Kill My Pain - Ivy Lang - E-Book

Kill My Pain E-Book

Ivy Lang

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Beschreibung

Kontrolle ist eine Illusion. Sophie Davenport ist Ermittlerin bei der New Yorker Staatsanwaltschaft – ehrgeizig, diszipliniert, erfolgreich. Doch als sie ihren Vater mit einem Kopfschuss getötet auffindet, gerät ihre Welt aus den Fugen. Die Polizei spricht von einem missglückten Einbruch, doch sie glaubt nicht daran. Auf eigene Faust beginnt sie zu ermitteln und landet bei Cent, der der perfekte Verdächtige zu sein scheint. Cent ist vieles, jedoch nicht der Mörder ihres Vaters, und trotzdem ihr Schlüssel zur Wahrheit. Was als Zweckbündnis beginnt, führt zu einer gefährlich intensiven Verbindung: Cent weckt in Sophie eine dunkle Seite, die sie selbst kaum kennt und nicht kontrollieren kann. Als sie schließlich vor der Entscheidung steht, Rache zu üben oder sich selbst zu retten, muss sie erkennen: Nicht jeder Weg führt zurück ins Licht. Verzweifelt. Düster. Kraftvoll. Eine Dark Romance mit Consent über die Frage, wie viel man aufgeben muss, um sich selbst zu retten.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 403

Veröffentlichungsjahr: 2025

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1.Auflage,2025

© Alea Libris Verlag, Wengenäckerstr. 11,

72827 Wannweil

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Michaela Harich

Korrektorat: Lisa Heinrich

© Cover- und Umschlaggestaltung: Juliana Fabula | Grafikdesign – www.julianafabula.de/grafikdesign

Unter Verwendung folgender Stockdaten: shutterstock.com: Lukas Gojda | freepik.com

Schriftarten: Billionare, Garamond, Gautreaux

ISBN: 9783988270658

Druck: Bookpress.eu Roman Kowalski, Lubelska, 37c, 10-408 Olsztyn, Polen

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle Figuren dieses Romans sind von der Autorin frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären reiner Zufall. Auch alle beschriebenen Ereignisse entspringen gänzlich dem Reich ihrer Fantasie.

Dieser Roman spielt in einem kriminellen Milieu. Als solcher behandelt er Themen wie: Gewalt (Androhung von Gewalt, körperliche Gewalt und Kampfhandlungen, Waffengewalt), (Auftrags)-Mord, Drogenhandel und -konsum.

Beschriebene sexuelle Handlungen sind teils sehr explizit, stehen in Verbindung mit Machtausübung und Gewalt, sind jedoch stets einvernehmlich.

Der Roman enthält rassistische, ableistische und sexistische Aussagen, die die Lebensrealität der Figuren spiegeln, aber nicht der Meinung der Autorin entsprechen.

Contents

Teil 1: GebrochenKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Teil 2: KontrollverlustKapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Teil 3: MetamorphoseKapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Teil 4: FlashbackKapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Teil 5: VergeltungKapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Epilog: Erlösung

Teil 1: Gebrochen

KontrolleisteineIllusion.

Obwohl ich das immer wusste, hatte ich keine Ahnung, was es bedeutet. Wenn man reich und ohne Sorgen aufwächst, hinterfragt man nicht viel – und das habe ich auch nicht getan. Wieso auch? Keine Herausforderung war mir zu groß, ich konnte alles schaffen und war davon überzeugt, dass es immer so bleiben würde.

Ich war so naiv.

Kapitel 1

»ErhebenSiesich!«

Der Richter nahm mit müdem Gesichtsausdruck seinen Platz ein. Hinter ihm betraten die Geschworenen den Gerichtssaal. Sophies Puls beschleunigte sich. Nun würde sich zeigen, ob sie gut gearbeitet hatten. Richards, der zuständige Staatsanwalt, ihr Boss, warf ihr einen bestätigenden Blick zu, der ihr sagte, dass sie gewonnen hatten. Sie fühlte sich sofort etwas zuversichtlicher, obwohl sie selbst nie mit sich und ihrer Leistung zufrieden war. Da war immer ein kleiner Hauch des Zweifels in ihr, eine Stimme, die sie mahnte, dass sie doch nicht gut genug gearbeitet hatte. In ihren Augen war sie niemals gut genug.

Sie blickte über ihre Schulter zu Ben, der schräg hinter ihr stand. Natürlich hatte er es sich nicht nehmen lassen, bei dieser für sie so wichtigen Verhandlung dabei zu sein, obwohl es nicht um einen seiner Fälle ging. Er zwinkerte ihr zu und sie lächelte. Er verstand sie, er war sichtlich stolz auf sie, und doch hatte sie das Gefühl, es nicht verdient zu haben.

Sie mahnte sich zur Konzentration.

»Sind die Geschworenen zu einem Urteil gekommen?«

»Ja, Euer Ehren.«

Sophie hielt die Luft an.

Ihr Jubelschrei übertönte das Stimmengewirr in der Bar und ließ die Gäste spontan lachen und applaudieren. Ben hielt Sophie grinsend sein Glas entgegen. Gemeinsam mit Sophies Kollegin Aneeqah und dem Jurastudenten David stießen sie an. Nach ihrem Sieg im Gerichtssaal und den Beglückwünschungen durch ihren Boss Richards hatten sie sich ins Crimson begeben – das Lokal war in den letzten Wochen für sie zu einer Art Wohn- und Arbeitszimmer geworden. Stundenlang hatten sie hier gesessen und an dem Fall gearbeitet.

Ben hatte die Gruppe nach zwei Runden Bier auf Jäger-Shots gebracht, mit der Ausnahme von Aneeqah, die sich wie immer komplett an Softdrinks hielt.

Sophie wusste nicht mehr, zum wievielten Mal sie anstießen, doch sie bemerkte den Alkohol kaum. Na ja, ohne ihn hätte sie wahrscheinlich ihrer Freude nicht so laut Ausdruck verliehen.

Aber scheiß drauf.

Das Einzige, das zählte, war der Sieg, die Tatsache, dass die Geschworenen der Staatsanwaltschaft geglaubt und den Mörder zweier Menschen für schuldig befunden hatten.

Eine Gefahr weniger auf den Straßen.

Ben stupste Sophie von der Seite an und grinste. Auch in seinem Gesicht zeigte sich die Wirkung des Alkohols. Etwas verträumt sah er sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen an – genau diesen Blick fand Sophie unheimlich süß und sie ließ sich von ihm sanft von Aneeqah und David wegschieben. Die beiden schienen amüsiert darüber. Seitlich an der Bar, wo weniger los war, schlang Sophie ihre Arme um ihn und küsste ihn verlangend.

Ben war ein guter Küsser. Und da er angetrunken war, hielt ihn seine makellos konservative Erziehung nicht davon ab, in aller Öffentlichkeit seine Hände auf ihre Hüfte zu legen. Sophie genoss es, schloss die Augen und ließ sich gänzlich fallen. Ihr Herz schlug schneller, eine Hitze stieg in ihr auf, die sie leicht schwindelig machte. Es war ein seltsames Taumeln, als würde sie den Boden unter ihren Füßen verlieren. Ben schien ungeduldiger zu werden. Er ließ seine Finger unter ihre Bluse gleiten. Sophie lief ein wohliger Schauer über den Rücken. Ihre Haut kribbelte, ihr Körper wollte mehr. Doch ihr Kopf sagte etwas anderes.

Sie bemerkte, dass andere Gäste auf sie aufmerksam geworden waren und ihr Knutschen anzüglich kommentierten. So sehr sie Ben auch wollte – es war ihr unangenehm und peinlich. Wie hatte sie sich so gehenlassen können? Einen Moment lang konzentrierte sie sich auf seinen warmen Kuss, dann drückte sie ihn sanft von sich.

