mehr zu. Ich starre die Zeitung an, bis alles vor meinen Augen verschwimmt. Deshalb ergab das alles keinen Sinn. Nicht Mum ist verwirrt … ich bin es.

»Also habe ich hier im Koma gelegen?« Ich schlucke trocken. »Drei Jahre lang?«

Ich kann es nicht glauben. Ich war »Koma Girl«. Seit drei Jahren warten alle, dass ich zu mir komme. Die Welt hat sich ohne mich gedreht. Meine Familie und meine Freunde haben wahrscheinlich alles für mich auf Video festgehalten, Nachtwachen geschoben, Lieder gesungen und so …

Doch Dr. Harman schüttelt nur den Kopf. »Nein, das nicht. Lexi, Sie wurden erst vor fünf Tagen eingeliefert.«

Was?

Genug. Ich halte es nicht länger aus. Ich wurde vor fünf Tagen im Jahre 2004 ins Krankenhaus eingeliefert, aber jetzt ist ganz plötzlich 2007? Wo sind wir denn hier? In Narnia?

»Das verstehe ich nicht!«, sage ich hilflos und werfe die Zeitung beiseite. »Habe ich Halluzinationen? Bin ich verrückt geworden, oder was?«

»Nein!«, sagt Dr. Harman mit Nachdruck. »Lexi, ich glaube, Sie leiden an etwas, das wir Retrograde Amnesie nennen, ein Zustand, der gelegentlich zwischen zwei Kopfverletzungen auftritt …«

Er redet weiter, aber seine Worte kommen gar nicht richtig bei mir an. Während ich einen nach dem anderen anglotze, keimt in mir plötzlich ein Verdacht. Die sehen alle irgendwie unecht aus. Das sind gar keine Mediziner, oder? Ist das hier überhaupt ein echtes Krankenhaus?

»Haben Sie mir eine Niere entfernt?« Meine Stimme kommt als bedrohliches Knurren heraus. »Was haben Sie mit mir gemacht? Sie können mich hier nicht festhalten. Ich ruf die Polizei …« Ich versuche, aufzustehen.

»Lexi.« Die blonde Krankenschwester hält mich an den Schultern fest. »Niemand will Ihnen etwas antun. Es stimmt, was Dr. Harman sagt. Sie haben Ihr Gedächtnis verloren.«

»Es ist ganz normal, dass Sie panisch werden, dass Sie an eine Verschwörung glauben. Aber wir sagen Ihnen die Wahrheit.« Dr. Harman sieht mir fest in die Augen. »Sie haben einen Teil Ihres Lebens vergessen, Lexi. Sie haben ihn vergessen. Mehr nicht.«

Ich könnte heulen. Ich kann nicht sagen, ob sie lügen, ob das ein gewaltiger Trick ist, ob ich ihnen trauen oder lieber abhauen sollte. In meinem Kopf dreht sich alles …

Und plötzlich erstarre ich. Als ich mich gewehrt habe, ist der Ärmel an meinem Krankenhaushemd hochgerutscht, und eben ist mir eine kleine, V-förmige Narbe am Ellenbogen aufgefallen. Diese Narbe habe ich noch nie gesehen. Diese Narbe kenne ich nicht.

Und sie ist auch nicht neu. Die ist bestimmt schon ein halbes Jahr alt.

»Lexi, ist alles in Ordnung?«, fragt Dr. Harman.

Ich kann nicht antworten. Mein Blick ist starr auf die unbekannte Narbe gerichtet.

»Ist alles in Ordnung?«, wiederholt er.

Mit klopfendem Herzen lasse ich den Blick auf meine Hände sinken. Diese Fingernägel sind nicht aus Acryl, oder? Die aus Acryl sind niemals so gut. Diese sind echt. Das sind meine eigenen Nägel. Und die können unmöglich in fünf Tagen so lang geworden sein.

Ich fühle mich, als wäre ich nur ein kleines Stück hinausgeschwommen und hätte plötzlich kilometertief schwarzes Wasser unter mir.

»Sie wollen damit sagen …« Ich räuspere mich. »Mir fehlen drei Jahre.«

»Danach sieht es im Augenblick aus.« Dr. Harman nickt.

»Könnte ich die Zeitung bitte noch mal sehen?« Meine Hände zittern, als ich danach greife. Ich blättere sie durch, und auf jeder Seite steht dasselbe Datum. 6. Mai 2007. 6. Mai 2007.

Es ist tatsächlich 2007. Was bedeutet, dass ich …

Oh, mein Gott. Ich bin achtundzwanzig.

