Kill Baxter. Showdown in Cape Town - Charlie Human - E-Book

Kill Baxter. Showdown in Cape Town E-Book

Charlie Human

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Beschreibung

Mit ›Kill Baxter‹ geht Charlie Humans wahnwitzige Urban-Fantasy-Serie aus Südafrika in die zweite Runde: »Völlig durchgeknallt und verdammt einfallsreich: die reine Freude.« SciFi Now Als Nachfahre südafrikanischer Mystiker hat Baxter die Kräfte seiner Ahnen geerbt. Um zu lernen, wie man damit umgeht, wird er nach Hexpoort verfrachtet, einer Schule für magisch begabte Teenager in der Nähe von Kapstadt, die verdächtig an Hogwarts erinnert (allerdings mit mehr Sex, Drugs, Rock 'n' Roll und schnellerem W-Lan). Doch das Leben als Zauberschüler ist alles andere als einfach. Dass er vom hiesigen Auserwählten schikaniert wird und es im Unterricht einfach nicht bringt, gehört noch zu seinen kleineren Problemen: Richtig schlimm wird es erst, als die Schule angegriffen wird und sein alter Freund Ronin auftaucht, um ihm aus der Patsche zu helfen ... ›Kill Baxter‹ ist ein irrwitziger Urban-Fantasy-Roman für alle Leser von Lauren Beukes, David Wong, Joseph Fink und Neil Gaiman.

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Seitenzahl: 438

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Charlie Human

Kill Baxter. Showdown in Cape Town

Roman

Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann

FISCHER E-Books

Inhalt

PrologPatientenakte: Aufnahmeverfahren Baxter Zevcenko1 Browserchronik2 Koboldklatsche3 Bahnsteigspiele4 Der Poort am Ende der Welt5 Eine Runde SanityMail von Bax an Kyle6 MumblerockMail von Bax an Kyle7 Hunde des Krieges8 Der Zauberlehrling9 Wahl der Waffen10 Agenten-Grim11 Hate Couture12 #Killbaxter13 Drache14 Nice Guys finish lastDanksagung

Ich stecke mir den Lauf der Waffe in den Mund. Ich habe alles verloren, was soll ich also noch hier? Das Karma ist scheiße. Das Karma schert sich nicht darum, dass ich mich ändern wollte. Das Karma gibt nichts auf gute Vorsätze.

Als Guter bin ich jämmerlich gescheitert. Ich bin derselbe fiese Charakter, der ich immer war, nur bin ich jetzt nicht mehr glücklich damit. Etwas einmal Gefühltes, kann man nicht ungefühlt machen. Die Welt ist gerettet, und ich bin trotzdem nicht mit mir im Reinen. Vielleicht gewöhnt man sich zu schnell daran; die Rettung der Welt muss jedes Mal spektakulärer werden, um denselben Dopamin- und Serotoninschub auszulösen wie die letzte. Helden sind einfach nur Junkies.

Ich habe alles zerstört, wofür es sich zu leben lohnte, also bleibt nur noch, mich selbst zu töten. Es heißt, Selbstmord sei selbstsüchtig und egoistisch. Also wie für mich gemacht. Alles erscheint jetzt so klar. Es wird super werden. Der Metallgeschmack der Waffe. Die Explosion. Das Vergessen. Ich kann es kaum erwarten.

Aufnahmeverfahrenfür Hexpoort Dokument XN03Sicherheitsstufe: Impi

Anwärter: Baxter ZevcenkoAlter: 16

Das Zulassungsgremium für Hexpoort erhielt durch den MK6-Agenten mit dem Codenamen Tone Kenntnis von Baxter. Wie bei jedem Studienanwärter sind seine Erbanlagen, seine magischen Fähigkeiten und seine Persönlichkeitsstruktur mit aller Sorgfalt zu prüfen. Das folgende Profil beruht auf der eingehenden Beobachtung des Betreffenden durch den MK6 und Interviews mit allen an dem Fall Beteiligten.

 

Vorgeschichte

Baxter ist ein Sonderfall. Genetisch ist er ein seltsames Zwitterwesen, das Erbanlagen der Siener, jener südafrikanischen Mystiker, die hauptsächlich während der Burenkriege in Erscheinung traten, und der Schwarzen Schwingen, gestaltwandelnder Riesenkrähen, in sich vereint.

Wir gehen davon aus, dass Baxter bereits von seinem Großvater, »Grandpa Zev«, von der Existenz der Schwarzen Schwingen erfuhr, dem aber zunächst keinen Glauben schenkte. Grandpa Zev ist ebenfalls ein Nachfahre der Siener, jedoch ohne deren Fähigkeiten. In Baxter sind die seherischen Kräfte der Siener dagegen vollständig ausgebildet.

Mit Baxters Abstammung verhält es sich jedoch noch komplizierter. Die zentrale Figur in Baxters seltsamer Geschichte ist Kobus »Mirth« Basson, der abtrünnige frühere Leiter des MK6, der die Organisation für seine eigenen verbrecherischen Zwecke zu missbrauchen versuchte. Basson selbst war zum Teil Krähe, und alles spricht dafür, dass er die Absicht hatte, zwei urzeitliche interdimensionale Gefährte unter seine Kontrolle zu bringen, deren Energien Risse in Raum und Zeit öffnen konnten.

Es gab Spekulationen, beide Gefährte hätten ursprünglich als Gefängnisse für zwei ältere Götter gedient, was die anschließende Untersuchung jedoch nicht bestätigte. Ungeachtet ihrer tatsächlichen Vorgeschichte hatten die Gefährte zweifellos ungeheure Kräfte und stellten in Bassons Händen eine beispiellose Bedrohung für die Menschheit dar.

Baxter hätte Basson den endgültigen Zugriff auf die Raum- und Zeitreisefähigkeit der Gefährte sichern sollen. Unserer Ansicht nach ist Baxter selbst das Produkt einer Veränderung des Zeitkontinuums durch Basson, die dem Ziel diente, eine ideale Verquickung von Krähe und Siener zu schaffen, ein Mischwesen, das mächtig genug war, dieses interdimensionale Gefährt zu steuern. Zu diesem Ziel entführte Basson Baxters Freundin Esmé, gab sich als sein Psychiater aus und konnte Baxter für kurze Zeit sogar einreden, ein Serienkiller zu sein.

Die Ereignisse kulminierten in einer Schlacht in einer alternativen Dimension, in deren Verlauf Basson den Tod fand und die dortige Version von Kapstadt vollständig zerstört wurde – für den MK6-Blutkral ein vertretbarer Kollateralschaden bei der Eliminierung eines derart gefährlichen Renegaten.

 

Psychologisches Profil

Aus dem genetischen Erbe von Krähen und Sienern erwächst bei Baxter eine extreme seelische Zerrissenheit.

Baxters Psyche weist deutliche Züge der sogenannten Dunklen Triade von narzisstischen, machiavellistischen und psychopathischen Persönlichkeitsanteilen auf, die er als Kopf einer Highschool-Gang auslebte, die unter dem Namen »die Spinne« einen schwunghaften Pornohandel betrieb.

Erst die Entführung seiner Freundin Esmé machte ihn für die Idee empfänglich, auf die Seite der Guten zu wechseln. Ob diese Veränderung seiner Persönlichkeitsstruktur von Dauer ist, bleibt abzuwarten, doch eine Kommission von Psychologen des MK6 geht davon aus, dass er bald in frühere Verhaltensmuster zurückfallen wird. Die wahre Natur lässt sich nicht verleugnen.

 

Einsatzbeurteilungen

Alle Agenten, die mit Baxter während des Basson-Vorfalls in Kontakt kamen, wurden intensiv befragt. Beigefügt sind die Stellungnahmen der drei Agenten, die am engsten mit ihm zu tun hatten.

 

Agent: Jackie Ronin

Anmerkungen: Agent Ronin arbeitet als paranormaler Kopfgeldjäger und bewegt sich in dieser Eigenschaft häufig in der Verborgenen-Community. Er wurde wiederholt wegen unverhältnismäßiger Gewaltanwendung und Alkoholmissbrauch suspendiert und hat in seiner Akte mehr Verwarnungen, Abmahnungen und Disziplinarverfahren als jeder andere Agent in der Geschichte des Mk6. Nach Auffassung dieses Komitees leidet er nach seinen Erlebnissen im Grenzkrieg während der Zeit der Apartheid an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Stellungnahme: »Baxter? Warum fragen Sie den kleinen Scheißer nicht selbst? Ja, ja, schon gut. Er kann sich selten dämlich anstellen, aber der Junge hat Potential. Er ist bloß gefühlsmäßig hin und her gerissen, manchmal kann man an seinem Gesicht ablesen, wie seine zwei Seiten es innerlich auskämpfen. Falls er den Scheiß, der in seinem Kopf vorgeht, irgendwann geregelt kriegt, ist er nicht zu unterschätzen.«

 

Agentin: Dr. Pat (a.D.)

