KI im Ohr - Reinhardt Krätzig - E-Book

KI im Ohr E-Book

Reinhardt Krätzig

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Beschreibung

Ein Paar in der Krise und eine Künstliche Intelligenz (KI) als emotionaler Kompass - entdecken Sie den neuesten Trend: ein persönlicher digitaler Berater, immer erreichbar per Smartphone-Chip und In-Ear-Kopfhörer. "KI im Ohr" folgt dem Weg von Jona, der sich eine solche KI zulegt, in der Hoffnung, damit seine Beziehungskrise in den Griff zu bekommen. Seine anfängliche Skepsis ist groß. Kann eine KI wirklich mehr über menschliche Emotionen und Beziehungsdynamiken verstehen als er selbst mit seinem gesunden Menschenverstand und seiner Lebenserfahrung? Sind die psychotherapeutischen Weisheiten, die ihm die KI ins Ohr flüstert, wirklich das, was er braucht? Unterstützt von der KI, seinen Freunden und vor allem seiner Kollegin Nicole, erlebt Jona eine intensive, teils humorvolle Auseinandersetzung mit dem komplexen Zusammenspiel von emotionalen und rationalen Aspekten des Menschseins. Nebenbei zeigt der Roman als Spiegel der Realität, wie leicht man sich im Beziehungsalltag verlieren kann. Ermutigend offenbart er, wie ein wenig neues Denken genügt, um eine Beziehung zu retten. Gleichzeitig wird deutlich, wie die aufkommende KI-Technologie dabei gute Dienste leisten kann. Begleiten Sie Jona auf seiner erkenntnisreichen und inspirierenden Reise und entdecken Sie eine Geschichte, die erdet und den Horizont erweitert.

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Widmung

Allen gewidmet, die ahnen, dass es sich lohnt, um die eigene Beziehung zu kämpfen

Inhaltsverzeichnis

Einführung

TEIL 1

Ich stelle mich mal vor

Tag 0 - Donnerstag

Tag 1 - Freitag, guter Rat von Freunden

Tag 2 - Samstag

Tag 3 - Sonntag

Tag 4 - Montag - Der erste Kontakt

Tag 5 - Dienstag, Lektion 1: Gute Gefühle

Tag 6 - Mittwoch

Tag 7 - Donnerstag

Tag 8 - Freitag

Tag 9 - Samstag

TEIL 2

Tag 10 - Sonntag

Tag 11 - Montag

Tag 12 - Dienstag

Tag 13 - Mittwoch

Tag 14 - Donnerstag

Tag 15 - Freitag

Tag 17 - Zurück zu Hause

Epilog

In der Erzählung mitspielende Personen

Ohne gute Gefühle geht gar nichts. Wenn Du in deinem Leben etwas verändern willst, brauchst du gute Gefühle. Umso mehr, wenn die Veränderungen etwas Positives bewirken sollen.

Ernazwo

Einführung

In der nahen Zukunft beginnt die emotionale Odyssee von Jona, einem jungen Mann, dessen Welt ins Wanken gerät, als seine Partnerin beschließt, eine Beziehungspause einzulegen. Schockiert und gefangen in einem Strudel aus Trennungsangst, Selbstzweifeln und einer Flut widersprüchlicher Gefühle, sucht Jona nach einem Weg, um in das Chaos seiner Gefühle zu bringen. Trotz gut gemeinter Unterstützung seiner Freunde spürt Jona, dass er mehr benötigt.

In seiner Not greift er zu einer Künstlichen Intelligenz, von der die Werbung verspricht, dass sie die Tiefen der menschlichen Psyche kennt und als persönlicher Begleiter im Dschungel der menschlichen Gefühle als Navigationshilfe dienen kann. Doch kann Jona einer Maschine vertrauen, um seine Partnerin zurückzugewinnen? Ist es überhaupt möglich, mit Hilfe einer Künstlichen Intelligenz eine tiefere Bindung und ein stabiles Fundament für die Zukunft aufzubauen?

Die Geschichte nimmt Sie mit auf Jonas Suche nach Antworten, auf seinen Weg, die Liebe neu zu entdecken und zu herauszufinden, was er lernen muss, um seine Beziehung zu retten.

Die Vorstellung, dass eine Künstliche Intelligenz in einer Beziehungskrise unterstützend wirken kann, mag heute noch futuristisch anmuten. Aber die Lektionen, die Jonas KI ihm beibringt, und die Strategien, die sie ihm aufzeigt, sind keine Fantasie. Das Wissen, die Anregungen, Aufgaben und Ratschläge stammen aus der aktuellen psychotherapeutischen Forschung und Praxis.

Viel Spaß beim Lesen.

Teil 1

Ich stelle mich mal vor

Ich heiße Jona, und ich bin 36 Jahre alt. Vor einiger Zeit hat ein kleines elektronisches Wunder mit der Bezeichnung PKI mein Leben auf den Kopf gestellt. PKI steht für Personal KI - eine Künstliche Intelligenz, die ich als meine persönliche Begleiterin engagiert habe. P steht für zwar für persönlich, aber wenn man das P mit Psycho übersetzt, liegt man auch nicht falsch. Ich habe also eine Psychotherapeutin im Ohr. Ja, ich bevorzuge die weibliche Stimme. Die Idee kam von meinen Freunden und war zunächst nur als Scherz gemeint. Aber wer nicht mehr weiter weiß, greift zu jeder Navigationshilfe.

Mein Problem? Meine Freundin hat mich rausgeschmissen. Aber am besten fange ich von vorne an. Ich erzähle kurz, wie das Drama begann. Zumindest für mich. Für meine Partnerin Hannah hat es anscheinend schon wochenlang vorher angefangen.

Tag 0 - Donnerstag

Die Tasse auf der Spülmaschine

Es begann mit einer Tasse, einer ganz gewöhnlichen Kaffeetasse, die auf der Spülmaschine stand.

Wenn ich mich recht erinnere, hatte mich Hannah ein paar Stunden vorher, schon etwas genervt gebeten, meine Kaffeetasse nach Gebrauch in den Geschirrspüler zu stellen und diesen einzuschalten. Das war wohl nicht ganz zu mir durchgedrungen. Für mich nachvollziehbar, weil ich mit meinem Kopf schon bei der Arbeit war. Heute lief die Präsentation, auf die ich mich schon seit Wochen vorbereitet hatte. Also hatte ich die Tasse nur auf die Maschine gestellt und war dann losgegangen.

Als ich am Nachmittag nach Hause kam, stand die Tasse noch immer da - und Hannah auch, mit verschränkten Armen und einem wütenden Blick. Die Kaffeetasse stand offenbar für mehr als sich selbst. Sie war zum Symbol der Unstimmigkeiten in unserer Beziehung geworden. Für mich war es bis jetzt aber nur die Tasse, um die es ging, und dafür war meine Präsentation mir Entschuldigung genug.

Für Hannah lief aber ein anderer Film. Sie stand neben der Spülmaschine, schaute mich böse an, schaute auf die Kaffeetasse und schaute mich erneut böse an. Ich glaubte, ihre Pantomime zu verstehen, nahm die Kaffeetasse, stellte sie in die Spülmaschine und schaltete diese dann an. Für mich war damit alles okay. Der Kaffeetasse machte das nichts, und der Spülmaschine war es wohl auch egal. Aber Hannah nicht.