Ich bin alt.

DREI

Die haben mir erst mal einen schönen, starken Tee gemacht. Bestimmt gut gegen Gedächtnisverlust. Tee.

Nein, hör auf. Sei nicht sarkastisch. Ich bin dankbar für den Tee. Zumindest kann ich mich daran festhalten. Der ist wenigstens real.

Während Dr. Harman über neurologische Tests und Computertomografie redet, schaffe ich es irgendwie, mich zusammenzureißen. Ich nicke ruhig, als wollte ich sagen: »Ja, kein Problem. Ist doch alles cool so weit.« Aber innerlich bin ich kein bisschen cool. Ich dreh gleich durch. Die nackte Wahrheit haut mich einfach um.

Als er schließlich angepiepst wird und wegmuss, spüre ich eine Woge der Erleichterung. Man redet nicht mehr auf mich ein. Ich mach sowieso nichts von dem, was er gesagt hat. Ich nehme einen Schluck Tee und lehne mich zurück. (Okay, das mit dem Tee war nicht so gemeint. Was Besseres ist mir lange nicht passiert.)

Maureen hat Dienstschluss, und die blonde Nicole ist in meinem Zimmer geblieben und schreibt etwas in meine Krankenakte. »Wie fühlen Sie sich?«

»Echt wirklich … ziemlich seltsam.« Ich versuche zu lächeln.

»Das ist ja auch kein Wunder.« Mitfühlend lächelt sie zurück. »Lassen Sie sich Zeit. Setzen Sie sich nicht unter Druck. Sie haben eine Menge zu verarbeiten.«

Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr und notiert die Zeit.

»Wenn Menschen ihr Gedächtnis verlieren …«, sage ich,

»… kommen die verlorenen Erinnerungen irgendwann wieder zurück?«

»Normalerweise ja.« Sie nickt bekräftigend.

Ich kneife die Augen zusammen und treibe meine Gedanken so weit zurück wie möglich. Warte, dass ihnen etwas ins Netz geht, dass irgendwo was hängen bleibt.

Doch da ist nichts. Nur stilles, schwarzes Nichts.

»Dann erzählen Sie mir doch was über 2007.« Ich schlage die Augen auf. »Wer ist jetzt Premierminister? Und wer ist amerikanischer Präsident?«

»Das dürfte Tony Blair sein«, antwortet Nicole. »Und Präsident Bush.«

»Oh. Immer noch.« Ich sehe mich um. »Und … haben sie das Problem der Erderwärmung gelöst? Oder ein Mittel gegen Aids gefunden?«

Nicole zuckt mit den Schultern. »Noch nicht.«

Man sollte doch meinen, dass in drei Jahren etwas mehr passiert. Man sollte meinen, ein paar Fortschritte seien gemacht worden. Ehrlich gesagt, bin ich nicht gerade beeindruckt von dieser Bilanz.

»Möchten Sie vielleicht eine Zeitschrift?«, fügt Nicole hinzu. »Ich besorge Ihnen etwas zum Frühstück …« Sie geht zur Tür hinaus, kommt im nächsten Augenblick zurück und reicht mir eine Ausgabe von Hello! Als ich die Überschriften lese, trifft mich fast der Schlag.

»Jennifer Aniston und der neue Mann an ihrer Seite.« Ich lese die Worte laut und bebend vor. »Welcher neue Mann? Wozu braucht sie einen neuen Mann?«

»Ach, das.« Nicole sieht meinen Blick, bleibt unbeeindruckt. »Wussten Sie nicht, dass sie sich von Brad Pitt getrennt hat?«

»Jennifer und Brad haben sich getrennt?« Sprachlos starre ich sie an. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Das können die doch nicht machen!«

»Er ist mit Angelina Jolie durchgebrannt. Die beiden haben eine Tochter.«

»Nein!«, heule ich auf. »Aber Jen und Brad waren doch ein perfektes Paar! Sie sahen so toll aus, und sie hatten dieses süße Hochzeitsfoto und …«

»Jetzt sind sie geschieden.« Nicole zuckt mit den Schultern, als wäre es keine große Sache.

Ich kann es nicht fassen. Jennifer und Brad sind geschieden. Die Welt ist nicht mehr, was sie einmal war.

