Killerjagd - Christine Drews - E-Book

Killerjagd E-Book

Christine Drews

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Beschreibung

Rachel Hyatt ist eine der besten Profiler bei Scotland Yard. Als sie zum Schauplatz eines besonders brutalen Mordes gerufen wird, weiß sie daher sofort: Hier war ein Profi am Werk - aber einer, der persönliche Gründe für seine Tat hat. Zumal sein Opfer nicht irgendwer ist, Sir Ian war ein wichtiges Mitglied des britischen Geheimdienstes. Noch ahnt Rachel nicht, dass sie soeben den Weg des gefährlichsten Killers Englands gekreuzt hat. Und dass sie sehr bald von der Jägerin zur Gejagten werden wird ...

Ein packender Serienmörder-Thriller mit einer toughen Ermittlerin auf der Jagd nach einem abartigen Killer.

Lesen Sie auch KILLER BLOG - In diesem begleitenden Thriller schildert Großbritanniens gefährlichster Serienkiller die Geschichte und die Morde aus seiner Sicht. Beide Romane bieten jeweils eine in sich abgeschlossene Handlung und können auch unabhängig voneinander gelesen werden.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin bei Bastei Lübbe

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

PROLOG

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EPILOG

DANKSAGUNG

Weitere Titel der Autorin bei Bastei Lübbe

Killer Blog

Dunkeltraum

Nach dem Schweigen

Charlotte Schneidmann und Peter Käfer ermitteln in Münster:

Schattenfreundin

Phönixkinder

Tod nach Schulschluss

Denn mir entkommst du nicht

Kälter als die Angst (Dezember 2018)

Über dieses Buch

Ein Duell auf Leben und Tod – die beste Profilerin vom MI5 jagt ihren würdigsten Gegner

Rachel Hyatt ist eine der besten Profiler bei Scotland Yard. Als sie zum Schauplatz eines besonders brutalen Mordes gerufen wird, weiß sie daher sofort: Hier war ein Profi am Werk - aber einer, der persönliche Gründe für seine Tat hat. Zumal sein Opfer nicht irgendwer ist, Sir Ian war ein wichtiges Mitglied des britischen Geheimdienstes. Noch ahnt Rachel nicht, dass sie soeben den Weg des gefährlichsten Killers Englands gekreuzt hat. Und dass sie sehr bald von der Jägerin zur Gejagten werden wird …

Lesen Sie auch KILLER BLOG – In diesem begleitenden Thriller schildert Großbritanniens gefährlichster Serienkiller die Geschichte und die Morde aus seiner Sicht. Beide Romane bieten jeweils eine in sich abgeschlossene Handlung und können auch unabhängig voneinander gelesen werden.

Über die Autorin

Christine Drews arbeitet seit ihrem Germanistik- und Psychologiestudium als Drehbuchautorin für zahlreiche deutsche TV-Produktionen. Ihr Debüt-Roman »Schattenfreundin« erschien 2013 bei Bastei Lübbe und war der Auftakt zu der erfolgreichen Münster-Krimi-Reihe um die Ermittler Charlotte Schneidmann und Peter Käfer. Mit »Phönixkinder«, »Tod nach Schulschluss« und »Mir entkommst du nicht« wurden bisher drei weitere Teile der Reihe veröffentlicht. Neben den Münster-Krimis schreibt Christine Drews auch Romane und Thriller. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Köln.

CHRISTINE DREWS

KILLERJAGD

SERIENKILLER-THRILLER

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion Lisa Bitzer

Lektorat: Bettina Steinhage

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Pauline Schimmelpenninck, Büro für Gestaltung, Berlin unter Verwendung von Motiven © Plainpictur/C&P; © FinePic®, München

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6421-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Anke und Peter

PROLOG

Eine Flüssigkeit lief ihr den Rücken hinunter, strich über jeden einzelnen Wirbel, bis das dünne Rinnsal von der großen Wunde gestoppt wurde, die sich über ihrem Gesäß befand. War es Schweiß oder Blut, was ihr vom Nacken rann? Sie konnte es nicht sagen, glaubte aber, dass es Schweiß war, da sie ihren Nacken bisher in Ruhe gelassen hatten. Ihr Unterleib hatte sie bis jetzt am meisten interessiert. Natürlich. Wie hätte es auch anders sein können. Sie hatten sie geschlagen, von vorn und von hinten, und sie mit allen möglichen Gegenständen malträtiert. Seit einer Weile strömte unaufhörlich Blut aus ihrem Schoß, und sie war sich sicher, dass sie schwere innere Verletzungen hatte.

Doch nun hatten sie schon ein paar Minuten von ihr gelassen – ob es endlich vorbei war? Sie versuchte, die Augen zu öffnen und einen Blick in den Raum zu werfen. Sie konnte kaum etwas erkennen. Ihr Gesicht war so geschwollen, dass ihr Blickfeld stark eingeschränkt war.

Um sie herum sah es aus wie in einer Schlachterei. Boden und Wände waren weiß gekachelt, bis hoch an die Decke. Und überall sah sie Blut, ihr Blut – und sein Blut. Die Eisenketten, an denen sie hingen, waren rostig und schimmerten in rötlichem Braun. Wie viele hatten vor ihnen hier gehangen? Wie viele verzweifelte Schreie waren gegen die gekachelten Wände gebrüllt und von niemandem gehört worden?

Alles um sie herum roch nach Blut, Schweiß, Tränen und Angst. Und nach Tod. Ja, es roch nach Tod. Sie hätte nie gedacht, dass der Tod einen solchen Geruch hatte, irgendwie süßlich und doch unerträglich schwer. Was waren das für Menschen gewesen, die vor ihr hier hatten sterben müssen? Männer, Frauen, Junge, Alte?

Würde auch sie hier sterben?

Wirklich?

Vielleicht ließen sie sie ja doch laufen. Vielleicht hatte sie in diesem Augenblick das Schlimmste bereits hinter sich, und sie würden zur Besinnung kommen und sie gehen lassen. Jedenfalls konnte sie keinen der Peiniger mehr im Raum ausmachen.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte in ihr auf. Vielleicht würde sie bald wieder zu Hause sein, würde sich von den Verletzungen erholen können und versuchen, ein einigermaßen normales Leben zu führen. Sie alle drei zusammen.

Plötzlich öffnete sich die schwere Eisentür in der Wand gegenüber, langsam und quietschend wurde sie aufgeschoben. Ihr Herz stockte, als sie sah, wer durch die Tür in den Raum kam.

Alle Hoffnung war mit einem Schlag verschwunden.

Nein, das könnt ihr mir nicht antun, dachte sie. Bitte nicht!

Sie versuchte, etwas zu sagen, aber sie brachte keinen Ton mehr über die Lippen.

1

Er saß in der überdachten Bushaltestelle, dicht an die Wand gedrängt, auf der hintersten Ecke der schmalen Holzbank. Die Überwachungskameras, die selbst in diesem ländlichen Vorort von London an jeder Straßenecke hingen, konnten ihn nicht erfassen. Trotzdem zog John sein Basecap noch tiefer in die Stirn.

