Schattenfreundin - Phönixkinder - Rachefolter - Christine Drews - E-Book
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Schattenfreundin - Phönixkinder - Rachefolter E-Book

Christine Drews

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  • Herausgeber: beTHRILLED
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Jetzt als eBook-Sammelband: Die ersten drei Thriller mit Charlotte Schneidmann und Peter Käfer!

SCHATTENFREUNDIN

Wo ist Leo? Charlotte Schneidmann, Kommissarin in Münster, setzt alles daran, den kleinen Jungen zu finden, bevor es zu spät ist. Denn nicht nur die Sorgen der verzweifelten Mutter lassen sie fieberhaft ermitteln, auch die Erinnerungen an die eigene traumatische Kindheit machen diesen Fall für die engagierte Kommissarin zur ganz besonderen Bewährungsprobe.

PHÖNIXKINDER

Der Geruch nach Asche liegt noch in der Luft, als Charlotte Schneidmann und Peter Käfer im Seniorenstift Sonnenschein ankommen. Einer der Bewohner, der demente Ludger Steinkamp, ist bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Alle Indizien deuten auf Brandstiftung, aber nicht nur das - das Opfer wurde regelrecht zu Tode gefoltert. Grausame Rache? Oder ein letzter Versuch, Informationen von Steinkamp zu erpressen? Die brandgefährlichen Spuren führen Charlotte und Käfer tief in die Vergangenheit des Münsterlandes.

RACHEFOLTER

So etwas haben Charlotte Schneidmann und Peter Käfer noch nie gesehen: eine Leiche in einem mittelalterlichen Folterinstrument! Das Opfer ist Max Wenke, Musterschüler auf dem Elite-Internat Schloss Lemburg. Handelt es sich um einen besonders bizarren Selbstmord? Oder wurde der blendend aussehende und hochbegabte Max ermordet? Lehrer und Schüler erscheinen seltsam gleichgültig. Erst ein schockierendes Detail sprengt die Mauern des Schweigens - mit alptraumhaften Konsequenzen für Charlotte...

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

SCHATTENFREUNDIN

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Epilog

Danksagung

PHÖNIXKINDER

Widmung

Prolog

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Epilog

Danksagung

RACHEFOLTER

Widmung

Prolog

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22

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Schattenfreundin

Wo ist Leo? Charlotte Schneidmann, Kommissarin in Münster, setzt alles daran, den kleinen Jungen zu finden, bevor es zu spät ist. Denn nicht nur die Sorgen der verzweifelten Mutter lassen sie fieberhaft ermitteln, auch die Erinnerungen an die eigene traumatische Kindheit machen diesen Fall für die engagierte Kommissarin zur ganz besonderen Bewährungsprobe.

Phönixkinder

Der Geruch nach Asche liegt noch in der Luft, als Charlotte Schneidmann und Peter Käfer im Seniorenstift Sonnenschein ankommen. Einer der Bewohner, der demente Ludger Steinkamp, ist bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Alle Indizien deuten auf Brandstiftung, aber nicht nur das – das Opfer wurde regelrecht zu Tode gefoltert. Grausame Rache? Oder ein letzter Versuch, Informationen von Steinkamp zu erpressen? Die brandgefährlichen Spuren führen Charlotte und Käfer tief in die Vergangenheit des Münsterlandes.

Rachefolter

So etwas haben Charlotte Schneidmann und Peter Käfer noch nie gesehen: eine Leiche in einem mittelalterlichen Folterinstrument! Das Opfer ist Max Wenke, Musterschüler auf dem Elite-Internat Schloss Lemburg. Handelt es sich um einen besonders bizarren Selbstmord? Oder wurde der blendend aussehende und hochbegabte Max ermordet? Lehrer und Schüler erscheinen seltsam gleichgültig. Erst ein schockierendes Detail sprengt die Mauern des Schweigens – mit alptraumhaften Konsequenzen für Charlotte …

CHRISTINE DREWS

SCHATTENFREUNDIN—PHÖNIXKINDER—RACHEFOLTER

Drei fesselnde Thriller in einem eBook

SCHATTENFREUNDIN

 

Für Axel

PROLOG

Hektisch trocknete sie sich die Hände ab und sah auf die Uhr. Ihr ganzer Zeitplan war durcheinandergeraten. In einer halben Stunde fing die Musikschule an. Vorher musste sie es noch in den Supermarkt schaffen, sonst würde der Abendbrottisch heute leer bleiben. Und nichts war schlimmer, als in die enttäuschten Augen eines hungrigen Kindes zu blicken, das sich den ganzen Tag auf die versprochenen Würstchen gefreut hatte und das sich nun mit Graubrot begnügen sollte. Also musste sie sich sputen.

Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Was war los mit ihr? Supermarkt … Würstchen … Wo hatte sie nur ihren Kopf? Sie musste etwas viel Wichtigeres erledigen. Er durfte auf keinen Fall entkommen …

Leise öffnete sie die Tür zum Nebenzimmer und sah hinein. Der Räuber Hotzenplotz dudelte aus dem CD-Player. Gut. Sie ging durchs Wohnzimmer und öffnete die Terrassentür. Auch hier schien alles in Ordnung zu sein.

Niemand durfte etwas erfahren. Unter keinen Umständen.

Gerade als sie sich wieder umdrehte, hörte sie eine Melodie. Ganz leise nur und gedämpft. Einen Augenblick lang blieb sie wie versteinert stehen. Sie kannte die Melodie, und sie wusste genau, wo sie herkam. Von einem Handy. Sie musste es bei der Leiche vergessen haben.

Hoffentlich war der Akku bald leer.

1

Vier Wochen früher

»Schaffst du es zum Abendbrot?«, fragte Katrin, während sie sich die Wimpern tuschte.

Thomas gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Wahrscheinlich nicht. Ich stecke den ganzen Tag in irgendwelchen Meetings und muss danach noch eine Präsentation vorbereiten. Könnte spät werden. Leider.«

Wie immer also, dachte Katrin und nickte nur.

Seit ihrem Umzug nach Münster arbeitete Thomas noch mehr als früher. Das lag an seinem neuen Job, für den sie von Köln hierher gezogen waren. Das Unternehmen, das sich auf die Herstellung von Kühlgeräten spezialisiert hatte, expandierte, und so hatte Thomas alle Hände voll zu tun und kam meist erst spät abends nach Hause. Manchmal hatte Katrin allerdings das Gefühl, dass er ganz froh war, wenn er lange im Büro bleiben konnte. Auf diese Weise entkam er dem Chaos, das zu Hause herrschte. Noch immer standen viele Kisten in den Zimmern und warteten darauf, ausgepackt zu werden. Von der dunkelrot gestrichenen Wand im Schlafzimmer, die sie sich als Kontrast zu den weißen Möbeln gewünscht hatte, konnte man kaum etwas sehen; Unmengen von Kartons stapelten sich davor.

Der ganze Umzug blieb an Katrin hängen. Dabei hatte sie seit einer Woche selbst einen neuen Job, und schließlich war Leo auch noch da. Wie aufs Stichwort stürmte er um die Ecke, in den Händen einen bunten Stoffball.

»Papa, spielen!«, rief er freudestrahlend und hielt den Ball hoch.

Thomas nahm ihn auf den Arm und gab ihm einen Kuss. »Ich kann nicht, Schatz«, sagte er und drückte ihn an sich. »Papa muss zur Arbeit.«

Leo verzog das Gesicht und fing an zu weinen. »Papa spielen!«

»Ach Engel, du kannst doch gleich im Kindergarten toll spielen!« Er strich Leo über die hellblonden Haare und gab ihm noch einen dicken Kuss auf die Wange. »Heute Abend bringe ich dich ins Bett, okay?«

Leo weinte noch lauter. Doch so plötzlich, wie er angefangen hatte, hörte er auch wieder auf. »Mama, Fußball spielen?«, fragte er und schaute seine Mutter mit tränennassen Augen an.

Katrin musste lachen. Sie tappte ihm auf die kleine Stupsnase und schüttelte den Kopf. Jetzt war wirklich keine Zeit zum Ballspielen. »Wir müssen bis neun im Kindergarten sein, sonst kriegen wir Schimpfe«, sagte sie. »Komm, ich helfe dir beim Anziehen.«

Während Thomas das Haus verließ, suchte sie Leos Sachen heraus. Seit Tagen bestand er darauf, jeden Morgen dasselbe Sesamstraßen-T-Shirt anzuziehen, und auch heute gab sie nach, obwohl das T-Shirt schon Flecken hatte. Nachdem sie ihm ein Frühstücksbrot geschmiert hatte, war es schon fast neun Uhr.

»Wie immer zu spät«, murmelte sie und packte eilig ihre Sachen zusammen. Sie nahm eine Sporttasche und eine große Plastiktüte, in der ein paar ausrangierte Kleidungsstücke lagen, die sie nach der Arbeit bei ihren Eltern vorbeibringen wollte. Ihre Mutter engagierte sich in der Kirchengemeinde, in der es auch eine Kleiderkammer gab. Die ehrenamtlichen Helfer dort waren dankbar für jede Spende.

Aber jetzt erst mal schnell zum Kindergarten, dann in die Praxis. Um halb zehn hatte sie schon den ersten Behandlungstermin. Dann einkaufen, Leo abholen und zu ihren Eltern fahren. Dort wollte sie sich auf keinen Fall zu lange aufhalten, damit sie heute wenigstens noch eine Kiste auspacken konnte. Katrin seufzte. Ein langer, hektischer Tag lag vor ihr.