»Lass uns doch von hier verschwinden.« In Bens Blick lagen Verlangen und Vorfreude auf die Fortsetzung dessen, was sie hier begonnen hatten.

Sophie hätte liebend gerne zugestimmt, doch sie schüttelte den Kopf.

»Bitte, Sophie.« Sein liebevoller Blick machte es ihr noch schwerer.

»Ich kann nicht.« Um ihre Abfuhr zu entschuldigen, fügte sie hinzu: »Ich muss mich ausschlafen, nüchtern werden und morgen früh zu meinem Vater fahren.«

»Du kannst auch mit zu mir kommen und von dort aus zu deinem Dad.« Ben begann, mit seinen Lippen an ihrem Ohrläppchen zu knabbern.

Verdammt, er wusste genau, dass sie das verrückt machte.

»Ich kann bei dir nicht schlafen, das weißt du.« Sophie schob ihn erneut von sich. Sie brauchte ihr eigenes Bett, ihre eigene Decke. Außerdem würde Ben sie nur vom Schlafen abhalten.

Ben schien zu resignieren, doch dann zeigte sich ein Funken Hoffnung in seinem Gesicht. »Warum musst du überhaupt schon so früh zu deinem Vater? Die Benefizgala ist doch erst am Abend.«

Sophie ordnete ihre blonden Haare und steckte ihre Bluse zurück in den eleganten Rock. »Ich will raus aus der Stadt sein, bevor der Wochenendverkehr einsetzt.«

Ben seufzte. Er akzeptierte es wohl schlussendlich, wenn auch widerwillig. »Du bist einfach zu perfekt. Dafür liebe ich dich.«

Sophies Herz machte einen Satz. Sie lächelte, doch als es ihr bewusst wurde, zögerte sie. Er sagte das so einfach. So aufrichtig. Und sie? Die Worte lagen ihr auf der Zunge, aber da war immer dieser kleine, lauernde Zweifel, der sie aufhielt. Und am Ende schwieg sie – wie immer.

Für einen kurzen Moment zeigte sich seine Enttäuschung, doch sofort lachte er schelmisch. »Noch einen Drink, dann lass ich dich ziehen.«

Das Anwesen in Georgica, East Hampton hatte Sophies Vater nach der Scheidung von ihrer Mutter gekauft als eine Art Protest, da sie die alte Familien-Villa der Davenports in Southampton hatte behalten dürfen. So war alles an seinem neuen Zuhause eine Verhöhnung dessen, was Clarice Davenport schön fand. Sophies Mutter liebte den neu-englischen Stil und maritime Themen – das Haus von Sophies Vater Ruben war ein moderner Bau aus Beton und Glas. Clarice hatte Blumenbeete und Gewächshäuser im Garten – Ruben hatte einen Fitnesstempel mit Basketball- und Tennisplatz davor und zwei Infinity-Pools. Er hatte sein Büro hier, managte seine Fonds und nahm per Videokonferenz an den Vorstandssitzungen der Firma teil, deren operative Geschäfte Sophies älterer Bruder Matt seit fünf Jahren führte.

Bereits bei der Anfahrt auf das Anwesen fiel Sophie auf, dass es wohl eine Krise gab, denn auch Matts Aston Martin stand vor dem Haus und an der Tür empfing sie Elaine Muller, Rubens rechte Hand und Assistentin.

»Guten Morgen, Elaine«, grüßte Sophie und nickte ihr freundlich zu, was unerwidert blieb. »Was ist passiert?«

»Eine neue Ausschreibung ist reingekommen«, schnarrte Elaine mit ihrer unverwechselbaren tiefen Stimme.

Momente wie dieser erinnerten Sophie unweigerlich an den Tag, als Elaine zum ersten Mal im Haus ihres Vaters erschienen war. Sie selbst war gerade mal acht, vielleicht auch neun Jahre alt gewesen, sicher wusste Sophie es nicht mehr. Sie erinnerte sich aber, dass Elaine so ganz anders als ihre Mutter oder deren Freundinnen war. Kein Parfum, kein Lächeln, kein figurbetontes Kleid. Stattdessen dunkle Hosenanzüge, grobe Schuhe, ein fester Händedruck. Ihr Tonfall war damals schon immer sachlich, knapp, manchmal auch schroff gewesen. In all den Jahren hatte sich dies nicht geändert. Trotzdem – oder gerade deswegen – hatte Sophie großen Respekt vor Elaine. Sie stammte ebenfalls aus reichem Hause, aber im Gegensatz zu ihr hatte sie sich früh gegen die Erwartungen ihrer Familie gestellt und sich allein durchgeboxt. Früher wirkte sie verschroben, vielleicht sogar seltsam. Heute? Beeindruckend. Furchteinflößend, allerdings auf die gute Art.

»Dein Vater und Matt sind im Arbeitszimmer.« Sie machte eine Geste, die Sophie aufforderte, ihr zu folgen, doch die winkte ab. »Ich möchte zuerst auf mein Zimmer. Und dann Meister Xue begrüßen.«

Sophie hatte mit der Firma nichts zu tun. Das war Matts Revier.

»Wie du meinst. Ich sage deinem Vater, dass du hier bist.«

Sophie ging in den ersten Stock zu ihrem alten Zimmer. Es war für sie jederzeit hergerichtet, sah so aus, als würde sie hier regelmäßig wohnen. Tatsächlich verbrachte sie hier immer weniger Zeit. So stellte sie auch jetzt einfach nur ihre Tasche ab, ging zurück nach unten und hinaus in den Garten.

Sie fand Xue auf der Terrasse vor dem Fitnessraum. Der Sicherheitschef ihres Vaters stand da wie ein Baum, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, den Blick ernst und aufmerksam nach vorne gerichtet. Wie immer, wenn er im Dienst war, trug er schwarz und sein dunkles Haar in einem perfekten Knoten. Nur die grauen Strähnen verrieten, dass die Jahre auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen waren.

Er regte sich nicht, als Sophie nähertrat. Nur seine stets wachen Augen bewegten sich.

»Rücken und beide Schultern.«

Sophie hielt inne und richtete sich automatisch ein Stück auf. Schon spürte sie ein Ziehen zwischen den Schulterblättern – er hatte mal wieder recht. Sie war verspannt. Schon früher, als er sie unterrichtet hatte, war ihm keine schlechte Haltung, keine Unachtsamkeit entgangen.

Sie blieb in respektvollem Abstand zu ihm stehen und deutete eine Verbeugung an. Nicht, weil es höflich war, sondern weil es sich richtig anfühlte.

Xue war nicht nur der Sicherheitschef ihres Vaters, sondern auch ihr Trainer gewesen, weil sie Ruben angefleht hatte, seiner kampfsportbegeisterten Tochter diese Möglichkeit zu bieten. Xue war ein Meister des Wing Chun, schmerzhaft präzise aber auch unfassbar geduldig. Durch endlose Stunden voller Übungen hatte er sie geführt, in denen Ausdauer und Hingabe mehr zählten als Kraft. Für Sophie war es in erster Linie ein Sport zum Spaß. Für ihren Vater war es beruhigend, zu wissen, dass sie sich im Notfall zu wehren wusste.

Xue lockerte seine Haltung und wandte sich ihr zu. »Wann hast du das letzte Mal mit dem Langstock trainiert?« Sein Ton war ruhig, aber Sophie bemerkte sofort die unausgesprochene Mahnung, nicht nachlässig zu werden.

Sie verzog das Gesicht. »Das ist schon ewig her.« Es fühlte sich an wie ein Geständnis, obwohl er sie gar nicht tadelte.