Das Anwesen lag auf der anderen Straßenseite. Fast drei Wochen hatte er es beobachtet, bis er wusste, wie er die Straße überqueren und über die Mauer springen konnte, ohne in den Blickwinkel der Überwachungskameras zu geraten. Was für eine beschissene Geldverschwendung dieses CCTV doch war. Er war der beste Beweis dafür, dass dieser Kamerawahnsinn nichts brachte.

In diesem Moment hörte er den dröhnenden Motor der Müllabfuhr. Noch knapp zwanzig Sekunden, dann würde der Wagen um die Ecke biegen. Weitere zwei Minuten brauchten die Männer für das Leeren der Mülltonnen, bis sie an der Bushaltestelle ankamen. Die St. George Street war eine Sackgasse und endete in einem Wendehammer, sodass die Müllmänner zuerst nur die Tonnen auf der linken Seite der Straße leerten. Zwischen dreizehn und siebzehn Minuten dauerten die Frühstückspausen, die sie in dem großzügigen Wendekreis machten, bevor sie die Straße zurückfuhren und sich die Tonnen auf der rechten Seite vornahmen. Sie benötigten weitere dreieinhalb Minuten, bis sie wieder an der Bushaltestelle ankamen. Maximal zwanzig Minuten hatte er, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Dann würde sich Johns Zeitfenster wieder schließen.

Als er den weichen Rasen auf der anderen Seite der Mauer unter seinen Füßen spürte, hörte er, dass der Wagen der Müllabfuhr weiterfuhr. Alles lief genau nach Plan. Wie immer.

Der Vorgarten war makellos – perfekt gepflegter Golfrasen und akkurat geschnittene Buchsbäumchen. Natürlich, der alte Sack musste einen Gärtner haben. Hatte er ihn übersehen? Wann kam er? Hoffentlich nicht heute. Sonst hätte John mehr zu tun als geplant.

Er lief um das Haus herum und brauchte nur einen Moment, um die alte Hintertür zu öffnen. Vermutlich ein ausgeleierter Profilzylinder, dachte er kurz, als er sie leise aufschob.

John trat in die Küche. Schmutziges Frühstücksgeschirr lag aufeinandergestapelt in der Spüle, neben der ein paar Kräuter in ihren Töpfen vor sich hinwelkten. Es roch nach Kaffee und Baked Beans, eine widerliche Mischung, wie er fand.

Dank seiner Spezialsohlen konnte er fast lautlos über den grauen Steinfußboden zum Wohnbereich gehen. Sein Messer, das in einer ledernen Scheide in der Innenseite seiner Jacke steckte, zog er schon in der Diele hervor. Er mochte das Messer. Es durchtrennte mühelos alles, was ihm in den Weg kam, und hinterließ eine Menge Arbeit für die Spurensicherung. Normalerweise bluteten seine Opfer völlig aus, Kleidung, Fußboden, Möbel – alles war danach durchtränkt. Jedes Staubkorn wurde von der Spurensicherung untersucht, in der Hoffnung, etwas DNA von ihm aufzuspüren. Doch natürlich fanden sie nie etwas, schließlich wusste er, wie man die Waffe richtig benutzte. Im Laufe der Jahre hatte er den Umgang mit der Klinge perfektioniert, er machte sich noch nicht mal mehr die Finger schmutzig.

John blickte durch die offene Tür ins Wohnzimmer. Da saß er. Er hatte ihm den Rücken zugewandt, die Schultern waren eingefallen und der kahle Kopf leicht nach vorn gebeugt. Ein Greis im Rollstuhl, dessen Tage ohnehin gezählt waren.

In fünf Minuten bin ich hier wieder weg, dachte John und machte einen Schritt in das Wohnzimmer. Der Dielenboden knarzte, und im selben Moment hob der Greis den Kopf.

»John …?«

Verdammt!

Hatte er ihn draußen gesehen? Auf der Straße? Vor dem Fenster? Ausgeschlossen. Aber wie hatte er ihn erkennen können? Der alte Mann konnte unmöglich wissen, wie er heute aussah. Vielleicht hieß sein Pfleger ja auch John? Oder der Gärtner?

Mit zittrigen Händen umfasste der Alte die Räder seines Rollstuhls und drehte ihn langsam um. Er verzog den Mund zu einer Art Lächeln.

»Ich habe dich schon erwartet.«

Für einen Moment stand John regungslos da. So hatte er das nicht geplant. Er hatte erwartet, einen dementen alten Opa anzutreffen und ihn so schnell ins Jenseits zu befördern, dass der es gar nicht kapieren würde. Und jetzt sprach ihn der Mann mit klarer Stimme und wachen Augen an. Irgendwas lief hier schief.

Habe ich noch alles unter Kontrolle?

»Woher kennen Sie mich?«, fragte er.

»Kennen … kennen ist zu viel gesagt. Du warst damals doch erst drei …«

John nickte langsam. Ja, drei Jahre alt war er gewesen, als er zu dem wurde, der er heute war. Er konnte sich an den Alten nicht erinnern – jedenfalls nicht direkt. Aber er wusste, dass er dabei gewesen war.

»Setz dich doch, John.«

Mit dem Messer in der Hand und ohne eine Miene zu verziehen, nahm er auf dem Sofa mit den vielen kleinen Satinkissen darauf Platz, die akkurat aufgereiht und mit verschiedensten Tiermotiven verziert waren. Er hatte von dem Greis nichts zu befürchten, das wusste er. John hatte es schon mit ganz anderen Leuten aufgenommen.

»Haben Sie mich im Vorgarten gesehen?«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Nein. Ich warte schon seit anderthalb Jahren auf dich. Seitdem Steve …«

Die Stimme des Mannes stockte, und John sah, wie er schlucken musste, sich räusperte und Mühe hatte, die Fassung zu wahren. Seine Unterlippe begann zu zittern, und etwas Speichel lief ihm aus dem Mund. Er schien es gar nicht zu bemerken.

»Haben Sie die Polizei informiert?« John musterte das Gesicht des Alten, suchte es nach einem Merkmal ab, irgendetwas, an das er sich erinnern konnte. Die Augen, die Nase – aber er fand nichts.

»Nein, John, nein. Du hast nichts zu befürchten. Ich bin froh, dass du da bist.«

Das hatte noch keiner zu ihm gesagt. Wollte der Alte ihn vielleicht in ein Gespräch verwickeln? Eine persönliche Beziehung aufbauen, in der Hoffnung, so seinem Schicksal zu entkommen?

»All die Jahre habe ich die Schuld gespürt«, sagte der Alte einen Augenblick später. »Auch wenn wir uns damals nicht im wortwörtlichen Sinn die Hände schmutzig gemacht haben, unsere Seelen haben wir tief beschmutzt. Ich habe große Schuld auf mich geladen, John. Und ich bin bereit, dafür zu büßen.«

John nickte langsam und sah auf die Uhr. Er war schon viel zu lange hier.

»Nur noch eines«, sagte der Alte. »Ich will nichts entschuldigen, aber … Ich will es dir erklären. Es waren damals andere Zeiten. Der Kalte Krieg … Wir konnten nicht so, wie wir wollten.«

»Das sagen alle Feiglinge. Mit etwas Courage hätten Sie es verhindern können, das wissen Sie genau.«

Der Alte sah ihn müde und traurig an.