Mit zorniger Stimme verkündete sie, dass sie jetzt die Nase voll von mir habe: Von meiner Nachlässigkeit, meinem Desinteresse, meiner Egozentrik und sie sagte noch einiges mehr, was ihr an mir nicht gefällt. Dann kam sie zu dem Fazit: »Ich brauche eine Auszeit. Wir machen drei Wochen Pause. Dann kannst du dir in Ruhe überlegen, was du überhaupt von mir und einer Beziehung mit mir willst.«

»Aber«, versuchte ich sie zu besänftigen, »warte, das war doch nur ein Versehen mit der Kaffeetasse. Daran kannst du doch nicht unsere ganze Beziehung festmachen.«

Sie antwortete sofort und mit noch schärferem Ton: »Allein die Tatsache, dass du annimmst, dass es nur um diese Kaffeetasse geht, ist für mich Beweis genug, dass du offensichtlich blind und taub durch deine Welt läufst. Ich will aber keinen blinden Mann. Nichts gegen Blinde, aber du bist irgendwie seelenblind oder herzensblind oder so etwas. Ich fühle mich nicht gesehen von dir. Nicht nur heute und nicht nur bezogen auf diesen banalen Kaffeetassen-Spülmaschinen-Konflikt, sondern grundsätzlich. Aus. Pause!«

»Aber«, fing ich erneut an und wurde sofort unterbrochen. »Kein Aber«, wetterte Hannah, »Kein Aber. Lass mich in Ruhe. Pack deine Sachen, zieh zu einem deiner Freunde und wehe, du versuchst mich vorher zu kontaktieren oder zu beeinflussen. Ich will nichts von dir hören. Zisch ab.«

Tag 1 - Freitag, guter Rat von Freunden

Na gut, sofort abzischen konnte ich nicht. Ich war geschockt und musste mich erst einmal sammeln. Die Nacht verbrachte ich auf der Couch und meldete mich am nächsten Morgen bei meiner Arbeit ab. Ich gab an, wegen einer dringenden Familienangelegenheit einen Tag Urlaub nehmen zu müssen. Dann fing ich an, meine Kontakte nach einer Bleibe abzufragen. Es waren nur wenige erreichbar, weil die meisten jetzt bei der Arbeit waren. Trotzdem war ich herausgefordert, weil jeder sofort wissen wollte, was jetzt los ist und ich kaum in der Lage war, etwas Verständliches von mir zu geben. Vielleicht, weil ich es selbst noch nicht verstanden hatte.

Bei der Suche nach einer Unterkunft hatte ich zunächst kein Glück. Auch Kian, der einzige im Freundeskreis, der noch als Single alleine wohnt, konnte mir leider nicht weiterhelfen, da bereits ein anderer aus dem Bekanntenkreis vorübergehend bei ihm logierte. Aber er schlug vor, dass wir uns zusammensetzen sollten, um die Situation gemeinsam zu besprechen. Er empfahl, auch Mischa hinzuzuziehen, da dieser oft gute Ideen hat und kürzlich selbst Ähnliches durchgemacht hatte. Mischa und seine Freundin waren vor einem Vierteljahr vorübergehend getrennt, hatten dann wieder zusammengefunden und seitdem eine relativ stabile Beziehung geführt. Mischa könnte tatsächlich eine gute Anlaufstelle sein.

Ich erreichte ihn und wir verabredeten uns für den Nachmittag auf einen Kaffee bei Kian. Ein Treffen dort hat den Vorteil, dass keine der Partnerinnen meiner Freunde anwesend sein würde. Das wäre genauso, als wenn Hannah selbst dabei wäre. Alle Frauen kannten sich untereinander und jede Neuigkeit verbreitete sich blitzschnell. Im Moment wollte ich aber nur mit meinen Freunden sprechen.

Als das Treffen vereinbart war, bedauerte ich, nicht zur Arbeit gehen zu können. Was sollte ich in der Zwischenzeit anfangen? Glücklicherweise war Hannah bereits früh aus dem Haus gegangen, sodass ich mich nicht auf einer Parkbank herumdrücken musste. Obwohl, so schlecht wäre das auch nicht, das Wetter schien gut zu werden. Also machte ich einen Kompromiss. Ich packte meine Sachen in Ruhe in eine große Reisetasche und achtete darauf, nichts Wichtiges zu vergessen. Ich nahm Unterwäsche zum Wechseln, Deo, eine Zahnbürste, Sportsachen und Schlafkleidung mit. Nachdem ich noch etwas gegessen hatte, schaltete ich den Fernseher ein und schaute kurz in drei verschiedene Serien, ohne mich wirklich konzentrieren zu können.

Irgendwann schien mir der Park die bessere Wahl zu sein. Zuerst wollte ich meine Tasche sofort mitzunehmen, aber das schien mir zu umständlich. Also ließ ich sie im Flur stehen. Ich hatte noch meinen Schlüssel und könnte sie abholen, sobald ich genauer wüsste, wohin es geht.

Mit etwas Zeit übrig schlenderte ich durch den Park, bis mich eine Parkbank einlud, mich zu setzen. Aus Gewohnheit griff ich zum Handy und blätterte zu meinem E-Book-Reader durch. Aber die angefangenen Bücher lockten mich nicht und zu etwas Neuem war ich auch nicht in der Stimmung. Also schaute ich mir andere Menschen an, insbesondere Paare, und dachte darüber nach, welche Probleme die wohl miteinander haben. In meiner Fantasie stellte ich mir vor, wie sie sich stritten. Das hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Vielleicht, weil ich nicht mehr der Einzige war, der etwas falsch machte. Aber diese Momente verschwanden schnell und dann sah ich wieder das verärgerte Gesicht von Hannah und hörte ihr: »Ich will nichts von dir hören. Zisch ab.«

Ich war erleichtert, als es endlich Zeit war loszugehen. Ich traf zeitgleich mit Mischa bei Kian ein. Er begrüßte mich mit einem mitleidigen: »Na, hat es Dich jetzt auch erwischt?« Dann nahm er mich tröstend in den Arm. Kian war weniger einfühlsam: »Ach, du lebst ja noch. Kommt rein.« Dann bot er uns Plätze an und bereitete eine Runde Kaffee. Solange die Maschine zischte und ratterte, philosophierten Mischa und ich, wie schon dutzende Mal zuvor, über das Kaffeegeschirr von Kian, welches mit seinem Blümchenmuster und Rüschenrand nicht so recht zu seiner Ikea-Küche passte. »Habe ich von meiner Uroma geerbt, ich finde es gut.« Das hatten wir auch schon öfter gehört und ließen es gelten.

Dann servierte er den Kaffee, setzte sich dazu und eröffnete das Konflikt-Meeting mit den Worten: »Los, erzähl. Was läuft gerade bei Dir schief?«

»Das weiß ich leider nicht so genau«, konnte ich nur antworten. Ich erzählte den beiden die Kaffeetassengeschichte und berichtete, was Hannah zu mir gesagt hat. Dabei ließ ich die eine oder andere Zuschreibung weg, weil nicht jeder wissen sollte, was Hannah über mich dachte, aber gab ihre Aussage weiter, dass es tiefer liegende Gründe als die Kaffeetasse gab. »Und, was sind die tiefer liegenden Gründe? Was hast du versaut, was hast du falsch gemacht? Los, denkt nach!«, drängte Mischa.