Anmerkungen: Pat leitet das Refugium, eine Einrichtung, die verfolgte und bedrohte Verborgenen-Geschöpfe aufnimmt. Ihre Akte enthält zahllose disziplinarische Abmahnungen, da sie immer wieder die Bedürfnisse der Verborgenen über ihre Aufgaben als Agentin stellt.

Stellungnahme: »Ein ganz reizender Junge, aber er hat den Kopf verdammt voll. Die Verbundenheit zwischen ihm und Klipspringer, einem Ndirdu-Bock-Boy, den er im Refugium kennenlernte, war ganz außergewöhnlich, denn Klipspringer mag nur wenige Menschen.«

 

Agentin: Katinka

Anmerkungen: Ein Mitglied der rein weiblichen Verborgenen-Rasse, die unter dem Namen »die Schar« bekannt ist. Katinka wurde mit männlichem Geschlecht geboren und entkam nur um Haaresbreite der Exekution. Heute lebt sie als Transsexuelle in Kapstadt und ist Gegenstand einer erbitterten politischen Kontroverse zwischen der Schar und dem MK6.

Stellungnahme: »Ein cooler Junge, der jede Menge Power in seinem hübschen Köpfchen hat. Und wenn er nicht so hart mit sich ins Gericht ginge, würde er begreifen, dass er nicht halb so verdorben und hardcore ist, wie er denkt. Aber sagen Sie das mal einem Teenager!«

 

Abschließende Empfehlung: Das Komitee nimmt Baxter unter Vorbehalt als Studenten der Magischen Lehranstalt Hexpoort an. Er scheint seine Kräfte bislang nicht vollständig im Griff zu haben; manchmal navigiert er seine Sehergabe mit großer Zielgenauigkeit, scheint sie aber bei anderen Gelegenheiten gar nicht abrufen zu können.

Daher möchten wir empfehlen, Baxter zum frühestmöglichen Termin genauer zu testen. Die ständige Spannung, unter der Baxter aufgrund seiner genetischen Disposition steht, kann ebenso gut zu einer vollständigen, permanenten Blockade seiner Kräfte wie zu einer Explosion seiner magischen Fähigkeiten führen. In jedem Fall ist im Umgang mit ihm äußerste Vorsicht angeraten.

1Browserchronik

Mein viertes Meeting bei den Anonymen Pornographen, und immer noch werde ich das Gefühl nicht los, die Welt sei mir etwas schuldig – ungeachtet der zahllosen Male, die ich »mich geöffnet«, »in mich hineingefühlt« und »Reue bekundet« habe, wozu ich im Rahmen meiner Rehabilitation gezwungen bin.

»Guten Morgen, liebe alle«, sagt Harold Emly, zwanghafter Masturbator, geläuterter Pornosüchtiger und Leiter dieser kleinen Gruppe von Aficionados bewegter Sexbilder. Harold hat ein großes Mondgesicht und rotblonde Haare, die an den Schläfen weiß werden. Er trägt ein limettengrünes Golfhemd und hat einen Glitzerstecker im linken Ohrläppchen. Er kaut beim Reden an den Lippen, wodurch er etwas nuschelt, als sei er bei seinem vierten Glas billigem Roten. Harold war mal ein berühmter Sportreporter und Liebling der Nation, bis er in Ungnade fiel, weil er versehentlich das Mikrophon anließ, während er in der Werbepause seiner bevorzugten Zwangsstörung nachgab und die südafrikanischen Kricketfans mit einer kurzen, aber lautstarken Darbietung erfreute.

»Guten Morgen, Harold«, intoniert der Rest der Gruppe feierlich und eröffnet damit das Meeting. Ich sehe sie lächeln und solidarisch nicken, und eine Welle von Ekel überrollt mich. Die Anonymen Pornographen haben mich in ihren schwiemeligen, schwitzigen Kreis aufgenommen und betrachten mich als einen der Ihren. O Gott.

Dabei sollte ich als Held gefeiert werden. Ich sollte Zeitungsinterviews geben und Angebote konkurrierender Buchverlage abwägen, während B-Promis mich oft genug retweeten, um mir damit eine solide Fanbasis in den sozialen Medien aufzubauen. Ich müsste längst mein eigenes Mem haben, verfickt und zugenäht.

Stattdessen begegnet mir die Welt mit massivem Undank. Ich erwarte ja keine Heldenverehrung, aber ich habe immerhin meine inneren Dämonen besiegt, ich habe in einem Gefährt, das ursprünglich als Gefängnis für einen Älteren Gott diente, eine interdimensionale Schlacht gewonnen und schließlich die Welt vor dem sicheren Untergang bewahrt. Und? Interessiert es die Welt? Die traurige Antwort darauf ist nein. Nicht die Bohne. Jetzt weiß ich, wie Jesus und Ultraman sich gefühlt haben müssen.

Ich reibe den Stumpf meines kleinen Fingers. Das ist zu meiner typischen Handbewegung geworden: voller Ressentiment über den verstümmelten Finger reiben und daran denken, was die Welt mir schuldig ist.

Als ich hochschaue, sieht mich der Rest der Gruppe an. Es wird gemunkelt, ich hätte mir selbst den Finger abgeschnitten, um mich am Wichsen zu hindern. Sie nicken verständnisvoll, und ich lasse hastig den Fingerstumpf los.

»Baxter«, sagt Harold und beugt sich auf seinem Stuhl so weit vor, dass der goldene Tierkreiszeichen-Anhänger um seinen Hals hypnotisch zu schwingen beginnt. »Willst du heute nicht den Anfang machen und der Gruppe von dir erzählen?«

Ja, warum spreche ich mich nicht aus? Vielleicht sollte ich ihnen erzählen, dass ich keine Chance hatte, an einer neuen Schule angenommen zu werden, obwohl ich mir alle Mühe gegeben habe, mich zu verändern? Die Anonymen Pornographen sind nur die Spitze des Eisbergs. Ich war bei diversen Psychologen, die alles Mögliche von bipolarer Störung über ADHS bis zur posttraumatischen Belastungsstörung an mir diagnostizierten. Man hat mir ein komplettes Regenbogenspektrum von Medikamenten gegen meine Probleme verschrieben. Allerdings halte ich mich damit zurück. Seit mein letzter Psychologe mir einzureden versuchte, ich sei ein Serienmörder, und mich anschließend mit Hilfe eine Riesenoktopus-Exoskeletts umbringen wollte, wird man mir sicher nachsehen, wenn ich ein wenig skeptisch bin.

Ich gebe zu, dass ich mich ändern muss, aber Pornographie war nie mein Problem. Ich bin Geschäftsmann, und Pornographie war eben mein Produkt. Die Droge, von der ich loskommen muss, ist Manipulation. Dummerweise habe ich in der letzten Zeit so etwas wie Empathie und Verantwortungsbewusstsein entwickelt, was meinen übrigen Persönlichkeitsanteilen vollkommen widerspricht.

Ich giere nach Manipulation wie ein Junkie. Es juckt mich in den Fingern, neue Marionetten zu bewegen. O Gott, was gäbe ich für eine letzte Runde Strippenziehen.

Allerdings habe ich jetzt ein Gewissen, das mich daran hindert, meine früheren manipulativen Machenschaften wieder aufzunehmen. Was es nicht einfacher macht. Gute Vorsätze im Alltag durchzuhalten ist wie im Donutladen zu arbeiten, wenn man abnehmen will.

Was mich bei der Stange hält, ist, dass Esmé mich neuerdings »nobel« findet, und sei es nur, weil ich einen parasitären Arachniden, der ihr Denken kontrollierte, von ihrem Hirnstamm entfernt habe. Egal, ihre Meinung bedeutet mir etwas.

Aber es ist hart. Mein Held Niccolò Machiavelli würde mich auslachen, denn wie sagte er so richtig: »Jemand, der es darauf anlegt, in allen Dingen moralisch gut zu handeln, muss an einem Haufen, der sich daran nicht kehrt, zugrunde gehen.« Amen, Niccolò – allerdings nehme ich stark an, dass Machiavelli, anders als ich, auch keinen Buren-Mystiker auf der Schulter hocken hatte, der zu allem seinen Senf dazugibt.

»Baxter«, sagt Harold auffordernd.

Ich habe mir wirklich alle Mühe gegeben, ihre Selbsthilfespielchen mitzuspielen, aber heute ist Schicht. »Ich hab mit Pornos gehandelt«, sage ich genervt. »Und zwar sehr profitabel. Aber dann wurde ich von dem Sklaventreiber in meiner Brust dazu gepresst, auch an andere zu denken. Ich wurde von einem Riesenoktopus in eine andere Dimension gezerrt und habe ihn gekillt, ehe er die Welt zerstören konnte.«

»Ja!«, sagt Harold. »Ja, ja, ja! Wer von uns kämpft nicht täglich mit dem Riesenoktopus Pornographie, der uns in eine andere Dimension zerren will?« Aus der Gruppe murmelt es zustimmend. »Mag sein, dass die Welt dir ihre Anerkennung schuldig bleibt, Baxter, aber wir nicht. Heute ist dein Dreimonatsjubiläum. Du hast dir die Ehre verdient, das hier zu tragen. Dreimal Hoch auf Baxter!« Unter dem Applaus der anderen überreicht er mir einen Schlüsselanhänger aus gelbem Plastik mit dem Aufdruck ANONYME PORNOGRAPHEN.

