KGI - Dunkle Stunde - Maya Banks - E-Book

KGI - Dunkle Stunde E-Book

Maya Banks

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Beschreibung

Ex-Navy SEAL Ethan Kelly trauert um seine Frau Rachel, die vor einem Jahr spurlos verschwand. Ethan wird von Schuldgefühlen geplagt, weil in ihrer Ehe nicht alles zum Besten stand. Da erhält er die Nachricht, dass Rachel noch am Leben ist, jedoch von Unbekannten gefangen gehalten wird. In seiner Verzweiflung bittet er die Sondereinsatzgruppe KGI um Hilfe, um seine Frau zu befreien. Doch Rachel hat ihr Gedächtnis verloren und kann sich an ihr früheres Leben nicht mehr erinnern. Ethan glaubt, dass er und seine Frau eine zweite Chance erhalten haben. Wird es ihnen gelingen, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden?

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MAYA BANKS

DUNKLE STUNDE

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Katrin Mrugalla und Richard Betzenbichler

Für Stephanie Tyler, Jaci Burton, Karin Tabke,

Sylvia Day und Lorelei James.

Gute Freundinnen sind das Schönste auf der Welt.

Danke, dass ihr meine Freundinnen seid.

1

Er hatte gehofft, dass er den Tag verschlafen könnte, wenn er am Abend zuvor nur genug trinken würde. Stattdessen war er um acht Uhr morgens hellwach, und die Sonnenstrahlen rösteten seine Netzhäute.

Schützend legte sich Ethan Kelly einen Arm übers Gesicht, und dann traf ihn die Erkenntnis, welcher Tag heute war, mit voller Wucht.

Der 16. Juni.

Er könnte etwas unglaublich Abgedroschenes sagen, wie etwa: der 16. Juni, der Tag, der sein Leben unwiderruflich veränderte, oder: der 16. Juni, der Tag, an dem alles zum Teufel ging. In Wahrheit war das aber schon vorher der Fall gewesen.

Schrill klingelte das Telefon auf dem Nachttisch, und er hätte es am liebsten an die Wand geworfen. Stattdessen lauschte er jedem einzelnen Ton, der ihm wie ein Eispickel ins Gehirn fuhr.

Als das Telefon nach einiger Zeit immer noch keine Ruhe gab, riss er das Kabel aus der Wand. Es konnte ja nur einer seiner besorgten Familienangehörigen sein, doch Mitgefühl war das Letzte, was Ethan an diesem Tag brauchen konnte.

Falls es sein Dad war, würde er Ethan einen Vortrag darüber halten, dass Rachel den Mann, der aus ihm geworden war, nicht mögen würde. Nun, Rachel hatte schon den Mann, der er gewesen war, nicht leiden können. Sogar er selbst hatte den Mann, der er gewesen war, nicht leiden können.

Danach würde Frank Kelly ihn wieder einmal auffordern, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen und nach vorn zu schauen, weil er nun lange genug getrauert habe.

Falls der Anrufer einer seiner Brüder war, würde der ihn mit der Frage nerven, wann er endlich bei KGI einsteigen wolle.

Wie wär’s mit: nie?

Dass er mit diesen bohrenden Kopfschmerzen nicht mehr einschlafen konnte, war klar. Deshalb schob er sich an die Bettkante, setzte sich auf und stellte die Füße auf den Boden.

Er hatte einfach nur vergessen wollen, aber alles, was ihm sein Saufgelage gebracht hatte, waren ein furchtbarer Brand und ein Gefühl im Magen, als hätte er Blei verschluckt. Und den heutigen Tag musste er immer noch irgendwie überstehen.

Er presste die Finger gegen die Schläfen und legte dann die Hände vors Gesicht. Mit den Ballen drückte er auf die geschlossenen Augen und massierte sie, als könnte er dadurch das verschwommene Bild auslöschen, das in ihm hochstieg.

Rachel.