Zehn Minuten später fuhr sie auf den Parkplatz des Kindergartens. Sofort spürte sie, wie Ärger in ihr aufstieg, denn eine Hand voll Mütter stand quatschend in der einzigen freien Parkbucht. Kurz entschlossen parkte sie ihren schwarzen Nissan in der Feuerwehrzufahrt und stieg aus.

»Da ist Halteverbot«, sagte eine der Mütter tadelnd.

»Bin gleich wieder weg«, antwortete Katrin schuldbewusst, ohne die Frau anzusehen.

In diesem Augenblick kam noch ein Auto angefahren, ein BMW – groß, schwarz und teuer. Wie zuvor schon Katrin warf die Frau am Steuer der plaudernden Damenrunde einen bösen Blick zu. Dann ließ sie das Fenster herunter.

»Könnten Sie vielleicht erst den Parkplatz freimachen und danach Ihre Unterhaltung fortsetzen? Danke.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr die Frau das Fenster wieder hoch und setzte den Blinker. Die Mütter murmelten etwas von »Frechheit« und »Was ist das denn für eine?« und verließen langsam die Parkbucht. Die Frau fuhr ihren dunklen BMW hinein, stieg aus und schnallte ihren Sohn vom Kindersitz los.

Beiläufig beobachtete Katrin die Szene, bevor sie die Beifahrertür öffnete und Leos Rucksack herausnahm. Die Frau, die jetzt ausstieg, war ihr auf Anhieb sympathisch. Die dunklen Haare hatte sie hochgesteckt, was ihr hübsches rundes Gesicht betonte. Sie hatte, wie Katrin fand, einige Kilo zu viel auf den Rippen, aber das stand ihr gut. Sie trug eine schwarze Hose und eine weiße Bluse mit grauem Paisleymuster, die unter der Brust lässig geknotet war. Ihr Make-up war angenehm dezent. Das einzig Auffällige waren die knallroten Ohrringe in Erdbeerform, sie passten perfekt zum Lippenstift.

Katrin hob Leo aus dem Auto. Sofort rannte er zu dem anderen Jungen. »Ben, Ben! Fußball spielen?«

Der dunkelhaarige Ben nickte, und schon liefen die beiden Jungen in den Kindergarten.

»Ich wusste gar nicht, dass Leo schon einen Freund gefunden hat«, sagte Katrin, während sie auf die Frau zuging und ihr die Hand gab. »Hallo, ich heiße Katrin Ortrup. Unsere Söhne scheinen sich ja bestens zu verstehen.«

»Hallo, ich bin Tanja Weiler. Ja, Ben hat schon viel von Leo erzählt. Ich bin so froh, dass die beiden sich angefreundet haben. Wir sind noch ziemlich neu hier.«

Katrin sah sie überrascht an. »Wir auch! Wir sind erst vor ein paar Wochen hergezogen. Ich bin zwar in Münster aufgewachsen, aber nach meiner Ausbildung bin ich sofort weg von hier.«

»Genau wie bei uns«, sagte Tanja. »Umziehen mit Kindern ist ganz schön stressig, oder? Bei uns sind immer noch nicht alle Kisten ausgepackt.«

Katrin winkte lachend ab. »Bei uns auch noch nicht.«

Gemeinsam gingen sie in den Kindergarten, um sich von ihren Söhnen zu verabschieden.

Wenig später standen sie wieder auf dem Parkplatz.

»Hier um die Ecke ist ein neuer Spielplatz«, sagte Tanja Weiler, bevor sie in ihren Wagen stieg. »Wir können die Jungs ja mal spielen lassen, wenn du magst – oh, ich darf doch du sagen, oder?«

»Ich bitte darum«, sagte Katrin und lachte. »Ja, lass uns mal auf den Spielplatz gehen. Das Wetter soll ja so schön bleiben.« Katrin blickte hinauf in den strahlend blauen Himmel, über den nur ein paar kleine weiße Wolken zogen. Sie seufzte. »Im Moment schaffe ich es noch nicht, aber in ein paar Tagen sieht die Welt hoffentlich anders aus, vor allem ordentlicher.«

»Wir sehen uns ja bestimmt hier am Kindergarten«, sagte Tanja. »Dann können wir was ausmachen.«

Katrin nickte und sah ihr nach, wie sie wegfuhr. Zufrieden machte sie sich auf den Weg. Leo hatte einen Freund gefunden, wie schön. Die Mutter von Ben machte einen entspannten Eindruck, und sie schien auch noch nett zu sein, keine von diesen Vorzeigemüttern, mit denen man nur über die richtige Ernährung oder den Fernsehkonsum von Kleinkindern reden konnte. Eine dieser Mütter hatte ihr tatsächlich mal ernsthaft Vorwürfe gemacht, weil Leos Gehirn dauerhaft geschädigt würde, wenn er jeden Abend die paar Minuten den Sandmann sehen dürfe. Als würde das automatisch Gehirnkrebs auslösen! Diese Wir-lesen-alle-Ratgeber-Muttis, die grundsätzlich alles richtig machten, konnte Katrin nicht ausstehen.

Umso positiver war ihr Eindruck von Tanja. Sie nahm sich vor, in den nächsten Tagen etwas Zeit freizuschaufeln und mit Tanja einen Termin auszumachen, damit die Jungen spielen und die Mütter sich besser kennenlernen konnten.

Ihre Schritte wurden automatisch langsamer, nachdem sie vom Weg abgebogen war und durch das Unterholz ging. Sie musste an die Vertrautheit denken, die zwischen ihnen geherrscht hatte, und an das Grauen, das sie beide verband. Tieftraurig ließ sie ihre Hände durch das Gestrüpp gleiten, niedergedrückt von der Trauer um die verlorene Freundin.

Was war ihr wohl durch den Kopf gegangen, als sie diesen Weg zum letzten Mal genommen hatte? Was hatte sie gefühlt? Hier hatte sie die letzten Minuten ihres Lebens verbracht, zum letzten Mal die frische Luft geatmet, das Zwitschern der Vögel gehört und das Rascheln ihrer Schritte auf dem Waldboden.

Ob sie das wirklich noch alles wahrgenommen hatte? Oder hatte sie nur das Seil gespürt, das sie in ihren Händen hielt und das sie nur wenige Augenblicke später zu einer Schlinge knüpfen würde, die ihr für immer die Luft zum Atmen nehmen würde?

Was dachte ein Mensch, wenn er zu dem Ort ging, an dem er sterben würde?

Sie wusste es nicht.

Jetzt stand sie unter dem Baum und schaute hoch zu dem Ast, an dem ihre Freundin über sechs Wochen lang gehangen hatte, bevor ein Jäger das fand, was übriggeblieben war von ihr. Ein Skelett in Jeans und Bluse.

Niemand hatte die junge Frau vermisst. Niemand hatte gemerkt, wie sehr sie mit ihrem Leben haderte, mit ihrem Schicksal und mit ihrer Schuld. Nur sie, sie hatte es gemerkt, und sie hatte alles versucht, um ihre einzige Freundin zu retten.

Sie hatte es nicht geschafft.

Müde setzte sie sich an den Fuß des Baumes und betrachtete den Waldboden vor sich. Sie nahm ein bisschen Erde in die Hand und ließ sie gedankenverloren durch die Finger rieseln.

Plötzlich zuckte sie zusammen.

Kaum einen halben Meter von ihr entfernt blitzte etwas Weißes aus dem dunklen Waldboden hervor. Obwohl sie ahnte, was es war, stand sie auf und begann vorsichtig, es mit den Fingern auszugraben.

Kurz darauf hatte sie es in der Hand.

»Dich haben die Bullen nicht gefunden«, sagte sie leise. Sie ging zurück zum Baum und setzte sich wieder. Zärtlich strich sie über die glatte Rundung.

»Die Zeit ist reif. Ab heute wird er büßen.«

Es war schon nach drei, als Katrin den letzten Patienten verabschiedet hatte. Sie liebte ihren Beruf als Physiotherapeutin, aber die Arbeit strengte sie auch an. Die Übungen mit den Patienten waren oft kraftraubend. Sport brauchte Katrin nicht zu treiben. Dank ihres Jobs war sie kräftig und durchtrainiert.

Sie schaffte es nicht mehr, sich umzuziehen, und so stieg sie in ihrem weißen Trainingsanzug ins Auto. Bevor sie losfuhr, kämmte sie sich ihre schulterlangen blonden Haare und band sie zu einem neuen Zopf. Von ihrem Make-up war nicht viel übrig geblieben, wie sie mit einem Blick in den Rückspiegel feststellte. Sie wischte die verschmierte Wimperntusche ab und nahm sich fest vor, dass nächste Mal wasserfeste Mascara zu kaufen.

Der Weg von der Praxis zum Kindergarten führte an ihrem alten Gymnasium vorbei. Nichts hatte sich verändert: Der große rote Backsteinbau wirkte immer noch so abweisend wie früher. Ein paar Teenager standen lustlos auf dem Schulhof herum, einige rauchten, die meisten waren mit ihren Handys beschäftigt. Unwillkürlich sah sie sich selbst mit ihren Klassenkameraden auf dem Schulhof stehen. Ohne Handys, aber geraucht hatten sie damals auch, und selbst die Kleidung schien sich nicht groß verändert zu haben. Leggings hatte Katrin Ende der Achtzigerjahre jedenfalls auch getragen.