»Warte, warte«, sagte ich, während ich in meinen Erinnerungen kramte. »Wenn ich in den letzten Tagen suche, finde ich nichts. Hannah war schon eine Weile schlecht drauf, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich etwas wirklich falsch gemacht habe.« Mischa korrigierte mich: »Das findest du nicht in den letzten Tagen. Wenn Hannah, so wie ich sie kenne, dir eine dreiwöchige Auszeit verkündet, dann ist da viel mehr im Argen. Da gärt und stinkt es schon ziemlich lange. Du musst in ganz anderen Zeitdimensionen suchen. Schau doch mal ein paar Wochen zurück oder noch besser ein paar Monate. Was ist da passiert?«

Mit diesem erweiterten Blickwinkel fiel mir eine Situation ein, die in meinem Kopf noch als ungeklärt abgebucht war. »Vor zwei Monaten hatten wir einen Drei-Tage-Urlaub, wir waren ins Umland in ein Hotel gefahren, um in Ruhe zusammen zu sein und auch, um Wichtiges besprechen zu können. So hatte es Hannah jedenfalls formuliert.«

»Und«, fragt Kian sofort: »Was war das Wichtige, das besprochen werden sollte?«

»Eigentlich nichts Neues. »Wir haben über das Gleiche geredet wie immer«, antwortete ich unter Druck und unsicher.

»Lass dir nicht jeden Satz aus der Nase ziehen. Worüber habt ihr denn immer geredet? Kian dachte nach und korrigierte sich: »Viel wichtiger ist, was Hannah mit dir besprechen wollte?«

»Oh je«, jammerte ich, »ich weiß es nicht. Ich habe keine Chance. Das schaffe ich nie.«

Hannah hatte wohl doch recht, als sie sagte, ich sei blind. Aber nicht nur das, ich war offenbar auch taub und nahm nicht ernst, was ihr wichtig war.

Jetzt übernahm Mischa das Gespräch: »Beruhige dich. Eins nach dem anderen. Irgendwie kriegen wir das schon raus. Wir werden uns umhören. Die Frauen wissen doch alle, was Hannah will. Wir müssen nur die Ohren aufmachen. Jetzt kümmern wir uns erstmal darum, wo du die nächsten Wochen unterkommst. Kian, wie sieht es bei dir aus?«

»Nein, tut mir leid, bei mir ist alles voll. Bei mir geht nichts.« Alle saßen für einen Moment schweigend da und ich spürte, wie meine Stimmung sank. Mischa bemerkte es: »Hey, lass den Kopf nicht hängen. Ich habe vielleicht eine Lösung. Vor ein paar Tagen hat Irma von einem Kollegen erzählt, der für ein paar Wochen in den USA arbeitet. Die Wohnung von dem Mann ist solange frei. Vielleicht darfst du da wohnen.«

Als ich ihn überrascht anschaute, reagierte er sofort: »Ich rufe Irma an und frage, ob sie was machen kann.«

In mir keimte ein wenig Hoffnung auf. Irma ist Mischas Partnerin und ich hoffte, dass sie sich gut mit ihrem Kollegen verstand und die Wohnung noch frei war.

Kian klopfte mir freundlich auf die Schulter: »Siehst du, das wird schon! Willst du noch einen Kaffee? Ich mache mir noch einen.« »Ja, ich brauche auch noch einen.«

Während Kian die nächste Runde Kaffee bereitete und Mischa noch telefonierte, suchte ich weiter nach Gründen für Hannahs Entscheidung. Doch je angestrengter ich nachforschte, desto mehr schienen meine Erinnerungen hinter einem Schleier aus Nebel zu verschwinden. Mir war, als würde ich mich gleich nicht mehr zusammenreißen können und vor allen in Tränen ausbrechen. Das wollte ich nicht, es wäre mir unangenehm gewesen, obwohl ich es grundsätzlich okay finde, vor Freunden auch mal zu weinen. »Ich geh mal kurz auf das Klo«, sagte ich und ging hinaus.

Als die Toilettentür hinter mir geschlossen war, lehnte ich mich an die kühle, gekachelte Wand, ließ für einen Moment auch meinen Hinterkopf an die Wand sinken und genoss die beruhigende, angenehme Kälte. ›Runterkühlen‹, dachte ich.

Aber hier allein auf der Toilette zu sein und mich vor den anderen zu verstecken, erzeugte auch das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, was mich unangenehm an die Geschichte mit Hannah erinnerte. Für ein paar Sekunden war es gut, mit der Last allein zu sein, aber jetzt wollte ich wieder zu den anderen. Ich betätigte die Klospülung, um keine Erklärungen abgeben zu müssen, und kehrte an den Küchentisch zurück. Dort wartete bereits ein frischer Kaffee auf mich.

Mischa hatte sein Telefon wieder weggelegt und grinste mich an, sagte jedoch nichts. Offenbar wartete er darauf, dass ich fragte, was ich auch sofort tat: »Na, was hast du erreicht?«

»Mit Vitamin B kommt mal überall durch«, verkündete er stolz, »die Wohnung ist noch zu haben und Irma telefoniert gerade mit ihrem Kollegen. Sie wird sich gleich wieder melden. Ich denke, dass es für dich sehr gut aussieht. Darauf stoßen wir an!« Mit diesen Worten griff Mischa nach seiner Kaffeetasse und prostete uns zu.

Das erste Problem schien gelöst oder zumindest eine Lösung in Reichweite zu sein. Das war einfach. Ob der Rest auch so reibungslos verlaufen würde? Ich hatte Zweifel und fragte: »Aber was soll ich in diesen drei Wochen machen?« Weil er so eine Erfahrung schon gemacht hatte, schaute ich dabei direkt in Mischas Gesicht. Er reagierte prompt: »Willst Du meine ehrliche Meinung hören?«

»Ja klar, was denn sonst?«

»Aber du darfst es nicht weitersagen, insbesondere den Frauen nicht. Schwöre es, oder du wirst es nie erfahren.«

Ich antwortete leicht irritiert: »Ja, ich schwöre. Hör auf Dich zu zieren. Welche Geheimnisse von dir dürfen die Frauen nie erfahren?«

Mischa grinste und ließ mich noch ein bisschen zappeln, bevor er gestand: »Nichts, ich habe überhaupt nichts gemacht.«

Ich fragte ihn, was er damit meinte und er erklärte freundlich: »Ich hatte einfach nur die Zeit verstreichen lassen. Ich war brav zur Arbeit gegangen, hatte Sport gemacht, hatte euch getroffen und mich von Irma ferngehalten. Danach war wieder alles okay.«

»Wie das denn? Hatte dir Irma keine Bedingungen gestellt?«

»Klar hatte sie. Ich sollte mich besinnen, mir überlegen, ob ich die Beziehung ernst nehme. Ob ich überhaupt eine Beziehung zu ihr haben will oder mich lieber in der Welt umschauen möchte, usw. Kennst du alles. Hat Hannah vermutlich genauso geredet.«

»Ja, glaube schon. Aber wenn du nichts gemacht hast, dann war doch alles wie vorher? Warum hatte sie sich wieder auf eine Beziehung mit dir eingelassen?«

»Weil sie sich wieder beruhigt hatte. Nach den drei Wochen hatte sie alles anders gesehen. Sie war irgendwie gelassener und es gab eigentlich nichts mehr zu klären.«