Leise schwebte der Name durch seinen Geist und beschwor Erinnerungen an seine lächelnde, wunderschöne Frau herauf. Sie flatterten durch seinen Kopf wie Schmetterlinge.

Doch plötzlich schrumpften sie zusammen und wurden schwarz, als hätte ihnen jemand die Flügel verbrannt.

Rachel war fort.

Sie war tot.

Sie würde nie mehr nach Hause kommen.

Er stand vom Bett auf und torkelte in Richtung Badezimmer. Sein Spiegelbild erschreckte ihn nicht, und er verschwendete auch keine Sekunde damit, sich das Gesicht abzuwaschen oder den Mund auszuspülen. Er pinkelte und taumelte dann wieder aus dem Bad. Seine Zunge kratzte über den ausgetrockneten Gaumen.

Er brauchte einen Drink. Am besten irgendwas, das er nicht gleich wieder auskotzen würde.

Unwillkürlich ging er barfuß über das Parkett zum Wohnzimmer. Hier war alles noch so, wie sie es zurückgelassen hatte. Der Raum spiegelte ihre Persönlichkeit wider: chic, elegant, ordentlich.

Er hingegen war ein ungehobelter Chaot.

Laut seufzend schlenderte er in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee zu machen. Vielleicht hatte Dad ja recht, und es war an der Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und sein armseliges Leben weiterzuleben. Aber vermutlich würde er es sich nie verzeihen können, wenn er Rachel einfach so aus seinem Leben strich.

Er wartete, dass die Kaffeemaschine durchlief. Er könnte ja das Haus verkaufen und sich was Kleineres suchen. Es war sinnlos, es noch zu behalten, jetzt, da er allein war. Er musste irgendwo hinziehen, wo ihn nicht alles an sie erinnerte, andererseits war gerade das Teil seiner Strafe. Sie hatte es nicht verdient, zu den Akten gelegt und vergessen zu werden, auch wenn er genau das getan hatte.

Er schenkte sich eine Tasse dampfenden Kaffee ein und ging damit hinüber zu dem Glastisch, der den hinteren Teil des Raums dominierte. Er setzte sich und starrte in den Garten hinaus, der im vergangenen Jahr ziemlich gelitten hatte. Rachel und seine Mom hatten jedes Detail sorgfältig geplant und viele Stunden mit Anpflanzen und Jäten zugebracht. Ethan hatte dabei geholfen – wenn er zu Hause gewesen war.

Oftmals war er jedoch Wochen am Stück unterwegs gewesen. Die Aufträge kamen in der Regel aus heiterem Himmel und unterlagen strengster Geheimhaltung. Rachel wusste nie genau, wohin er verschwand und ob er wiederkommen würde. Das war keine Basis für ein Zusammenleben gewesen.

Den Dienst hatte er schließlich quittiert, nachdem Rachel eine Fehlgeburt erlitten hatte. In den drei Jahren ihrer Ehe hatte er sie oft im Stich gelassen, und er hatte geschworen, es nie wieder zu tun. Und doch war er es erneut passiert.

Er rieb sich die Augen und ließ die Hand auf den Stoppeln seines Dreitagebarts ruhen. Er war ein Wrack.

Sein Blick blieb an etwas Pfirsichfarbenem hängen, und er konzentrierte sich auf die Vase mit den Rosen, die er gestern gekauft hatte. Es waren Rachels Lieblingsblumen. Nicht ganz orange, nicht ganz pink, wie sie immer sagte. Eine vollkommene pfirsichfarbene Schattierung. Er sollte sie auf ihr Grab legen, aber er war sich nicht sicher, ob er es ertragen konnte, vor dieser kalten Marmorplatte zu stehen und ihr zum vierzigsten Mal zu sagen, wie leid es ihm tue. Aber schon im gleichen Moment, als ihm der Gedanke durch den Kopf ging, verzog er vor lauter Selbstekel die Lippen. Er würde hinfahren. Das war das Mindeste, das er tun konnte. In den Wochen, bevor sich ihr Todestag zum ersten Mal jährte, hatte er den Friedhof gemieden. Dass er seiner Verantwortung nur zu gern aus dem Weg ging, sollte ihn nicht überraschen. Das war ihm zur Gewohnheit geworden.