»Wow, danke«, sage ich und lasse den Schlüsselanhänger in der Tasche verschwinden.

Den Rest des Treffens verbringe ich in einem Dämmerzustand, aus dem ich gelegentlich auftauche, um halbherzig mitzuklatschen, wenn jemand seine abseitige kleine Pornogeschichte zum Besten gibt.

Schließlich sprechen wir das AP-Gelassenheitsgebet und beenden damit die Runde. »Gott gebe mir die Kraft, Safe Search zu benutzen, die Gelassenheit anzuerkennen, dass das Löschen der Browserchronik es auch nicht besser macht, und die Weisheit, zu verstehen, dass kein Mensch den Playboy wegen der Artikel liest, et cetera et cetera. Kumbaya!«

Das Meeting endet, und ich schlurfe, die Hände in den Taschen meines schwarzen Hoodies, zum Ausgang.

»Baxter?«, ruft Harold und kommt hinter mir her gewatschelt. Ich wische mir das Haar aus dem Gesicht, rücke meine Brille zurecht und widerstehe dem Impuls wegzurennen.

»Gut, dass ich dich noch erwischt hab!«, sagt Harold. »Ein paar von uns AP-lern bleiben im Anschluss noch zu einer anderen Gruppe. Ich glaube, es könnte dir guttun, wenn du auch dazukämst.«

»Ist das sowas wie ein Fight Club für Pornosüchtige?«, frage ich. »Daran hab ich nämlich wirklich kein Interesse.«

»Ha ha. Nein, nein«, sagt Harold und boxt mir leicht gegen die Schulter.

»Wird mir das auf die gerichtlich angeordnete Therapie angerechnet?«

Harold überlegt eine Sekunde. »Tja, ich denke, ich könnte es als reguläre Therapiestunde abzeichnen.«

»Okay«, sage ich. »Na schön. Dann bin ich dabei.« Pornotherapie ist wie ein Pflaster – am besten in einem Rutsch runterreißen.

Harold grinst breit und tätschelt mir die Schulter. Ich versuche, nicht daran zu denken, wo diese Hände vorher waren. »Es wird dir gefallen, Baxter. Da bin ich sicher.«

»Das bezweifle ich stark«, sage ich.

Harold geleitet mich zurück in den Kreis verkratzter Plastikstühle, und ich sinke auf einen davon, während sich über mir eine Wolke der Resignation und Verzweiflung zusammenballt. So hatte ich mir mein weiteres Leben nicht vorgestellt.

Einer der AP-ler – er heißt Tom, glaube ich – ist ebenfalls noch geblieben. Ich hab schon diverse Storys von seinen sexuellen Vorlieben über mich ergehen lassen, also ignoriere ich seine Anwesenheit.

Nach und nach trudeln neue Leute ein. Harold begrüßt jeden mit einem Handschlag oder einer Umarmung und hakt Namen auf einer Liste ab. Der Stuhlkreis füllt sich.

»Schön, ich denke, wir sind komplett«, sagt er. »Ich möchte euch alle willkommen heißen und auch einen Neuzugang herzlich begrüßen. Baxter Zevcenko ist ein junger Mann aus einer anderen Gruppe, von dem ich sicher bin, dass er bei uns genau richtig ist. Er erfüllt zwar die Kriterien nicht, aber ich habe das Gefühl, sein Verlusterlebnis kommt unserem sehr nahe. Begrüßen wir Baxter herzlich in unserer Mitte.«

Die Gruppenmitglieder beginnen über dem Kopf mit den Fingern zu schnippen und in einem schrägen, synkopierten Rhythmus mit den Füßen zu stampfen. Mitglieder einer ominösen Sekte, ganz eindeutig.

»Willkommen im Allerheiligsten, Baxter«, sagt Harold stolz. »Obwohl wir keinen offiziellen Namen haben, nennen wir uns ›Die Gefallenen‹. Wir waren fast alle gut im Geschäft: Medienpersönlichkeiten, freie Unternehmer, Ärzte und Anwälte. Was wir alle gemeinsam haben, ist, dass wir in Ungnade gefallen sind. Wir haben die Gesellschaft so vor den Kopf gestoßen, dass wir für alle Zeiten zu einer Randexistenz verdammt sind. Wir sind die Ausgestoßenen, die Zielscheiben von tausend dummen Witzen und einer Million getuschelter Kommentare. Gruppe, würdet ihr euch vorstellen und sagen, warum ihr hier seit?«

»Tom Weston«, sagt der Typ, der nach dem AP-Meeting noch geblieben ist. »Ehemaliger Radio-DJ. Sexistische Sprüche im Nachtprogramm.«

»Darryl Melkin«, sagt ein schwarzer Typ in Skinnyjeans mit dicker Brille. »Posterboy für Geek-Chic und Autor populärwissenschaftlicher Bestseller. Plagiarismus und gefälschte Zitate. Oh, und Malcolm Gladwell ist nicht mal ein ordentlicher Wissenschaftler und soll sich mit einem rostigen Nagel ins Knie ficken.«

»Darryl.« Harold spricht in väterlichem Ton. »Du weißt, was wir dazu gesagt haben. Das geeignete Ventil für unseren Hass ist unsere Kreativtherapie.«

»Kompliment an Malcolm Gladwell für seine stark erzählten Stories, die die breite Öffentlichkeit nicht überfordern. Ich freue mich über seinen Erfolg«, sagt Darryl zähneknirschend.

»Schon besser«, erwidert Harold mit einem Lächeln.

»Sissy van der Spuy«, sagt eine lange Blondine, die sich dabei die Lippen nachzieht. »Ich hab einen rassistischen Witz getweetet. Aber ich bin keine Rassistin, ich kenne viele Schwarze.«

»Ja, natürlich, Sissy«, sagt Harold und tätschelt ihr die Schulter.

Und weiter geht’s in der Runde. Allesamt Leute, die sich danebenbenommen haben und dafür von der Gesellschaft abgestraft wurden.

»Du siehst also«, sagt Harold und breitet weit die Arme aus. »Wir sind hier alle gleich. Das Internet hat sein brutales, grausames, empörtes Auge auf uns gerichtet. Die Welt hasst uns. Aber zumindest sitzen wir hier alle im selben Boot. Als ich deinen Geschichten zuhörte, wurde mir klar, dass du im Grunde genau wie wir bist. Auch du hast deine Stellung in der Welt verloren.«

Ich bin kein bisschen wie diese Menschen. Ich bin KEIN BISSCHEN WIE DIESE MENSCHEN.

»Wir machen hauptsächlich Kreativtherapie«, sagt Harold. »Das traumatische Ereignis kreativ zu verarbeiten hat ein ungeheures Heilungspotential.«

»Ich habe die hier gemacht.« Sissy zeigt mir stolz ein Paar orange-weiß-blaue Ohrringe.

»Ich weiß nicht, ob Papiermaché-Ohrringe in den Farben der Flagge des alten Südafrika unbedingt die beste Therapie für jemanden sind, dem Rassismus vorgeworfen wird«, sage ich.

Daryll hebt einen Finger. »Da irrst du dich. Es spielt keine Rolle, ob etwas falsch oder unangemessen ist. Es ist emotional befreiend; es wirkt entgiftend.« Er hält ein wunderschönes Bild von Malcolm Gladwell mit brennendem Haar und blutenden Augen hoch.

»Ah ja«, sage ich. »Verstehe.«

»Soweit ich weiß, ist das deine letzte Sitzung, bevor du in deine neue Schule aufbrichst. Ich rate dir dringend, deine Frustration in irgendein Projekt zu kanalisieren. Vielleicht hilft dir die volle Konzentration auf deinen Lernstoff?«, sagt Harold.

»Okay«, sage ich müde und wünsche mich nur noch so weit weg von dieser Gruppe wie möglich. »Ich werde es versuchen.«

/ / /

Ronin ist tief in den Fahrersitz des Cortina gerutscht und macht sich mit einem Messer die Fingernägel sauber. »Mein Gott, wofür hast du so lange gebraucht? Bist du endlich kuriert? Oder soll ich noch warten, während du dir im Gebüsch schnell einen runterholst?«

»Danke, nicht nötig«, sage ich. »Außerdem ist man von einer Sucht offenbar nie kuriert. Man ist immer nur genesend.«

Der Kopfgeldjäger ist zu einem engeren Freund geworden, als ich mir je vorgestellt hätte. Dass er mir geholfen hat, Esmé zu retten, spielt dabei natürlich eine große Rolle. Aber er ist auch der Einzige, mit dem ich über all die seltsamen kreuchenden, krabbelnden, kreischenden Wesen reden kann, die sich in den Bauch von Kapstadt krallen. Außerdem hat er immer Drogen und Alkohol dabei.