»Dann verdoppele die Balanceübungen.«

»Ich glaube viel eher, dass ich mir eine neue Matratze kaufen sollte«, gab sie zurück und lächelte.

Xue verdrehte die Augen und für einen Moment blitzte ein Hauch von Zuneigung in seinem Blick auf. »Du weißt immer alles besser.« Sein Gesichtsausdruck wurde weicher, fast väterlich.

Er kannte sie so gut, wurde Sophie bewusst. Viele Jahre war er ihr Trainer gewesen und noch länger war er im Dienst ihres Vaters. Der leichte Schatten unter seinen Augen mochte ein Zeichen von Müdigkeit sein, doch er stand da wie immer – aufrecht, präsent, bereit. Mehr als ein Mitarbeiter. Mehr als ein Lehrer.

Xue gehörte zu den wenigen Menschen, denen ihr Vater wirklich vertraute – und das hieß etwas.

»Wie geht es ihm?«, wollte Sophie wissen, wie jedes Mal, wenn sie nach Hause zurückkehrte. Sie wusste, dass ihr Vater ihr niemals sagen würde, wenn etwas mit ihm nicht stimmte. Doch Xue würde wissen, was los war und er war immer ehrlich zu ihr.

»Gut. Abgesehen von den altersüblichen Einschränkungen ist er fit.«

»Und was treibt ihn um, dass er Matt und Elaine hierherbestellt hat?«

Xue runzelte kurz die Stirn. »Von den geschäftlichen Dingen weiß ich nicht viel. Aber ich habe gehört, dass eine Zusammenarbeit mit Carter Inc. im Raum steht.«

Sophie fand diese Neuigkeit interessant. Soweit sie informiert war, war die Carter Inc. ein direkter Konkurrent zu ihnen und ebenfalls eine Firma, die Komponenten für Navigationssysteme entwickelte und herstellte. Es war möglich, dass es sich bei der Ausschreibung, die Elaine erwähnt hatte, um einen größeren Auftrag des Verteidigungsministeriums handelte. Hier war es nicht unüblich, sich einen Partner zu suchen und das Auftragsvolumen gemeinsam zu stemmen.

»Kommen Sie heute Abend mit uns nach Southampton zur Gala?« Hoffnungsvoll sah sie Xue in die dunklen Augen.

Doch, wie erwartet, schüttelte er den Kopf. »Ich bin zu alt für den Außeneinsatz.«

Xue hatte sich schon vor einiger Zeit vom aktiven Personenschutz zurückgezogen und begleitete ihren Vater nur noch ganz selten zu privaten Treffen. Stattdessen managte er das Team, stellte neue Bodyguards ein, bildete sie weiter aus und erstellte die Dienstpläne.

»Brendan und Andy sind heute dran.« Ganz kurz leuchteten Xues Augen auf und ein feines Lächeln glitt über sein Gesicht.

Bei dem Gedanken an Andy spürte Sophie ein warmes Kribbeln im Bauch. Doch sie ließ sich nichts anmerken, obwohl Xues Lächeln ihr deutlich machte, dass er natürlich Bescheid wusste.

Sie verabschiedete sich für den Moment und schlug den Weg zum Arbeitszimmer ihres Vaters ein. Der Gedanke an Andy hallte in ihr nach. Obwohl die Nacht mit ihr schon zwei Jahre zurücklag, fühlte sich die Erinnerung frisch an, lebendig. Sie dachte gerne daran und freute sich auf das Wiedersehen.

Ruben Davenport war ein Mann mit scharfem Verstand und einer sanften Autorität, wie man sie nicht oft bei Männern in seiner Position fand. Entgegen vieler anderer Machtmenschen trat er eher leise auf. Er gehörte nicht zu den Persönlichkeiten, die sich mit Einschüchterung Respekt verschafften. Sein Auftreten wirkte mitunter wenig selbstbewusst, ja, manchmal sogar schusselig. Doch er nutzte es, um seine Gesprächspartner bewusst zu täuschen, und lenkte Verhandlungen mit Erfolg. Offiziell hatte er Matt die Verantwortung für das operative Geschäft überlassen. Tatsächlich aber regierte er sein Imperium weiterhin, ließ Matt nach seiner Pfeife tanzen.

Deshalb wunderte es Sophie kein bisschen, dass ihr Bruder wie ein Besucher vor dem Schreibtisch ihres Vaters saß, während Ruben, die Hände auf den Tisch gestützt, vor ihm stand und auf ihn einredete.

»Ich sage es dir ein letztes Mal. Ich werde meine Zustimmung nicht geben.«

Matt stöhnte gereizt, doch ehe er etwas sagen konnte, hatte ihr Vater sie bemerkt.

»Sophie!« Lächelnd lief er um den Schreibtisch, um auf sie zuzugehen. Überschwänglich umarmte er sie, als wäre sie immer noch ein kleines Mädchen.

»Tut mir leid. Ich wollte euch nicht stören«, sagte Sophie mit einem Blick auf ihren Bruder.

Auch Matt umarmte sie zur Begrüßung, wenn auch etwas verhaltener. Mit leichtem Neid betrachtete Sophie das perfekte Aussehen ihres Bruders. Grauer Maßanzug, weißes Hemd und Krawatte. Sie neckte ihn gerne damit, der stereotype reiche Junggeselle zu sein, doch sie verstand, warum die Frauen ihn begehrten.

»Du störst nie.« Seine Manieren waren immer tadellos.

Sophie glaubte, so etwas wie Erleichterung in seiner Stimme zu hören, fast als sei er froh darüber, dass sie hereingeplatzt war und dem Gespräch mit Ruben vorerst ein Ende bereitet hatte.

»Was ist denn mit euch los?« Sie sah zwischen Matt und ihrem Vater hin und her; die Art, wie keiner von beiden den anderen ansah, Matts sichtbares Unwohlsein – was mochten die beiden Dickköpfe nun wieder ausfechten? »Streitet ihr euch?«

Matt gab ein lakonisches Lachen von sich. »Das würde ja bedeuten, dass meine Meinung hier irgendein Gewicht hätte.«

Ruben breitete die Arme aus. »Natürlich zählt deine Meinung hier. Doch wenn sie nun mal Bullshit ist …« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

Auf Sophies tadelnden Blick zog er entschuldigend die Schultern hoch. »Was? Ich bin doch nur ehrlich.«

»Worum geht es denn eigentlich?«

»Um eine mögliche Zusammenarbeit mit Carter Inc.«, erklärte Matt.

Ruben schnaubte verächtlich. »Pah! Carter wanzt sich an uns ran. Die wissen, dass sie ohne Hilfe den Regierungsauftrag niemals stemmen können. Doch wenn wir erst mal in deren Fingern sind, werden sie uns aussaugen wie ein Parasit. Die werden unsere Ressourcen benutzen, um zu wachsen, und uns dann schlucken. Genauso, wie sie es mit diesem Software Start-Up letztes Jahr gemacht haben.«

»Wir können den Auftrag aber auch nicht allein stemmen, Dad.«

Ihr Vater schwieg. Offensichtlich drehte sich ihre Diskussion im Kreis.

Ein Klopfen an der Tür brachte das vorläufige Ende des Gesprächs. Elaine kam ins Büro, um Ruben an ein Telefonat zu erinnern, das er in ein paar Minuten führen musste.