»Wird es wehtun?«, fragte er mit zittriger Stimme, als sich John vom Sofa erhob und an den Rollstuhl herantrat.

»Ein bisschen«, antwortete er ruhig.

Dann packte er das Kinn des alten Mannes und zog den Kopf nach hinten. Er ließ blitzschnell die scharfe Klinge durch das faltige Fleisch fahren und achtete sorgsam darauf, dass das herumspritzende Blut seine Kleidung nicht beschmutzte.

2

Rachel Hyatt parkte ihren dunkelgrünen Land Rover hinter einem Streifenwagen, der vor dem Anwesen in der St. George Street Nr. 74 stand. Ein weiterer Polizeiwagen war vor der Garage abgestellt worden, der schwarze Kastenwagen der Spurensicherung drängte sich dicht dahinter. Rachel stieg aus und atmete tief durch. Die Nacht war anstrengend gewesen. Noah hatte ins Bett gepinkelt, und sie hatte die Bettwäsche wechseln, den Jungen abtrocknen und frisch anziehen müssen. Kein Grund zur Sorge, hatte sie sich gesagt, einem Vierjährigen konnte so was durchaus mal passieren. Aber den Schlaf hatte ihr die nächtliche Aktion trotzdem geraubt. Ihre tägliche Laufrunde war deshalb etwas kürzer ausgefallen als sonst, obwohl sie es eigentlich nicht mochte, wenn sich etwas in ihrer Morgenroutine änderte.

Sie stand vor dem grau verputzten Landhaus und blickte, ein Gähnen unterdrückend, an ihm hoch. Die Fassade war mit Efeu bewachsen, der sich seinen Weg zwischen den kleinen Sprossenfenstern bis zum Dachgiebel gebahnt hatte. Aus dem Schornstein stieg dünner Rauch auf. Es war recht warm für November, der Wetterbericht hatte für heute vierzehn Grad angekündigt, sodass für die Jahreszeit wenig geheizt wurde.

Das zweigeschossige Haus sah ordentlich aus und war von einem großen und sehr gepflegten Garten umgeben. Im Vergleich zu den anderen Villen, die in der Nachbarschaft standen, wirkte das Anwesen fast bescheiden. In Richmond ist das Geld zu Hause, hatte ihr Vater früher immer gesagt, wenn sie mit der Familie einen Ausflug zum Royal Botanic Garden gemacht hatten, und damit hatte er definitiv recht gehabt.

Rachel strich ihren dunkelbraunen Pferdeschwanz glatt, ging die drei Stufen hoch und betrat das Haus von Sir Ian MacKenzie.

»Nehmen Sie sich mal die Küche vor, vielleicht hatte der Täter die Tatwaffe von dort«, hörte sie eine tiefe Stimme sagen.

Bob ist also schon da, dachte sie und stellte sich auf eine mürrische Begrüßung ein. An Tatorten war ihr Kollege eigentlich immer schlecht gelaunt.

Sie ging an einem jungen Mann in der weißen Uniform eines Pflegedienstes vorbei, der totenbleich auf einem antiken Sessel im Flur saß. Dann betrat sie das Wohnzimmer.

»Hallo, Bob«, sagte Rachel und lächelte.

Detective Superintendent Bob Hall hatte die Statur eines Bären. Sein Kopf war kahl, die wenigen Haare, die ihm noch geblieben waren, rasierte er sich jeden Morgen ab. Ansonsten konnte er sich über mangelnden Haarwuchs nicht beklagen. Sein Gesicht war von einem gepflegten Vollbart bedeckt, dunkle Brusthaare lugten aus dem Hemdkragen hervor, und auch seine Arme waren mit dichtem Pelz besetzt. Man konnte fast meinen, die starke Körperbehaarung wäre eine Art Ausgleich für die Glatze, die er schon in jungen Jahren bekommen hatte.

Mit grimmiger Miene sah er Rachel an. »Was zur Hölle willst du denn hier?«, stöhnte er, bevor er seine Lippen zu einem schiefen Grinsen verzog.

Rachel ignorierte seine Bemerkung und stellte sich neben ihn. »Wow«, sagte sie leise, als sie den Tatort betrachtete.

Trotz des grotesk verzerrten Gesichts hatte sie Sir Ian sofort erkannt. Sie war oft genug an seinem Porträt vorbeigelaufen, das in einem Flur des MI6 hing. Sir Ian war eine angesehene Persönlichkeit, erst vor knapp einem Jahr hatte ihn die Queen für seine Verdienste zum Ritter geschlagen.

Und jetzt saß er mit gefalteten Händen in einem Rollstuhl. Sein Kopf war fast abgetrennt. Er schien nur noch von einer Sehne an der linken Seite gehalten zu werden und ragte unnatürlich schief nach hinten. Rachel konnte von ihrer Position aus in den aufklaffenden Schlund blicken. Mit nüchternem Interesse stellte sie fest, dass sie Luft- und Speiseröhre sehen konnte. Selbst die Halswirbel waren freigelegt.

Entweder war die Tatwaffe unglaublich scharf, oder der Täter ist mit enormer Kraft vorgegangen, dachte sie. Oder beides.

Sir Ians Kleidung war von Blut durchtränkt, ebenso der Teppich, auf dem der Rollstuhl stand. Ein blutiger Flokati war der Albtraum jeder Spurensicherung, und Rachel bemerkte, wie genervt ihre beiden Kollegen in den weißen Schutzanzügen aussahen. Für sie begann eine Sisyphusarbeit.

»Hat der Chef dich geschickt?«, fragte Bob und riss sie aus ihren Beobachtungen.

Rachel nickte. »Ja. MacKenzie war schließlich nicht irgendwer.«

»Was soll das heißen? Dass ich mit prominenten Toten nicht allein klarkomme?«

Sie verkniff sich eine Bemerkung. Bobs Empfindlichkeiten konnten manchmal ganz schön nerven.

»Nein, natürlich nicht. Aber der Chef war der Meinung, dass ein Profiler in diesem Fall wichtig sein könnte. Einfach als Signal, dass wir alles tun, um den Mord schnellstens aufzuklären. Sonst mischt sich nachher noch der MI6 ein.«

Die Antwort schien Bob zu beruhigen. Jedenfalls brummte er nur noch etwas Unverständliches in seinen Bart und wandte sich dann an Stephen Miller, den älteren der beiden Kollegen von der Spurensicherung.

Rachel wusste, dass Bob sie und ihre Arbeit schätzte. Aber sie stammten einfach aus zwei unterschiedlichen Welten. Bob Hall war ein hemdsärmeliger Mann aus einfachen Verhältnissen. Er hatte die klassische Polizeikarriere hinter sich, irgendwann mal als Bobby angefangen und sich zum Superintendent hochgearbeitet. Rachel dagegen stammte aus einer Akademikerfamilie, hatte in Oxford Psychologie studiert und veröffentlichte regelmäßig Artikel in Fachzeitschriften, in denen sie über ihre Arbeit als Profilerin berichtete. Ihre Herangehensweise an einen Fall – und eigentlich auch an das alltägliche Leben – war eine gänzlich andere als Bobs. Außerdem glaubte sie, dass er es ihr immer noch übel nahm, dass sie bei der letzten Schießprüfung einen Hauch besser abgeschnitten hatte als er. Eine Frau, die ihn ausgerechnet am Schießstand besiegte, war für einen Macho wie Bob nur schwer zu verkraften.