Er schob die Tasse quer über den Tisch, und ein wenig Kaffee schwappte über, was er jedoch ignorierte. Er ging ins Schlafzimmer zurück und zog eine Jeans und ein T-Shirt an. Er musste duschen und hatte auch eine Rasur nötig, aber für keins von beiden nahm er sich die Zeit. Wenn seine äußere Erscheinung die Leute abstieß, umso besser. Ihm war nicht nach Small Talk und dem Austausch irgendwelcher Nettigkeiten.

Wieder in der Küche blieb er vor der Vase mit den Rosen stehen. Mit zitternden Fingern berührte er eins der weichen Blätter. Er hatte Rachel schon lange keine Blumen mehr mitgebracht. Seit dem ersten Jahr ihrer Ehe nicht mehr. Was sagte es über ihn aus, dass er nun welche gekauft hatte?

Reue war für einen Mann ohnehin schon schwer zu ertragen, aber das Wissen, dass er das von ihm begangene Unrecht nicht wiedergutmachen konnte, war mehr, als sich ertragen ließ.

Er packte die Vase. Die Selbstverachtung verursachte ihm größere Übelkeit als der Alkohol, der noch in seinem Magen umherschwappte. Er schnappte sich die Schlüssel und ging zur Eingangstür, fest entschlossen, zu ihrem Grab zu fahren, sich der Vergangenheit zu stellen und mit diesem Tag seinen Frieden zu schließen.

Als er die Tür öffnete, stand ihm ein Bote von FedEx gegenüber, der prompt einen Schritt zurückwich. Offenbar sah er nicht allzu freundlich aus.

»Sind Sie Ethan Kelly?«, fragte der Mann nervös.

»Ja.«

»Ich habe ein Päckchen für Sie.«

»Legen Sie es einfach da hin«, sagte Ethan und deutete zum Schaukelstuhl auf der Veranda. Er wollte los, außerdem sah er ziemlich bescheuert aus, wie er so dastand mit der Blumenvase in der Hand.

»Ich, äh, brauche Ihre Unterschrift.«

Ethan wollte ihn schon anschnauzen, beherrschte sich aber gerade noch und stellte die Blumen auf der Brüstung ab. Ungeduldig packte er den Stift und kritzelte seine Unterschrift auf das elektronische Handgerät.

»Danke, und hier ist Ihr Päckchen.«

Der Mann warf Ethan einen dicken Umschlag in die Arme und eilte die Stufen hinunter. Bevor er in seinen Lieferwagen einstieg und die Zufahrt hinunterschoss, winkte er kurz.

Ethan betrachtete den Umschlag, konnte zunächst aber keinen Absender oder Ähnliches entdecken. Er warf ihn auf den Beistelltisch in der Diele, dann knallte er die Tür hinter sich zu und griff nach der Vase.

Als er bei der kleinen Kirche eintraf, die seine Familie jahrzehntelang zur Messe besucht hatte, zog sich sein Magen zusammen. Sie war alt, weiß getüncht und lag weit ab vom Schuss an einem gekiesten Weg. Der Friedhof grenzte direkt an die Kirche. Hier waren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts alle seine Vorfahren begraben worden.

Er stieg aus dem Pick-up, schluckte und ging dann den ausgetretenen Pfad zu dem eingezäunten Stückchen Land, das als Friedhof diente.

Die Rosen in seiner Hand zitterten, so fest hatte er sie gepackt. Einige Blütenblätter fielen ab, wurden vom leichten Wind weggetragen und wirbelten um die Grabsteine aus Marmor.