Sophie wandte sich an ihren Bruder. »Kommst du heute Abend auch mit?«

Matt warf ihr einen Blick zu, der irgendwo zwischen Belustigung und Entsetzen schwankte. »Fragst du mich das allen Ernstes? Ich würde durchdrehen. Und vor allem will ich Mom nicht über den Weg laufen.«

Sophie lachte leise, obwohl ihr eigentlich nicht danach zumute war. »Kein Problem. Ich sorge dafür, dass die junge Generation der Davenports vertreten ist. Mit passendem Kleid und charmantem Lächeln.«

Die Benefizgala am Abend war Pflichtprogramm für die Upper Class – und damit auch für sie. Es ging um Spenden für die Davenport-Stiftung, die ihre Mutter einst gegründet hatte. Diesmal sollte Geld für eine neue Krebsstation gesammelt werden, was ohne Zweifel ein guter Zweck war. Trotzdem fühlte sich das Ganze für Sophie stets wie ein gesellschaftliches Theaterstück an, bei dem jeder seine Rolle auswendig gelernt hatte.

Ihre Mutter hatte ihr ein paar Aufgaben übertragen, um ›Engagement zu zeigen‹, wie sie es nannte. Sophie erfüllte diese Rolle – aber nicht, weil sie darin aufging, sondern weil sie wusste, dass man das von einer Tochter aus gutem Hause eben erwartete.

»Und ich richte Mom schöne Grüße von dir aus«, fügte sie zwinkernd hinzu und wandte sich zum Gehen.

Die Limousine wartete mitsamt Fahrer vor dem Haus. Sophie warf einen kurzen Blick in den Spiegel im Flur, um ihr Make-up zu prüfen. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu einem strengen Dutt gedreht. Sie fand sich vorzeigbar, nicht zu aufreizend gestylt für diesen Anlass. Sie mochte es nicht, wenn die Töchter der Reichen sich wie für ein Musikvideo kleideten oder auffallende Designermode zur Schau trugen. Sie selbst bevorzugte elegantes Understatement und für eine Benefizgala sollte man sein Geld nicht auf der Haut tragen, sondern für den guten Zweck spenden.

»Du siehst wunderschön aus.«

Sophie wandte sich um, als sie die Stimme ihres Vaters hörte. Ruben kam die Treppe hinunter, gekleidet in den obligatorischen schwarzen Smoking mit Fliege, auf seinem Gesicht ein stolzes , aber liebevolles Lächeln, das Sophie warm ums Herz werden ließ. »Danke. Das ist lieb von dir.« Es berührte sie, dass ihr Vater seine Zuneigung auf diese Weise zeigte.

Hinter Ruben kam Brendan, ihr Leibwächter für heute Abend, die Treppe hinunter.

Ruben deutete ihm mit einer Handbewegung, schnell zum Wagen zu gehen und brummte verstimmt. Sein Lächeln war verschwunden. Sophie wusste, dass er oft keine große Lust auf solche Veranstaltungen wie diese Benefizgala hatte. Noch dazu war seine Exfrau die Gastgeberin.

Sie hakte sich bei ihm unter und gemeinsam gingen sie zum Wagen. Andy, die Brendan heute unterstützte, schloss sich ihnen an und stieg als Letzte zu. Wie immer, wenn sie im Dienst war, waren ihre Haltung gerade und ihr Blick fokussiert. Ehe der Wagen sich in Bewegung setzte, fing Sophie jedoch Andys Blick auf. Ein winziges, kaum sichtbares Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es war nicht mehr als eine stumme Begrüßung, ein beiläufiges ›Ich sehe dich‹.

Sophie schmunzelte zurück und dachte kurz an damals, an diese eine Nacht, leicht und unbeschwert. Kein Drama, kein Bedauern. Nur ein Moment, den sie und Andy in guter Erinnerung behielten.

Ruben seufzte und holte Sophie damit aus ihrem Tagtraum.

»Alles in Ordnung?«

Ihr Vater sah aus dem Fenster. »Mir geht die Sache mit Carter nicht aus dem Kopf.«

»Wäre es denn so schlimm, mit ihnen zusammenzuarbeiten?«

»Ich würde den Auftrag eher sausen lassen, als mich mit Carter einzulassen.«

Sophie zog die Brauen hoch. »Wirklich? Warum das?«

Ruben seufzte erneut, schüttelte den Kopf und sah sie bedauernd an. »Ich habe die Ausschreibung gelesen. Noch sind viele Details des Projekts, um das es geht, streng geheim. Aber ich kann eins und eins zusammenzählen.« Er machte eine kurze Pause, wie er es immer tat, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Es geht um eine neue Drohne. Eine von denen, die völlig selbstständig fliegen und Ziele auswählen können.«

Sophie verstand, worauf er hinauswollte. Ihr Vater hatte bei Aufträgen für das Militär schon öfter Bauchschmerzen gehabt.

»Du kannst dir denken, wo das hinführt.« Ruben klopfte sich auf seinen Oberschenkel. »Es war mir immer wichtig, dass unsere Technologie dazu dient, Menschen zu beschützen oder zu retten. Soldaten zu helfen, den Weg zu finden, bei Evakuierungen zu unterstützen, Kampfjets den Kurs nach Hause zu weisen. Nun sollen wir unmittelbar dabei helfen, Menschen zu töten. Menschen, die von einer künstlichen Intelligenz als Ziele ausgewählt werden.«

»Das heißt, deine Ablehnung gegenüber Carter ist nur ein Vorwand?«, fragte Sophie vorsichtig. Vielleicht war es eine Art Berufskrankheit oder auf Richards’ Einfluss zurückzuführen, doch sie wollte den Dingen auf den Grund gehen. Wollte verstehen, was hinter allem steckte.

»Nein. Ich traue ihnen wirklich kein bisschen. Aber natürlich kann ich so einen guten Grund vorbringen, die Ausschreibung nicht zu bearbeiten.«

»Matt ist anderer Meinung.«

»Das ist Elaine auch«, gab Ruben zurück. »Doch ich bleibe bei meinem Veto. Und andere Vorstandsmitglieder werden sich mir anschließen. Matt ist Opportunist und das ist auch gut so. Das war ich in seinem Alter auch. Doch ich bin es mittlerweile leid, jedem Dollar hinterherzujagen.«

Sophie nickte, um ihrem Vater zu zeigen, dass sie ihm recht gab.

Er schenkte ihr ein versöhnliches Lächeln. »Lass uns nicht weiter davon reden. Ich will dir nicht den Abend verderben.«

Nach der Gala waren Sophies soziale Akkus aufgebraucht. Sie nahm sich ein Taxi, da ihr Vater sich früher nach Hause zurückgezogen hatte.

Ich hätte es genauso machen sollen, dachte sie und lehnte den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe. Aber sie hatte keine Wahl gehabt – ihre Mutter hatte sie eingespannt wie ein Showpferd. Smalltalk mit potenziellen Spendern, charmantes Lächeln für die Fotografen und am Ende sogar die Moderation der Tombola, als sei das eine Selbstverständlichkeit. Ihre Wangen fühlten sich wund an vom Dauerlächeln. Aber so war es eben. Ab und an musste man mal ran und der Gesellschaft etwas zurückgeben.

»Es kann sein, dass sie mich am Tor rauslassen müssen«, sagte sie dem Taxifahrer, da zu später Stunde das Tor an dem Privatweg zum Haus dauerhaft geschlossen wurde.

Doch zu ihrer Überraschung stand es weit offen. Trotzdem ließ sie das Taxi hier halten, bezahlte und stieg aus. Sie hatte sich schon oft spät nachts hier absetzen lassen, fand den Weg zur Not auch im Dunkeln und wollte nicht, dass ihr Vater durch das Motorengeräusch geweckt wurde.

Die Zufahrt folgte einer sanften Kurve, es ging leicht bergab. Kleine, in den Boden eingelassene Lampen wiesen ihr den Weg. Der Platz vor dem Haus war von der Außenbeleuchtung in ein dämmriges Licht getaucht, was es viel mächtiger aussehen ließ als bei Tag. Jemand musste den Bewegungssensor aktiviert haben, wahrscheinlich einer von Xues Leuten.