Ernüchterung machte sich in ihr breit. Nicht wegen der alten, unwiederbringlich vergangenen Zeiten, sondern weil sie wieder an dem Ort war, von dem sie unbedingt weggewollt hatte, und zwar für immer. Münster war zweifelsohne schön, nicht zu groß, trotzdem voller Leben, aber in ihrer Jugend hatte Katrin sich hier immer eingeengt gefühlt, die Beamtenstadt erschien ihr wahnsinnig spießig und kleinbürgerlich. Da ihre Familie schon seit Generationen in Münster wohnte, war sie beinahe stadtbekannt. Wie oft hatte sie sich damals nach ein bisschen Anonymität gesehnt … In Köln war es ganz anders gewesen. Der Umzug in die Großstadt war ihr vorgekommen wie ein Befreiungsschlag. Endlich konnte das behütete Einzelkind so leben, wie sie es wollte.

Seit sie selbst Leo hatte, konnte sie die übertriebene Fürsorge ihrer eigenen Mutter zwar besser nachvollziehen, aber manches war ihr auch heute noch unverständlich. So durfte Katrin als Teenager nie Röcke tragen, die oberhalb des Knies endeten. Immer hieß es, damit würde sie die Männer provozieren und womöglich in Gefahr geraten. Als wenn jeder Mann beim Anblick eines weiblichen Knies gleich zum Vergewaltiger würde! Und bis sie sechzehn war, durfte sie abends nicht ausgehen, sogar danach musste sie um Punkt zehn zu Hause sein. Manchmal hatte Katrin sich regelrecht eingesperrt gefühlt.

Nein, vieles aus ihrer Kindheit und Jugend verstand sie immer noch nicht. Warum musste die ganze Familie immer fertig angezogen am Frühstückstisch sitzen? Auch samstags und sonntags hatte ihre Mutter es nicht geduldet, wenn Katrin im Schlafanzug oder Bademantel zum Frühstück erschien. Für sie selbst gab es heute nichts Schöneres als einen langsamen Start ins Wochenende. Und das begann damit, dass Leo zu ihr und Thomas ins Bett kam, dort an seiner Milchflasche nuckelte, während sie beide den ersten Kaffee tranken.

Katrin fuhr am Exil vorbei, an der Diskothek, in der sie ab ihrem achtzehnten Geburtstag viele Nächte durchgetanzt hatte. Was wohl aus den Leuten von früher geworden war? Die meisten ihrer Schulfreunde waren ähnlich wie sie weggezogen, um zu studieren. Nur wenige waren in Münster geblieben. Kurz überlegte sie, ob sie Kontakt zu ihnen aufnehmen sollte, entschied sich aber sofort dagegen. Wenn man sich fast fünfzehn Jahre lang nicht gesehen hat, was soll man sich dann erzählen, dachte sie. Nein, sie würde sich einen neuen Freundeskreis aufbauen, und vielleicht war diese Tanja genau die Richtige dafür …

Abgekämpft kam sie mit Leo bei ihren Eltern an. Während sie durch den großen Garten auf das Haus zuging, seufzte sie tief. Alles sah perfekt aus: die Rasenflächen gepflegt, die Bäume gestutzt, die Blumen in den Beeten farblich genau aufeinander abgestimmt. Das war typisch für ihre Mutter. Man musste etwas darstellen nach außen. Das große Einfamilienhaus im Stil der siebziger Jahre mit ungleichmäßig geschrägtem Dach und heller Fassade passte genau dazu; es wirkte kühl und distanziert, gleichzeitig ließ es auf einen gewissen Wohlstand der Bewohner schließen. Nein, dachte Katrin wieder einmal, das ist nicht mein Stil. So möchte ich nicht wohnen. Da wirkt ja sogar mein Durcheinander mit den Umzugskisten gemütlicher.

Ihre Mutter, die gerade erst nach Hause gekommen war, machte Tee. Leo lief sofort in den Garten, um mit Lizzie zu spielen, die ihr Vater vor über zehn Jahren halb tot in einer Mülltonne gefunden und wieder aufgepäppelt hatte. Seit damals waren er und die Katze unzertrennlich. Ihre Mutter musste hart kämpfen, damit Lizzie wenigstens aus dem Schlafzimmer verbannt blieb.

»Schau mal, ob sie wieder da ist!«, rief ihre Mutter Leo hinterher, dann wandte sie sich an Katrin: »Wir haben die alte Streunerin seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Dein Vater ist schon ganz unruhig, du kennst ihn ja.«

»Wo ist Papa eigentlich?«, fragte Katrin.

»Er hält noch Mittagsschlaf. Er wird sicher gleich herunterkommen.« Ihre Mutter stellte Teegeschirr auf den Esstisch. »Du siehst übrigens furchtbar aus, Kind«, sagte sie tadelnd.

Katrin zog die Augenbrauen hoch. Das musste ja kommen! Ihre Mutter sah wie immer perfekt aus: das graublonde Haar zu einem klassischen Pagenkopf frisiert, dunkelblaues Twinset, beigefarbene Hose, die Fingernägel frisch lackiert, dezente Goldkette.

»Danke für das Kompliment, Mama«, antwortete sie müde und gab ihrer Mutter die Plastiktüte.

»Ach, für die Kleiderkammer. Sehr gut«, sagte ihre Mutter. »Und? Sind alle Kisten endlich leer?«

»Noch nicht ganz.«

»Sollen wir dir nicht doch helfen?«

Katrin schüttelte den Kopf. »Nein, nein, wirklich nicht.«

Ihre Mutter war überaus neugierig, sie würde hemmungslos in fremden Sachen herumstöbern, während ihr Vater vermutlich einen Teller nach dem anderen fallen ließ.

»Aber ich sehe doch, dass du überfordert bist.«

Typisch, dachte Katrin. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter sie jemals bestärkt hatte. Immer hieß es nur, Katrin schafft das nicht.

»Ich werde Papa wecken«, sagte Katrin in der Hoffnung, dass das Thema damit beendet war.

»Nicht nötig«, hörte sie ihren Vater sagen.

Katrin drehte sich um. Blass und mit eingefallenem Gesicht stand er auf der dunklen Holztreppe. Er sah richtig krank aus.

»Alles okay, Papa?«, fragte Katrin.

»Ja, ja, sicher. Mein Kreislauf ist nur ein bisschen schlapp. Alles in Ordnung.«

Katrin musterte ihn besorgt. Ihr Vater war inzwischen einundsiebzig und immer gesund gewesen. Aber seit ein paar Monaten fühlte er sich manchmal unwohl, und Katrin hoffte, dass das kein schlechtes Zeichen war. Sie hatte immer eine besondere Verbindung zu ihrem Vater gehabt. Da er sich grundsätzlich aus der Erziehung herausgehalten hatte, war er ihre Zuflucht gewesen, wenn es mal wieder Streit gegeben hatte mit ihrer Mutter. Er hatte sie getröstet und Verständnis gezeigt.

Ein Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Sie zuckte zusammen. Das kam aus dem Garten. Leo!

Sie lief hinaus. Bestimmt hatte er sich das Knie aufgeschlagen! Hoffentlich hatte er sich nichts gebrochen!

Katrin war auf alles vorbereitet, doch das, was sie dann erblickte, war so grauenvoll, dass ihr schwindelig wurde. Sie presste die Hand vor den Mund, um sich nicht zu übergeben.

Vorsichtig schob Charlotte Schneidmann die Bettdecke zur Seite. Sie ärgerte sich, dass sie eingeschlafen war.

Wie hieß er noch? Bernd, Bernard oder Bernhard? Sie wusste es nicht mehr. Und sie wollte es auch gar nicht wissen. Nicht im Traum dachte sie daran, diesen Mann noch einmal wiederzusehen, geschweige denn, noch einmal mit ihm zu schlafen.

Leise, um ihn nicht zu wecken, stand sie auf, sammelte ihre Sachen vom Boden auf und schlich ins Bad. Schnell zog sie sich an, dann verließ sie die Wohnung, ohne noch einen letzten Blick zu werfen auf diesen Bernd oder wie immer er hieß. Im Fahrstuhl lehnte sie sich an die Wand und seufzte. Es war ein toller Abend gewesen und eine noch tollere Nacht. Und trotzdem. Sie hatte sich still und heimlich davongemacht. Warum eigentlich? Der Mann, mit dem sie hemmungslosen Sex gehabt hatte, sah gut aus und war ihr von Anfang an sympathisch gewesen.

Sie kam sich fast ein bisschen schäbig vor, während sie das Mehrfamilienhaus verließ und zum Taxistand eilte, der nicht weit entfernt lag.

»Sebastianstraße 15«, sagte sie, stieg ein und ließ sich müde auf den Rücksitz fallen.

Während das Taxi durch das nächtliche Münster fuhr, dachte Charlotte über den Abend nach. Sie musste lächeln. Dieser Bernd hatte genau gewusst, wo er sie berühren musste, er hatte genau die richtigen Stellen gefunden, damit sie eine ungezügelte Lust empfand, so heftig wie lange nicht mehr. Schon bevor sie in seiner Wohnung gelandet waren, hatte er sich wie ein vollendeter Gentleman verhalten. Nachdem er sie im Sixpack angesprochen hatte, entpuppte er sich als fabelhafter Gesprächspartner, er war witzig und intelligent, und sie hatten sich angeregt unterhalten. Er hatte ihr gut gefallen. Zu gut. Das konnte gefährlich werden.