Seine Mom war hier gewesen. Wahrscheinlich heute Morgen. Frische Blumen lagen da, und Rachels Grabstein glänzte im Schein der Vormittagssonne.

Rachel Kelly. Geliebte Frau, Schwester und Tochter.

Sie hatten sie geliebt. Seine ganze Familie hatte sie vergöttert. Seine Brüder hatten ihn immer aufgezogen, wenn er nicht achtgebe, würden sie ihm Rachel ausspannen.

Ihm wurde übel, und er hatte Sodbrennen. Wie war er nur auf die Idee gekommen, er könnte ohne Weiteres an diesen Ort zurückkehren, wo er seiner Frau Lebewohl gesagt hatte? An jenem Tag war seine ganze Familie an seiner Seite gewesen, seine Mutter hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt, sein Vater war neben ihm gestanden und hatte ausgesehen, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.

Er hasste diesen Ort.

Er beugte sich hinunter und legte die Rosen neben den Grabstein. Tränen brannten in seinen Augen. Er biss die Zähne zusammen, um seine Gefühle im Zaum zu halten. Er hatte nicht mehr geweint, seit er mit der Post ihren Ehering bekommen hatte. Die einzige persönliche Habe, die bei dem Absturz gerettet werden konnte. Ein Flugzeugabsturz, der eine kleine Gruppe Katastrophenhelfer auf dem Heimflug von Südamerika das Leben gekostet hatte.

Nein, er würde nicht mehr weinen. Wenn er damit anfing, würde er nicht mehr aufhören können, und am Ende würde der dünne Faden zerreißen, an dem seine geistige Gesundheit noch hing. Es war besser, das alles nicht zu nah an sich heranzulassen. Seine Familie hielt ihn für gefühllos, das wusste er. Niemanden würde er eingestehen, wie tief ihn Rachels Tod tatsächlich getroffen hatte. In Wahrheit brachte er es nicht über sich, die Erinnerung an sie mit irgendjemandem zu teilen.

Mit den Händen in den Hosentaschen starrte er auf das Grab, in dem Rachel ruhte. Am Himmel stieg die Sonne immer höher und schien gnadenlos auf ihn herab. Dennoch fror er.

»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Wenn ich alles rückgängig machen könnte, würde ich es tun. Wenn ich nur noch eine Chance hätte. Ich würde keinen Tag verstreichen lassen, ohne dir zu zeigen, wie sehr ich dich liebe.«

Die Gewissheit, dass er diese Chance nie mehr erhalten würde, machte ihn völlig fertig. Dass er das Beste, das er in seinem Leben gehabt hatte, vermasselt hatte … Sein Schmerz war nicht in Worte zu fassen.

Er hielt es keine Sekunde länger aus. Steif drehte er sich um und ging zu seinem Pick-up zurück. Die Heimfahrt verlief ruhig. Er konzentrierte sich ausschließlich auf die Straße vor ihm und verdrängte alles andere. Von Gefühllosigkeit verstand er etwas.

Er betrat das Haus, in dem ebenfalls Stille herrschte. Das FedEx-Päckchen lag immer noch auf dem Tischchen, aber er ging achtlos daran vorbei. Jetzt wollte er nichts anderes, als sich duschen und den schalen Alkoholgestank loswerden.

Zwanzig Minuten später saß er am Rand seines Betts und ließ den Kopf hängen, um seinen rebellierenden Magen zu besänftigen. Die Dusche hatte geholfen, ein wenig jedenfalls. Aber die Kopfschmerzen und die rasende Übelkeit war er nicht losgeworden.

Er wäre gern zu seiner Mutter hinübergefahren und hätte sich von ihrer Suppe geholt, aber er wollte ihr nicht unter die Augen treten. Sie hatte es nicht verdient, ihn in diesem Zustand, völlig verkatert, sehen zu müssen. Es würde sie nur aufregen. Sie und Dad machten sich ohnehin schon genug Sorgen.