Sophie trat näher und erkannte, dass die Haustür offenstand, dahinter nur die schwach beleuchtete Diele. Das war seltsam. Wieso stand die Tür weit offen, wenn Ruben schon längst im Bett und sonst niemand hier war? Oder war ihr Vater so spät noch auf?

»Dad?« Zögernd und mit mulmigem Gefühl im Bauch fragte sie in den Hauseingang hinein. »Brendan?«

Sophie blickte sich um. Da war jemand bei den Garagen rechts vom Haus. Eine Bewegung am Rande des Lichtkegels.

Angespannt versuchte sie, etwas zu erkennen. Mit pochendem Herzen ging sie vorsichtig auf die Garagen zu.

»Wer ist da?«

Vor ihr heulte der Motor eines Motorrads auf. Der Scheinwerfer blendete sie und sie hob reflexartig den Arm. Schon rauschte die Maschine an ihr vorbei. Es dauerte nur Sekunden, doch für einen kurzen Moment passierte das Motorrad den Lichtschein der Außenbeleuchtung. Sophie erkannte einen Mann mit grimmigem Gesichtsausdruck, Tätowierungen auf dem rasierten Schädel und aufwendige Verzierungen auf seinem Gefährt. Das Nummernschild war geschwärzt.

Was zum …?!

Furcht kam in ihr auf, doch sie registrierte mit geschärften Sinnen, dass es einen Einbruch gegeben haben musste. Schnell lief sie zur Haustür. Wo war Brendan? Das Haus verfügte über moderne Sicherheitstechnik. Die Anlage konnte entweder ein lautes akustisches Signal ausgeben oder einen stillen Alarm, der zunächst bei Xue einging. Ein Blick auf das Panel drinnen neben der Haustür zeigte Sophie, dass die Anlage nicht scharfgestellt war. Offensichtlich hatte ihr Vater sie deaktiviert, als er nach Hause gekommen war. Mit zitternden Fingern drückte Sophie den Panikknopf, um einen stillen Hilferuf an Xue zu senden, da sie nicht wissen konnte, ob sich noch weitere Einbrecher im Haus aufhielten. Langsam und vorsichtig schritt sie weiter den Flur entlang. Ihr Herz schlug schneller, nicht vor Panik, sondern vor fokussierter Alarmbereitschaft. Sie kannte das Gefühl von ihrer Arbeit, dieses feine Kribbeln unter der Haut, wenn etwas nicht stimmte. Doch diesmal war es anders. Persönlicher.

Am Fuße der Betontreppe, die ins Obergeschoss führte, hielt sie inne. Ihr Blick glitt kurz nach rechts in das Wohnzimmer, das fast komplett im Dunkeln lag. Nur durch die bodentiefen Fenster drang das bläuliche Licht der Poolbeleuchtung herein. Die Terrassentür stand offen.

Sophie atmete flach ein. Keine Glassplitter, kein brachialer Einbruch. Also hatte jemand die Tür geöffnet – von innen oder mit einem passenden Werkzeug.

Ihre Muskeln spannten sich an, als ihr Instinkt das Kommando übernahm. Sie wechselte in einen Modus, den sie aus unzähligen Einsätzen kannte, nur dass ihr dieses Mal das Adrenalin nicht half. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

In dem Moment, in dem sie einen Fuß auf die unterste Treppenstufe setzte, erschienen Brendan und Xue neben ihr. Brendan eilte leise mit gezogener Waffe nach oben. Xue bedeutete Sophie, hinter ihm zu bleiben.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie oben angekommen waren. Sophie spürte mit jeder Stufe der Betontreppe ein beklemmendes Gefühl in ihr wachsen. Sie konnte es nicht erklären – ihr war, als würde die Luft dünner werden, je höher sie kamen.

Brandon rief nach Xue und sie eilten ins große Schlafzimmer.

»Dad!«

Sophie erstarrte.

Ruben lag auf dem Boden. Brendan kniete neben ihm, zwei Finger an seinem Hals, um den Puls zu fühlen.

Sophie sah Blut, ein Einschussloch im Kopf ihres Vaters.

Brendan hob den Blick, schüttelte mit Bedauern in seinen Zügen den Kopf.

Mechanisch trat Sophie ein paar Schritte auf ihren Vater zu, als würde ihr Körper nicht zu ihr gehören. Nein! Das ist nicht richtig! Ihr Atem stockte, als ihr Blick durch den Raum wanderte – über den Boden mit der Blutlache, die sich ausbreitete, über die nackten Betonwände, das zerknitterte Laken. Irgendetwas musste hier falsch sein – ein Detail, das bewies, dass das hier nicht wirklich passiert war. Aber da war nur ihr Vater. Still und leblos.

Als sie sich zu ihm hinunterbeugen wollte, spürte sie einen festen Griff an ihrem Arm. Alles, was sie sehen konnte, war Xues Gesicht, das um Jahre gealtert schien.

»Nichts anfassen.«

Ein Teil ihres Verstandes begriff, dass er recht hatte. Dies hier war ein Tatort. Ein Tatort … blicklos betrachtete sie den Körper vor sich, bis die Erkenntnis in ihr Bewusstsein sickerte: Ihr Vater war tot. Jemand hatte ihn erschossen. Sie spürte, dass Xue sie behutsam wegführen wollte, aber sie war nicht fähig, sich zu rühren. Ihr Körper fühlte sich an wie der Beton, aus dem die Wände und die Treppe gemacht waren. Doch es war nur eine Hülle. In ihr wütete ein Schmerz, der sich immer weiter ausbreitete und drohte, alles zu verschlingen. Sie hörte jemanden schreien. Ein Schrei aus Verzweiflung und Wut.

Es war sie selbst, die schrie.

Ehe sie wusste, wie es passiert war, saß sie im Wohnzimmer auf dem unbequemen Sofa und das Gesicht einer Sanitäterin schwebte vor ihr. Beruhigend sprach diese auf sie ein, doch Sophie konnte ihr nicht folgen. Auf einmal war es voll im Haus; Polizisten, Spurensicherung – es war laut, viel zu laut. Sophie presste die Hände auf ihre Ohren, um sie nicht hören zu müssen.

Sie alle gingen die Treppe auf und ab.

Die graue Betontreppe. Die Lufteinschlüsse im Beton sahen aus wie Löcher.

Das Einschussloch im Kopf ihres Vaters.

Die Treppe. Ein Kommen und Gehen.

Sophie presste ihre Hände auf die Ohren, bis sie nichts mehr hörte außer ihrem eigenen Herzschlag, schnell, ein heftiges Pochen in ihren Ohren. Sie saß da, reglos, doch in ihr wechselten sich Schmerz, Angst und Ohnmacht ab, eine tobende Kaskade, die sie zu verschlingen drohte. Noch während diese Gefühle in ihr tobten, glaubte sie, ein Teil ihrer selbst würde sich vom Sofa erheben. Routiniert, ohne Hast, ging diese andere Sophie hin und her, wanderte durch den Raum, um nachzudenken. Sie war die Ermittlerin, die gelernt hatte, im Chaos den Überblick zu behalten. Gleichzeitig blieb sie selbst auf dem Sofa zurück, wie festgenagelt, mit tauben Fingern und einem Körper, der sich nicht mehr wie ihrer anfühlte.