Er drehte sich wieder zu ihr. »Also: Paul Henderson war heute Morgen von halb sieben bis etwa Viertel nach acht hier, hat Sir Ian gewaschen, angezogen und ihm Frühstück gemacht. Als er das Haus verließ, lebte der alte Mann noch. Um zwölf Uhr kam er wieder, um ihm das Mittagessen zu bringen, aber da war Sir Ian schon tot.«

»Henderson ist der Mann im Flur?«

Bob nickte. »Ja. Ein Pfleger. Er kommt seit einem halben Jahr dreimal täglich. Steht ein bisschen unter Schock, der Kleine. Ich bin froh, dass er uns nicht auf die Leiche gekotzt hat. Oder auf den Flokati.«

»Was ist mit der Tatwaffe?«

»Verschwunden. Es sieht nicht so aus, als stamme sie aus der Küche des Opfers. Jedenfalls haben die Kollegen dort keinerlei Spuren entdeckt.«

»Es war also kein Einbrecher, der sich spontan ein Messer aus der Küche geschnappt hat.«

»Definitiv nicht. Zumal nichts geklaut wurde. Jedenfalls wurde nichts durchsucht, und es scheint auch nichts zu fehlen. Also, ein klassischer Einbruch war das nicht.«

Rachel wandte sich an Stephen, der gerade konzentriert die Schnittstelle am Hals der Leiche untersuchte.

»Was könnte das für ein Messer gewesen sein?«, fragte sie.

»Auf den ersten Blick würde ich sagen, es war eine Clip-Point-Klinge, wahrscheinlich mit Zähnen«, sagte Stephen nachdenklich, ohne von der Leiche aufzusehen. »Ein Kampfmesser, wird bevorzugt in der Army benutzt. Diese ausgefransten Stellen könnten ein Hinweis darauf sein.«

Rachel sah ihn fragend an, was Stephen, auch wenn er sie nur aus dem Augenwinkel sehen konnte, zu bemerken schien.

»So eine Clip-Point-Klinge ist vorne glatt und extrem scharf«, erklärte er. »Häufig sind sie dann weiter unten gezackt wie eine Säge. Daher die ausgefransten Stellen hier an der Haut.« Er zeigte auf eine blutige Stelle am Hals des Toten. »Aber die Obduktion wird das genauer bestimmen können.«

»Ist es schwierig, an so ein Messer heranzukommen?«

»Nein. Die meisten Soldaten haben so eins, außerdem gibt es die in jedem Army-Shop. Das Internet dürfte auch voll davon sein. Jäger benutzen es auch manchmal. Es eignet sich halt sehr gut zum Zerlegen, wie man sieht.«

»Kannst du den Todeszeitpunkt eingrenzen?«

»Nun ja … Der Mann ist kalt und ausgeblutet«, überlegte Stephen. »Und das war er schon, als der Pfleger ihn um zwölf Uhr fand. Wenn der Kopf fast abgetrennt ist, die Halsschlagader also durchgeschnitten wurde, sprudelt das Blut normalerweise fontänenartig aus der Wunde, nach ein paar Minuten hat sich das dann erledigt. Wir haben hier eine Raumtemperatur von vielleicht zwanzig Grad. Bis ein Körper so ausgekühlt ist wie dieser … Also ich würde tippen, dass er zwischen zehn und elf Uhr gestorben ist. Aber das ist nur eine Schätzung.«

Rachel sah auf, als der blasse Pfleger in der Wohnzimmertür erschien. Nervös kratzte er an einem Pickel herum, der rot auf seiner Wange leuchtete.

»Brauchen Sie mich noch?«, fragte er und sah dabei so elend aus, dass sie augenblicklich Mitleid mit ihm bekam. »Ich fühl mich nicht gut.«

»Ja, wir brauchen Sie noch. Aber es dauert nicht lange, es ist nur eine kleine Sache«, sagte Bob. »Danach können Sie gehen. Schauen Sie sich bitte noch einmal ganz aufmerksam im Zimmer um. Ist hier irgendetwas anders als heute Morgen?«

Paul Henderson sah ihn ungläubig an. »Soll das ein Witz sein?«

»Abgesehen von dem armen Sir Ian«, warf Rachel schnell ein. »Mein Kollege dachte eher an Details bei der Einrichtung. Fehlt ein Bild oder ein wertvoller Gegenstand, sind Möbel verrückt worden – so etwas. Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein.«

Henderson nickte verstehend und sah sich aufmerksam um. Rachel beobachtete, wie sein Blick an den Wänden rauf- und runterfuhr, über die massive Schrankwand aus dunklem Holz glitt, die Landschaftsporträts neben der Sitzecke passierte und schließlich beim Sofa hängen blieb.

»Die Kissen«, sagte er nachdenklich und zeigte auf die Zierkissen, die verknautscht auf dem Polster lagen. »Seine verstorbene Frau hat sie gesammelt. Er mochte sie eigentlich nicht, hat sie aber ihr zu Ehren behalten. Wenn man sich daraufsetzt, verknittern sie sofort. Sir Ian hatte gestern Abend seine Kunstbände darauf ausgebreitet. Ich hab sie heute Morgen weggeräumt und dann die Kissen aufgeschüttelt und wieder ordentlich hingestellt.«

»Und jetzt sind sie wieder verknautscht«, stellte Rachel fest.

»Ja. Aber Sir Ian konnte ohne fremde Hilfe den Rollstuhl nicht verlassen.«

»Vielleicht hat er wieder irgendwelche Bücher darauf abgestellt?«, überlegte Bob.

»Oder unser Mörder hat es sich dort gemütlich gemacht«, sagte Rachel und wandte sich an die Spurensicherung. »Bitte das Sofa und die Zierkissen nach fremder DNA untersuchen.«

Die Kollegen nickten, und sie wandte sich wieder dem Pfleger zu.

»Sir Ian war verwitwet. Wissen Sie sonst noch etwas über seine Familienverhältnisse?«

»Kinder hatte er keine«, antwortete der Pfleger. »Soweit ich weiß, gibt es noch einen Neffen in Frankreich. Aber das war’s dann auch. In der ganzen Zeit, in der ich für ihn gearbeitet habe, hat er jedenfalls nie Besuch bekommen.«

»Na, das hat sich heute ja geändert«, sagte Bob zynisch.

Rachel stieß ihm in die Seite und bedankte sich schnell bei Henderson. »Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie uns an«, sagte sie und begleitete ihn zur Tür.

Die Bestatter trugen gerade den hellen Zinksarg ins Haus, als Rachel in ihren Wagen stieg.

»Nimmst du mich mit?«, fragte Bob. »Ich habe keine Lust, mit Greg zurückzufahren.« Er zeigte auf den Streifenwagen, der vor der Garage parkte. »Die ganze Karre stinkt nach Zwiebelringen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen.

Eigentlich waren es nur gut zehn Meilen von Richmond nach Westminster, wo sich das zwanzigstöckige Gebäude des New Scotland Yard befand. Aber es war ungewöhnlich viel los auf den Straßen, und so dauerte es nicht lange, und sie standen im Stau.