Mischas Vorschlag, einfach drei Wochen zu warten und nichts zu tun, um zu sehen, ob sich Hannah von selbst erholt, klang für mich zu wenig überzeugend. Meine Angst, dass es nicht funktionieren würde, war stärker. Deshalb winkte ich ab: »Nein, das ist für mich keine Alternative. Wenn ich nichts tue und das für Hannah dann das Falsche ist, bin ich sie los. Das will ich nicht.«

»Wenn Hannah jetzt hören könnte, dass du Angst hast, sie zu verlieren, wäre die Auszeit vielleicht sofort vorbei«, formulierte Kian leise und offenbar nachdenklich. Bis jetzt war er nur stiller Beobachter meines Austausches mit Mischa. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf, er schien eine Idee zu haben. Er lachte etwas gezwungen und schlug mir auf die Schulter. »Hey, vielleicht musst du gar nicht so viel nachdenken. Wie wäre es, wenn du dir einfach eine dieser neuen PKIs zulegst? Sie hören dir zu, analysieren deine Gefühle und geben dir Ratschläge. Das sind intelligente Geräte, der ideale Begleiter für eine Lebenskrise.«

»Eine was?« Ich hatte Kian zwar verstanden, aber brauchte etwas Zeit, um das gesagte, auf mich zu beziehen. Natürlich hatte ich schon von diesen KIs gehört, die als persönlicher Begleiter fungierten und kurz als PKI bezeichnet wurden. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, so etwas mit meinem Problem in Verbindung zu bringen. Skeptisch hob ich die Augenbrauen und schaute Kian an: »Künstliche Intelligenz, um eine Beziehung zu retten? Das klingt verrückt, Kian.«

Kian antwortete nicht mit Worten, aber seine Gestik verriet: »Warum eigentlich nicht.« So ganz ernst schien er den Vorschlag allerdings nicht gemeint zu haben.

Mischa hingegen war von der Idee begeistert: »Ich habe davon gehört. Die sollen ziemlich fortschrittlich sein und haben Zugang zu den neuesten Erkenntnissen. Außerdem sollen sie sich gut mit menschlichen Schwächen auskennen und besser sein als so mancher Seelenklempner.«

Ich runzelte die Stirn und wollte den Vorschlag abtun, aber die Idee hatte sich bereits in meinem Kopf festgesetzt. Eine KI, die mir in dieser schwierigen Zeit helfen könnte, klang vielleicht nicht verlockend, aber war zumindest machbar. Wenn sie wirklich so gut war, wie Mischa behauptete, könnte sie Klarheit in meine Gedanken bringen und mir eine Idee davon geben, was ich tun kann. »Das kriege ich jetzt raus«, sagte ich, griff zu meinem Smartphone und begann zu recherchieren.

Nach ein paar Minuten Internetrecherche war klar, dass es einige Konkurrenzprodukte gab, die alle auch eine relativ günstige Möglichkeit boten, die Dienste für ein paar Wochen auszuprobieren. Schließlich führte mich ein Vergleichstest auf Basis von Kundenbewertungen zu einem bezahlbaren Modell. Die Versprechungen der Werbung klangen verlockend, also las ich sie laut vor: »Immer an deiner Seite, rund um die Uhr erreichbar, immer aufmerksam und bereit, dich durch Veränderungen zu führen.«

Mit Gesten und Worten unterstützten Mischa und Kian meine Entscheidung und mit ein paar Klicks habe ich einen dreimonatigen Leasing-Vertrag abgeschlossen. Da ich mir wegen meiner neuen Adresse noch unklar war, ließ ich das Paket an eine Lieferstation schicken.

Kaum hatte ich das erledigt, klingelte das Telefon von Kian. Irma meldete sich und Kian stellte sein Telefon auf Lautsprecher. »Gratuliere Jona, du musst nicht lange auf der Straße herumhängen, sondern kannst mit deiner Zahnbürste direkt in die Schmidtstraße 23 umsiedeln. Die Wohnung ist im dritten Stock links und an der Tür steht der Name Axel Krause. Axel ist heute den letzten Tag hier und wird dann für einige Wochen weg sein. Am besten, du verabredest dich noch heute mit ihm. Falls es nicht klappt, gibt es noch einen Schlüssel bei der Nachbarin gegenüber. Sie heißt Sabine Müller oder so ähnlich. Da kannst du auch klingeln und sie darf dich reinlassen, falls du Axel verpasst. Aber sprich am besten direkt mit ihm, er ist sehr nett. Ich schicke dir gleich seine Nummer auf dein Handy und die von der Sabine auch. Ich habe ja deine Nummer. Tschüss.«

Eine Minute später waren die Nummern da und ich rief sofort bei Axel an. Eine angenehme Stimme begrüßte mich freundlich. Er war schon von Irma informiert. Wenn sie etwas anfasst, dann macht sie es richtig. Mit wenigen Worten verabredeten wir uns für heute am frühen Abend. Das war etwa zwei Stunden entfernt.

Der erste Schritt war geschafft und ich war gespannt, wie es weitergehen würde.

Dann musste ich mir noch ein paar Sprüche darüber anhören, wie die KI mich verbessern würde, aber ich hatte ja eine Aufgabe, also verabschiedete ich mich bald von den beiden und machte mich auf den Weg, um meine neue Bleibe zu inspizieren.

Freitagabend - Hütte oder Palast?

Pünktlich stand ich vor der Wohnungstür zu meiner vorübergehenden Unterkunft und war etwas aufgeregt. Ich hoffte, dass Axel ein einigermaßen zivil lebender Mensch war und ich mir nicht doch noch ein Hotel suchen müsste. Mit einer Spur Zweifel klingelte ich.

Mit einem freundlichen Lächeln öffnete er die Tür, machte sie weit auf und bat mich hinein. Mit klopfenden Herzen betrat ich die Wohnung. Axel winkte mich an zwei Koffern vorbei, die den Zugang halb versperrten. Statt, wie befürchtet, danach auf abgenutzte Ikea-Möbel und nicht entsorgte Pfandflaschen zu stoßen, erwartete mich eine geschmackvoll eingerichtete und offenbar auch liebevoll gepflegte Wohnung. Sie wirkte einladend gemütlich. Vermutlich teure Designermöbel, Kunstwerke an den Wänden und weiche Teppiche schafften eine angenehme Atmosphäre. Die Bilder allein hatten wahrscheinlich mehr gekostet, als die gesamte Wohnungseinrichtung von Hannah und mir. Hannah hat auch ein Händchen für Gemütlichkeit und Harmonie, aber Axel war eindeutig besser.

»Wow, das ist wirklich schön. Es gefällt mir sehr.«, sagte ich beeindruckt zu Axel. Der nickte und lächelte: »Es freut mich, dass es dir gefällt.« Dann fuhr er fort: »Ich schätze es sehr, dass du siehst, was ich mir hier erschaffen habe. Das gibt mir die Sicherheit, dass du es auch würdigen wirst. Es freut mich, dass du die Wohnung bekommst.«

Ich sah mich noch etwas ungläubig um und musste erst einmal begreifen, dass ich hier tatsächlich für die nächsten Wochen wohnen durfte. Vielleicht konnte mir die angenehme Atmosphäre und die Schönheit dieser Wohnung helfen, mich von den Schatten zu befreien, die im Moment über mir lagen.

In der Ecke des Wohnzimmers stand ein edler Flügel, und ich konnte nicht widerstehen, meine Finger über die Tasten gleiten zu lassen. Obwohl ich nicht Klavier spielen kann, ertönte ein sanfter, wunderbarer Klang. Axel scheint ein Mann der Künste zu sein.