Ihr Verstand begann zu arbeiten, schneller, als sie bereit war zu folgen. Ihr Vater war ermordet worden. In seinem eigenen Haus. Es war nichts durchwühlt, nichts gestohlen – zumindest auf den ersten Blick. Die Terrassentür stand offen. Ein Zufall? Ein Einbruch, bei dem etwas schiefgelaufen war? Oder hatte jemand es direkt auf ihren Vater abgesehen? Die Fragen überlagerten sich, während Sophies Blick sich auf einen der Lufteinschlüsse im Beton der Treppe fokussierte.

Jemand hat meinen Vater ermordet!

Die Treppe hoch. Das Einschussloch. Löcher in der Treppe. So viele Leute im Haus.

Verschwindet! Lasst mich allein.

Mein Vater ist tot.

Ich bin allein.

Kapitel 2

RubenDavenportwurdean einem Samstag auf dem Sacred Hearts of Jesus & Mary Cemetary in Southampton beigesetzt. Die Luft war schwül, drückte auf die ohnehin schon schwermütigen Anwesenden. Diejenigen, die diesem großen Mann die letzte Ehre erweisen wollten, schwitzten schweigend in ihren schwarzen Jacketts, eleganten Kleidern und Strickjäckchen. Sophie stand reglos neben dem Sarg zwischen ihrer Mutter und ihrem Bruder Matt, die beide auf ihre Weise trauerten. Ihre Mutter weinte lautlos, aber unaufhörlich. So heftig Sophies Eltern bei der Scheidung einander auch angegriffen hatten – Clarice konnte nicht verbergen, wie sehr sie Ruben trotz allem geliebt hatte. Matt sah aus, als wollte er es einfach nur schnell hinter sich bringen. In zweiter Reihe waren Elaine und die Vorstandsmitglieder sowie ein paar alte Freunde von Ruben. Auch Richards war gekommen. Ebenso Ben.

Sophie verbarg ihr Gesicht hinter einer großen Sonnenbrille. Ihre Haltung war aufrecht, unnahbar. Stoisch, denn die Wahrheit war – es war das Einzige, was ihr blieb. Für sie war das hier eine Kulisse. Eine Bühne für die Trauer der anderen. Mehr nicht. Ihr Abschied hatte längst stattgefunden. Allein. Im Stillen und für sich. Man erwartete von ihr, dass sie trauerte. Doch sie würde nicht die Kontrolle verlieren und öffentlich weinen. Nicht vor all diesen Leuten. Nicht vor ihrem Boss. Nicht vor Ben, dessen Anwesenheit sich wie eine zaghafte Frage anfühlte, auf die sie keine Antwort hatte. Ihr Innerstes, ihre Trauer gehörte ihr allein.

Als der Sarg hinabgelassen wurde, hörte sie vereinzeltes Schniefen hinter sich und verdrehte die Augen.

Ihr Heuchler! Ihr kanntet ihn doch gar nicht.

Sie ahnte, was nun kommen würde. Kaum war der Sarg unter der Erde, begann das Feilschen um Einfluss in der Firma. Die Trauer war gespielt, der Machtkampf war echt. Und Matt war der Schlimmste von ihnen.

Sophie wusste tief in ihrem Innern, dass sie ihrem Bruder Unrecht tat. Matt hatte ihren Vater genauso geliebt. Auch er trauerte, musste sich jedoch gleichzeitig um die Geschäfte kümmern. Zusammen mit Elaine hatte er die wichtigsten Schritte eingeleitet, um Schaden von der Firma abzuwenden. Er hatte sich dabei natürlich ganz professionell verhalten. Das war richtig. Ihm war nichts vorzuwerfen. Trotzdem kam es Sophie wie ein Verrat vor.

Etwas abseits, wie üblich die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stand Meister Xue. Sein auf den Boden gerichteter Blick verriet die Schwere, die auf ihm lastete. Sophie konnte sehen, wie er seine Kiefernmuskeln anspannte, wie sich seine Schultern kaum merklich hoben, als müsste er eine große Last tragen. Es war seine Aufgabe gewesen, Ruben zu beschützen. Nicht nur als Sicherheitschef – als Freund, als jemand, der ihm fast sein halbes Leben lang beiseite gestanden hatte. Er hatte es nicht gekonnt. Xue wirkte vielleicht nicht vollends gebrochen, aber etwas in ihm war unrettbar verändert. Sophie spürte einen Stich in ihrer Brust. Nicht einmal Meister Xue war unverwundbar.

Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. In ihr wogten mächtige Gefühle, die sie hier nicht rauslassen konnte. Denn am meisten dominierten Wut und Hass ihr Innerstes. Wut auf die ganze Situation, darauf, dass es sich so anfühlte, als habe ihr bisheriges Leben von einer Sekunde zur anderen einfach aufgehört. Dass sie nicht mehr arbeiten konnte wie zuvor. Dass sie eine Psychologin aufsuchen musste. Dass sie nur mithilfe von Tabletten einigermaßen durch den Tag und abends zur Ruhe kam. Mit ihrer Psychologin, Dr. Dormer, hatte sie die fünf Phasen der Trauer besprochen: Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz. Wie es schien, war sie in der Phase des Zorns angekommen – und dort geblieben. Doch nicht nur das – sie zelebrierte sie förmlich. Es gab ihr die Kraft, vor all den Heuchlern und ach so besorgten Freunden die Fassung zu wahren. Zumindest äußerlich.

Und sie fühlte Hass, abgrundtiefen Hass auf denjenigen, der ihren Vater ermordet hatte. Denjenigen, der den Mord ausgeführt hatte und der, der ihn beauftragt hatte. Denn so viel war mittlerweile sicher: Der Killer war äußerst sauber vorgegangen. Es gab keine Spuren, keine Zeugen. Ruben hatte augenscheinlich mit niemandem ernste Probleme gehabt. Niemand, so schien es, trachtete nach seinem Leben. Die Ermittlungen waren zwar noch nicht abgeschlossen, doch es war klar, dass nichts dabei herauskommen würde. Sophie wusste nur zu gut, wie diese Dinge liefen.

Und sie wusste als Einzige von dem Mann auf dem Motorrad, der vor ihr geflüchtet war. Als man sie verhört hatte, war sie nicht imstande gewesen, sich an alle Details zu erinnern. Sie hatte völlig vergessen, den Mann zu erwähnen. Später dann, als es ihr wieder eingefallen war, hatte sie aus einem unerklärlichen Grund gezögert, es den Ermittlern mitzuteilen. Sie konnte sich selbst nicht erklären, wieso, doch sie hatte sich schließlich dagegen entschieden. Sie spürte, dass das Wissen um diesen Kerl ihr in irgendeiner Weise helfen würde. Bei dem ungeheuerlichen Plan, der langsam in ihrem Kopf heranreifte. Sie spürte ein dumpfes Brodeln in der Magengegend, wie immer, wenn ihre Gedanken in diese Richtung drifteten. Rache war ein dunkler Pfad, manchmal allerdings der einzige.

Als sich die Trauergemeinde auflöste, blieben nur einige wenige am Grab zurück. Schweigend, verloren in ihren eigenen Gedanken. Sophie blickte in den Erdschacht, in dem der Sarg mit dem Blumengesteck aus blauen Rosen darauf versunken war. Ein Teil von ihr wollte sich an den Moment klammern, als könnte sie mit ihrer bloßen Anwesenheit verhindern, dass es hier wirklich endete. Der andere Teil in ihr wollte einfach nur wegrennen – weg von dem Schmerz, den Fragen, der Wut.

Schließlich zwang sie sich, den Kopf zu heben und traf dabei den sorgenvollen Blick ihrer Mutter. Keine Worte hätten ausdrücken können, was beide schon längst wussten. Es war vorbei.

Mit schwerem Schritt und unbewegtem Gesicht folgte Sophie ihrer Mutter und Matt zum Parkplatz.