»Was ist denn bitte gefährlich daran, sich zu verlieben?«, hatte ihre Schwester Ina neulich am Telefon gesagt. Aus ihrer Sicht hatte sie natürlich recht. Aber Charlotte wollte sich nicht verlieben. Und eine Beziehung oder eine Familie wollte sie schon gar nicht. Nicht wie Ina, die seit zwölf Jahren verheiratet war und vier Kinder hatte. Vier Geschwister … Genau wie früher, dachte Charlotte. Philipp, Ina, Stefan und sie – eine richtige Rasselbande. Stefan hatte ihr immer besonders nahegestanden, stundenlang hatte sie mit ihrem kleinen Bruder Lego gespielt, und wenn er nachts einen Albtraum hatte, war er immer zu ihr ins Bett gekommen. Dann hatte er sich in ihre Arme gekuschelt und mucksmäuschenstill dagelegen.

Charlotte hatte ihn an sich gedrückt und »Jetzt ist es ja wieder gut« gemurmelt. Eng umschlungen waren die beiden dann eingeschlafen … Sie spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog, wie ein Stück Stanniolpapier, das in eine Flamme gerät. Jedes Mal krampfte sich alles in ihr zusammen, wenn sie an Stefan dachte, so sehr schmerzte sie der Gedanke an ihn und an die schrecklichen Ereignisse, obwohl die schon so lange zurücklagen.

Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen, einigermaßen zumindest. Manchmal war auch noch die kleine Ina zu ihnen gekrochen, sodass es in Charlottes Bett ziemlich eng geworden war. Jetzt musste Charlotte sogar ein wenig lächeln.

Und nun hatte Ina selbst einen Haufen Kinder, und die wollten wahrscheinlich dauernd zu ihr ins Bett.

Nein, danke. Charlotte schüttelte den Kopf und starrte in die dunkle Nacht. Manchmal kam ihr Inas Verhalten geradezu dumm vor. Die eigene verkorkste Kindheit noch einmal erleben zu wollen, nur eben in einer heilen und behüteten Welt … Nein, das war nicht ihr Weg, mit der Vergangenheit klarzukommen.

Zu Hause nahm sie eine heiße Dusche und machte sich einen Kaffee. Es war noch nicht mal fünf Uhr, aber sie wusste genau, dass sie nicht mehr schlafen konnte. In zwei Stunden müsste sie sowieso aufstehen, da lohnte es sich nicht, noch ins eigene Bett zu gehen.

Ihre kurz geschnittenen dunklen Haare waren schon fast trocken, als sie in ihrem schwarz-weiß karierten Bademantel zum Briefkasten ging, um die Zeitung zu holen. Heute war Freitag, das Wochenende stand vor der Tür. Endlich mal wieder ausgehen und Spaß haben, dachte sie und musste grinsen. Den hatte sie ja eigentlich gerade gehabt. In letzter Zeit ging sie immer öfter auch donnerstags aus. Da sie grundsätzlich keinen Alkohol trank, machten ihr solche Nächte nicht viel aus. Sie hatte noch nie viel Schlaf gebraucht, vier bis fünf Stunden reichten ihr. Sonst würde sie solche nächtlichen Trips auch nicht machen. Für Charlotte war es eine Selbstverständlichkeit, im Dienst fit zu sein. Seit sie nach dem Abschluss ihres Psychologiestudiums bei der Kripo Münster angefangen hatte, hatte sie keinen einzigen Tag gefehlt. So gerne Charlotte auch ausging und das Nachtleben genoss – die Disziplin durfte nicht darunter leiden. Und da sie nie geraucht oder getrunken hatte, sah man ihr auch nicht an, dass sie schon auf die vierzig zuging. Viele schätzten sie auf Ende zwanzig oder Anfang dreißig, was ihr natürlich sehr schmeichelte, und meistens ließ sie die anderen auch in dem Glauben. Dass sie gerade neununddreißig geworden war, ging schließlich niemanden etwas an.

»Warum musst du dir eigentlich die Nächte um die Ohren schlagen?«, hatte Ina sie schon oft gefragt. »Man könnte meinen, du hast ein Problem damit, allein zu sein.«

»Quatsch«, hatte Charlotte jedes Mal darauf geantwortet, aber natürlich wusste sie, dass etwas dran war an diesem Vorwurf. Es gab Tage, an denen fühlte sie sich wirklich einsam. Da war sie in einem Club oder in einer Kneipe besser aufgehoben als in ihrer Wohnung. Trotzdem wollte sie keine Beziehung und schon gar keine Familie. Das war ein Widerspruch, aber damit konnte sie ganz gut leben.

Charlotte schenkte sich noch einen Kaffee ein und setzte sich an den Küchentisch. Der einfache Holztisch passte zwar nicht zu der weißen Einbauküche, aber das machte ihr nichts aus. Ihre ganze Wohnung war spartanisch eingerichtet, nichts passte richtig zusammen. Charlotte fand es überflüssig, viel Geld für Möbel auszugeben. Sie war ja sowieso nur selten zu Hause.

Sie schlug die Zeitung auf und las wie immer als Erstes die Todesanzeigen. Das hatten ihre Eltern und auch ihre Großeltern schon so gemacht, und sie hatten immer laut vorgelesen, wer wie alt geworden war.

»Die dreißiger Jahrgänge werden immer weniger«, pflegte ihr Großvater zu sagen. Charlotte konnte sich noch gut an diesen Satz erinnern. Als ihr Opa schließlich nach langer, schwerer Krankheit im Alter von nur dreiundsechzig Jahren gestorben war, war er der einzige Dreißiger-Jahrgang in den Todesanzeigen gewesen. Heute war keiner dabei.

Charlotte blätterte den Regionalteil durch, überflog aber nur die Überschriften. Ein Verkehrsunfall mit zwei Schwerverletzten wurde gemeldet, das Geburtshaus von Annette von Droste-Hülshoff sollte restauriert werden, und wieder mal trieb ein widerlicher Tierquäler sein Unwesen.

Kopfschüttelnd blätterte Charlotte weiter. Wie viele psychisch kranke Menschen heutzutage herumliefen …

2

»Seit der Sache mit Lizzie ist er total verstört«, sagte Katrin. Sie beobachtete Leo, der schweigsam und wie in sich gekehrt neben Ben im Sandkasten saß.

Tanja sah sie mit großen Augen an. »Lizzie?«

Katrin lächelte müde. »Entschuldige. Die Katze meines Vaters hieß so.«

Tanja nickte mitfühlend. Katrin hatte ihr schon von dem schrecklichen Vorfall erzählt und dass Leo seitdem Schwierigkeiten hatte einzuschlafen und unter Albträumen litt. Sie kannten sich zwar erst seit einer Woche, aber Katrin hatte im Grunde sofort Vertrauen gefasst zu Tanja, und es tat ihr gut, wenn sie sich den Kummer von der Seele reden konnte.

»Der arme Kerl«, sagte Tanja. »Wenn ich mir vorstelle, Ben hätte so etwas erlebt … Ich glaube, ich könnte für nichts garantieren. Ich würde diesen Widerling auf eigene Faust suchen und ihm dermaßen eine verpassen, dass er nicht mal mehr seinen Namen aussprechen könnte!«

Katrin zuckte mit den Achseln. »Ich könnte so was nicht«, sagte sie resigniert. »Die Polizei meint, es ist praktisch aussichtslos, den Kerl zu finden. Angeblich kommt es hier in dieser Gegend immer wieder zu Tierquälereien.«

»Schrecklich.« Tanja seufzte. »Wie hast du Leo denn die ganze Sache erklärt?«

»Ich habe ihm erzählt, das blutige Stück Fleisch kommt aus dem Müll. Irgendwer hat es einfach in den Garten geworfen. Lizzie ist wahrscheinlich nur weggelaufen und taucht bestimmt bald wieder auf. Ich bin dann schnell mit ihm nach Hause gefahren, obwohl ich meine Eltern eigentlich nicht allein lassen wollte«, sagte Katrin. »Meinem Vater hat die ganze Sache sehr zugesetzt. Er hat an der Katze gehangen. Zuerst dachte ich, er kriegt einen Herzinfarkt, so erschrocken war er.«

»Wie geht es ihm jetzt?«, fragte Tanja. »Schlecht?« Sie räusperte sich. »Entschuldige. Ich meine natürlich, hoffentlich geht es ihm inzwischen besser.«

Katrin nickte. »Er muss aber immer noch ein Beruhigungsmittel nehmen.« Sie schüttelte den Kopf. »So habe ich meinen Vater noch nie erlebt. Bisher war er immer gut gelaunt und munter. Ich mache mir große Sorgen um ihn«, sagte sie betrübt. »Was will man machen. Wenn man so alt ist wie wir, sind die eigenen Eltern nun mal nicht mehr die Jüngsten.«

Tanja nickte. »Und damit wachsen die Sorgen.« Sie sah Katrin fragend an. »Ist alles okay? Du siehst ganz schön blass aus.«

»Ja, alles okay«, sagte Katrin schnell.