»Alle haben sich mehr oder weniger damit abgefunden.« Nicole klopft mir tröstend auf die Schulter. »Ich hole Ihnen Ihr Frühstück. Was möchten Sie gern? Bacon & Eggs, Croissant oder Obstkorb. Oder alle drei?«

»Mh … Croissant, bitte.« Ich schlage die Zeitschrift auf, dann lasse ich sie wieder sinken. »Moment mal. Obstkorb? Ist meine Krankenkasse plötzlich zu Geld gekommen, oder was?«

»Hier gibt es keine Kassenpatienten.« Sie lächelt. »Sie sind auf der Privatstation.«

Privat? Das kann ich mir nicht leisten.

»Ich hole Ihnen eben frischen Tee.« Sie nimmt die hübsche Porzellankanne und schenkt mir ein.

»Halt!«, rufe ich in Panik. Ich darf nicht noch mehr Tee trinken. Der kostet doch wahrscheinlich fünfzig Pfund die Tasse.

»Stimmt irgendwas nicht?«, fragt Nicole überrascht.

»Ich kann mir das alles nicht leisten«, sage ich verlegen und laufe rot an. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, wie ich hier gelandet bin. Man hätte mich in ein normales Krankenhaus bringen sollen. Sie können mich gern verlegen …«

»Es ist alles von Ihrer Privatversicherung gedeckt«, sagt sie und wirkt erstaunt. »Keine Sorge.«

»Ach«, sage ich verdutzt. »Ach so.«

Ich bin privat versichert? Na klar. Schließlich bin ich jetzt achtundzwanzig. Ich bin vernünftig.

Ich bin achtundzwanzig Jahre alt.

Es trifft mich wie ein Schlag ins Genick. Ich bin ein völlig anderer Mensch. Ich bin nicht mehr ich.

Ich meine, natürlich bin ich immer noch ich. Aber ich bin mein achtundzwanzigjähriges Ich. Wer immer das auch sein mag. Ich betrachte meine achtundzwanzigjährige Hand, als gäbe es dort irgendwelche Hinweise. Jemand, der sich offenbar eine private Krankenversicherung leisten kann und sich die Hände dermaßen gut maniküren lässt und …

Moment mal. Langsam drehe ich den Kopf und sehe die glänzende Louis Vuitton-Tasche.

Nein. Das ist unmöglich. Diese Milliarden-Dollar-Designer-Filmstar-Tasche kann doch nie im Leben wirklich …

»Nicole?« Ich schlucke, versuche, beiläufig zu klingen. »Meinen Sie … diese Tasche da gehört … mir?«

»Müsste eigentlich.« Nicole nickt. »Ich seh mal für Sie nach …« Sie öffnet die Tasche, holt eine passende Louis Vuitton-Geldbörse hervor und klappt sie auf. »Ja, es ist Ihre.« Sie dreht das Portemonnaie herum und zeigt mir eine Platin-AmEx-Karte, auf der »Lexi Smart« steht.

In meinem Kopf brennen ein paar Sicherungen durch, als ich die geprägten Buchstaben betrachte. Das ist meine Platin-Karte. Das ist meine Tasche.

»Aber diese Handtaschen kosten bestimmt … tausend Pfund.« Meine Stimme erstickt.

»Ich weiß«. Nicole lacht abrupt auf. »Ganz ruhig. Es ist Ihre!«

Zärtlich streiche ich über den Griff, wage kaum, die Tasche anzufassen. Ich kann nicht glauben, dass sie mir gehört. Ich meine … wie komme ich dazu? Verdiene ich viel Geld, oder was?

»Ich hatte also wirklich einen Autounfall?« Ich blicke auf und will plötzlich alles über mich wissen, alles auf einmal. »Bin ich wirklich selbst gefahren? Mit einem Mercedes?«

»Offensichtlich.« Sie sieht sich meine ungläubige Miene an. »Hatten Sie denn 2004 keinen Mercedes?«

»Soll das ein Witz sein? Ich kann ja nicht mal Auto fahren.«

Wann habe ich es gelernt? Und seit wann kann ich mir plötzlich Designer-Handtaschen und Mercedes-Cabrios leisten?

»Sehen Sie in Ihrer Tasche nach!«, schlägt Nicole vor. »Vielleicht ist da was drin, was Ihrer Erinnerung auf die Sprünge hilft.«

»Okay. Gute Idee.« Mir wird ganz flau, als ich die Tasche öffne. Der Duft von Leder, vermischt mit einem mir unbekannten Parfüm, steigt in meine Nase. Ich greife hinein und hole erst mal eine kleine, goldene Puderdose von Estée Lauder hervor. Sofort klappe ich sie auf und riskiere einen Blick.

»Sie haben ein paar Schnittwunden im Gesicht, Lexi«, sagt Nicole eilig. »Aber keine Sorge, das heilt wieder.«