Kim - Anna Fifield - E-Book

Kim E-Book

Anna Fifield

0,0

Beschreibung

Wer ist Kim Jong-un? Die Karikatur eines Staatsmannes mit seltsamer Frisur? Ein unkalkulierbarer Tyrann, Herr über 25 Millionen geknechtete Untertanen und die Atombombe? Oder ein Machtpolitiker, der sein erstarrtes Land vorsichtig reformiert? Um das Leben des nordkoreanischen Diktators ranken sich Mythen und Legenden, allzu viel blieb bisher im Dunkeln. Anna Fifield, vielfach ausgezeichnete Journalistin der "Washington Post", ist als Erste eine faszinierende Nahaufnahme Kim Jong-uns gelungen. Detailliert und kenntnisreich rekonstruiert sie dessen Leben und seine politischen Ambitionen. In jahrelanger Recherche hat sie Informationen zusammengetragen und überprüft. Dabei konnte sie auf vielfältige Quellen aus dem unmittelbaren Umfeld der Herrscherfamilie zurückgreifen: auf Tante und Onkel des Diktators, die heute in den USA leben, den langjährigen Sushi-Koch und Freund des jungen Kim, Dissidenten aus Nordkorea sowie Fluchthelfer in China und viele andere. Mit gesunder Skepsis und journalistischem Gespür zeichnet Fifield das Porträt des wohl seltsamsten Regimes der Welt – isoliert und zugleich weltpolitisch bedeutend – und seines Herrschers, dem es gelungen ist, im Karussell der Mächtigen eine Rolle zu spielen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 493

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anna Fifield

KIM

Nordkoreas Diktator aus der Nähe

Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und Thomas Wollermann

Für die fünfundzwanzig Millionen Menschen Nordkoreas.

Kann ich doch lächeln, und im Lächeln morden,

Und rufen: schön! zu dem, was tief mich kränkt,

Die Wangen netzen mit erzwungnen Tränen

Und mein Gesicht zu jedem Anlass passen. […]

Ich leihe Farben dem Chamäleon,

Verwandle mehr als Proteus mich und nehme,

Den mörd’rischen Machiavell in Lehr’.

Und kann ich das, und keine Kron’ erschwingen?

SHAKESPEARE, »HEINRICH VI.«1

Inhalt

Vorbemerkung

Prolog

Teil 1: Lehrjahre

  1Die Anfänge

  2Leben mit den Imperialisten

  3Inkognito in der Schweiz

  4Das kleine Einmaleins der Diktatur

Teil 2: Konsolidierung

  5Ein dritter Kim am Ruder

  6Das Ende der mageren Jahre

  7Lieber gefürchtet als geliebt

  8Auf Wiedersehen, Onkel

  9Die Eliten von Pjönghattan

10Millennials und moderne Zeiten

11Ballspiele mit dem Erzfeind

Teil 3: Selbstbewusstsein

12Party Time

Vorbemerkung

Prolog

Ich saß an Bord der Air Koryo, Flugnummer 152, nach Pjöngjang, um meine sechste Reise in die Hauptstadt Nordkoreas anzutreten. Zugleich war es mein erster Besuch, seit Kim Jong-un, der Führer in der dritten Generation, die Macht übernommen hatte. Es war der 28.August 2014.

Als Journalistin nach Nordkorea zu reisen, ist immer eine besondere und abenteuerliche, aber auch bedrückende Erfahrung; doch dieser Besuch sollte noch surrealer werden als meine früheren Visiten.

Es fing schon damit an, dass ich neben Jon Andersen saß, einem 140Kilo schweren Profi-Wrestler aus San Francisco, der unter dem Namen Strong Man in den Ring steigt. Er ist dafür bekannt, dass er seinem Gegner erbarmungslos in den Nacken grätscht oder ihn in die Höhe hebt und brutal zu Boden schmettert, Nettigkeiten, die unter Wrestling-Fans als »Diving Neckbreaker« und »Gorilla Press Drop« bekannt sind.