»Sicher?«

Sie zögerte. »Manchmal wird mir alles ein bisschen viel. Thomas ist nie da, ich musste mich ganz allein um den Umzug und um die Renovierung des Hauses kümmern, der neue Job ist anstrengend, und jetzt noch die Sache mit der Katze … Ich könnte eine Auszeit gebrauchen.«

Tanja nickte. »Das Gefühl kenne ich, besonders wenn ich PMS habe. Dann bin ich so mit den Nerven runter, dass ich alles anschreie, was nicht bei fünf auf den Bäumen ist.«

Katrin musste lachen.

»Versklavt von den eigenen Hormonen. Mein Arzt hat mir schon zum PMS-Piccolöchen geraten. Nach dem Motto: Schlechte Laune kann man am besten mit Alkohol bekämpfen.«

Katrin konnte gar nicht aufhören zu lachen. Tanja schaffte es tatsächlich, sie auf andere Gedanken zu bringen.

Eine Weile beobachteten die beiden ihre Söhne, die inzwischen auf einem Klettergerüst herumturnten. Leo schien wieder fröhlicher zu werden, stellte Katrin beruhigt fest.

»So ausgelassen habe ich Leo hier in Münster noch nicht gesehen. Das liegt bestimmt an Ben.«

»Dann lass uns das doch öfter machen«, schlug Tanja vor. »Ihr könnt auch gerne mal zu uns kommen. Im Moment sind zwar noch die Maler im Haus, und es herrscht das reinste Chaos. Aber danach …«

Katrin nickte. Das kannte sie nur zu gut. »Wir können uns ja auch bei uns treffen«, sagte sie. »Da stehen zwar auch noch ein paar Kisten rum, aber wenigstens sind die Handwerker nicht mehr da.«

»Gerne! Gleich morgen?«

Katrin überlegte kurz. Irgendwie ging ihr das ein bisschen zu schnell. Aber als sie sah, wie friedlich Leo und Ben miteinander spielten, sagte sie trotzdem zu.

In diesem Augenblick begannen die beiden Jungen, Sand in die Luft zu werfen und so zu tun, als stünden sie unter der Dusche.

»Guck dir die an!« Tanja lachte. »Jetzt bräuchte man eine Kamera!«

»Hallo! Schon mal was vom Handy gehört?« Katrin zog ihres heraus und machte ein Foto von den beiden, wie sie mit strahlendem Gesicht versuchten, Tanja unter ihre Sanddusche zu ziehen.

Als sie mit Leo nach Hause kam, fühlte sie sich wie erschlagen. So müde und erschöpft war sie schon lange nicht mehr gewesen. Sie machte Leo ein Brot mit Käse und einen Kakao und setzte sich zu ihm an den Küchentisch. Sie selbst bekam keinen Bissen herunter. Vor lauter Erschöpfung war ihr ganz flau im Magen. Hoffentlich werde ich nicht krank, dachte sie, während sie wenig später den Sandmann anstellte, ohne den Leo nicht ins Bett gehen wollte.

Plötzlich fiel ihr ein, dass es jemanden gab, dem es bestimmt noch schlechter ging als ihr.

»Lieb, dass du anrufst«, sagte ihr Vater am anderen Ende der Leitung. Seine Stimme klang müde.

»Ich weiß doch, wie sehr du an Lizzie gehangen hast«, sagte Katrin.

»Sie war eine gute Katze«, murmelte er und räusperte sich. »Es gibt so viele Verrückte …«

Katrin musste schlucken. »Papa, bist du wirklich in Ordnung?«, fragte sie besorgt. »Du hörst dich nicht gut an. Vielleicht solltest du doch mal zum Arzt gehen …«

»Nein, nein. Es ist schon gut. Entschuldige, Schatz. Ich bin ein alter Mann, der um sein Haustier trauert.« Er räusperte sich. »Ich glaube, deine Mutter hat das Essen fertig. Wollen wir ein anderes Mal weitersprechen?«

»Ist wirklich alles okay, Papa?«

»Mach dir keine Sorgen, Schatz. Mir geht es gut. Ich rufe dich morgen an, ja? Ich hab dich lieb, Katrinchen.«

»Ich hab dich auch lieb, Papa.«

Nachdenklich legte sie auf. Katrinchen. So hatte ihr Vater sie seit ihrer Kindheit nicht mehr genannt.

Sie hoffte sehr, dass er sich bald von dem Schock erholte und wieder der Alte war. Und wenn nicht?, dachte sie, während sie Leo seinen heiß geliebten grünen Kermit-der-Frosch-Schlafanzug anzog. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, was auf sie zukommen könnte, wenn ihre Eltern eines Tages nicht mehr allein zurechtkommen würden.

Wie jeden Abend legte sie sich mit Leo zusammen ins neue große Ehebett, extra breit, sodass sie auch bequem zu dritt darin schlafen konnten. Mit der neuen roten Bettwäsche sah es perfekt aus, als stünde es auf der Titelseite der neuesten Schöner Wohnen-Ausgabe, fand Katrin.

Leo kuschelte sich an seine Mutter und trank noch eine Milch, während sie ihm vorlas. Eigentlich las Katrin immer zwei Geschichten vor, bevor sie Leo in sein Zimmer brachte und er noch eine CD hören durfte. Aber seit dem Tod von Lizzie wartete sie, bis er in ihren Armen eingeschlafen war, und trug ihn erst dann ins Kinderzimmer.

Heute schaffte Katrin nicht einmal die erste Geschichte. Leo war schon eingeschlafen, und so legte sie das Buch nach zwei Seiten weg und legte die Arme um ihn. Wenig später schlief auch sie tief und fest.

3

Als Katrin wach wurde, war ihr furchtbar übel. Im Bad musste sie sich übergeben.

»Na klasse. Jetzt werde ich auch noch krank«, murmelte sie, nachdem sie den Mund ausgespült und sich das Gesicht gewaschen hatte. Ob es eine Magen-Darm-Grippe war? Während sie noch darüber nachdachte, wo sie sich wohl angesteckt haben könnte, hörte sie Leo rufen.

In diesem Augenblick kam Thomas verschlafen ins Bad. »Leo ist wach. Sorry, ich würde mich ja um ihn kümmern, aber ich muss mich beeilen. In einer Stunde habe ich mein erstes Meeting.« Damit verschwand er unter der Dusche.

»Danke der Nachfrage, mir gehts beschissen«, murmelte Katrin und ging zu Leo. Als sie ins Kinderzimmer trat, roch sie als Erstes die volle Windel. Sofort musste sie wieder würgen. Sie rannte zurück ins Bad und übergab sich ein zweites Mal.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Thomas aus der Dusche. »Du bist doch wohl nicht schwanger, oder?«

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Schwanger? Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.

»Ich muss mir den Magen verdorben haben«, brachte Katrin mühsam hervor. In Sekundenschnelle rechnete sie ihren Zyklus nach. Vor zehn Tagen hätte sie ihre Periode bekommen müssen. Hatte sie aber nicht. Vielleicht war ihr Zyklus wegen dem ganzen Stress durcheinandergeraten? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

Nachdem sie Leo zum Kindergarten gebracht hatte, kaufte Katrin im nächsten Drogeriemarkt einen Schwangerschaftstest und versteckte ihn ganz unten in ihrer Handtasche. Keiner ihrer neuen Kollegen sollte ihn durch Zufall entdecken, sie war schließlich noch in der Probezeit und wollte kein Gerede provozieren.

Sie war spät dran, als sie in die Praxis kam. Ihr erster Patient wartete schon ungeduldig.

»Seit zehn Minuten bin ich schon hier!«, sagte Herr Zehrend, ein alter Mann, der an Parkinson litt, mit vorwurfsvollem Unterton.

Katrin bemühte sich um ein Lächeln. »Es tut mir leid, ich bin aufgehalten worden. Sie können gleich mitkommen.«

Während der gymnastischen Übungen mit Herrn Zehrend dachte sie fieberhaft nach. Konnte sie wirklich schwanger sein? Seit der Geburt von Leo verhüteten sie und Thomas nur noch mit Kondom. Aber die waren doch sicher! Außerdem hatte es fast ein Jahr gedauert, bis sie mit Leo schwanger geworden war, damals war sie noch keine vierunddreißig gewesen. Heute, fast drei Jahre später, müsste es doch eigentlich noch schwieriger sein. Und so oft hatten Thomas und sie in der letzten Zeit nun wirklich nicht miteinander geschlafen.

Früher hatte sie sich immer zwei Kinder gewünscht. Sie fand, dass ein Kind nicht allein aufwachsen sollte, und in ein oder zwei Jahren wollte sie gerne noch ein Baby bekommen. Aber jetzt? Sie seufzte. Das Leben war sowieso schon schwierig genug.

Als Herr Zehrend schließlich unter seinen Wärmepackungen lag und erschöpft eingeschlafen war, nahm Katrin ihre Handtasche und ging zur Toilette. Obwohl sie wusste, wie der Test funktionierte, überflog sie die Gebrauchsanweisung. Dann atmete sie ein paar Mal tief durch und begann mit dem Test. Schon bald würde sie Gewissheit haben.

»Na großartig«, murmelte sie wenig später. Sie lehnte sich gegen die Toilettentür und schloss die Augen. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, was das bedeutete. Nicht nur neun Monate Stress …

Doch dann legte sie die Hand auf den Bauch, und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

»Hallo Baby«, sagte sie leise.

Irgendwie würden sie es schon schaffen.