»Na, besser du als ich«, sagt er. »Es würde mich zum Wahnsinn treiben, in einer Gruppe mit lauter sabbernden Schwachköpfen rumzusitzen.«

»Ich dachte, Acid, Alk und Monster hätten dich längst in den Wahnsinn getrieben?«

Er schürzt die Lippen und nickt. »Stimmt. Wo wir gerade beim Thema sind.« Er trinkt einen Schluck aus seinem Flachmann. »Ich hab selbst eine kleine therapietechnische Ansage zu machen. Das ist mein letzter Schluck Alkohol. Für jetzt und alle Zeit.«

»Der ist gut«, sage ich.

Er mustert mich mit dem Serienmörderblick, den er normalerweise nur einsetzt, um kleine Kinder zu erschrecken. »Sehe ich aus, als würde ich scherzen?«

»Du gibst das Trinken auf?«, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ja, ich dachte, ich sollte vielleicht doch versuchen, mein Leben zu ändern. Seit ich wieder mit Sue zusammen bin, mache ich mir meine Gedanken, über die wirklich wichtigen Dinge im Leben.«

»Kann ich nachvollziehen. Du sprichst mit jemandem, der weiß, was die Liebe anrichten kann«, sage ich. »Aber was war der Auslöser?«

Er zuckt die Schultern. »Sie ist weg auf Schmuggeltour, und ich will trocken sein, wenn sie zurückkommt.«

»Warum? Sie säuft genauso viel wie du, wahrscheinlich mehr.«

»Ich hab sie am Altar stehen lassen, weil ich vor was weggelaufen bin, weißt du, vor mir selbst und solchem Scheiß.« Er sieht mich an. »Na los, sag irgendwas Sarkastisches, wenn du dich traust.«

Ich halte meine Hände hoch. »Hatte ich nicht vor.«

»Ich hab sogar ein Buch gekauft.« Er klappt sein Messer zu, greift in seinen Trenchcoat und holt ein knallgelbes Taschenbuch heraus, auf dessen Titel ein grinsender Vollidiot mit erhobenem Daumen abgebildet ist: Ihr neues Ich: Tipps für ein glücklicheres, gesünderes Leben.

»Im Ernst?«

»So ernst wie Klötenkrebs, Sparky«, sagt er.

»Na dann viel Glück.« Ich nehme Ronin den Flachmann weg und setze ihn an den Hals. »Von dem solltest du dich dann vielleicht trennen.«

Er reißt ihn mir aus der Hand und schiebt ihn wieder in seinen Mantel. »Den behalte ich schön bei mir. Er soll mir eine stete Mahnung sein.« Er tippt sich an die Schläfe. »Paradoxe Intervention, Sparky.«

»Ah ja«, sage ich. Ich mache es mir auf dem Beifahrersitz gemütlich, als Ronin den Wagen startet. »Wo geht’s eigentlich hin?«

»Wir gehen einkaufen. Schulsachen für dich und Knarren für mich«, sagt er.

Wir kaufen Schulsachen, weil ich mich genötigt sah, Tones Angebot anzunehmen und mich in Hexpoort, einer Magischen Lehranstalt irgendwo am Ende der Welt, einzuschreiben. Ist zwar zum Kotzen, war aber meine einzige echte Option, weil ich andernfalls nähere Bekanntschaft mit dem südafrikanischen Strafvollzugssystem gemacht hätte. Hinzu kommt die Tatsache, dass meine Zukunft alles andere als rosig aussieht. Während andere Jugendliche in meinem Alter Praktika in Anwaltskanzleien und Medienhäusern ableisten, durfte ich wertvolle Erfahrungen darin sammeln, Elementare einzufangen und Spukgestalten zu bekämpfen.

»Wie ist Hexpoort eigentlich so?«, frage ich während der Fahrt. Ich hab versucht, es zu googeln, bin aber bloß auf eine ominöse Website gestoßen, ehe mein Laptop vor lauter Malware-Meldungen austitschte und der Browser abstürzte.

»Oh«, sagt Ronin, und mir entgeht nicht, wie er unwillkürlich das Gesicht verzieht. »Absolut okay, wirklich.«

»Ah ja.« Ein Tropfen eiskalter Furcht rinnt mir die Kehle hinunter und setzt sich in meinem Bauch fest. Wenn Ronin schon das Gesicht verzieht, muss es schlimm sein. Richtig schlimm.

Wir schlängeln uns durch den Verkehr, wobei Ronin die Verkehrsregeln wie üblich nur als grobe Orientierung betrachtet.

»Mein Gott, nimm doch mal den Fuß vom Gas«, sage ich und klammere mich ans Armaturenbrett. »Musst du immer so rasen?« Wenn ich die Apokalypse nur überlebt habe, um dann durch Ronins Kamikazefahrstil an der Leitplanke zu enden, würde mich das echt runterziehen.

»Ja«, knurrt er und erhöht leicht das Tempo.

»Wie ein Kind«, grummele ich, als wir über eine rote Ampel kacheln.

»Wo kaufen wir die Bücher und die Knarren?«, frage ich.

»Geheime Zone Vier.« Ronin schneidet ein Taxi und reagiert auf das wilde Hupen mit dem erhobenen Mittelfinger.

»Schmissiger Name«, sage ich.

»Ist nur der offizielle. Die meisten sagen einfach Freakhof dazu.«

Der Cortina gleitet in das Chaos um die Wynberg Station. Obstverkäufer und Trödler liegen mit Taxifahrern lautstark im Krieg. Ein Kerl mit Pitbull streitet sich mit einem mageren Securitymann, und zwei gewaltige nigerianische Bodybuilder lassen für die schwarzen Grazien beim Straßenfriseur ihre Muskeln spielen.

Wir fahren in eine Seitenstraße und halten vor einem alten Fabrikgebäude, auf dessen Fassade ein gemalter Riesenstiefel unter der Aufschrift »Osmans Schuhmanufaktur« prangt. Ronin lehnt sich auf die Hupe, und ein Obstverkäufer vor dem Gebäude winkt genervt und humpelt zu einer riesigen Plane, die vor dem Eingang hängt. Er wirft sie schwungvoll zur Seite. Ronin fährt vorsichtig mit dem Wagen durch und bremst nur kurz, um dem Obstverkäufer ein paar Münzen in die offene Hand zu drücken. Er quittiert es mit einem goldglänzenden Lächeln und komplimentiert uns hinein, als wären wir königlichen Geblüts.

Die Fabrikhalle ist riesig und leer bis auf Dutzende von Autos, die am Eingang parken. Ronin stellt sich neben einen silbernen Jeep, und wir steigen aus.

Wir gehen auf ein rotes Karo zu, das auf den blanken Beton gemalt ist. Ronin spuckt auf den Boden, schneidet sich mit dem Messer in den Daumen und chantet ein paar Sätze auf Xhosa. Ich schnappe irgendwas von »Blut« und »Sperre« auf. Er packt meinen Ärmelaufschlag und zerrt mich mit einem Ruck durch eine trübe, glasige Barriere, deren Existenz ich gar nicht wahrgenommen hatte. Es fühlt sich an, als ginge man durch eine Wand von Abwasser, und ich halte instinktiv den Atem an. Die Welt beginnt zu flimmern und zu funkeln wie bei einem drohenden Kreislaufkollaps. Die tanzenden Sternchen vor meinen Augen kristallisieren sich zu einem wogenden Ozean von Farben, Geräuschen und Gerüchen, wo vormals das verlassene Gebäude war.

»Nrrrrrrrgg«, murmele ich. Mir wird kurz flau, während mein Sehzentrum sich an die plötzliche Veränderung anpasst.

»Eloquent wie immer, Sparky«, sagt Ronin. »Man sollte meinen, du hättest dich an den Budenzauber mittlerweile gewöhnt.«

Habe ich nicht, ehrlich gesagt. Es tut immer noch weh, meine frischgebackenen Sienerfähigkeit einzusetzen, darum nehme ich möglichst Abstand davon. Außerdem habe ich eine gewisse generalisierte Angststörung in Bezug auf die Welt entwickelt. Nach den Erfahrungen im Kampf gehen Riesenkrähen und Mutanten erfasst mich immer öfter die düstere Ahnung, da draußen könne noch weit Schlimmeres lauern.

Wir schieben uns durchs Gedränge. Der Freakhof ist teils Markt, teils Spektakel, teils Einkaufsmeile. Ich sehe bärtige Zwergenkinder, die auf mürrisch guckenden Einhörnern reiten dürfen und einen Tokoloshe, der ein Bandana mit amerikanischer Flagge trägt und versucht, ein Trio stark geschminkter Elfenfrauen in Stilettos aufzureißen. Eine anthropomorphe Schlange in einem mexikanischen Poncho spielt mit verschrammter Klampfe und Mundharmonika für die Passanten.