»Wie kann man einen alten und wehrlosen Mann nur auf so eine brutale Art und Weise umbringen?«, überlegte Rachel und tippte nachdenklich mit dem Daumen auf das Lenkrad. »Ein einfacher Schlag auf den Hinterkopf hätte es doch auch getan.«

»Vielleicht wollte der Täter auf Nummer sicher gehen?«

»Auf Nummer sicher ist er definitiv gegangen, das stimmt. Aber der Kopf war fast abgetrennt. Und das bei einem wehrlosen Opfer. Dieses Ausmaß an Gewalt wäre nicht nötig gewesen. Es spricht für ein sehr starkes Motiv.«

»Glaubst du, Sir Ian hatte eine persönliche Beziehung zum Täter?«

Rachel zuckte mit den Schultern. »Ja. Möglich. Vielleicht hat ihn der Täter gehasst, vielleicht wollte er ihm etwas heimzahlen. Er hat nichts durchwühlt oder mitgenommen. Aber er hat sich aufs Sofa gesetzt und vielleicht mit ihm gesprochen, bevor er ihn umgebracht hat.«

»Oder er hat ihm beim Sterben zugesehen.«

Rachel schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Der Flokati war voller Blut. Wenn er ihm die Kehle durchgeschnitten und sich dann wieder aufs Sofa gesetzt hätte, hätte er durchs Blut waten müssen.«

»Oder sie.«

»Wie bitte?«

»Es könnte doch genauso gut eine Täterin gewesen sein«, sagte Bob. »Einen alten, schwachen Mann im Rollstuhl kann schließlich auch eine Frau abschlachten.«

»Theoretisch ja, kommt aber in der Praxis fast nie vor. Frauen töten in der Regel anders und benutzen nicht so ein Rambo-Messer, um damit Köpfe abzuschneiden. Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass wir es mit einem männlichen Täter zu tun haben.«

Es kam etwas Bewegung in den Stau, und sie konnten ein paar Hundert Meter fahren, bevor sie erneut anhalten mussten.

»Wir sollten jeden freien Mann in die Ermittlungen einbeziehen«, sagte Bob.

»Ja. Wir brauchen unter anderem ein Team, das die CCTV-Aufzeichnungen auswertet. Wer könnte das übernehmen?«

»Die üblichen Verdächtigen, würde ich sagen«, erwiderte Bob.

»Es handelt sich um maximal vier Stunden Material, das dürfte schnell geschafft sein. Außerdem möchte ich wissen, wo dieser Neffe gerade steckt, ob er wirklich in Frankreich ist oder sich womöglich in London rumtreibt«, sagte Rachel und reihte sich auf der rechten Spur in Richtung Themse ein. »Weißt du, ob es hier in der Gegend in letzter Zeit ähnliche Taten gab?«

»Hab ich nicht auf dem Schirm, lässt sich aber leicht rausfinden. Denkst du an irgendeine Einbrecherbande?«

»Möglich. Auch wenn auf den ersten Blick nichts fehlt, könnte Sir Ian seinem Mörder ja noch etwas gegeben haben. Eine PIN oder einen Zugangscode.«

»Stimmt. Der Pfleger dürfte schließlich nicht alles im Haus kennen, und einige der Wertsachen lagerten vielleicht in einem versteckten Tresor«, pflichtete Bob ihr bei. »Sobald die Spurensicherung fertig ist, schicke ich ein Team, das das Haus auseinandernimmt.«

»Zusätzlich muss sich jemand die Nachbarschaft und den Freundeskreis vornehmen«, sagte Rachel. »Und dann werde ich wohl meine Kontakte zum MI6 reaktivieren.«

»Sir Ian ist seit fast fünfundzwanzig Jahren pensioniert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sein Tod irgendetwas mit seiner Arbeit für den Auslandsgeheimdienst zu tun hat.«

»Beim MI6 weiß man das nie.«

»War er nicht Leiter der Abteilung Nahost?«

»Ja. Aber weißt du, woran er konkret gearbeitet hat, bevor er pensioniert wurde?«, wollte Rachel wissen.

Bob schüttelte den Kopf.

»Vielleicht hat er ja noch jemanden hinter Gitter gebracht, der jetzt wieder freigekommen ist oder so. Wenn wir nicht in alle Richtungen ermitteln, wird uns die Presse auseinandernehmen.«

»Das wird sie so oder so«, seufzte Bob und wies auf zwei Männer, die vorm Eingang von Scotland Yard standen. Einer hatte einen Fotoapparat in der Hand. »Das ist Chris Featherstone vom Mirror. Ich hasse den Kerl.«

Rachel lenkte den Wagen in eine für Mitarbeiter reservierte Parkbucht und stieg aus. Chris Featherstone kam sofort auf sie zu, während der Fotograf an seiner Seite scheinbar wahllos Fotos von Bob und ihr machte.

Rachels Kollege hielt sich abwehrend die Hand vor die Augen. »Chris, pfeif den Affen zurück! Was soll denn das?«

»Stimmt es, dass ein hochrangiges Mitglied des britischen Geheimdiensts Opfer eines vermutlich islamistischen Anschlags geworden ist?« Chris Featherstone feuerte seine Worte ab wie ein Maschinengewehr.

»Was für ein Bullshit, wer erzählt denn so was?« Bob ging kopfschüttelnd Richtung Eingang.

»Einfach wegzulaufen ist auch eine Antwort!«, rief Featherstone ihm drohend hinterher. »Ich weiß definitiv, dass ein MI6-Agent draufgegangen ist! Wenn du mir nicht sagst, wie es gelaufen ist, schreibe ich das auf, was ich mir zusammenreime!«

»Leck mich.« Bob war durch die Drehtür verschwunden.

»Es wird im Laufe des Tages eine Pressekonferenz geben«, sagte Rachel freundlich. »Dort werden Sie alle Informationen bekommen.«

»Und Sie sind …?« Featherstone sah sie abschätzend an.

Ohne ihm zu antworten, schlüpfte Rachel durch die Drehtür ins Innere des Gebäudes.

Zwei Stunden später fand das erste Meeting der Ermittlungsgruppe statt. Bob hatte zwölf Leute zusammengetrommelt, die sie in Teams einteilen wollten. Die Pressekonferenz war für den frühen Abend angesetzt worden, bis dahin wollten sie zumindest eine Strategie präsentieren können.

»Noch besser wäre es, wenn wir dann schon die CCTV-Bilder ausgewertet haben«, sagte Bob. »Mit ein bisschen Glück haben wir damit ein Fahndungsfoto, das wir direkt an die Presse rausgeben können. Charly und Luc, ihr kümmert euch bitte darum. Die Bilder sind bereits bestellt und müssten jeden Moment auf dem Server sein. Drei Überwachungskameras kommen infrage. Konzentriert euch zunächst auf die Zeit von zehn bis elf Uhr, wenn da nichts ist, ausweiten von neun Uhr dreißig bis elf Uhr dreißig.«

Charly Benson und Luc Maladry gehörten zu den Jüngsten im Team. Es traf immer die Grünschnäbel, wenn es an die CCTV-Auswertungen ging. Der Job war unbeliebt, die Bilder häufig in schlechter Qualität und die Aufklärungsquote niedrig. Und sobald es regnete, sah man sowieso nur noch Regenschirme.