»Komm, ich zeige dir mal den Rest und dann muss ich dich allein lassen, denn mein Flieger geht in fünf Stunden. Ich habe noch viel zu tun.«

Auch der Rest der Wohnung war vom Feinsten. Die Küche war modern ausgestattet und auf der Arbeitsplatte standen neben einer teuren Kaffeemaschine einige Küchengeräte, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Die Schlafzimmermöbel sahen aus wie aus einem Designmagazin und das Badezimmer hatte den Charme einer exklusiven Wellnessoase.

Es war, als wäre ich in eine andere Realität eingetreten, in der alles ein bisschen perfekter und teurer ist.

Axel erklärte mir alles, zeigte mir, wo ich schlafen und meine Sachen lagern konnte. Wir handelten noch aus, wieviel ich bezahlen und wohin ich meinen Beitrag überweisen sollte. Ich fragte auch, was ich machen sollte, falls ich zu Hannah zurückkehre. Aber das schien mir zu diesem Zeitpunkt weit weg.

Am Ende stellte er mich kurz seiner Nachbarin vor. Auch sie war offen, freundlich und einladend. In meinen Augen war sie eine beeindruckend schöne Frau, ein paar Jahre älter als ich. Da wir noch auf dem Flur standen, schielte ich auf das Namensschild. Da stand auch ein Männername. Horst und Sabine Müller. Das beruhigte mich. Warum eigentlich, fragte sich zumindest eine Seite in meinem Kopf. Eine andere wusste warum. Ich gab der ›schönen Sabine‹, wie ich sie innerlich getauft hatte, meine Telefonnummer und wir verabredeten uns für kommende Wochenende zum Austausch bei einem Kaffee.

Dann hatte ich meine neuen Wohnungsschlüssel in der Tasche und die Gewissheit, dass ich heute Abend schon einziehen konnte.

Da Hannah später wahrscheinlich in ihrem Tanzkurs sein würde, wollte ich die Zeit nutzen, um meine schon gepackte Tasche aus unserer Wohnung zu holen. Das würde nur wenige Minuten dauern. Ich hatte keine Lust, ihr in dieser Atmosphäre zu begegnen. Ich brauchte jetzt auch ein bisschen Abstand. Ich hatte vorhin ein Café gesehen, gleich um die Ecke. Dort wollte ich noch eine Stunde sitzen und dann die Tasche holen.

Zwei Stunden später stand ich mit meiner Tasche wieder vor der Tür von Axel. ›Sollte ich klingeln oder meinen Schlüssel benutzen?‹ Zur Sicherheit klingelte ich, um Axel nicht zu erschrecken. Aber niemand öffnete. Axel war anscheinend schon weg. Also benutzte ich meinen Schlüssel und war mir bewusst, dass das ein ›Schlüsselmoment‹ war. Ein paar Minuten später saß ich auf dem weichen Sofa und ließ die Atmosphäre der Wohnung auf mich wirken. Innerlich wurde ich ein wenig ruhig. Die Gedanken an das Drama mit Hannah verblassten für einen Moment. Ich dachte, hier könnte ich wirklich zur Ruhe kommen, nachdenken und vielleicht einen klaren Kopf bekommen. Ob Axel wohl ahnte, dass er mir nicht nur ein Dach über dem Kopf gab, sondern auch einen Raum für neue Perspektiven?

Tag 2 - Samstag

Das erste Erwachen in einer fremden Wohnung kann etwas Unwirkliches haben. Die Morgenstrahlen, die durch die halbgeöffneten Vorhänge fielen, zeichneten Muster, die mir unbekannt waren. Das Bett fühlte sich anders an, der Geruch des Raumes war nicht vertraut und vor allem fehlte mir der Duft meiner Partnerin.

Ich dehnte und streckte Arme und Beine und ließ gleichzeitig meinen Blick durch den Raum schweifen. Hier, in Axels Wohnung, würde ich die nächsten Wochen verbringen - ohne Hannah. Es fühlte sich an wie ein Zwischenstopp in einem Leben, das gerade erst eine unerwartete Wendung genommen hat.

Mit einem Seufzer stand ich auf und beschloss, diesen Tag zu nutzen, um meinen neuen, provisorischen Alltag einzuüben. Ich machte mir einen Kaffee und trank ihn aus einer Tasse, die für mich nach neuem Porzellan roch. Allerdings bezweifelte ich, dass Porzellan neu riechen kann. Das war wohl eher ein Ausdruck meiner Fremdheit. Nach einem minimalistischen Frühstück machte ich mich daran, die Wohnung zu erkunden und ihr einen Hauch von ›meiner‹ zu geben.

Dabei stellte ich fest, dass ich noch etwas einkaufen musste. Axel hatte zwar viele Lebensmittel zurückgelassen, die ich verbrauchen sollte, aber meine Lieblings-Hafermilch und mein Lieblingsobst, Bananen und Äpfel, fehlten. Ich war froh über die Aufgabe und kümmerte mich um die fehlenden Utensilien.

Bei meiner Rückkehr mit einem vollen Rucksack sah ich schon von weitem, dass meine Nachbarin, die ›schöne Sabine‹ mit vollen Einkaufstüten vor dem Hauseingang stand und offensichtlich auf mich wartete. Sie hatte mich gesehen und war deshalb stehengeblieben. Ich lief etwas schneller.

»Hallo, Jona, schön, dass ich dich hier treffe. Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, morgen Nachmittag auf einen Kaffee bei mir vorbeizukommen?«

Sabine schien sehr interessiert an dem Kontakt zu mir. Sonst hätte sie wohl kaum noch zwei Minuten mit ihren schweren Taschen auf mich gewartet. Sie hätte ja auch erst abladen und mir dann oben Bescheid sagen können. Trotz dieser leichten Irritation freute ich mich über die Einladung und sagte gerne zu. Wir verabredeten uns für den frühen Nachmittag um 15:00 Uhr bei ihr. Ich sollte einfach kommen und klingeln.

Als ich in der Wohnung war und die Tür hinter mir zugezogen hatte, kehrte sofort das Gefühl von Alleinsein zurück. Nach dem Einräumen der Lebensmittel versuchte ich, die eigenartige Leere in der Wohnung mit Musik zu füllen, aber jeder Song erinnerte mich an Hannah. Deshalb schaltete ich bald wieder ab.

Ich versuchte mich etwas mehr auf die Wohnung einzulassen, aber nichts von all den liebevollen Details lockte mich, nicht einmal der Flügel schaffte es, meine Distanz zu überwinden. Erst die Bücherregale von Axel weckten mein Interesse. Diese Vielfalt schaute ich mir etwas genauer an. Beim Überfliegen der Buchrücken blieb ich an einem Regalabschnitt hängen, in dem nur Bücher über Paare und deren Probleme standen.

›Aha‹, dachte ich, ›Axel hatte wohl auch mit einer Beziehung zu kämpfen. Dass er hier allein lebt, ist wohl nicht ganz zufällig.‹

Ich griff einen kleinen Stapel heraus und schaute mir die Buchdeckel an. Sachbücher über Beziehungen hatten mich nie interessiert. Die hielt ich bisher für überflüssig, aber jetzt war etwas von dieser Skepsis verschwunden. Konnten die mir helfen? Ein Buchtitel sprach mich an: ›Beziehung retten oder rennen?‹ Auf der einen Hälfte des Covers waren zwei lächelnde Herzen ineinander verschränkt und auf der anderen Seite des Buchdeckels rannte eine Person mit weiten Schritten in die Ferne. ›Retten oder rennen?‹ Das war auch mein Thema. Wenn sich unsere schlechten Momente mal wieder endlos aneinandergereiht hatten, hatte ich öfter darüber nachgedacht, ob ich mit der falschen Frau zusammen war. In unseren guten Momenten war mir der Gedanke nie gekommen.