Ein irgendwie link aussehender Zwerg nähert sich uns mit einer Handvoll Schmuck. »Auf der Suche nach echtem Zwergengold?«, murmelt er. »Ich mach euch einen Vorzugspreis, weil mir eure Nasen so gefallen.«

»Ein hübsches Stück«, sagt Ronin und dreht einen Goldring zwischen den Fingern.

Der Typ grinst und zeigt dabei zwei braune Kauleisten. »Nur vom Feinsten.«

Ronin zeichnet mit dem Finger einen Umriss über den funkelnden Schmuck in der Zwergenhand. Er beginnt zu schimmern wie in der Sonne schmelzende Eiscreme und offenbart sich dann als kleiner Haufen rostiger Schrauben und Bolzen.

»Ich glaube, wir verzichten«, sagt er.

»Fokken poes«, zischt der Zwerg, als er sich schnell verkrümelt.

»Fauler Zauber war früher allgegenwärtig«, sagt Ronin. »Aber das haben die Verborgenen unter sich reguliert. Mittlerweile beschränken sich solche Illusionisten auf die Arbeit für Banken und Krankenversicherungen.«

»Jungs?«, ruft eine helle Stimme.

Ich drehe mich um. »Pat?«

»Baxter!«, sagt sie und drückt mich fest, wobei sie mir unabsichtlich einen scharfkantigen Kristallohrring in die Wange bohrt. Sie packt mich an den Schultern und mustert mich mit ihren freundlichen Augen unter wippenden weißen Locken.

Pat leitet das Refugium, eine Sammelstelle für die seltsamen Wesen, die im Reich der Verborgenen leben. Sie war die Erste, die mir die Augen geöffnet hat für die abstruse Schönheit jener seltsamen Welt, in er ich jetzt lebe. Es existieren nämlich gleich etliche Rassen unheimlicher Kreaturen in den Zwielichtbereichen der Stadt, und der MK6 kümmert sich rund um die Uhr darum, dass die breite Öffentlichkeit nichts davon mitbekommt. Koste es, was es wolle.

»Wie wunderbar, dich zu sehen!« Ehe ich darauf antworten kann, wendet sie sich ab. »Adoptieren Sie einen Sprite. Retten Sie ein Leben!« Sie drückt einem alten Zwerg ein Flugblatt in die Hand, der sich energisch dagegen wehrt, es anzunehmen. Pat bleibt hartnäckig, und schließlich gibt er klein bei und lässt es knurrend in der Tasche verschwinden.

»Die kleinen Herzchen brauchen ein sicheres Zuhause.«

»Du bist zu pingelig, Pat«, sagt Ronin jovial. »Wenn die Leute adoptionswillig sind, überlass ihnen doch einen von den kleinen Scheißern.«

Pats strahlendes Gesicht verdüstert sich auf der Stelle. »Jackson Ronin, ich werde keins meiner Babys in ein ungeeignetes Zuhause abgeben!«

»Er zieht dich nur auf«, sage ich. »Hör gar nicht hin.«

Pat funkelt Ronin wütend an und schenkt mir dann ein breites Lächeln. »Tone sagt, du gehst nach Hexpoort.«

»Erinner mich nicht daran.«

»Oh, du wirst die Draken dort lieben. Wundervolle Geschöpfe«, sagt sie. »Sie sind ganz bezaubernd.«

Ronin gibt einen Laut von sich, als ersticke er an einem Hühnerknochen.

»Tja, wir müssen weiter«, sagt er. »Wir haben noch viel zu tun.«

»Viel Vergnügen, Baxter«, sagt Pat. »Ich weiß, dass du dich dort wohlfühlen wirst. Ganz sicher.«

»Adoptieren Sie einen Sprite«, sagt sie zu einem Anzugträger mit Schuppengesicht, als wir gerade weggehen. »Verändern Sie etwas!«

Wir drängeln uns durch den Markt bis zu einer Eisentreppe am hinteren Ende, die in den zweiten Stock führt. Ein Trupp von Verborgenen hat sich in der Mitte der Markthalle versammelt, wo eine Bühne aus Plastikkästen errichtet wurde. Der Hippie, der darauf steht, hat eine braunschwarze Schnauze und mächtige Kiefer.

»Ist das eine anthropomorphe Hyäne in Batikklamotten und Yogahose?«, frage ich.

»Kholomodumo«, sagt Ronin. »Hundsgemeine Bastarde.«

»Wie lange müssen wir uns das noch bieten lassen?«, schreit die Hyäne, auf den Kästen hin und her schlurfend. »Projekt Staal stiehlt uns unsere Kinder, zerstört unsere Familien.«

Ein Kerl mit wirrem Haar, fehlenden Schneidezähnen und unkonventionellem Verhältnis zur Körperpflege drückt mir ein Flugblatt in die Hand. Ronin packt den Typen knurrend beim Kragen und schubst ihn energisch aus dem Weg.

Das Flugblatt ist in giftgrüner Schrift gedruckt. »Manifest des Knochenkrals«, lese ich laut vor.

»Lass die Finger davon«, sagt Ronin und will es mir aus der Hand reißen.

»Warum?«, sage ich und halte es so, dass er nicht drankommt.

»Wegen solchem Scheiß kannst du in einer Verhörzelle des MK6 landen, und das willst du nicht, glaub es mir.«

»Der MK6 hat Angst vor diesen Clowns?« Ich überfliege die Seite. »Bla, bla, Unterdrückung, Transparenz, und so weiter und so fort.«

»Nicht direkt Angst«, sagt Ronin und kratzt sich den Kopf. »Aber diese Clowns haben beim MR6 verschissen.«

»Warum?«, frage ich. »Das ist jetzt auch meine Welt. Erklär mir, was da abgeht.«

»Deine Welt?« Ronin kichert und schüttelt den Kopf. »Jetzt übertreib’s mal nicht mit dem Besitzerstolz, Sparky. Aber meinetwegen. Der Knochenkral, das sind Aufwiegler. Sie verlangen Transparenz, Rechenschaftspflicht, Demokratie im Umgang mit den Verborgenen.«

»Das sind doch ganz legitime Forderungen«, sage ich.

Ronin hebt eine Augenbraue. »Oh, die heilige Einfalt der Jungen und Dummen. Das sind alles andere als legitime Forderungen, wenn du einer geheimen Regierungsstelle angehörst, die verschleiern soll, dass Monster und Magie tatsächlich existieren. Dann ist es nämlich Terrorismus. DAS ist deine Welt.«

»Ah ja«, sage ich. Aber ich stecke das Flugblatt ein. Scheiß auf das Schweinesystem.

Wir drücken uns am allgemeinen Trubel vorbei und steigen die alte Eisentreppe in einer Ecke der Fabrik hoch in den zweiten Stock, einem wahren Irrgarten aus Läden und Ständen. Ronin führt mich zu einem riesigen Wellblechladen, der ein Viertel der Fläche einnimmt. DEMENTERTAINMENT verkündet eine Leuchtreklame in grellem Neonpink, und rechts und links des Eingangs stehen riesige hölzerne Lautsprecherboxen, aus denen obskurer Siebziger-Prog-Rock dröhnt.

»Hier finden wir alles, was wir brauchen«, sagt Ronin mit einem Grinsen.

Zweifelnd betrachte ich die Totenschädel, Kristalle, Federn, Rockposter, Kräuter, Räucherhütchen und alten Vinylplatten, bevor ich mich an einer ausgestopften Katze in voller Rüstung vorbeischiebe und Ronin nach drinnen folge.

»Edred Blackheath, Drecksack von Zauberer, Grabräuber a.D. und Sammler alles Magischen«, ruft er, als wir auf die Verkaufstheke zugehen. Der Typ dahinter blättert auf den Ellbogen lehnend eine Zeitschrift durch. Er hat langes schwarzes Haar mit grauen Strähnen und trägt ein schmutzigrosa Hello-Kitty-Shirt, eine Lederweste und ein fragwürdiges Folklorehalsband mit Türkisen. Ein tätowierter Wasserfall fließt von seinem linken Auge über das Gesicht bis zum Kinn, und von seinen Ohren baumeln große Goldkreolen.

»Jackie Ronin«, sagt Edred. »Drecksack durch und durch.«

»Komm, Ed.« Ronin beugt sich vor und drückt dem Mann die Hand. »Sei nett.«

»Wann bin ich je nett gewesen?«, sagt Edred und zieht Ronin in eine ruppige Umarmung. »Wer ist dein Freund?«

»Baxter Zevcenko«, sage ich.

»Das ist Zevcenko?« Ed hebt eine Augenbraue. »Das ist der kleine Schlingel, der es mit Basson aufgenommen hat? Tja, ich muss schon sagen, ich hatte ihn mir etwas … eindrucksvoller vorgestellt.«

»Ging mir nicht anders«, sagt Ronin grinsend, zieht sich einen Hocker ran und setzt sich vor die Theke.

Ich lächle sarkastisch und hebe dann beide Mittelfinger.

Edred lacht. »Das ist die richtige Einstellung, mein Junge.«

»Wie ist der Stand der Dinge, Ed?«, fragt Ronin.