»Ich habe in den letzten anderthalb Stunden versucht, ein Profil des Opfers zu entwerfen«, sagte Rachel, die neben Bob an der Magnettafel stand. »Wie wir wissen, ist das Opfer in der Regel der Schlüssel zum Täter, selbst wenn es sich um scheinbar zufällig ausgewählte Personen handelt. Unser Opfer ist ein hoch angesehenes Mitglied unserer Gesellschaft. Er war fast vierzig Jahre für den MI6 tätig, zuletzt leitete er die Abteilung, die für die Nahost-Angelegenheiten zuständig war.«

Rachel heftete ein Foto von Sir Ian an die Tafel, das den Mann zu seiner aktiven Zeit zeigte. Neben ihm war eine Reihe anderer Persönlichkeiten zu sehen.

»Dieses Foto stammt aus dem Jahr 1989 und wurde auf der Feier zu seiner Pensionierung aufgenommen.«

»Margaret Thatcher. Wow!« Charly Benson nickte anerkennend, als er die Frau neben Sir Ian erkannte.

»Ja. Mit der war er übrigens auch privat befreundet. Ihr versteht also, in welcher Liga unser Opfer spielte.«

Sie heftete ein Foto vom ermordeten Sir Ian daneben. Ein Raunen ging durch den Raum.

»Sir Ian ist auf äußerst brutale Weise ermordet worden«, fuhr Rachel fort. »Ein Mann, der erst vor einem Jahr zum Ritter geschlagen wurde, der seine todkranke Frau aufopferungsvoll gepflegt hat und respektiert wurde. Er und seine Frau verkehrten in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen, bis sie vor sieben Jahren an Krebs starb. Glaubt man der Yellow Press, war ihre Ehe vorbildlich, Affären sind nicht bekannt, genauso wenig wie außereheliche Kinder.«

»Sir Ian erlitt zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau einen Schlaganfall und war seitdem an den Rollstuhl gefesselt«, ergänzte Bob.

»Richtig. Er lebte die letzten Jahre sehr zurückgezogen, spendete aber immer wieder große Summen für diverse wohltätige Zwecke. Gibt man seinen Namen in die Suchmaschinen ein, so finden sich ausschließlich positive Artikel.«

Jonathan Snyder, ein übergewichtiger Kollege mit fettigen Haaren, meldete sich zu Wort.

»Sorry, Rachel, aber da kann doch was nicht stimmen. Es hört sich fast so an, als wäre der Mann ein Heiliger gewesen. Aber er ist doch kein Zufallsopfer, oder?«

»Nein, es spricht nichts dafür. Bei Zufallsopfern handelt es sich in der Regel um Sexualdelikte – oder sie wurden willkürlich von Tätern ausgesucht, die einzig und allein ihre krankhafte Mordlust befriedigen wollen.«

»Ein achtundachtzigjähriger wehrloser Mann eignet sich nicht besonders gut, um Machtfantasien zu befriedigen«, stimmte Snyder ihr zu.

»Zumal es keinerlei Abwehrspuren gibt. Im Moment würde ich von einer persönlichen Beziehung zwischen Opfer und Täter ausgehen, da es nicht ausgeschlossen ist, dass es vor der Tat zu einem Gespräch zwischen den beiden kam.«

»Vielleicht war der angesehene Sir Ian ja ein verfickter Kinderschänder«, warf Snyder ein. »Und eines seiner Opfer hat sich nun gerächt.«

»Mit solchen Theorien müssen wir vorsichtig sein«, mahnte Rachel.

»Intern werden wir natürlich auch in diese Richtung ermitteln«, pflichtete Bob dem Kollegen bei, »aber weder ist das unsere wichtigste Spur noch Teil unserer Strategie, die wir auf der PK nachher bekannt geben werden. Ihr wisst alle, wie die Presse reagiert, wenn sexueller Missbrauch ins Gespräch kommt. Das haben wir bei der BBC gesehen. Und wenn so was in einem Atemzug mit einer Persönlichkeit wie Sir Ian genannt wird, haben wir hier schnell die Kacke am Dampfen.«

»Snyder und Carole, ihr kümmert euch bitte um die Auswertung der Nachbarschaftsbefragungen«, sagte Rachel. »Greg und Sebastian haben heute Mittag damit begonnen, aber kaum jemanden angetroffen. Gegen Abend dürftet ihr mehr Glück haben, wenn die Leute von der Arbeit kommen. Vielleicht hat ja jemand etwas Ungewöhnliches bemerkt, als er heute Morgen das Haus verlassen hat.«

Carole Spitman war im Gegensatz zu Snyder eine zierliche Person. Aber Rachel wusste, dass ihr Durchsetzungswille seinesgleichen suchte. Carole zählte zu den Besten in ihrer Abteilung.

»Thomas und Harry nehmen sich das Anwesen von Sir Ian vor«, fuhr Bob fort. »Ich möchte, dass ihr euch alles genau anschaut. Den Garten, den Keller, den Dachboden – jeder Quadratzentimeter wird auf links gedreht.«

Harry Casper nickte zufrieden. Er war bekannt dafür, solche Aufgaben mit Begeisterung zu erledigen, während sein älterer Kollege Thomas Matlock zu den ewigen Bedenkenträgern gehörte.

»Es ist doch schon dunkel«, warf er ein.

»Ich hab ja auch nicht gesagt, dass ihr alles heute erledigen müsst. Seht zu, dass ihr gleich noch in den Wohnbereich kommt, mit dem Rest fangt ihr dann morgen an.«

»Suchen wir etwas Bestimmtes?«, fragte Thomas.

»Nichts, was wir im Moment benennen könnten«, antwortete Bob. »Vielleicht finden sich in den privaten Unterlagen Hinweise auf etwas, womit Sir Ian erpresst worden ist. Kompromittierende Fotos, geheime Konten, Wettschulden – es könnte alles möglich sein. Was auch immer euch komisch vorkommt, will ich sehen.«

»Okay. Verstanden.«

»Der Rest kümmert sich um Sir Ian«, sagte Rachel. »Jemand muss mit seinem Neffen sprechen, außerdem will ich alles über seine Arbeit und sein Privatleben wissen. Eine halbe Stunde vor der PK treffen wir uns hier zum letzten Update. Wenn irgendjemand vorher etwas hat, bitte sofort bei uns melden. Mit ein bisschen Glück haben wir die Sache schnell aufgeklärt.«

3

Wie immer kaufte er in der Buchhandlung am Bahnhof Kings Cross sämtliche Tageszeitungen, die über den Großraum London berichteten. Seit seinem ersten Mal hatte sich dieses Ritual als sehr nützlich erwiesen. Normalerweise interessierte sich John nicht für das aktuelle Tagesgeschehen, aber am Morgen danach war es hilfreich für ihn, wenn er wusste, was Millionen andere über seine Tat zu lesen bekamen. Er betrat das Starbucks auf der anderen Straßenseite und bestellte einen doppelten Espresso. Dann suchte er einen Sessel in der hintersten Ecke des Lokals und begann mit seiner Lektüre.