Sie verließ die Toilette, sah nach Herrn Zehrend, der immer noch friedlich schlief, und zog ihr Handy heraus. Sie würde Thomas anrufen. Er sollte es als Erster erfahren. Hoffentlich würde er sich genauso freuen wie sie …

»Es tut mir leid«, sagte eine geschäftsmäßig freundlich klingende Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. »Ihr Mann ist mitten in einer wichtigen Videokonferenz. Da kann ich ihn auf keinen Fall stören. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

»Nein, danke«, sagte Katrin schnell. »Es ist nicht so wichtig.« Ernüchterung machte sich in ihr breit. »Das hat Zeit bis heute Abend.«

Tanja und Ben standen schon vor der Tür, als Katrin mit Leo nach Hause kam.

»Entschuldige«, sagte Tanja. »Sind wir zu früh? Ich hab dich am Kindergarten gar nicht gesehen.«

»Furchtbar! Alles wieder auf den letzten Drücker«, antwortete Katrin. »Endlose Diskussionen mit einem Patienten, Stau in der City, der normale Wahnsinn. Kommt rein.«

Ben und Leo rannten sofort ins Kinderzimmer.

»Möchtest du Kaffee oder Tee?«, fragte Katrin und ging voraus in die Küche.

Tanja folgte ihr. »Was trinkst du?«

»Ich brauche unbedingt einen Kaffee«, sagte Katrin. Aber dann fiel ihr ein, warum ihr heute Morgen so übel geworden war. »Ach, nee, ich mach mir doch lieber einen Tee.«

Tanja sah Katrin stirnrunzelnd an. »Dann nehme ich auch Tee.« Sie setzte sich auf die Eckbank und nahm stöhnend einen ihrer Erdbeer-Ohrringe ab. »Manchmal werden sie mir einfach zu schwer«, sagte sie und rieb sich das Ohrläppchen.

»Aber sie sind toll!« Katrin nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn. »Wo hast du sie her?«

»Die habe ich zur Geburt meines Sohnes bekommen«, antwortete Tanja. »Wurfprämie«, fügte sie hinzu und verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen.

Katrin lachte laut auf, während sie Teewasser aufsetzte. »Wollt ihr eigentlich noch ein Kind?«, fragte sie.

»Unbedingt!«, sagte Tanja. »Am liebsten sofort! Aber so schnell geht das ja manchmal nicht … Und ihr?«

Katrin spürte, wie sie rot wurde, und lächelte nervös.

Tanja musterte sie und nickte wissend. »Ich habs mir gleich gedacht«, sagte sie triumphierend. »Irgendwie sieht man’s dir an! Herzlichen Glückwunsch!« Sie stand auf und umarmte Katrin. »Wie weit bist du?«

»Ach, alles noch ganz frisch«, wiegelte Katrin verlegen ab. »Du bist die Erste, die es erfährt. Ich habe es noch nicht mal Thomas erzählen können. Also häng es bitte nicht an die große Glocke.«

Tanja legte verschwörerisch die Hand aufs Herz. »Ich werde niemandem davon erzählen. Versprochen!«, sagte sie feierlich. »Freust du dich denn? Richtig begeistert wirkst du nicht.«

»Sagen wir mal so: Es war nicht geplant. Und der Zeitpunkt ist auch nicht gerade günstig«, sagte Katrin, während sie das heiße Wasser in zwei Teebecher goss.

»Es gibt keinen günstigen Zeitpunkt für ein Baby«, erwiderte Tanja. Sie blickte aus dem Fenster und fügte gedankenverloren hinzu: »Egal, was kommt, man muss damit fertig werden.«

Katrin runzelte die Stirn. Was meinte sie damit? Und warum klang sie plötzlich so nachdenklich? Gerade als sie Tanja danach fragen wollte, kam Ben in die Küche gestürmt.

»Hey, Süßer, was ist los?«, fragte Tanja.

»Leo weg«, sagte Ben. Er kletterte auf einen Küchenstuhl und griff nach einem Apfel, der in einer Schale auf dem Tisch lag.

»Hat er sich wieder versteckt?«, fragte Katrin amüsiert. »Verstecken spielen ist im Augenblick das Größte für ihn«, fügte sie lachend hinzu. »Thomas und ich haben schon mal fast eine Stunde lang nach ihm gesucht, bis wir ihn endlich im Waschkeller unter einem Berg schmutziger Wäsche gefunden haben.«

»Ben, jetzt sag schon!« Tanja nahm ihm den Apfel weg.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Leo weg.«

»Was soll das heißen, Leo ist weg?«, fragte Katrin und ging hinaus in den Flur. »Leo? Wo steckst du?« Besorgt lief sie die Treppe hoch. »Schatz, wo bist du? Hast du dich versteckt? Jetzt nicht, Schatz. Komm bitte raus!«

Katrin ging ins Kinderzimmer und schaute unterm Bett und im Schrank nach, danach suchte sie ihn im Bad und im Schlafzimmer. Nichts. Ratlos ging sie in die Küche zurück. Übelkeit stieg in ihr hoch.

»Ben, das ist kein Spaß. Wo ist Leo?«, fragte Tanja.

»Leo weg«, sagte er. »Will jetzt Apfel ham.«

Katrin erschrak. »Er wird doch nicht …« Sie eilte zur Haustür. Tatsächlich. Sie war nur angelehnt.

»Verdammt!«

Sie rannte durch den Vorgarten auf die Straße und blickte sich suchend um.

»Leo? Leo! Komm sofort her! Leo!«

Im Haus nebenan ging ein Fenster auf. Die alte Frau Werres blickte erstaunt heraus.

»Warum schreien Sie denn so?«

»Haben Sie meinen Sohn gesehen?«, fragte Katrin hektisch. Frau Werres schüttelte den Kopf.

»Ein kleiner hellblonder Junge?«, hakte Katrin nach.

»Ich weiß, wie Ihr Sohn aussieht«, antwortete Frau Werres pikiert. »Warum lassen Sie ihn auch allein draußen spielen? Ist er dafür nicht noch viel zu klein?«

»Ich habe ihn nicht allein draußen spielen lassen. Er ist einfach aus dem Haus gelaufen«, verteidigte Katrin sich.

Frau Werres warf ihr einen tadelnden Blick zu. »Einfach weglaufen … So was haben meine früher nie gemacht.« Sie schüttelte den Kopf. »Die jungen Frauen heutzutage sollten besser auf ihre Kinder aufpassen.« Kopfschüttelnd schloss sie das Fenster wieder.

Katrin eilte die Straße hinunter. »Leo! Leo! Wo bist du!«, rief sie immer wieder. Wo steckte er nur? Er konnte doch nicht einfach vom Erdboden verschwunden sein! Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, und sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Und wenn ihm was passiert war? Wenn er von einem Auto angefahren worden war und verletzt im Straßengraben lag? Oder wenn er irgendeinem Kinderschänder in die Hände gefallen war? Katrin kämpfte mit den Tränen.

Was sollte sie machen? Erschöpft blieb sie stehen. Da hinten! Stand da nicht ein Eiswagen? Und davor … Leo!

So schnell sie konnte, lief sie dorthin.

»Scholalaeis«, sagte Leo gerade, doch der Eismann schüttelte freundlich den Kopf.

»Ich kann dir leider kein Eis geben. Nur wenn deine Mama oder dein Papa dabei sind. Wo sind die denn?«

»Scholalaeis«, wiederholte Leo.

»Entschuldigen Sie«, sagte Katrin zu dem Eismann und nahm Leo auf den Arm.

»Schatz, das kannst du doch nicht machen! Du kannst doch nicht einfach weglaufen! Mama war ganz krank vor Sorge!«

»Scholalaeis«, sagte Leo noch einmal, aber Katrin schüttelte den Kopf.

»Nein. Kein Eis. Du kommst jetzt mit nach Hause und versprichst mir, dass du nie wieder so was machst. Ist das klar?«

Leo sah sie mit großen Augen an. Dann nickte er.

Katrin streichelte ihm über den Kopf. »Jetzt ist ja alles wieder gut.« Sie nickte dem Eismann zu und ging mit Leo auf dem Arm zurück. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, nicht zu weinen, liefen ihr Tränen übers Gesicht.

Eilig packte Thomas seine Sachen.