»Tja, ich hab in letzter Zeit so viele Beerdigungen besucht, man könnte glatt meinen, ich wär im beschissenen Altersheim.«

»Ja, mir ist einiges zu Ohren gekommen«, sagt Ronin.

»Mehr tote Agenten, deren Zähne sie für den Muti-Mann kassiert haben.« Ed schüttelt den Kopf. »MK6-Agenten werden gejagt wie Hunde. Hätte nie gedacht, dass ich das mal erlebe.«

»Ach komm, du glaubst doch nicht an diese lächerliche Legende vom Muti-Mann, oder?«

Ed sieht Ronin an. »Na ja, irgendwer oder irgendwas tötet diese Agenten«, sagt er. »Und der Blutkral tut einen Scheiß, um die Sache aufzuklären.«

»Da draußen gibt es genug Wesen, die dafür in Frage kommen, ohne dass man irgendeinen Buhmann erfinden muss.«

Ed zuckt die Schultern. »Na schön. Wenn du den Kopf in den Sand stecken willst, kann ich auch nichts machen.«

»Alter …«, sagt Ronin.

Ed hebt die Hand. »Ich weiß, was du sagen willst, schenk’s dir. Aber was kann ich für dich tun, junger Meister Zevcenko?«

»Ich brauche das, was in Hexpoort dieses Jahr auf dem Lehrplan steht«, sage ich.

»Ah, ein Poort-Novize, hm?« Er lächelt mich mit tabakfleckigen Zähnen an. »Sie werden jedes Jahr jünger.« Er zieht einen fetten braunen Umschlag unter der Theke heraus. »Nicht unbedingt die renommierteste okkulte Lehranstalt, aber zweifellos immer noch eine der besten. Da haben wir es doch, der Lehrplan für das erste Studiensemester in Hexpoort.« Er saugt an seinen Zähnen. »Das wird nicht billig, Kleiner.«

»Ich muss die Schulbücher selbst bezahlen?«, sage ich. »Der MK6 ist doch staatlich, werden die nicht auch, na ja, von der Regierung finanziert?«

»Die Regierung bekommt nicht mal genug Schulbücher für Erstklässler an normalen Schulen zusammen. Glaubst du wirklich, sie würde das Geld für ein paar hundert Exemplare von Crowleys Magic Without Tears ausspucken?«

»Ich vermute mal, nein?«

»Du vermutest richtig. Einiges von dem Kram findest du online sogar gratis, aber die selteneren Dinge musst du dir bei mir besorgen.«

»Okay, was brauche ich? Zauberstab und Zauberbuch und so was?«

Ed seufzt und knallt die Hand auf die Theke. »Populärkultur hat die Magie kaputtgemacht. Vollkommen ruiniert.«

»Jetzt geht’s los«, murmelt Ronin und holt eine Zigarette aus der Tasche.

»Überall nur noch Zauberstäbe und ›Du kannst nicht vorbei‹ und ›Wingardium-scheiß-leviosa‹. Die Studenten sind so auf diesen Mist fixiert, dass sie die wichtigen Dinge vollkommen aus dem Blick verlieren. Keiner nimmt sich mehr Zeit, die echten Knochen, das echte Blut der Magie zu studieren. Du wirst niemals Hendrix, wenn du immer nur Bieber hörst, du verstehst mich.«

»Denke schon«, sage ich, obwohl ich keine Ahnung habe, was er meint.

»Magie ist nur ein Werkzeug«, sagt er. »Ein Spaten. Du kannst kein anständiges Loch graben, wenn du kein Muskelschmalz investierst.«

»Als ich das letzte Mal hier war, war es ein Schraubenschlüssel«, sagt Ronin. »Und davor war es ein Hammer. Entscheid dich mal für eine Metapher und bleib dabei, Ed, ich sag’s ja nur.«

»Na, hab ich vielleicht unrecht? Requisiten, heute dreht sich alles nur noch um Requisiten. Magie war geiler, als sie noch nicht so Mainstream war.«

Er schimpft weiter vor sich hin, während er die Bücherregale durchsucht, lässig ein Buch nach dem anderen herauszieht und in einen Einkaufskorb aus Plastik wirft. »Wisst ihr, was ich neulich gehört habe? Man kann sein Magie-Diplom online erwerben. ONLINE! Wenn je eine Katastrophe vorprogrammiert war …«

Irgendwann drückt er mir den Korb in die Hand. »Ich lege ein paar von meinen eigenen maßgeblichen Texten zur Magie kostenlos obendrauf«, sagt er und zeigt mir dabei das Foto eines verrückt aussehenden alten Kerls mit Bart, der mir vage bekannt vorkommt.

»Was ist das?«

»Das Gesicht von Alan Moore«, sagt Ed.

»Ein Foto von Alan Moore steht auf meinem Studienplan?«

Ed fixiert mich mit irrem Blick. »Das nicht, aber manchmal ist es alles, was du brauchst.«

»Okay, okay«, sagt Ronin. »Der Kleine ist eingedeckt. Und wie steht es mit dem, was ich will?« Er leckt sich erwartungsvoll die Lippen.

»Was war das noch mal? Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr so gut wie früher.« Ed tippt sich mit den Fingerspitzen ans Kinn.

»Mach mich nicht sauer, Ed«, sagt Ronin mit weit aufgerissenen Junkie-Augen. »Du hast gesagt, du hast sie da.«

»Bleib locker, nur die Ruhe.« Ed grinst und hält beide Hände hoch. »Ich hab sie.« Er holt einen ramponierten Kasten unter einem Stapel Bücher hervor. »Die Blackfish«, sagt er und klappt den Kasten auf.

Die Waffe darin ist etwa so groß wie eine Uzi, gedrungen und von einem metallischen Grauschwarz, als sei sie aus Hämatit. Die Mündung ist geformt wie das Maul irgendeines prähistorischen Fischs mit langen, herausragenden Stoßzähnen.

»Sie ist wunderschön«, flüstert Ronin. Es ist das erste Mal, dass ich eine beinahe religiöse Verzückung an ihm erlebe.

»Einzigartig«, stimmt Ed zu, stützt sie an die Schulter und starrt über den eigentümlichen Lauf. »Eine würdige Nachfolgerin für Warchild.«

Ronin streckt flehend die Hände aus. »Lass sie mich ansehen, Ed.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob du sie dir leisten kannst«, sagt Edred. »Wie ich höre, bist du zur Zeit recht knapp bei Kasse.«

»Können wir nicht Ratenzahlung vereinbaren?« Ronin ist wie ein Kind, das nach Zuckerwatte bettelt. »Ich stottere alles ab. Versprochen.«

»Leider nein.« Er legt die Waffe sorgfältig in ihren Kasten zurück. »Sorry, Kumpel, aber Geschäft ist Geschäft.«

»Aber ich muss doch irgendwas tun können?«, sagt Ronin. »Komm schon, Mann.«

Ed legt die Finger zusammen. »Nun ja, da gäbe es … nein, nein, das könnte ich nie von dir verlangen.«

»Was?«, sagt Ronin. »Du kannst mich um alles bitten, Mann.«

»Nein, vergiss es.«

»Im Ernst, Ed, frag einfach.«

»Na ja, Norrd macht mir Druck, um Schutzgeld zu erpressen«, sagt Ed. »Er hat sich im Freakhof massiv reingedrängt, und ihr Vögel vom MK6 unternehmt nichts dagegen.«

Ronin zuckt die Schultern. »Die offizielle Philosophie der Zentrale lautet: Warum eingreifen, wenn die Verborgenen die Dinge unter sich regeln?«

»Klar, außer wenn es das Profitinteresse der Regierung tangiert«, antwortet Ed.

»War doch schon immer so, das weißt du selbst. Aber warum brauchst du mich? Mit sowas wirst du doch allein fertig.«

Ed nickt. »Na sicher, wenn sie zum ersten oder zweiten Mal anklopfen. Aber du kennst Norrd. Mit dessen Schlägern ist nicht zu spaßen. Er wird so lange hinter mir her sein, bis ich zahle – oder tot bin.«

»Ja, Norrd ist schon ein mieser Hund.«

»Wie wär’s denn, jetzt mal ganz hypothetisch, wenn du Norrd einen Besuch abstattest? Inoffiziell«, sagt Ed. »Als kleinen Schuss vor den Bug.«

Ronin verzieht das Gesicht und zerrt an seinem geflochtenen Bart. »Ich weiß nicht, Ed. Ich kann verdammten Ärger kriegen, wenn ich Sachen unter der Hand mache. Der MK sieht es nicht besonders gern, wenn wir uns zur persönlichen Vorteilsnahme mit Powerplayern anlegen.«

»Jetzt hör aber auf. Die Hälfte von allem, was du machst, läuft unter der Hand. Die Zwergenlegion hasst Norrd, der wird es also scheißegal sein. Und soweit ich höre, hat die Legion im MK neuerdings einiges zu sagen.«

»Ich bin nicht dein Beschützer, Ed. Wenn er es wirklich auf dich abgesehen hat, kann ich ihn nicht aufhalten.«

»Und ich bin nicht dein Waffenmeister, Ronin«, sagt Ed. »Willst du nicht dieses scheußlich nackte Gefühl loswerden, nicht die passende Waffe unter deinem dreckigen Mantel zu haben?«

Ronins Augen verengen sich. »Und wenn ich es mache, gibst du mir die Blackfish?«

Ed lächelt wie ein Gebrauchtwagenhändler. »Dann gehört sie dir. Und die Schulbücher für deinen kleinen Freund leg ich gratis oben drauf.«

Ronin sieht erst Ed, dann die Waffe an und seufzt. »Okay, na schön. Ich rede mit dem verdammten Kobold.«

2Koboldklatsche

Das Bowelfong Muay Thai und MMA Gym befindet sich am unteren Ende der belebtesten Straße von Sea Port. Man muss in das Obergeschoss des Gebäudes, vorbei an einem griechischen Imbiss, einem Tattoo-Studio, einem Sexshop und einem »kreativen« Hundesalon, der Trendiges von Vokuhila bis Mohawk anbietet, um den besten Freund des Menschen zum Gespött zu machen.