Ich legte die anderen Bücher beiseite und blätterte in ›Retten oder rennen?‹. Es vom Anfang an zu lesen, erschien mir zu aufwendig, vielmehr hoffte ich auf Zufallserkenntnisse. Im letzten Teil solcher Bücher werden die schlauen Tipps oft zusammengefasst, also blätterte ich weit nach hinten und ließ mich dabei vom Zufall lenken. Meine Augen wanderten über den Text, bis sie von einer Formulierung festgehalten wurden. Der Verfasser redete, offenbar mit erhobenem Zeigefinger, zu seinem Leser: »Wenn ihr das Buch bis hierher gelesen habt, wisst ihr, dass sich die guten Momente in eurer Beziehung nicht von allein einstellen. So etwas kann hin und wieder auch zufällig entstehen, aber als Paar müsst ihr euch aktiv um gute Momente kümmern. Nur gute Momente können eure Beziehung retten. Wenn ihr beide nicht in die Lage kommt, solche Zeiten zu schaffen, könnt ihr genauso gut gleich das Weite suchen.«

Ich war an der richtigen Stelle gelandet und hatte die Zusammenfassung gefunden. Diese Aussage überraschte mich, das hatte ich nicht gewusst. Ich war bisher fest davon überzeugt, dass gute Momente von allein geschehen. Einfach weil ich mit der richtigen Frau zusammen bin. Weil ich sie liebe, und so weiter. Offenbar reichte das nicht aus. ›Ist das der Stoff, den man auch mit einer KI lernt?‹, fragte ich mich. Jetzt war ich interessiert, was der Verfasser an weiteren Erkenntnissen von sich gab.

Der Text mit dem erhobenen Zeigefinger ging weiter. Ich las den nächsten Punkt laut vor: »Macht nie den Fehler, eure Beziehung nur an ihren schlechten Momenten zu messen. In jeder Paarbeziehung gibt es schlechte Zeiten. Alle Paare können einander bis ins Mark verletzen. Aber wenn das ständig passiert, macht ihr etwas falsch. Ihr solltet eure Beziehung an dem Verhältnis zwischen guten und schlechten Momenten beurteilen. Betrachtet dazu einen etwas längeren Zeitraum von mindestens eine Woche. Stellt euch eine Waage vor, bei der auf der einen Waagschale die guten Momente liegen und auf der anderen die belastenden Momente. Schlägt die Waage zu der belastenden Seite aus, ist eure Beziehung in Gefahr. Die einzige Möglichkeit zur Rettung besteht darin, die andere Seite mit mehr guten Momenten zu füllen. Gelingt euch das, ist es zweitrangig, was sich konkret auf der schlechten Seite abspielt.«

Der zweite Absatz war ebenfalls neu für mich. Ich hatte schon beobachtet, dass alle Paare Probleme haben. Aber ich hatte es mir damit erklärt, dass die zwei an der Problemstelle nicht so gut zueinander passen. So wie ich es auch bei Hannah und mir in den schlechten Zeiten übersetzt habe: wir passen nicht zusammen.

Puh, harter Stoff. Mehr wollte ich nicht lesen, aber ich stellte das Buch so hin, dass ich es schnell finden konnte.

Vermutlich hatte ich noch einiges vor mir, aber ich war dazu bereit. Ich musste und wollte aus meiner gewohnten Routine raus. Die hatte mich hierher geführt, und obwohl ich die Wohnung schön fand, wusste ich, dass ich nicht hierher gehörte. Ich freute mich auf die KI, die ich bestellt hatte. Sicher, weil sie eine Lösung für die Spannungen mit Hannah versprach, vielleicht auch, weil sie einen neuen Fokus für meine Aufmerksamkeit bot, und mich von der schmerzhaften Leere ablenken konnte.

Später am Abend führte ich einige Telefongespräche. Zuerst mit meinen Eltern und dann mit einigen Freunden. Meine Eltern wussten bereits, dass in der Beziehung mit Hannah etwas schief läuft. Keine Ahnung, wer sie informiert hatte. Aber sie fragten nur kurz, wie es mir geht und ließen mich dann in Ruhe, als sie merkten, dass ich nicht sehr gesprächig war. Meine Freunde rieten mir, Geduld zu haben, in Ruhe darüber nachzudenken und versuchten, meine Hoffnung zu stärken, dass alles gut werden würde. Auch hier versuchte ich, die Gespräche kurz zu halten. Vielleicht, weil ich nicht gerne über diese ›Niederlage‹ sprechen wollte.

Als ich dann später im Dunkeln unter der Bettdecke lag, starrte ich auf die Lichtspiele an der Decke. »Hilfe ist unterwegs«, flüsterte ich meiner ängstlichen Seite zu, aber ich war mir nicht sicher, ob ich mir etwas vormachte. Ich hatte verstanden, dass ich etwas ändern musste und dass die Veränderung bereits begonnen hatte. Die KI sollte mir helfen, diesen Prozess in die richtige Richtung zu lenken. Ich hoffte, dass ich nicht zu spät damit angefangen hatte, mich und mein Leben kritisch zu hinterfragen.

Tag 3 - Sonntag

Hannah und ich hatten den Sonntag so oft wie möglich für uns reserviert. Es war unsere Zeit. Je nach Stimmung und Wetter unternahmen wir Ausflüge, machten lange Spaziergänge oder blieben lange im Bett und frühstückten dann erst spät. Manchmal verloren wir uns in Filmen oder Serien, manchmal zog es uns zu Freunden oder diese kreuzten bei uns auf. Heute war es für mich ein Tag der Stille, ich war allein.

Um dem zu entkommen, zog ich meine Laufschuhe an, die ich zum Glück eingepackt hatte und lief durch den nahe gelegenen Park. Die Bewegung half mir, meine Gedanken zu sortieren. Das Pochen meines Herzens übertönte für einen Moment die endlosen Schleifen von Sorgen und Traurigkeit. Zurück in der Wohnung, duschte ich und räumte sofort alles wieder auf, als wollte ich keine Spuren hinterlassen.

Bis zur Kaffeerunde bei Sabine war noch viel Zeit. Ich versuchte mich noch einmal mit dem Buch ›Retten oder rennen‹ abzulenken, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Vielleicht wollte ich auch gar nicht lesen, was da stand.

Etwas fehlte in meinem Leben. Wenn ich Fußballfan wäre, würde ich jetzt mit meinen Freunden im Stadion sein oder wenigstens auf einer Wiese selbst kicken. Wenn ich Motorfanatiker wäre, würde ich mit meinen Kumpels irgendwo herumfahren. Warum hatte ich so etwas nicht? Hatte ich der Beziehung zu viel Raum gegeben? Aber ich brauchte jetzt Ablenkung, da half nur die Glotze. So verbrachte ich die Zeit bis zum Nachmittag stumm vor dem flimmernden Bildschirm.