Als sie dort ankam, standen Xue und Andy beisammen. Sie schienen auf sie zu warten, denn ihre Mienen ließen keinen Zweifel daran, dass sie mit ihr sprechen wollten. Sophie holte tief Luft und wappnete sich innerlich. Bevor sie allerdings zu ihnen aufschließen konnte, versperrte Dr. Dormer ihr den Weg.

Sophie wünschte sich, sie hätte nicht auf ihre Mutter gehört und keine ihrer Bekannten als ihre Psychologin gewählt. Doch sie war ihr so gut wie jeder andere vorgekommen.

»Mein aufrichtiges Beileid.« Dr. Dormer reichte ihr die Hand.

Sophie konnte nur annehmen und nicken. Ganz in schwarz gekleidet, in perfekter Harmonie mit ihrer dunklen Haut, strahle ihre Psychologin eine gebieterische aber auch einschüchternde Aura aus.

Dr. Dormer musterte sie mit ihrem stets analytischen Blick. »Sophie, ich weiß, was Sie durchmachen.«

Weißt du nicht. Auch ein Doktortitel in Psychologie ändert daran nichts.

Sie bemühte sich, sie nicht zu gleichgültig anzusehen. Natürlich wusste sie, dass Dr. Dormer ihr helfen wollte. Aber letztendlich bezahlte Sophie sie nur dafür, dass sie ihr irgendwelche gelernten Sätze aus dem Studium vorbetete. Da war bisher nichts dabei gewesen, was sie nicht selbst hätte recherchieren können und geholfen hatte es auch nichts.

»Leider haben Sie unsere letzte Sitzung ausfallen lassen. Warum? Ich hatte gehofft, Sie melden sich nochmal bei mir.«

Sophie sah betroffen zu Boden. Am einfachsten wäre zu behaupten, sie hätte keine Lust gehabt. Doch natürlich steckte mehr dahinter. Sie seufzte und beschloss, ehrlich zu sein.

»Dr. Dormer, ich … ich glaube einfach nicht, dass es mir hilft. Ich denke, ich möchte die Sitzungen beenden.«

Einen Moment lang schwieg Dr. Dormer. In ihrem Blick lag keine Überraschung, kein Vorwurf – nur ein feines Abwägen, als hätte sie solche Sätze nicht zum ersten Mal gehört.

»Es ist okay, wenn es sich gerade so anfühlt. Aber wir stehen noch ganz am Anfang, Sophie. Manche Wunden brauchen länger, ehe sie sich zeigen – und noch länger, um zu heilen. Es ist kein Zeichen von Schwäche, sich Zeit zu nehmen.«

Für Sophie hörten sich auch diese Worte einstudiert an. Trotzdem fühlte sie sich bloßgestellt und ertappt. Sie nickte betroffen.

»Was auch immer Sie entscheiden«, fuhr Dr. Dormer fort, »Sie wissen, wo Sie mich finden. Ich bin da, wenn Sie bereit sind.«

Sie legte Sophie leicht die Hand auf den Arm, kaum spürbar, aber mit einer Wärme, die Sophie mehr berührte, als sie zulassen wollte.

»Passen Sie auf sich auf.« Mit diesen Worten wandte Dr. Dormer sich ab und überließ sie ihren Gedanken.

Zurück blieb ein Gefühl der Leere in Sophie. Sie konnte einfach nichts anderes mehr fühlen als ein schwarzes Loch in ihrem Innern. Ganz tief unten jedoch, in den dunkelsten Ecken ihrer Seele, schien etwas Unheilvolles zu wachsen.

Sie sah Dr. Dormer nach und ihr Blick traf erneut den ihrer Mutter, die den kurzen Wortwechsel wohl mitbekommen hatte. In ihrem Gesicht stand eine Mischung aus Kritik und Bedauern, und sie schüttelte den Kopf, als fürchtete sie, ihrer Tochter sei nicht mehr zu helfen.

»Soll ich dich nach Hause fahren?« Ben war neben ihr erschienen.

Sophie brauchte einen Moment, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Von allen, die heute gekommen waren, war seine Nähe die schwerste. Nicht, weil er etwas falsch machte – im Gegenteil. Ben war für sie da. Wie ein Satellit kreiste er immerzu um sie, bereit, alles für sie zu tun, was auch immer sie brauchte. Doch was er nicht verstand, war die Tatsache, dass sie vor allem ihn nicht brauchte. Er versuchte so verzweifelt, ihr zu helfen, ohne zu verstehen, dass es nicht an ihm lag. Dass er nichts tun konnte, um die Situation besser zu machen. Stattdessen erinnerte er sie an ihr altes Leben, an ein Leben voller Glück und Liebe und diese Erinnerung war einfach zu schmerzhaft. Doch je kälter und ablehnender sie sich ihm gegenüber verhielt, desto mehr strengte er sich an. Ein Teufelskreis, aus dem sie niemals herauskamen.

»Ich fahre mit Andy.«

Sie sah, wie sich seine Miene einen Moment lang veränderte, den Hauch von Enttäuschung, der in seinen Augen aufflackerte, bevor er verständnisvoll nickte.

Sophie brachte es nicht über sich, noch etwas zu sagen. Wenn jetzt noch jemand zu ihr kam, um sie mit seiner Fürsorge zu quälen, … Und da standen immer noch Xue und Andy, die auf sie warteten. Sie ging auf die beiden zu und spürte Bens Schweigen hinter sich wie einen Schatten.

»Andy hat mir alles erzählt.« Xue blickte sie finster an.

Sophie fixierte Andy mit einem Funkeln in ihren Augen. Andy wirke getroffen und sah zu Boden.

Xue legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich weiß, du machst deinen Schmerz zu Wut, weil du das immer tust. Aber das ist nicht der Weg.«

Sophie wich seinem Blick aus. Er war der Letzte, dem sie sich erklären wollte. Sie erkannte, dass es ebenso eine schlechte Idee gewesen war, Andy in ihre Gedanken einzuweihen. Bereits wenige Tage nach dem Mord an ihrem Vater, hatte Sophie Andy aufgesucht, um sie davon zu überzeugen, mit ihr zu trainieren. Zu Beginn hatte sie sich gedacht, es würde ihr helfen, sich abzulenken. Es hatte allerdings nicht lange gedauert, bis Andy begriffen hatte, worum es Sophie wirklich ging. Nicht um Fitness oder Ausgleich, sondern um Vorbereitung für ihre Rache. Natürlich hatte Andy versucht, sie zur Vernunft zu bringen. Sanft, beinahe flehentlich. Doch Sophie hatte abgeblockt und sich hinter ihrer Entschlossenheit verschanzt. Also hatte Andy sich nun offensichtlich Hilfe geholt.

Xue hatte es richtig erkannt. Die Trauer, die sich in Wut verwandelte, die Wut, die ein Ziel suchte – einen Feind. Natürlich versuchte er, sie vor sich selbst zu beschützen.

»Sophie, bitte lass nicht zu, dass das mit dir passiert.«

Sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Ihre Lippen bewegten sich nicht, aber in ihrem Innern wirbelten Worte, Fragen und Enttäuschung umher. Hatte sie wirklich geglaubt, Xue würde ihr helfen? Dass er, aus alter Loyalität zu ihrem Vater, ihre Wut teilen und sie unterstützen würde?

Offenbar, ja.

Sie hatte sich getäuscht. Mit ihm konnte sie nicht rechnen. Auch mit Andy nicht, die sie wie eine Komplizin gesehen hatte.

Mit dem Schwinden der Hoffnung auf Unterstützung meldete sich eine Wut in ihr, die von ganz tief unten aus dem Loch in ihrer Seele zu kommen schien.

Na, schön. Dann eben allein.

Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, und blickte Xue in die Augen. »Ich werde mir helfen lassen, Sifu. Gerade habe ich mit Dr. Dormer geredet.«

Xue nickte sichtlich erleichtert.

Andy hingegen runzelte die Stirn und schien nicht überzeugt von Sophies Worten. Ehe sie etwas sagen konnte, schnitt Sophie ihr das Wort ab. »Kannst du mich mit in die Stadt nehmen?«

»Natürlich.« Andy schien es fürs Erste dabei zu belassen und sie nicht weiter bedrängen zu wollen.

Sie verabschiedeten sich von Xue und gingen zu Andys Wagen. Sophie war still, nach außen gefasst, während ihre Gedanken rasten. Sie schwirrten umher, unmöglich, sie festzuhalten. Wieder einmal betäubte dieses Chaos in ihrem Kopf alle Gefühle. Sie konnte einfach gar nichts mehr fühlen.

Als Andy vom Parkplatz fuhr, glitt Sophies Blick noch einmal zurück. Dort stand ihre Mutter, flankiert von Matt und Ben. Alle drei beobachteten sie – die eine mit Sorge, die anderen mit hilflosem Unverständnis.

Sophie wandte sich ab.

Zum wiederholten Mal ging Sophies Wecker, doch sie drückte erneut die Snooze-Taste. Die Tage verschwammen im Nebel, die Nächte wurden von seltsamen Träumen beherrscht. Sie wusste nicht einmal, welcher Tag heute war. Es war ihr egal. Irgendwo am Rande ihres Bewusstseins mahnte eine Stimme sie, dass es so nicht weitergehen konnte. Dass sie aufstehen und sich dem Leben stellen musste.

»Versuchen Sie, eine Routine zu finden«, hatte Dr. Dormer ihr geraten. »Zu Beginn machen Sie ganz kleine Schritte.«

Als ob das so einfach wäre!

Sophie zog die Decke über den Kopf. Sie hatte bereits eine verdammte Routine gehabt. Jeden Morgen das gleiche Ritual, das sie rigide befolgt hatte, seit sie von zu Hause ausgezogen war: ein Espresso, eine halbe Grapefruit, danach eine kurze Meditation und etwas Tàolù, um in Form zu bleiben. Zum Schluss noch eine heiße Dusche, dann anziehen und stylen für den Tag. Sie hatte geglaubt, sie stünde mit beiden Beinen fest auf dem Boden, doch dieser war unter ihr eingebrochen wie dünnes Eis.

Nun war allein der Gedanke daran so schmerzhaft, als würde sie innerlich zerrissen werden. Sie konnte nicht einfach so weitermachen. Denn jetzt war da einfach nur Leere, greifbar, als hätte man etwas von ihr abgetrennt. Wie sollte sie zurück in ein Leben, das es nicht mehr gab ? Ein Leben, in dem sie sich sicher gefühlt hatte, die Kontrolle gehabt hatte. Ein Leben, in dem sie der vollen Überzeugung gewesen war, dass die meisten Dinge vorhersehbar seien. Aber sie hatte keine Kontrolle und nichts war vorhersehbar. Nichts war sicher. Ohne Vorwarnung hatte jemand ihren Vater kaltblütig erschossen und damit auch ihr bisheriges Leben beendet.

Offiziell hieß es, ihr Vater habe einen Einbrecher überrascht, der ihn im Affekt getötet hatte und geflüchtet war. Viel zu schnell war die Kriminalpolizei zu diesem Schluss gekommen. Diese Stümper hatten sich mit der einfachsten Erklärung zufriedengegeben. Keine Spuren eines gewaltvollen Eindringens, kein Unbefugter auf den Aufnahmen der Überwachungskameras. Aber wieso nicht? Die quälenden Fragen dröhnten durch Sophies Kopf, als würde sie ihr jemand laut ins Ohr brüllen. Wieso? Wieso ihr Vater? Wieso war die Polizei ausgerechnet in diesem Fall so inkompetent?

Als ihr Wecker erneut los trällerte, schlug sie die Bettdecke zur Seite und atmete tief durch. Die aufkommende Wut über die Tatsache, dass sie keine Antworten hatte, vertrieb den Schmerz. Wie auch schon früher, wenn sie Schmerz hatte empfinden müssen, hatte ihr die Wut geholfen, ihn zu betäuben.

Sophie schaltete den Wecker aus und stieg aus dem Bett. Sie hatte genug Zeit vertrödelt. Immerhin hatte sie einen Plan umzusetzen. Der Mann auf dem Motorrad war der Schlüssel zu all ihren Fragen, dessen war sie sich sicher. Also musste sie ihn finden. Zum Glück wusste sie, wie.

Statt der halben Grapefruit gab es für sie nun jeden Morgen eine Prozac zum Espresso dazu. Einen Vorteil hatten die Pillen – sie brachten sie in einen herrlichen Scheiß-Egal-Zustand, wenn man sie richtig dosierte. Wollte sie die Welt gänzlich ausblenden, konnte sie Lorazepam einwerfen und sich in eine Wolke aus Watte zurückziehen. Sophie hatte von dieser Möglichkeit bereits Gebrauch gemacht, doch nun wollte sie bei halbwegs klarem Verstand bleiben.

Kurz ging sie hinaus auf die geräumige Dachterrasse ihres Lofts, lauschte auf die Geräusche der Stadt fünfundzwanzig Stockwerke unter ihr, den Verkehr von der Park Avenue und die Sirenen der Rettungswagen vom nahen Lennox Hill Hospital. Als ihr Blick auf die Tatamimatte fiel, auf der sie sonst immer ihre Übungen absolviert hatte, wurde ihr bewusst, dass sie unbedingt wieder trainieren musste. Vor allem aber musste sie Trainingskämpfe absolvieren, um richtig in Form zu kommen. Andy würde sie jedoch deswegen nicht mehr anrufen können.

Nun, eins nach dem anderen. Möglichst kleine Schritte machen. Zunächst einmal brauchte sie eine Auskunft.

Sie fröstelte im kalten Wind und ging zurück in ihr Wohnzimmer, das – wie sie nun feststellte – ruhig mal wieder saubergemacht werden könnte. Aber das würde Yolanda später erledigen. Noch im Schlafanzug nahm Sophie ihr kürzlich neu gekauftes Handy und wählte die Nummer ihres Kollegen David.

Was sie vorhatte, war heikel. David war schlau genug, um sie zu durchschauen, also würde sie versuchen, so ehrlich wie möglich zu sein.

Er meldete sich zögernd, wohl weil er die Nummer nicht kannte. »Ja?«

»Ich bin’s.«

»Sophie?« Es folgte Stille, ehe er weitersprach. Wahrscheinlich war er mächtig überrascht. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ich bin okay.«

Sie glaubte, ein erleichtertes Seufzen zu hören. »Tut mir leid. Was da passiert ist … mit deinem Dad … das ist so …« Er stockte.

Sophie konnte sich vorstellen, wie er nach den angemessenen Worten suchte. Sie standen einander nicht sehr nahe. David gehörte erst seit Kurzem zum Team und unterstützte sie nur zeitweise, da er noch studierte. Trotzdem wollte er sein Mitgefühl ausdrücken, schien aber nicht genau zu wissen, wie.

»Wie kann ich dir helfen?«, fragte er schließlich.

Sophie holte tief Luft. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten. Und darum, keinem etwas davon zu erzählen.«

Nervös fuhr sie sich durchs Haar. Hier entschied sich, ob er ihr helfen würde oder nicht.

»Okay.« Er sprach es ganz langsam aus, als sei er auf der Hut. Sophie spürte aber auch Neugierde in seiner Stimme. Natürlich wollte er wissen, was sie denn so Geheimnisvolles von ihm wollte.