Er ließ sich auf die Matratze fallen und schloss die Augen. Ruhe. Er wollte einfach nur Ruhe.

Als Ethan das nächste Mal die Augen aufschlug, war es dunkel im Zimmer. Er atmete tief ein und testete den Zustand seines Magens. Dass er nicht gleich das Bedürfnis verspürte, sich zu übergeben, wertete er als Erfolg.

Ein Blick aus dem Fenster sagte ihm, dass es Nacht geworden war. Irgendwie hatte er es geschafft, den Nachmittag durchzuschlafen. Nicht, dass er sich darüber beklagen wollte. Es bedeutete vielmehr, dass er den 16. Juni nun bald hinter sich haben würde.

Als er sich aus dem Bett wälzte, protestierten seine Muskeln. Er streckte sich und lockerte die Schultern, während er in die Küche ging. Sein Magen knurrte, ebenfalls ein positives Zeichen.

Er machte sich ein Sandwich zurecht, goss sich ein Glas Wasser ein und setzte sich dann im Wohnzimmer auf die Couch, ohne die Lampe einzuschalten, und aß im Dunkeln.

Kurz überlegte er, den vom Vortag noch übrig gebliebenen Schnaps zu trinken, aber dann würde das ganze Drama morgen wieder von vorn anfangen. Und irgendwann würde seine Familie es leid sein, dass er sich so zurückzog, dann würden sie vor seiner Tür auftauchen.

Er schob sich gerade den letzten Bissen des Sandwichs in den Mund, als ihm der FedEx-Umschlag ins Auge fiel, der in der Diele halb von dem Tischchen hing.

Er stellte das Glas ab und stand auf, um den schweren Umschlag zu holen. Während er zur Couch zurückkehrte, riss er ihn auf, schaltete die Lampe ein, ließ sich auf die Polster fallen und griff in den stabilen Kunststoffumschlag.

Er zog einen Stapel Blätter unterschiedlicher Größe und Form heraus. Einige waren Dokumente im DIN-A4-Format, andere waren nur halb so groß. Es befanden sich Diagramme darunter und Aufnahmen, die aussahen wie Satellitenbilder mit GPS-Koordinaten.

Hatte er aus Versehen KGI-Unterlagen erhalten? Ein solcher Irrtum würde seinen Brüdern garantiert nicht unterlaufen. Eigentlich konnte auch keiner ihrer Kontakte seine Adresse wissen, aber dieses Zeug machte einen offiziellen Eindruck, wie militärische Unterlagen.

Mehrere Fotos waren auch dabei. Einige davon fielen auf seinen Schoß und die Couch. Als er eins der Bilder hochhielt, setzte sein Herz kurz aus, und er hatte das Gefühl, er müsste ersticken.

Die Aufnahme zeigte eine Frau, offenbar eine Gefangene in irgendeinem beschissenen Dschungelcamp. Wenn Ethan raten müsste, würde er auf Südamerika tippen oder vielleicht Asien. Eine Drecksgegend wie Kambodscha.

Zwei Männer flankierten die Frau, beide bewaffnet. Einer hielt sie am Arm fest, und sie sah aus, als wäre sie fast verrückt vor Angst.

Aber das war nicht der Grund, weshalb es sich anfühlte, als würde eine Kreissäge seinen Schädel spalten.

Die Frau sah Rachel bemerkenswert ähnlich. Seiner Frau Rachel. Der toten Rachel. Rachel, deren Grab er vor Kurzem auf dem Friedhof besucht hatte.

Welchem kranken Hirn war das denn entsprungen?

Er durchwühlte den Stapel Papier auf der Suche nach irgendetwas, das Sinn ergab. Vielleicht eine »witzige« Notiz eines perversen Arschlochs, das sich an solchen »Scherzen« aufgeilte.

Als er dann jedoch auf eine kurze handschriftliche Notiz stieß, gefror ihm das Blut in den Adern.