Wir gehen durch eine Kakophonie von Bumsen, Kreischen, Surren und Jaulen (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge) die Treppe hoch und stoßen eine Schwingtür auf.

Aber Zwerge sind mir schon begegnet. Meine ganze Aufmerksamkeit gilt daher den hünenhaften Grauhäutern in Boardshorts, die sich gegenseitig im Würgegriff haben und ringend auf den blauen Turnmatten wälzen. Sie sind bemerkenswert unattraktiv: zweibeinige Bullterrier mit fetten Nacken, kleinen Nasen und Mündern, die ihre runden Köpfe spalten wie klaffende Wunden.

Einer dieser Brocken sitzt mit gekreuzten Beinen auf einem Sitzkissen, flankiert von zwei anderen seiner Sorte in roten Adidas-Tracksuits, und sieht zu, wie die Kämpfer sich gegenseitig über die Matte schleudern. Er stellt eine neue Dimension von Hässlichkeit dar, als sei sein Gesicht ein Kommentar zur Vergänglichkeit von Schönheit und Glück in einer grausamen Welt. Er hat einen unförmigen Kopf mit hervorquellenden Augen und dickes, krauses Haar, als hätte er sich eine Badekappe aus Schambehaarung über den Schädel gestülpt. Seine Augenbrauen sind grotesk stilisiert wie bei einer Geisha, und eine davon ist mit mehreren dicken Eisenringen gepierct. Er grinst uns schief an, als wir uns nähern, und zeigt dabei große, gezackte Zähne.

»Ein Kobold, der den Samurai spielt. Norrd, du bist süß. Hat dir das schon mal jemand gesagt?«, meint Ronin.

»Meine Konkubinen«, erwidert Norrd mit einem kehligen Fauchen. »Aber die sind vielleicht voreingenommen. Wer ist dein kleiner Freund?« Er beugt sich hinunter zu einem japanischen Service und schenkt sich mit gezierten Bewegungen Tee ein.

»Ein Agent.«

Norrd hebt eine der manikürten Augenbrauen. »Bisschen jung für einen MK-Faschisten, meinst du nicht auch?«

»Magie kennt keine Altersgrenze«, sagt Ronin. »Er ist ein Wunderknabe.«

Norrd fasst mich starr ins Auge. Ich zwinge mich, den Blick zu erwidern, und versuche, ein möglichst einschüchterndes Magiergesicht aufzusetzen; wahrscheinlich sehe ich bloß aus, als hätte ich Verdauungsprobleme.

»So«, sagt Norrd zwischen zwei Schlucken Tee, »soll ich raten, warum du hier bist, oder sagst du es mir selbst?«

»Ed sagt, du willst Schutzgeld von ihm erpressen.«

»Ich biete ihm ein Sicherheitspaket an«, sagt Norrd. »Das ist nicht ungesetzlich, oder?«

Ronin lacht. »Zugegeben, viel schlimmer als andere Versicherungsvertreter bist du auch nicht, aber keine Haarspalterei. Du erpresst Ed. Ich will, dass du es sein lässt.«

»Oh, wenn DU willst, dass ich es sein lasse …«, Norrd entfernt eine unsichtbare Fluse von seinem Kimono.

»Das Kleingeld von Ed brauchst du doch gar nicht«, sagt Ronin. »Können wir uns da nicht irgendwie einigen?«

»Was willst du von mir hören? Mein reguläres Geschäft leidet unter den internen Zwistigkeiten bei den Obayifo. Sie produzieren nichts mehr für mich. Darum war ich gezwungen, auf meine primitiveren Einkommensquellen zurückzugreifen.«

»Ach komm, Norrd, die Feen wollen wahrscheinlich bloß wieder an der Preisschraube drehen. Zahl ihnen ein bisschen mehr, und schon produzieren sie dir wieder deine billigen Feen-Kopien.«

Norrd schüttelt den Kopf. »Diesmal nicht. Ed muss schon in den sauren Apfel beißen.«

»Warum bietest du nicht Pilates-Kurse an?«, sagt Ronin. »Das machen mittlerweile viele Studios.«

Ich stelle mir Reihen von Koboldmuttis vor, die ihre postnatalen Beckenbodenmuskeln kräftigen. Kein schöner Gedanke.

»Witzig«, sagt Norrd. »Fast so witzig wie der Zwischenfall im Flesh Palace. Bist du aus diesem Grund hier, Ronin? Um einen legalen Geschäftsbetrieb kaputtzumachen?«

»Das war Basson«, sagt Ronin.

»Basson gehörte zum MK6, oder? Und wenn der MK seine eigenen Leute nicht unter Kontrolle hat, warum sollten wir seine Autorität respektieren?«

»Weil wir deinen Laden hier schleifen, wenn du es drauf anlegst.«

Norrd lächelt, die spitzen Zähnchen feuchtglänzend von Spucke. »Er hat mir gesagt, dass du genau das sagen würdest. Er hat recht; Menschen sind alle gleich: feige Würmer, die alle anderen drangsalieren.«

»Wer hat recht?«, fragt Ronin.

»Derjenige, der mir gutes Geld für deine Zähne zahlt.«

Er schwenkt die Hand, und seine Koboldgarde umstellt uns. Aus der Nähe riechen sie nach Hautpilz und AXE-Deo.

Ronins Hand ist unter dem Mantel und taucht mit zwei Pistolen wieder auf. Im Nu habe ich den fleischigen Unterarm eines Kobolds um den Hals und ein Messer einen Millimeter vor meinem Augapfel. Zwei der Kobolde im Trainingsanzug bauen sich vor Norrd auf und bilden einen Schutzwall aus grauem Fleisch.

»Jetzt hast du zwei Möglichkeiten«, sagt Norrd. »Du kannst versuchen, durch sie durchzuschießen, um mich zu erwischen, aber dann erleidet dein kleiner Freund bedauerlicherweise eine Hirnpunktion. Oder du legst deine Waffen nieder und begleitest mich.«

Ich wüsste nicht, was es da zu überlegen gibt, aber Ronin zögert mehrere lange Momente, bevor er die Pistolen fallen lässt. Die Kobolde konfiszieren auch noch seine anderen Waffen und tasten mich so übergriffig ab, dass ich unwillkürlich an karmische Vergeltung für einige schauderhafte Plots der von mir vertriebenen Pornos denken muss.

Norrd steht auf und winkt uns zu sich. »Mir nach, bitte.« Er führt uns durch das Studio zu einem von krakeligen Runen umrahmten Aufzug. Wir quetschen uns rein, Ronin und ich in der Mitte, umringt von einer Koboldphalanx. Der Lift bewegt sich abwärts, und wir lauschen stumm dastehend der Panflötenversion von »Sympathy for the Devil«.

Wir erreichen das erste Untergeschoss und fahren weiter.

»Ein Ausflug in einen Koboldbau«, sagt Ronin. »Womit haben wir diese Ehre verdient?«

»Ihr seid vom MK6.« Norrds Zunge fährt über seine Unterlippe. »Ihr habt noch ganz was anderes verdient.«

Schließlich bleibt der Aufzug stehen, und die Tür gibt den Blick auf eine unendlich scheinende Dunkelheit frei. Ich höre das stoßweise Atmen der Wachen und das Rauschen meines Herzschlags in den Ohren. Sie treiben uns vorwärts um diverse Ecken herum. Als ich endlich wieder Licht sehe, bin ich erbärmlich froh darüber.

Wir treten auf einen Gang hinaus, der spiralförmig ins Erdinnere führt. Seitlich wird er von Wohngebäuden begrenzt, sozusagen in die Tiefe gehende Hochhäuser. Große Terrassen mit Rasenflächen werden gemeinschaftlich genutzt. Koboldkinder spielen zwischen Wäscheleinen. Ein fetter Kobold in engen Shorts und Hawaiihemd liegt in seinem Vorgarten im Liegestuhl und zeigt mir aufmunternd den erhobenen Daumen.