Kaffeerunde bei Sabine

Ein paar Sekunden nach meinem Klingeln öffnete Sabine die Tür und bat mich freundlich in die Wohnung. »Hallo Jona, schön, dass du dir die Zeit genommen hast, komm einfach hinter mir her.« Schon war sie auf dem Weg durch den langen Flur zu einer Tür, durch die das Sonnenlicht hell in den Flur schien. Ich folgte ihr und sah mich gleichzeitig vorsichtig um. Die Wohnung war nicht so durchgestylt wie die von Axel. Aber sie wirkte auf mich ansprechend und vermittelte das Gefühl, dass hier Menschen wohnten, die in einem angenehmen Sinn, manches nicht so ganz genau nehmen. Sabine und ihr Partner schienen sich auch ungern von lieb gewordenen Sachen zu trennen. Schon im Flur traf ich auf einen Mix von sehr altem Wohnungsinventar, wie der Flurkommode, und ganz aktuellen Einrichtungsgegenständen, wie einem indirekt beleuchteten Spiegel darüber. Sabine führte mich in ein großes, lichtdurchflutetes Wohnzimmer. Gleich daneben befand sich ein weiterer Raum, der durch eine weit geöffnete Schiebetür abgetrennt werden konnte. Darin stand ein Schreibtisch, voll ausgestattet mit einem großen Bildschirm und einem professionellen Bürostuhl. Es sah ein bisschen aus wie in meinem Büro. Nur, dass der Schreibtisch lediglich auf einer Seite einen Arbeitsplatz hatte. Im Wohnzimmer stand ein großer Esstisch aus Holz mit geschwungenen, sehr auffälligen Tischbeinen, sicher aus einer früheren Episode der Wohnkultur, genauso wie der ausladende Kronleuchter darüber. Das Kaffeegeschirr dagegen war bunt und hochmodern. Eine interessante Mischung. Zwei Plätze waren eingedeckt mit Serviette, einem kleinen Teller und Kaffeelöffeln. In der Mitte zwischen den zwei Gedecken stand eine Schüssel mit Knabberzeug. »Setz dich doch, Jona. Es ist egal, welchen Platz du nimmst. Ich nehme den anderen. Trinkst du Kaffee?«

»Ja, gerne. Kannst du einen Cappuccino machen?«

»Ja, das kann ich. Ich habe eine Maschine, die das kann. Natürlich nicht so eine wie die von Axel, mit der kann ich nicht mithalten. Aber mein Kaffee schmeckt auch ganz gut.«

»Ja, kein Problem. Ich bin nicht so verwöhnt, wie vielleicht Axel.«

Sabine grinste: »Das trifft allerdings für 90 Prozent der Normalbevölkerung zu. Axel ist eine echte Ausnahmeerscheinung.«

»Wenigstens rechnest du mich zur Normalbevölkerung, das tröstet mich.«

Ich hatte mich noch nicht hingesetzt, sondern war stehen geblieben. Das war mir im Moment angenehmer. So schlenderten wir beide gemeinsam in Richtung Küche, wo Sabine mit zwei Eingaben auf dem Bedienfeld die bereits aufgeheizte Kaffeemaschine in Gang setzte. Gleichzeitig griff sie meinen letzten Satz auf und antwortete, während sie noch eine Tasse aus dem Schrank holte: »Ich ahne, was dir gerade durch den Kopf geht. Ich bin eine Kollegin von Irma, wenn du dich erinnerst. Sie hatte mir die Geschichte mit deiner Beziehungspartnerin gleich brühwarm erzählt. Ich bin also bestens informiert und habe auch gehört, dass deine Hannah dich oft als nicht ganz normal bezeichnet hat.«

»Ach, noch nicht mal normal! Ich habe von ihr immer nur gehört, dass ich ein Fehlgriff bin und blind und taub für ihre Wünsche. Dass ich nicht ganz normal bin, höre ich jetzt zum ersten Mal.«

»Oh je, da habe ich wohl ins Fettnäpfchen getreten. Das war so nicht beabsichtigt. Entschuldige bitte, das hätte nicht passieren dürfen.«

»So erfahre ich wenigstens, wie meine Partnerin mich wirklich sieht. Das sollte sie mir eigentlich selbst sagen und nicht hinter meinem Rücken mit anderen besprechen.«

Sabine versuchte, die Situation zu retten: »Ich möchte nicht, dass du das in den falschen Hals bekommst. Das ist so ein bisschen wie Stille Post gespielt - von Hannah zu Irma, von Irma zu mir. Und eigentlich war unser Gesprächsthema die Wohnung. Vielleicht habe ich da nicht mit hundertprozentiger Aufmerksamkeit zugehört. ... Und wie waren du und ich gerade auf das Thema ‚Normalität‘ gekommen? Über Axels besonderen Geschmack. Können wir das vielleicht als Missverständnis abtun? Ich würde ungern mit schlechtem Gewissen ins Bett gehen.«

Sabine wirkte ein bisschen bedrückt, doch ihr Augenzwinkern verriet, dass sie die Sache mit dem schlechten Gewissen nicht allzu schwer nahm. Ich beschloss, der Sache keine größere Bedeutung beizumessen. Sabine hatte wohl nur halb zugehört und vielleicht etwas gehört, was nie gesagt worden war. Eigentlich wollte ich ja abschalten und nicht über Hannah und mich nachdenken. »Okay, dann spulen wir zurück bis zu dem Punkt, wo es um den Kaffee ging. Ich bin gespannt, ob deiner mit Axels mithalten kann.«

Mittlerweile waren beide Kaffees fertig, Sabine griff nach ihrem und steuerte den gedeckten Tisch an. Ich nahm meinen Becher und folgte ihr.

Der Kaffee schmeckte sehr gut und mein Lob freute Sabine sichtlich. So sprachen wir über Kaffeezubereitung, über die Bedeutung der Kaffeesorte, des Wassers und natürlich der Maschine. Sabine hatte statt Kuchen ein paar Nüsse und selbstgebackene, überraschend wenig süße Kekse bereitgestellt, was mir sehr entgegenkam. Mein Lob für die Kekse nahm sie mit einem Lächeln entgegen.

Das Gespräch verlief nun lockerer und ich hielt meine Neugier nicht mehr zurück: »Auf dem Klingelschild steht ›Horst Müller‹. Ist das dein Mann? Gehört der Schreibtisch da drüben ihm?« Ich nickte in Richtung des Arbeitszimmers.