Ihre Frau lebt.

Er fühlte sich, als hätte man ihm mit voller Wucht in die Eier getreten. Wut stieg in ihm hoch wie ein brodelnder Lavastrom. Er knüllte den Zettel zusammen und schleuderte ihn quer durchs Zimmer. Das Papier rollte über den Boden und blieb unter dem Fernseher liegen.

Wer zum Teufel würde so eine Nummer abziehen und aus welchem Grund?

Er hob das Foto erneut hoch und dann das nächste. Er wollte sie alle wieder einsammeln, doch seine Hände zitterten so stark, dass die Bilder auseinanderflatterten wie ein Kartenspiel.

Fluchend kniete er sich hin und holte die Fotos unter dem Beistelltisch hervor. Ein paar waren unter die Couch gerutscht, andere zwischen den Kissen eingeklemmt.

Auch die Unterlagen waren in alle Richtungen davongeflogen. Diagramme, Landkarten, der ganze Mist, der ihm völlig sinnlos vorkam.

Reiß dich zusammen. Lass dich von dem Arschloch nicht kirre machen.

Obwohl er sich sagte, das könne nichts weiter sein als der Streich eines Geisteskranken, packte ihn der Zorn. Hoffnung. Angst. Groll. Sinnlose Wut. Hoffnung. Gegen seinen Willen. Hoffnung.

Er hielt die Papiere so fest, dass sie bereits ganz zerknittert waren. Die Fotos schienen ihn anzustarren und sich über ihn lustig zu machen. Rachel. Überall Rachel.

Dünner, gehetzt. Die Haare waren kürzer, die Augen ausdruckslos. Aber es war Rachel. Ein Gesicht und ein Körper, die er in- und auswendig kannte.

Wer würde so etwas tun? Wer würde so einen ausgefeilten Schwindel inszenieren, um mit ihm am ersten Jahrestag ihres Todes solch üble Späße zu treiben? Was versprach derjenige sich bloß davon?

Er zwang sich, den Blick von der verängstigten, hilfsbedürftigen Frau auf den Fotos abzuwenden, denn wenn er weiter darauf starrte und irgendwann wirklich glaubte, dass es sich dabei um Rachel –um seine Frau – handelte, würde er sich auf der Stelle übergeben müssen.

Die Dokumente verschwammen vor seinen Augen. Verärgert wischte er sich die Tränen weg, um aus dem Ganzen schlau werden zu können. Er erzwang eine innere Gelassenheit, die er nicht empfand. Unter Aufbietung all seiner Kräfte gelang es ihm, seine Gefühle auszublenden und die Unterlagen mit der nötigen Objektivität zu prüfen.

Hastig breitete er die Blätter auf dem Tisch aus, und was dort keinen Platz mehr fand, verteilte er über die Couch. Die Landkarte wies auf eine abgelegene Gegend in Kolumbien hin, etwa fünfzig Meilen vor der Grenze zu Venezuela. Die Satellitenfotos zeigten ein winziges Dorf inmitten von undurchdringlichem Dschungel. Wenn man überhaupt von einem Dorf reden konnte. Es waren etwa ein Dutzend Hütten aus Bambusrohren und Bananenblättern.

Besondere Hinweise gab es auf die Wachtürme und zwei Bereiche, in denen Waffen gelagert wurden. Wozu brauchte ein solches Elendskaff Wachtürme und genug Waffen, um eine kleine Armee auszurüsten?

Drogenkartell.

Erneut warf er einen Blick auf das Foto mit der Frau.

Rachel.

Immer wieder sagte er in Gedanken ihren Name.

Die Frau sah aus wie Rachel. Da war es nur logisch, dass sie es auch war. Wenn da nicht der Umstand gewesen wäre, dass ihre Überreste samt Ehering nach Hause geschickt worden waren. Einen DNA-Test hatte man allerdings nicht durchgeführt.