Wir dringen tiefer in den Koboldbau ein, vorbei an Geschäften, Märkten, sogar etwas, das vom Aussehen her ein Hotel sein könnte. Der Schneckengang endet an einem großen steinernen Amphitheater, das mit alten Filmplakaten zugekleistert ist. Dort stehen eine Riesenleinwand und ein dicker, mit Stacheldraht umwickelter Holzpfahl, aus dem in regelmäßigem Abstand spitze Metalldorne herausstehen. Er sieht wie ein Industrial-Kaktus aus.

»Willkommen im Bluthof«, sagt Norrd grinsend. »Wir sehen uns hier hauptsächlich Musikvideos und Fernsehserien an.« Er deutet auf den stacheldrahtumwickelten Pfahl. »Aber er wird auch anderweitig genutzt.«

Als wir den Platz betreten, läuft auf der Riesenleinwand ein altes Céline-Dion-Konzert, und Norrd macht eine abrupte, schlitzende Handbewegung unter dem Kinn. Der Film stoppt, und Céline erstarrt mitten im Song, den Mund zu einem Dauerschrei aufgerissen.

»Ich glaube, ich verzichte«, sagt Ronin.

»Eure Anwesenheit ist leider zwingend erforderlich«, sagt Norrd. »Bitte kommt und nehmt eure Ehrenplätze ein.«

Sie führen uns in die Mitte des Amphitheaters bis an den Pfahl und zwingen uns auf die Knie. Die Sitze füllen sich langsam mit Kobolden, und Furcht meldet sich in Form kleiner silbriger Funken in den Fingerspitzen. Das Publikum schnattert vor sich hin, stupst, drängelt und äfft amüsiert Célines schreienden Mund nach.

»Und, was ist jetzt?«, fragt Ronin. »Von dem Koboldgestank muss ich bald kotzen.«

»Jetzt holen wir uns deine Zähne«, sagt Norrd. »Und dann deinen Kopf, zur Strafe für deine Mitschuld an der systematischen Unterdrückung der Verborgenen.«

»Reizend. Ich nehme an, dein plötzliches Interesse an Extremdentologie hat mit diesem degenerierten Muti-Mann zu tun?«

Norrd gewährt uns ein abstoßendes Lächeln. »Der Muti-Mann. Ja. Ich gebe zu, ich war erst skeptisch. Er hat mir ins Geschäft gepfuscht, und darüber war ich gar nicht glücklich. Aber er ist sehr … überzeugend.«

»Reich, meinst du wohl?«, sagt Ronin.

»Das geht meistens Hand in Hand«, erwidert Norrd. »Außerdem hat er ganz vernünftige Ideen. Er und sein Knochenkral versuchen, eine Einheitsfront gegen die Unterdrückung durch Zwerge und Menschen zu schmieden. ›Einzeln sind wir schwach, aber einig sind wir stark‹, um es mit seinen Worten zu sagen.«

»Brauchst du noch ein Bündel Stifte, um das zu veranschaulichen?«, fragt Ronin.

Ein Kobold im Trainingsanzug schlägt Ronin mit dem Handrücken ins Gesicht, und er fällt mit einem Grunzen der Länge nach auf den blutigen Boden des Amphitheaters. Er stemmt sich wieder auf die Knie hoch und bespuckt Norrd mit einem Gemisch aus Blut und Speichel, aber unglücklicherweise ist der Cocktail von Körperflüssigkeiten zu kurz gezielt und platscht dem Kobold auf die pedikürten Füße.

»Raus mit ihren Zähnen«, ordnet Norrd an, und die Koboldmeute johlt und trampelt Beifall.

Während die Koboldschläger uns festhalten, zückt Norrd eine hässlich aussehende Zange und hält sie hoch. Die Menge tobt begeistert.

»Scheiße nochmal, Ronin«, zische ich und versuche, der dreckigen Koboldhand auszuweichen, die meine Kinnlade aufsperren will. »Du hast mich doch wohl nicht hergeschleift, damit ich mir die Zähne rausreißen und dann den Kopf abschlagen lassen darf. Sag mir bitte, bitte, bitte mit Schleifchen drum, dass du einen guten Grund dafür hast, uns mitten in eine Koboldhochburg zu manövrieren?«

»Ich berufe mich auf Mazrech Sutial«, ruft Ronin.

Die Menge wird totenstill, als hätte man die Stummtaste gedrückt.

»Tz, tz, tz«, sagt Norrd und baut sich vor uns auf. Sein Kimono droht aufzuklappen, und ich reiße den Kopf herum. Bitte köpft mich auf der Stelle. Das Letzte, was ich in dieser Situation sehen will, ist ein stolz präsentierter Koboldschwanz. »Menschen haben kein Anrecht auf einen Gerichtskampf.«

»O doch, das haben wir, sofern wir auf Koboldland sind, wie du feststellen wirst«, sagt Robin. »Das Kebra Bik, skral vier, lässt keinen Zweifel daran.«

Norrd runzelt die Stirn und gürtet zu meiner Erleichterung seinen Kimono enger.

»Wirf mal einen Blick ins Kebra Bik«, sagt Ronin wie ein Lehrer zu einem besonders vernagelten Schüler. »Schon ein bisschen peinlich, wenn ein Mensch die Koboldbibel besser kennt als du.«

»Halt deine verdammte Fresse.«

»Zähne raus!«, brüllt ein Kobold aus der Menge.

Norrd schneidet eine Grimasse, schüttelt aber den Kopf. »Der Kopfgeldjäger hat recht. Der Gerichtskampf steht ihnen zu.«

»Was geht hier ab?«, flüstere ich Ronin zu.

»Sie müssen mich kämpfen lassen. Das Kebra Bik ist ihr oberstes Gesetz.«

»Uns passiert also nichts?«, frage ich.

»Tja …«, sagt Ronin.

»Also dann … Kettenkampf!«, ruft Norrd, und die Menge bricht sofort in entfesseltes Brüllen, Stampfen und Krakeelen aus. Norrd wirkt nicht direkt missvergnügt, und mich beschleicht ein ganz, ganz mieses Gefühl. »Es liegt mir fern, einem kleinen, freundschaftlichen Wettstreit im Wege zu stehen«, fügt er hinzu und schlägt die Hände zusammen.

»Was ist ein Kettenkampf?«, frage ich Ronin flüsternd. »Ronin! Was zum Henker ist das?«

Wie sich herausstellt, ist Kettenkampf die beschissenste Idee, die je ausgebrütet wurde. Die Regeln sind ebenso einfach wie krank. Zwei Kämpfer werden mit je einem Arm an den Pfahl in der Mitte des Amphitheaters gekettet, dann prügeln sie aufeinander ein, während jeder versucht, den anderen auf den Stacheldraht oder die Zacken zu spießen. Für Kobolde ein harmloses Familienvergnügen.

Einer der Koboldbrecher im Trainingsanzug bietet Norrd einen Sushi-Happen an, den er vorsichtig mit seinen knotigen, haarigen Fingern hält. »Bist du bereit für deinen Gegner?«, fragt er.

»Einer von denen?«, sagt Ronin mit einem selbstgefälligen Blick auf die Kobolde, die Norrd flankieren. »Oder vielleicht beide? Ich will nicht unfair sein. Ich mach’s mit verbundenen Augen.«

Norrd lässt das Sushi in seinen Mund fallen und kaut. »Ich fürchte nein, Kopfgeldjäger«, sagt er, den Mund voll Lachs.

Ein leises Stöhnen erhebt sich, als eine Monstrosität an einer Kette ins Amphitheater gezerrt wird. Es ist ein mächtiger Kobold von bläulicher Farbe, mit einer bärenhaften Schnauze und rauem, eisverkrustetem Bart. Seine Muskelstränge sind wie die knorrigen Wurzeln uralter Baumriesen, die Arme schleifen buchstäblich am Boden. Auf der riesigen Muskelfläche seines deformierten Brustkorbs prangt ein tätowiertes Runensigil mit Flammenrand. Er blickt, ins grelle Licht blinzelnd, um sich, die Schnauze witternd in die Luft gereckt.

»Oh«, sagt Ronin, dem das Selbstbewusstsein vom Gesicht rutscht.

»Ein Halsig«, sagt Norrd. »Nicht ganz das, was du erwartet hast, vermute ich mal.«

Ronin versucht sich an einem ungerührten Achselzucken, das ihm kläglich misslingt.

»Eiskobold«, sagt Norrd zu mir. »Sonst nicht in Südafrika heimisch. Ich hab ihn als Kämpfer aus Grönland importiert und den Kauf keine Sekunde bereut.«

»Ich nehme an, das bedeutet nichts Gutes?«, frage ich Ronin flüsternd.

»Sagen wir einfach, die Halsigs sind besonders geschickte Kettenkämpfer«, antwortet er.

»Sieht aus, als wärst du vom Dummheitenmachen nicht kuriert.«

»So was kann man nicht kurieren«, sagt Ronin. »Man ist bestenfalls in Remission.«

»Mach das nicht …«, sage ich.