»Tut mir leid, dass ich schon heute Abend fliegen muss«, sagte er. Er gab Katrin, die auf dem Bett saß, einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und eilte ins Bad. »Wo ist denn mein Aftershave?«

»Leer. Schatz, ich wollte dir …«

»Macht nichts. Dann kaufe ich mir am Flughafen ein neues«, unterbrach er sie und kam zurück ins Schlafzimmer. »Das ist eine Wahnsinnschance für uns«, sagte er, während er mehrere Hemden und Krawatten in den Rollkoffer legte. »Der Markt ist riesig! Wir fangen mit Lima an. Und wenn wir Peru erst mal im Sack haben, ist auch Kolumbien kein Problem mehr.«

»Thomas, ich muss dir was …«

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie die da unten ihre Lebensmittel kühlen. Geradezu abenteuerlich, sage ich dir.« Sein Gesicht glühte. »Wenn wir die Kosten einigermaßen im Rahmen halten können, dann machen wir da ein Riesengeschäft! Und danach stehen mir alle Türen offen, dann spiele ich beruflich in einer ganz anderen Liga! Und dann, mein Schatz, dann wird alles anders.« Thomas zog den Reißverschluss zu und strahlte sie voller Tatendrang an. »Dann bin ich nicht mehr derjenige, der von Termin zu Termin hetzt, dann lasse ich nur noch hetzen, das verspreche ich dir. Dann habe ich endlich mehr Zeit für euch!«

»Das wäre schön.« Katrin bemühte sich um ein Lächeln. Sie nahm seine Hand und sah ihn liebevoll an. »Schatz, wie fändest du es, wenn wir bald zu …«

»… zusammen wegfahren? Daran habe ich auch schon gedacht, Liebling. Vielleicht kann Leo mal ein paar Tage zu deinen Eltern, und wir machen es uns richtig nett«, sagte Thomas. Er zog sie vom Bett hoch und drückte sie kurz an sich, bevor er nach seinem Koffer griff. »Ich glaube, ich habe alles. In einer halben Stunde muss ich am Flughafen sein. Kannst du mich fahren, oder soll ich mir ein Taxi bestellen?«

Er wartete Katrins Antwort gar nicht erst ab. »Ach lass, ich bestelle mir ein Taxi. Du siehst immer noch ziemlich blass aus. Gehts dir nicht besser?«

Katrin wollte antworten, doch Thomas griff schon zum Handy und bestellte sich ein Taxi. Sie seufzte und gab sich geschlagen. Nicht zwischen Tür und Angel, dachte sie. Wenn er wieder zu Hause war, würde sich genügend Zeit finden, um ihm in aller Ruhe die Neuigkeit zu berichten.

In diesem Augenblick kam Leo ins Zimmer gerannt. »Papa hierbleiben!«, schluchzte er.

Thomas nahm ihn auf den Arm. »Ich bin doch ganz schnell wieder da«, sagte er tröstend. »Danach habe ich ein paar Tage frei, dann machen wir es uns richtig schön. Versprochen!«

»Leo mit!«

»Das geht doch nicht, mein Schatz. Dann wäre die Mama ja ganz allein!« Thomas nahm seine Krawatte ab und band sie Leos Teddy um den Hals. »Schau mal, die darf er ummachen, solange ich weg bin. Okay?«

Leo nickte und wischte sich die Tränen weg.

Draußen hupte jemand.

»Das Taxi ist da«, sagte Thomas und gab Katrin einen Kuss.

»Nur eine kurze Woche, dann bin ich schon wieder da.«

Sie nahm Leo auf den Arm und drückte ihn an sich. »Ja natürlich«, sagte sie und bemühte sich, dass es fröhlich klang. »Eine kurze, kleine Miniwoche, und schon bist du wieder da.«

Selbst als das Taxi schon längst um die Ecke gebogen war, winkten Katrin und Leo Thomas noch hinterher.

Jetzt traten ihr doch noch Tränen in die Augen. Diese blöden Hormone, dachte sie. Schon als sie mit Leo schwanger gewesen war, hatte sie nah am Wasser gebaut. Hoffentlich würde es diesmal nicht wieder so schlimm werden.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »So, und wir zwei lesen jetzt was Schönes. Was möchtest du? Raupe Nimmersatt oder Häschenschule?«

»Raupe, Raupe!«, jubelte Leo.

Katrin ließ ihn hinunter, und sofort lief er ins Haus, um sein Lieblingsbuch zu suchen.

4

Es dauerte bis zum Nachmittag des nächsten Tages, bis Thomas sich endlich aus Lima meldete.

»Ich bin total erledigt«, hörte Katrin ihn durchs Telefon stöhnen. Sie hatte das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt und versuchte gerade, Leo und den Wocheneinkauf ins Haus zu bringen. Leo quengelte, er war müde und hatte Durst. Während Katrin versuchte, ihren Sohn zu beruhigen, die Tür aufzuschließen und gleichzeitig das Handy zu halten, riss eine der Einkaufstüten, und eine Sechserpackung Eier fiel auf den Boden.

»Scheiße!«, schimpfte sie.

»Was hast du gesagt?«, fragte Thomas. »Ich verstehe dich kaum. Die Leitung ist so schlecht.«

»Nichts«, murmelte sie. »Bist du gut angekommen?«, fragte sie mit lauter Stimme und schob Leo in den Hausflur.

»Ja, schon. Aber im Flugzeug konnte ich überhaupt nicht schlafen, und dann sind vierzehn Stunden ganz schön lang. Dafür haben wir aber ein super Hotel, alles ganz edel und …«

»Mama, trinken!«, brüllte Leo und fing an zu heulen. »Mamaaaa!«

»Thomas, wir telefonieren später, okay?«, sagte Katrin und beendete das Gespräch. Es war ihr ziemlich egal, wie edel das Hotel war, dafür hatte sie im Augenblick weder Zeit noch Nerven.

Sie gab Leo etwas zu trinken und räumte die Einkäufe in die Schränke. Den Rest des Nachmittags versuchte Katrin, eine Umzugskiste auszupacken und gleichzeitig mit Leo eine Legoburg zu bauen. Als sie gerade das Abendbrot machen wollte, klingelte wieder das Telefon.

»Das ist bestimmt noch mal der Papa«, sagte sie zu Leo und nahm ab.

Doch es war nicht Thomas, es war ihre Mutter. Sie schluchzte laut, sodass Katrin sie kaum verstehen konnte.

»Mutter, bitte«, sagte sie. »Was ist los? Ist irgendwas mit Papa passiert?«

»Er hatte plötzlich Krämpfe, und dann ist er ohnmächtig geworden. Wir sind in der Uniklinik!«

Katrin erschrak. »Ich komme sofort!«, sagte sie mit zitternder Stimme und legte auf.

Fieberhaft überlegte sie. Was sollte sie mit Leo machen? Nie war Thomas da, wenn man ihn brauchte! Es blieb ihr nur eins: Sie musste den übermüdeten und quengeligen Jungen ins Auto packen und mit ihm durch halb Münster fahren.

Als sie schließlich die Uniklinik erreicht hatte, schlief Leo tief und fest in seinem Kindersitz. Und jetzt? Wenn sie ihn aufweckte, würde er bestimmt anfangen zu weinen, und sie musste sich jetzt um ihre Eltern kümmern. Hier auf dem Parkplatz konnte er in aller Ruhe weiterschlafen. Und wenn er irgendwann wach würde? Katrin beschloss, kurz in die Klinik zu laufen, um zu sehen, wie es ihrem Vater ging. Vielleicht hatte ihre Mutter wie so oft übertrieben, und er war schon längst wieder auf den Beinen. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass ihre Mutter sich in etwas hineinsteigerte. Wenn es doch etwas Ernsteres sein sollte, würde sie zurücklaufen und Leo holen.

Sie befestigte den Sonnenschutz an den Fenstern, damit man Leo von außen nicht sehen konnte, und achtete darauf, dass der Wagen auch wirklich verriegelt war. Dann eilte sie ins Krankenhaus. Wahrscheinlich würde ihr Vater eine Infusion bekommen, weil er wieder mal zu wenig getrunken hatte. Er trank immer zu wenig, das sagte sie ihm jedes Mal. Aber als pensionierter und früher sehr erfolgreicher Arzt wusste er natürlich alles besser. Und der Name Dr. Franz Wiesner hatte in Münster immer noch einen besonderen Klang, das musste auch Katrin zugeben. Fast vierzig Jahre lang hatte er eine gut gehende Frauenarztpraxis geleitet, wodurch er Katrin und ihrer Mutter ein sorgloses Leben ermöglicht hatte. Katrin wusste, dass ihr Vater es nicht immer leicht gehabt hatte. Ihre Mutter war eine anspruchsvolle Frau, die immer darauf bestanden hatte, dass ihr Mann neben seiner vielen Arbeit aktiv am Familienleben teilnahm. Katrin bewunderte ihren Vater dafür, dass er das geschafft hatte und fast jeden Abend pünktlich zum Abendbrot zu Hause gewesen war. Manchmal fragte sie sich, warum Thomas das nicht auch konnte.

Während Katrin durch die schier endlosen Gänge des Klinikums eilte, überlegte sie, ob sie ihren Eltern von der Schwangerschaft erzählen sollte. Ihr Vater würde sich ganz bestimmt über die Nachricht freuen, und das würde ihm guttun. Katrin musste lächeln, als sie daran dachte, wie aufgedreht ihr Vater damals gewesen war, als sie ihm von ihrer ersten Schwangerschaft erzählt hatte. Von da an hatte er sie mit Folsäure und Vitaminen versorgt und jede Bewegung des Babys wissenschaftlich gedeutet. Sie freute sich schon auf sein Gesicht, wenn sie ihm die überraschende Neuigkeit erzählen würde.

Als sie endlich die Intensivstation erreichte, fand sie ihre Mutter zusammengesackt auf einem Stuhl, die Augen verweint.

»Mama!« Katrin ging zu ihr und nahm sie in die Arme. »Was ist los? Wie geht es Papa?«

Mit zitternder Stimme versuchte ihre Mutter etwas zu sagen, aber Katrin verstand kein Wort.

»Mama! Jetzt beruhige dich! Was ist denn passiert?«

»Er … er ist tot …«

Katrin ließ die Arme sinken. Tot? Ihr Papa? Einfach so? Aus heiterem Himmel? Das konnte nicht sein!