Ihm wurde so übel, dass er schließlich würgen musste.

Nein. Es konnte nicht sein, dass er den Tod seiner Frau widerspruchslos akzeptiert hatte, während sie in Wahrheit irgendwo gefangen gehalten wurde, Gott weiß was erdulden musste und Männern ausgeliefert war, die keinerlei Hemmungen hatten, eine unschuldige Frau zu quälen.

Identifiziert worden war sie allein anhand der persönlichen Sachen, die man angeblich bei der Leiche gefunden hatte. Das Feuer hatte einen Abgleich mit den zahnärztlichen Unterlagen unmöglich gemacht. Die Explosion hatte alles zerstört. Alles, bis auf den verformten Trauring und die verkohlten Überbleibsel ihres Koffers. Außerdem hatte man im Flugzeugwrack ihren halb verbrannten Reisepass entdeckt. Es war ihr Flug gewesen, und es hatte keine Überlebenden gegeben. Ethan hatte ihren Tod keine Sekunde lang in Zweifel gezogen.

Großer Gott, er hatte den Tod seiner Frau nie hinterfragt.

Wütend schüttelte er den Kopf. Junge, Junge, er ließ sich doch glatt verrückt machen. Es musste eine andere Erklärung geben. Jemand hielt ihn zum Narren. Er hatte keine Ahnung, warum. Es war ihm auch egal.

Er überflog den Rest der Papiere. Schichtplan der Wachposten. Zeitplan der Drogenübergaben. Was sollte das? Offenbar wollte ihn jemand dazu bringen, dort einzumarschieren. Die ganze Sache roch nach einer Falle.

GPS-Koordinaten. Satellitenfotos. Topografische Karten. Gründlich war der Absender jedenfalls.

Wenn die Informationen stimmten, waren diese Komiker eine leichte Beute. Pfadfinder hätten das Lager stürmen und in fünf Minuten einnehmen können.

Ihre Frau lebt.

Er warf einen Blick zu dem Schatten, den der kleine zusammengeknüllte Zettel unter dem Fernseher warf.

Drei Worte. Drei einfache Worte.

Gegen seinen Willen keimte Hoffnung in ihm auf. Sein Herz schlug wie ein Presslufthammer. Sein Puls raste so schnell, dass er sich benommen fühlte, fast wie am Vorabend, als er mit billigem Fusel jeden vernünftigen Gedanken ertränkt hatte. Nur dass er heute Abend stocknüchtern war.

Nein. Vollkommen unmöglich. Er wollte sich diesen kleinen Hoffnungsschimmer, der sich durch die Trauer eines ganzen Jahres kämpfte, nicht erlauben. Im richtigen Leben passierte so etwas nicht. Man bekam keine zweite Chance auf dem Präsentierteller serviert.

Öfter, als er sich eingestehen wollte, hatte er gebetet, es möge ein Wunder geschehen, aber seine Gebete waren nie erhört worden. Oder etwa doch?

»Du drehst langsam durch«, murmelte er.

Offenbar verlor er den Verstand. Fühlte man sich so, wenn man am Ende seiner Reise angelangt war? Blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als den Mond anzuheulen?

Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht und massierte seinen Nacken. Danach starrte er wieder auf die Blätter, die vor ihm lagen wie eine Landkarte. Ein Wegweiser zu seiner Frau?

Das hätte er gern geglaubt. Aber wenn er das Zeug auch nur eine Sekunde ernst nahm, wäre er der größte Trottel aller Zeiten. Andererseits – konnte er die Sache einfach abtun, ohne zumindest mit seinen Brüdern darüber gesprochen zu haben?

Mann, sie waren die Chefs von KGI. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt damit, dass sie anderen die Hölle heißmachten. Es gab keine militärische Operation, die sie nicht im Programm hatten. Sie fanden Leute, die nicht gefunden werden wollten. Sie retteten Menschen aus unmöglichen Lagen. Sie befreiten Geiseln. Sie jagten alles Mögliche in die Luft. So einen mickrigen Außenposten irgendwo am kolumbianischen Arsch der Welt auszuheben, wäre für eine Organisation wie KGI der reinste Spaziergang.