»Ja, genau, das ist Horsts Reich. Er arbeitet meist von zu Hause aus und ist nur selten im Büro oder bei Kunden. Er ist in der Werbebranche tätig und macht das ziemlich gut.«

»Und wo ist er heute?«

»Er ist gerade bei einer Präsentation einer neuen Kampagne. Diese Treffen finden oft an Wochenenden statt, weil all die vielbeschäftigten Leute sonst wohl nie zusammenfinden würden. Vieles machen die auch über Online-Konferenzen, aber in dem Fall ging das nicht.«

Sabine fügte hinzu: »Und wenn er da wäre, könnten wir jetzt nicht so entspannt unseren Kaffee genießen.« Bei diesen Worten schien sie ein wenig verlegen und eine leichte Unruhe war nicht zu übersehen und irritierte mich: »Was ist los, Sabine? Du wirkst so nachdenklich.«

Sie schien innerlich hin- und hergerissen, als kämpften zwei Seelen in ihrer Brust. Wenigstens eine wollte nicht über ihre Gefühle und Gedanken reden. Eine andere anscheinend schon. Die andere gewann und Sabine sagte mit leiser, vorsichtiger Stimme: »Ich will dir nicht zu nahe treten. Ich möchte dir aber sagen, wie es mir mit dir geht. Als ich dich das erste Mal sah, hat mich etwas tief berührt. Ich mochte dich von der ersten Sekunde an, und seither drehen sich meine Gedanken immer wieder um dich. Wenn dir das jetzt schon zu viel ist, dann sag es mir. Ich höre dann sofort auf.«

Ich war sprachlos. Eine Liebeserklärung hatte ich am wenigsten erwartet. Sabine hatte mich bei unserer ersten Begegnung auch beeindruckt, ich hatte sie insgeheim sogar ›die schöne Sabine‹ genannt. Sollte ich ihr das jetzt gestehen? Allein der Gedanke löste einen Sturm in meinem Kopf aus. Pure Panik - wenn ich an die Zukunft meiner Beziehung mit Hannah dachte. Wenn ich Sabine jetzt die Hand reichen würde, wäre es aus zwischen Hannah und mir. Endgültig. Ich wusste, das wollte ich nicht. Also suchte ich nach einem Ausweg. Sollte ich es einfach dabei belassen und wortlos in die andere Wohnung zurückgehen? Irgendwie tat mir Sabine leid. Ich wollte sie nicht verletzen, aber ich wollte auch keine Frau in meine Nähe lassen. Ich wusste noch nicht genau, was ich sagen wollte, aber spürte, dass jeder Moment, den ich weiter schwieg, Sabine verletzte. Das wollte ich ihr nicht antun. Also versuchte ich es mit der Wahrheit.

»Sabine, du bist mir auch sofort aufgefallen, als wir uns das erste Mal getroffen haben. So eine Intensität von der ersten Minute an habe ich selten erlebt. Aber das ist mir erst so richtig bewusst geworden, als du angefangen hast, über deine Gefühle zu sprechen. Denn vorgestern war ich mit meinen Gedanken noch ganz woanders. Ich hatte dich zwar innerlich sofort ›schöne Sabine‹ getauft, aber alles andere ganz weit an den Rand geschoben.«

Sabines Blick war eine Mischung aus Hoffnung und Unsicherheit.

Ich fuhr fort: »Wären wir uns in einem anderen Abschnitt meines Lebens begegnet, hätte ich mich sofort um dich bemüht. Aber jetzt ist eine andere Zeit. Ich stecke in einer Beziehung, die für mich nicht abgeschlossen ist. Und ich habe überhaupt keine Kapazität für etwas anderes Intensives.«

Ich hob hilflos die Schultern und öffnete meine Hände nach oben. Hätte ich jetzt die Hände ausgestreckt, hätte Sabine es einfach geschehen lassen. Aber ich ließ die Arme angezogen und die Hände wieder sinken.

Sabine war einen Moment sprachlos, aber dann fasste sie sich und antwortete: »Danke, Jona, dass du so offen geredet hast. Danke auch, dass du die Intensität unserer Begegnung wahrgenommen hast. Nicht jeder nimmt so etwas wahr. Schön, dass du so sensibel bist.«

Jetzt war ich verlegen. Solche Worte hatte ich schon lange nicht mehr gehört, und sie berührten mich so, dass mein Widerstand für einen Moment zu schmelzen begann. Der Impuls, mich der Anziehung hinzugeben, wurde größer, bis die Vernunft mich wieder in den Griff bekam.

»Danke, es tut mir gut, das zu hören. Und ich bedauere mein Nein umso mehr, wenn ich dich so reden höre. Aber meine Vernunft siegt, zumindest in diesem Moment. Du faszinierst mich, und ich wünschte, wir hätten uns zu einem anderen Zeitpunkt getroffen.«

Sabine antwortete mit immer festerer Stimme: »Gut, das ist nicht leicht für mich, wie du sicher merkst. Aber es ist sicher vernünftiger, dieser Anziehung jetzt nicht zu folgen. Vielleicht bekommen wir keine weitere Gelegenheit mehr, aber dann ist es eben so. Man muss das Leben nehmen, wie es ist. Wer darunter leidet, macht etwas falsch.«

Sabine war noch etwas nachdenklich, dann fuhr sie fort: »Ich finde es gut, dass du so um deine Beziehung kämpfst. Das macht dich noch attraktiver für mich. Das ist nämlich ein Punkt, den ich bei meinem Horst oft vermisse. Der setzt sich oft nicht so entschieden und engagiert für unsere Beziehung ein.«

Mit einem inneren Lächeln dachte ich, dass Hannah an diesem Punkt genauso über mich denkt, wie Sabine über Horst.

Sabine stand auf, ging um die Tischecke herum und stellte sich neben mich. »Ich verspreche dir, dass ich deine Entscheidung würdige und dir nicht zu nahe treten werde. Ich bitte dich nur um eine Umarmung. Zehn Sekunden. Länger musst du nicht. Einverstanden?«

Ich stand auf und war innerlich völlig aufgewühlt: »Ja, gerne. Wir nehmen uns die zehn Sekunden, danke für den Vorschlag.«

Dann umarmten wir uns. Zuerst ganz vorsichtig, dann immer intensiver. Keiner schaute auf die Uhr. Vielleicht waren es zwei Minuten oder drei, und ein kleines Streicheln über das Gesicht war auch dabei. Und zum Schluss ein vorsichtiger Kuss auf die Lippen. Ganz zärtlich, ohne Drängen, beide hielten ihr Begehren im Zaum. Der Verstand kann so schrecklich sein.

Um nicht in größere Gefahr zu geraten, trennten wir uns. Ganz freundlich und ganz vernünftig.

»Was ist schon dabei, wenn man ab und zu bei der Nachbarin einen Kaffee trinkt«, sagte ich zu ihr und zu mir selbst, als ich aus der Wohnungstür trat, und sie bestätigte: »Nichts ist dabei, das ist normal.«

Ich drehte mich noch einmal um: »Manchmal wäre es einfacher, nicht normal zu sein.«

»Ja, dann wäre das Leben wild und gefährlich und so ist es ... normal.« Sie winkte mir noch einmal zu und schloss die Tür, mit einem Hauch von Traurigkeit in ihrem Gesicht.

Einen Augenblick später hatte ich eine zweite Tür zwischen uns geschlossen. Mit einem seltsamen Gefühl zwischen Last und Lust saß ich auf Axels Sofa und dachte über das Geschehene nach. Am liebsten hätte ich jetzt mit jemandem darüber gesprochen. Aber mit Sicherheit durfte ich mit niemandem darüber reden. Wer weiß, auf welchem Weg diese Information irgendwann bei Hannah oder bei Horst landen würde. Ich beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken.

Tag 4 - Montag - Der erste Kontakt

Auch die zweite Nacht in Axels Wohnung überstand ich einigermaßen gut. Ich ließ mich frühzeitig wecken, um mich hier am ungewohnten Ort mit genug Zeit auf die Arbeit vorzubereiten zu können.

Nach einem kleinen Frühstück machte ich mich fertig und begab mich in die U-Bahn. Ich musste mich konzentrieren, um nicht in die falsche Richtung einzusteigen und versuchte einigermaßen wach zu bleiben, um mein Ziel nicht zu verpassen. Ich hörte Musik und genoss die Erinnerung an die kurze Begegnung mit Sabine.