Ihr wurde übel. Hektisch blickte sie sich um. Hier musste doch irgendwo eine Toilette sein! Sie schluckte gegen die Übelkeit an, doch es half nichts. Mit zittrigen Fingern zog sie ein Taschentuch hervor, presste es gegen den Mund und lief los.

Charlotte ließ sich kaltes Wasser über die Hände laufen und schaute in den Spiegel. In letzter Zeit war sie ungewöhnlich häufig bei Vernehmungen von Schwerverletzten oder Opferangehörigen eingesetzt worden, selbst bei Fällen, mit denen sie nur am Rande zu tun hatte. Ihre männlichen Kollegen blieben von dieser heiklen Aufgabe offenbar verschont. Charlotte hasste das. Heute war sie in die Uniklinik gerufen worden, damit sie die Frau und die drei Töchter eines Unfallopfers befragte, quasi noch bevor sie vom Oberarzt die schreckliche Nachricht bekommen hatten.

»Ich bin weder Polizeipsychologin noch Bestattungsunternehmerin«, hatte sie schon oft zu ihrem Chef gesagt, aber der hatte nur mit den Achseln gezuckt und etwas von »weiblicher Note« gemurmelt. »Und außerdem«, hatte er hinzugefügt, wohl als letzten Trumpf, »wissen Sie doch selbst, wie oft die trauernde Witwe sich als raffgierige Mörderin entpuppt.«

Charlotte spritzte sich Wasser ins Gesicht und trocknete es ab. Fast zwei Stunden hatte die Befragung der geschockten Angehörigen gedauert, und immer wieder hatte sie mühsam ihre Ungeduld zähmen müssen. So verdächtig die Begleitumstände bei dem Unfall auch waren, so sicher war sie sich, dass weder Frau noch Töchter auch nur das Geringste damit zu tun hatten. »Lassen Sie die Trauer zu«, hatte sie also zum Abschied mit ruhiger Stimme gesagt. Es war der Satz, den sie in solchen Situationen immer sagte. Aber was sollte das eigentlich heißen? Konnte man Trauer nicht zulassen? Konnte man sich der Trauer um einen geliebten Menschen überhaupt entziehen? Selbst wenn man sie verdrängte, stets blieb ein dumpfes, schweres Gefühl zurück. Das wusste sie viel zu gut aus eigener Erfahrung. Nein, Trauer war ein so übermächtiges Gefühl, dem konnte man sich gar nicht entziehen. Und sie wusste auch, dass es in solch einer Situation keinen Trost geben konnte, nicht einmal, wenn wirklich ein Fremdverschulden vorlag und sie und ihre Kollegen den Verantwortlichen fassen konnten. Es würde Monate dauern, vielleicht sogar Jahre, bis die Trauernden wieder ein einigermaßen normales Leben führen konnten.

Als sie durch den großen Eingangsbereich des Krankenhauses ins Freie trat, fielen ihr sofort die Menschen auf, die sich um ein parkendes Auto drängten.

»Wir müssen die Polizei rufen«, hörte Charlotte eine Frau aufgebracht sagen.

»Und am besten auch gleich das Jugendamt informieren«, sagte eine andere. »Wie kann man nur so herzlos sein?«

Als Charlotte näher kam, hörte sie das Weinen eines Kindes. Sie drängte sich durch die Menge der Neugierigen und entdeckte einen kleinen hellblonden Jungen in einem Kindersitz auf der Rückbank eines schwarzen Nissan. Er hatte einen Teddybär, dem eine Krawatte um den Hals gebunden war, fest an sich gedrückt und weinte jämmerlich.

In diesem Augenblick begann ein Handy zu klingeln. Es lag auf dem Beifahrersitz. Charlotte zog die Stirn kraus. Irgend so ein modernes arrhythmisches Zeug, furchtbar. Wie konnte man sich nur so einen nervenden Klingelton aussuchen?

Bevor sie etwas unternehmen konnte, kam eine junge Frau aus der Klinik gerannt und stürmte auf den Wagen zu. Ihre Augen waren gerötet.

»Leo, Liebling, oh Gott!«

Noch im Laufen entriegelte sie den Wagen, dann riss sie die hintere Tür auf, öffnete die Gurte des Kindersitzes und nahm das Kind in die Arme. Tränen liefen ihr über die Wangen.

»Mama! Mama!«, schluchzte das Kind.

»Es tut mir so leid, mein Schatz …« Die Frau beugte sich ins Auto und drückte das Handy aus.

»Erst das Kind allein lassen und dann groß rumheulen«, schimpfte eine der Passantinnen. »So was hab ich gerne!«

»Schlimm, wie manche Kinder heute leben müssen«, sagte eine andere spitz. »Ich stehe hier schon seit zwanzig Minuten. Und seitdem weint das arme Kind.«

»Vielen Dank«, sagte Charlotte zu den Umstehenden. »Ich glaube, jetzt ist alles wieder in Ordnung, und Sie können beruhigt nach Hause gehen.«

»Aber da muss man doch was unternehmen!«, regte sich ein Mann auf. »Wir sollten die Polizei rufen!«

Charlotte nahm ihren Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn hoch. »Ich glaube, Sie können jetzt alle beruhigt nach Hause gehen«, wiederholte sie mit ruhiger Stimme.

Die Umstehenden schüttelten den Kopf und warfen der immer noch weinenden Frau böse Blicke zu, während sie sich widerwillig entfernten.

»Alles in Ordnung?«, fragte Charlotte.

Die Frau nickte nur. Sie drückte den Jungen an sich.

»Sie wissen, dass Sie eine Aufsichtspflicht haben und dass Sie Ihr Kind nicht allein lassen dürfen?«

»Ich weiß«, sagte die Frau mit schwacher Stimme. »Es war ein Notfall. Kommt bestimmt nicht wieder vor.«

Charlotte musterte sie besorgt. »Soll ich jemanden für Sie anrufen? Brauchen Sie Hilfe?«

»Nein, nein. Es ist wirklich alles in Ordnung. Danke.«

Als Charlotte in ihren Wagen stieg, fühlte sie sich wieder einmal in ihrer Entscheidung bestätigt: keine Beziehung, schon gar keine Ehe und keine Kinder. Sie wollte nicht zu den überforderten Müttern gehören, die ihre Kinder allein ließen und sich dann die bösen Sprüche ihrer ach so gescheiten Mitmenschen anhören mussten.

Nein, sie wollte niemals Mutter sein! Schon gar nicht so eine Mutter wie ihre eigene!

Katrin weinte leise in ihr Kopfkissen. Leo schlief bei ihr, und sie wollte ihn auf keinen Fall wecken. Immer wieder strich sie ihm sanft über den Kopf.

Der junge Stationsarzt hatte ihr gesagt, dass ihr Vater schon im Koma gelegen habe, als er in die Uniklinik gebracht wurde. Durch den massiven Sauerstoffmangel habe er zu diesem Zeitpunkt bereits schwere Hirnschäden erlitten. Trotz intensiver Bemühungen habe schließlich sein Herz aufgehört zu schlagen.

Als Katrin am Bett ihres toten Vaters gestanden hatte, hatte sie eine große Leere in sich verspürt. Friedlich lag er da, vertraut und gleichzeitig fremd. Sein Gesicht sah wächsern aus, gelbweiß und glänzend. Sie berührte seine Hand und erschrak, wie kalt sie war.

»Wie kann ein gesunder Mann einfach so ins Koma fallen?«, hatte sie den Arzt mit zitternder Stimme gefragt.

»Ihr Vater war einundsiebzig Jahre alt. Den meisten mag das heutzutage nicht besonders alt erscheinen, aber solche Sachen passieren leider«, hatte der Arzt geantwortet und von Kreislaufproblemen gesprochen, die ihren Vater wohl schon lange geplagt hatten und die vermutlich die Ursache für den Kollaps gewesen waren.

Katrin hatte ihrem Vater einen Abschiedskuss auf die Stirn gegeben, und erst als ihre Mutter schluchzend sagte, dass Leo nun keinen Opa mehr habe, war ihr siedend heiß eingefallen, dass Leo immer noch allein im Auto saß.

Leise stand Katrin auf. Sie wollte noch einmal versuchen, Thomas zu erreichen. Bisher hatte sie nur die Mailbox erwischt.

Endlich, diesmal meldete er sich.

»Hey, Schatz!«, rief er mit fröhlicher Stimme. Im Hintergrund hörte sie laute Musik. »Ich hab es bestimmt schon zehn Mal bei dir versucht! Wo warst du denn …?« Ein lautes Rauschen unterbrach ihn. »Ich kann dich kaum verstehen! Wir sind gerade auf einem tollen Empfang. Gibt es was Wichtiges?«

»Ja«, sagte Katrin und räusperte sich.

»Was ist denn? Du musst lauter sprechen, sonst höre ich dich nicht.«

»Mein Vater ist gestorben«, sagte sie tonlos. Plötzlich hörte sie nur noch die Musik. »Thomas? Hast du mich verstanden?«

»Ja«, antwortete er nur. Sie hörte, wie er tief durchatmete. »Das ist ja schrecklich. Ich werde so schnell wie möglich nach Hause kommen. Es tut mir so leid.«

»Ja.«

»Ich melde mich, sobald ich weiß, wann ich ankomme.«

»Ja.«

Katrin stellte das Telefon auf die Station und dachte für einen Moment, dass Thomas’ Stimme sich irgendwie merkwürdig angehört hatte.

5