Großer Gott, sie würden wahrscheinlich glauben, er hätte endgültig nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sie würden ihn einweisen lassen.

Aber wenn es kein Scherz war?

Der Gedanke packte ihn an der Gurgel, biss sich fest und ließ ihn nicht mehr los.

Die ganze Nacht arbeitete er sich durch das Material, Dokument für Dokument, prägte sich alles so gründlich ein, dass er das Lager vor sich sah, sobald er die Augen zumachte. Jedes Detail. Er wusste, wo jede Hütte stand, wo sich die Wachtürme befanden. Er wusste, wann die Wachen abgelöst wurden, wann die Drogenübergaben erfolgten. Selbst wann sie ihre Gefangene in eine andere Hütte brachten.

Er musste vorbereitet sein. Seine Brüder mochten ihn für verrückt halten, er konnte es ihnen nicht verdenken. Aber eins wusste er bestimmt: Er würde sich auf die Suche nach seiner Frau machen, mit oder ohne ihre Hilfe.

Wenn sie dort war … wenn sie noch lebte … dann würde er sie nach Hause holen.

2

Für solche Situationen gibt es keine Drehbücher. All die Jahre beim Militär halfen ihm nichts bei dieser bizarren Schicksalswende. Trotz seiner Bemühungen, die Hoffnung zu ersticken, die in ihm keimte, lebte diese unvermindert fort.

Ethan parkte seinen Pick-up in der Auffahrt zum Haus seines Bruders am See. Unter dem Sitz holte er den Umschlag mit den Informationen über Rachels Aufenthaltsort hervor.

Sein Besuch würde sie überraschen. Wahrscheinlich saßen Sam, Garrett und Donovan gerade beisammen und planten einen Überfall auf Ethans Heim. Seit Monaten schon bedrängten sie ihn, er solle bei ihrem Familienunternehmen KGI einsteigen, das auf besonders heikle Missionen spezialisiert war. Hauptsächlich, um ihn wieder ins Reich der Lebenden zurückzuholen.

Ein FedEx-Päckchen hatte erreicht, woran sie gescheitert waren.

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er etwas anderes als Schuld und Trauer. Er war wütend – sehr, sehr wütend.

Diese Wut hielt er lebendig, denn er brauchte sie für die bevorstehende Auseinandersetzung. Seine Brüder würden glauben, er wäre von allen guten Geistern verlassen. Dennoch waren sie seine einzige Hoffnung, deshalb musste er sie davon überzeugen, dass Rachel noch am Leben war.

Er stieg aus und warf einen Blick hinüber zur KGI-Einsatzzentrale, einem ultramodernen, mit allen Schikanen ausgestatteten knapp zweihundert Quadratmeter großen Gebäude, das sich direkt neben Sams rustikaler Holzhütte am Ufer des Kentucky Lake befand und die Büros von Kelly Group International beherbergte.

Sam, Garrett und Donovan, Ethans ältere Brüder, wohnten praktisch hier. In der Einsatzzentrale schliefen sie öfter als zu Hause. Daher ging Ethan dort als Erstes hin. Soweit er wusste, war ein KGI-Team auf Aufklärungsmission unterwegs, deshalb würden sich seine Brüder in der Nähe der Kommunikationszentrale aufhalten.

Dank eines Hochsicherheitssystems war die Anlage vor Eindringlingen perfekt geschützt. Das ganze Anwesen verströmte eine freundliche und scheinbar unschuldige Atmosphäre, und dafür liebte Sam diesen Ort. Kein Mensch würde Verdacht schöpfen, dass in dieser ländlichen Gegend des Stewart County militärische Operationen geplant und in die Wege geleitet wurden.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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