In jeder Zeitung wurde darüber berichtet. Die Times hatte ihren Schwerpunkt auf den Nachruf gelegt, die Daily Mail witterte einen neuen Jack the Ripper, und der Mirror hatte es groß auf dem Titel. »Welches Monster tötete den ehrwürdigen Sir Ian?«, stand dort in überdimensional großen Buchstaben geschrieben. Aufmerksam las John den Artikel. In der für das Schmierblatt typischen Art wurde völlig übertrieben. Sir Ian sei »abgeschlachtet worden«, Wände und Decken wären »mit Blut bespritzt« gewesen, und den Kopf des Mannes habe man angeblich hinter dem Sofa gefunden.

Was für ein Schwachsinn, dachte John und wollte die Zeitung schon zur Seite legen, als sein Blick an einem Foto hängen blieb. Darauf waren eine Frau und ein Mann zu sehen, die vor dem Gebäude von Scotland Yard aus einem Auto stiegen. Darunter stand:

Profilerin Rachel Hyatt und Superintendent Bob Hall leiten die Ermittlungen in diesem Fall. In der Pressekonferenz beschrieb die Psychologin den Täter als sehr professionell und mit hoher krimineller Energie ausgestattet. Die Auswertung der Überwachungskameras habe ergeben, dass der Mörder genau den Zeitpunkt abgewartet habe, in dem der Eingang des Hauses von einem Wagen der städtischen Müllabfuhr verdeckt wurde, sagte Hyatt. Obwohl eine CCTV-Kamera direkt gegenüber des Hauses hängt, konnte der Mörder daher ungesehen das Anwesen betreten. Der Täter müsse das Haus eine ganze Zeit lang beobachtet haben, da er ansonsten niemals so präzise habe vorgehen können, ist sich die Profilerin sicher. Eine Opfer-Täter-Beziehung sei daher wahrscheinlich. Zahlreiche Indizien am Tatort hätten ihr darüber hinaus genügend Anhaltspunkte geliefert, um ein Täterprofil zu erstellen, sagte Hyatt weiter. In den nächsten Tagen werde sie das Profil veröffentlichen. Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.

Bluffte sie? Er hatte doch keine Spuren hinterlassen – oder etwa doch? Nein, natürlich zog sie für die Presse eine Show ab. Die Bullen sagten doch immer, dass sie eine heiße Spur hatten, auch wenn sie gar nichts wussten. John sah sich das Foto von dieser Rachel Hyatt genau an. Es kann nicht schaden, die Frau ein wenig unter die Lupe zu nehmen, dachte er und verließ das Café.

Von Kings Cross konnte er zu Fuß zur British Library gehen. Er besaß weder Handy noch Computer – für einen Mann wie ihn viel zu riskant. Er mochte die Library, zumal er lieber in einer öffentlichen Bibliothek als in einem Internetcafé recherchierte. In der Masse der Studenten fühlte er sich sicher, auch wenn er mittlerweile deutlich über dem Altersdurchschnitt lag. Aber in dem öffentlichen Saal, in dem jedem Londoner zahllose Computer gegen eine geringe Gebühr zur Verfügung standen, fiel er nicht auf. Neben den Studenten tummelten sich hier auch jede Menge Touristen.

Er wartete, bis der Rechner frei wurde, an den er sich immer setzte. Er stand hinter einer Säule, die ihn vor den Überwachungskameras verbarg. John gab Rachel Hyatts Namen in die Suchmaschine ein und war überrascht, wie viele Treffer er auf Anhieb bekam. Besonders in psychologischen und forensischen Fachzeitschriften schien die Profilerin, oder vielmehr Dr. Hyatt, wie er nun sah, regelmäßig zu veröffentlichen. Er klickte einen Artikel an und las:

… Wenn ein Täter häufiger mordet, wird meistens von einem Lust- beziehungsweise Sexualmörder ausgegangen, der von dranghaften Spannungszuständen angetrieben wird, seine Opfer dehumanisiert und instrumentalisiert, um sexuelle oder emotionale Bedürfnisse ausleben zu können. Meine Forschungen haben aber gezeigt, dass nur 22,9 % der Mehrfachmörder dem stereotypen Persönlichkeits- und Verhaltensprofil des »echten« Triebtäters entsprechen. Das Bild des multiplen Mörders muss daher neu gezeichnet werden, zu viele Facetten wurden zu lange übersehen …

Es folgte eine Einteilung in verschiedene Kategorien. Rachel Hyatt hatte unterschiedliche Mördertypen charakterisiert, vom multiplen Raubmörder bis hin zum seriellen Beziehungsmörder.

John fand sich in keiner Kategorie wieder.

Dennoch war ihm sofort bewusst, welche Gefahr von dieser Frau ausging. Ihr Spezialgebiet waren Serientäter. Und auch wenn er sich niemals auf eine Stufe mit irgendwelchen vergewaltigenden Bestien stellen würde – gemordet hatte er trotzdem. Nicht nur einmal.

Er suchte das Internet weiter nach Rachel Hyatt ab. Wo wohnte sie wohl? Es konnte nicht schaden, ihre Adresse zu kennen. Auf der Seite von Scotland Yard fand er ein Foto mit einer kurzen Vita von ihr. Persönliche Angaben fehlten. Im Telefonbuch war sie ebenfalls nicht verzeichnet, und auch sonst mangelte es an jeglichen persönlichen Informationen im Netz. Sie schien keine Facebook-Seite zu haben, twitterte nicht und hielt sich auch sonst nicht viel online auf.

Immerhin fand er zahlreiche offizielle Porträtfotos, die neben ihren Artikeln standen oder auf den offiziellen Seiten von Scotland Yard auftauchten. Daneben gab es noch einige Presseberichte, wie der aus dem Mirror. Aber es war nichts dabei, woraus er auf ihre Privatadresse schließen konnte.

Doch dann wurde er fündig. Es war ein kurzer Artikel aus einem Stadtteil-Blättchen. Das Foto neben dem Text zeigte sie mit drei anderen Frauen an einem Kuchenstand. Darunter prangte die Zeile:

Rachel Hyatt, Vanessa Storm und Susan Mill übernahmen den Kuchenverkauf und konnten am Ende des Tages 195 £ für die Kasse des Queen-Elizabeth-Kindergartens beisteuern.

Na also, dachte John und klickte sich zur Homepage des Kindergartens durch. Er hatte gehofft, dort eine öffentliche Adressliste aller Mitglieder zu finden, aber die gab es nicht.

Er prägte sich die Adresse des Kindergartens ein. Die Bringzeiten waren morgens von sieben bis neun Uhr – Hyatt würde vermutlich von dort direkt zu Scotland Yard fahren. Daher war es wohl besser, wenn er den Kindergarten nachmittags observierte. Aber wenn das Kind dann von jemand anderem abgeholt würde?

Ein wohlig warmes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Er musste Rachel Hyatt einmal mit ihrem Kind sehen. Wenn er erst mal wusste, wie ihr Sohn oder ihre Tochter aussah, war der Rest ein Kinderspiel.

4

Das morgendliche Meeting war gerade zu Ende. Die Flut an Hinweisen, die seit der Pressekonferenz aus der Bevölkerung bei ihnen eingetroffen war, musste ausgewertet werden. Charly und Luc kümmerten sich nun darum, nachdem sie die Sichtung der CCTV-Aufzeichnungen gestern schon abgeschlossen hatten. Rachel tat es fast ein bisschen leid, dass die jungen Kollegen wieder eine der unbeliebten Aufgaben übernehmen mussten, zumal erfahrungsgemäß neunzig Prozent der Hinweise für die Mülltonne waren.

Rachel saß an dem Schreibtisch, an dem sie immer war, wenn sie für Bob und seine Abteilung arbeitete. Es war wichtig, dass sie während der Ermittlungen in einem Büro saßen und sich jederzeit austauschen konnten. Deshalb hatte sie ihren regulären Arbeitsplatz vorläufig verlassen und war vom 15. in den 19. Stock gezogen.

Sie starrte auf den Bildschirm und versuchte sich zu konzentrieren, während sie mit einer Strähne aus ihrem dunklen Pferdeschwanz spielte.

»Vielleicht ist es einfach noch zu früh, um ein Täterprofil zu erstellen«, sagte Bob, als sie laut seufzte.

Er saß ihr gegenüber und las die ersten Befragungen durch, die die Kollegen in der Nachbarschaft von Sir Ian gemacht hatten. »Wir haben noch nicht viel.«

»Das kann man so nicht sagen«, widersprach sie ihm. »Was wir vor allem haben, sind Ausschlusskriterien. Wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, was unser Täter nicht ist.«

Bob lehnte sich zurück und sah sie aufmerksam an. »Schieß los!«

»Wir können davon ausgehen, dass unser Täter nicht weiblich ist und dass die Tat keine sexuellen Motive hatte. Er dürfte außerdem nicht kleiner als eins siebzig sein, sonst hätte er es nicht schaffen können, in der kurzen Zeit, in der die Müllabfuhr die Kameras verdeckte, über die Mauer zu springen. Allzu unsportlich durfte er dafür auch nicht sein. Ein zwei Meter großer Riese ist er aber auch nicht, sonst hätten die Überwachungskameras ihn vorher erwischen müssen – falls unsere Theorie stimmt und er sich wirklich in dem Haltestellenhäuschen versteckt hielt.«

Bob nickte. »Also ein männlicher Täter, vermutlich zwischen eins siebzig und eins neunzig, von sportlicher Statur. Was noch?«

»Der Mörder scheint nichts aus dem Haus entwendet zu haben, obwohl viele Wertsachen herumstanden. Also ist er vermutlich gut situiert. Jedenfalls scheint er keine finanziellen Sorgen zu haben«, fuhr Rachel fort. »Außerdem hat er sehr präzise getötet, er stand vermutlich weder unter Drogen, noch war er betrunken, sonst hätte er den Schnitt kaum so sauber durchführen können.«

»Hm. Das trifft auf eine ganze Menge Leute zu. Gibt es überhaupt keine Auffälligkeiten?«

»Doch. Die Tat war emotionslos, kaltblütig und pragmatisch«, überlegte sie weiter. »Und das steht im Widerspruch zu der Unterhaltung, die er vielleicht vor dem Mord mit Sir Ian geführt hat.«

»Stimmt. So persönlich kann die Beziehung trotzdem nicht gewesen sein, die er zu seinem Opfer hatte.«

»Jedenfalls nicht, wenn wir von einer klassischen Täter-Opfer-Beziehung ausgehen«, sagte Rachel. »Wenn Snyder zum Beispiel mit seiner Kinderschändertheorie recht hätte und der Täter früher ein Opfer von Sir Ian gewesen wäre, dann wäre der Mord meiner Meinung nach anders abgelaufen. Vielleicht hätte er den alten Mann totgeprügelt oder ihm den Schädel eingeschlagen, irgendetwas, das sein eigenes Leid mit der Tat förmlich ausgelöscht hätte. Aber ihm so abgebrüht die Kehle durchzuschneiden … Nein, das ist schon sehr ungewöhnlich für jemanden, der doch eigentlich emotional aufgewühlt sein müsste, wenn er seinem früheren Vergewaltiger gegenübersitzt.«

»Wäre mir nur recht, wenn der alte Sir kein Kinderficker war«, sagte Bob lakonisch. »Spart uns einen Haufen Ärger.«

Es klopfte, und im selben Moment ging die Tür auf.

»Ich hab da vielleicht was«, sagte Carole Spitman, die mit einem Umschlag in der Hand ins Zimmer kam. »Nichts Weltbewegendes, aber es ist mir doch aufgefallen.«

»Wir sind ganz Ohr.«

»Alle Nachbarn, die wir bisher befragt haben, haben ausgesagt, dass Sir Ian in den letzten Jahren viele Schicksalsschläge und Todesfälle verkraften musste.«

»Ja, sein Schlaganfall, der Tod seiner Frau …«, zählte Bob auf.

»Das dachte ich zuerst auch«, unterbrach ihn Carole. »Aber sowohl Mrs. Everstone, die Nachbarin zur Linken, als auch das Ehepaar Richard, dessen Grundstück an den hinteren Garten grenzt, meinten, dass Sir Ian in den letzten Jahren überdurchschnittlich oft auf Beerdigungen war.«

Rachel zuckte mit den Schultern. »Ab einem gewissen Alter geht das doch den meisten so. Sir Ian war immerhin achtundachtzig Jahre alt, da dürfte er eine Vielzahl seiner Freunde überlebt haben.«

»Schon klar«, nickte Carole. »Aber ich habe trotzdem Thomas und Harry danach gefragt. Bis auf Keller und Dachboden haben sie das Haus inzwischen durchsucht, und ich wollte wissen, ob sie vielleicht Traueranzeigen gefunden haben. Ähnlich wie Geburtsanzeigen bewahren viele Leute so was doch auf, besonders wenn es sich um die Todesnachricht eines Freundes handelt. Langer Rede kurzer Sinn: Sir Ian hat sie tatsächlich gesammelt.«

Carole reichte Bob den dicken Umschlag, und er zog einen ganzen Haufen Todesanzeigen heraus.

»Du hast schon recht«, fuhr sie fort, »viele sind von irgendwelchen uralten Leuten, mit denen unser Opfer befreundet war. Aber schaut euch diese hier mal an.«

Zielsicher fischte Carole vier Anzeigen heraus und reihte sie nebeneinander auf. Geburts- und Sterbedaten waren groß in der Mitte jeder Anzeige platziert, sodass Rachel das jeweilige Alter der Toten schnell ausrechnen konnte:

Catherine Bailey, 44 JahreCedric Montgomery, 61 JahreFrank Waldmann, 53 JahreSteve Turpin, 59 Jahre

Einen Zusammenhang zu ihrem Fall konnte sie dennoch nicht erkennen.

»Auch jüngere Leute sterben doch hin und wieder«, sagte sie mit einem Schulterzucken. »Und so jung waren die ja auch nicht mehr. Worauf willst du hinaus?«

»Hier.« Carole zeigte auf den Text der Traueranzeige von Catherine Bailey. »Hier steht: ›brutal aus dem Leben gerissen‹.« Sie nahm die nächste Anzeige »Und hier: › … ist uns einfach genommen worden‹.« Dann zeigte sie auf die letzten beiden Karten. »Äh, ah ja, hier, ›des Lebens beraubt worden‹ und ›gewaltsam aus unserer Mitte gerissen‹. Wonach hört sich das alles für euch an?«