Ich landete neben Andersen in der Business Class (ja, die staatliche Fluglinie des kommunistischen Landes bietet unterschiedliche Klassen an), weil mich ein Passagier um meinen Economy-Platz bat, um neben seinem Freund sitzen zu können. Andersen und ich machten es uns in den roten Sitzen der betagten Iljuschin bequem, die mit ihren weißen Zierdeckchen auf den Kopfpolstern und den Goldbrokatkissen, die auf jedem Sitz liegen, an Großmutters Lehnsessel erinnern.

Andersen war einer von drei amerikanischen Wrestlern, die ihre besten Tage hinter sich hatten und nun in Japan ihr Glück versuchten, wo sie aufgrund ihrer schieren Größe noch als die Topattraktion auftreten können, die sie zu Hause längst nicht mehr sind. Doch sie probierten auch gern mal was Neues aus, und so waren die drei unterwegs zu einer Show, wie es sie noch nicht gegeben hatte: die ersten International Pro Wrestling Games in Pjöngjang, ein Wochenende voller Events rund um diese Kampfshow, organisiert von Antonio Inoki, einem Japaner mit kantigem Kinn, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Frieden durch Sportveranstaltungen zu fördern.

Beim Start erklärte mir Andersen, er sei neugierig darauf, wie Nordkorea wirklich sei, jenseits der Klischees, die in den amerikanischen Medien verbreitet wurden. Ich brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass er eine seit Jahrzehnten eingeübte Farce erleben würde, die eigens zu dem Zweck aufgeführt wurde, damit kein Besucher jemals das wahre Nordkorea zu Gesicht bekam und mit einem Einheimischen sprechen oder eine gewöhnliche Mahlzeit essen konnte.

Als ich Andersen das nächste Mal sah, trug er enge schwarze Lycra-Shorts, die an Unterhosen erinnerten und quer über dem Hintern das Wort STRONGMAN zeigten. Er stürmte mit wilden Gesten in die Sporthalle Ryugyong Chung Ju-yung, wo ihn 13000 sorgfältig ausgewählte Nordkoreaner erwarteten. »Hier kommt Macho-Mann!«, plärrte es aus den Lautsprechern.

Ohne Anzug wirkte er viel größer. Ich staunte über seinen Bizeps und die straffen Muskeln, die aus seiner Haut zu platzen schienen wie Wurst aus der Pelle. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie das auf die Nordkoreaner gewirkt haben musste, deren Land eine Hungersnot mit Hunderttausenden Opfern erlebt hatte.

Im nächsten Moment tauchte ein noch imposanterer Wrestler auf, Bob Sapp, eingehüllt in ein mit Pailletten und Federn geschmücktes Cape. Das Outfit hätte besser zum Mardi Gras in New Orleans gepasst als ins stocknüchterne kommunistische Pjöngjang.

»Machen wir sie fertig!«, rief Andersen Sapp zu, und die zwei Amerikaner stürzten sich auf zwei viel kleiner wirkende japanische Wrestler.

Etwas derart Schräges und Aberwitziges hatte ich in Korea noch nicht gesehen: amerikanisches Schmierentheater im Zentrum der übelsten Propagandahauptstadt der Welt. Das Publikum, an Täuschungen gewöhnt, durchschaute bald, dass alles sorgfältig inszeniert war und es hier mehr um Unterhaltung als um Sport ging. Und so lachte es herzlich über die Show.

Ich hingegen blickte nicht mehr durch, was hier echt war und was nicht.

Bei meinem letzten Besuch, im Winter 2008, war ich mit den New Yorker Philharmonikern gekommen. Die Reise war mir damals wie ein Wendepunkt in der Geschichte erschienen.

Das renommierteste Orchester der Vereinigten Staaten trat in einem Land auf, dessen Fundament der Hass auf Amerika war. Die Bühne war von den Flaggen Amerikas und Nordkoreas eingerahmt, und das Orchester spielte George Gershwins »Ein Amerikaner in Paris«.

»Eines Tages schreibt ein Komponist vielleicht ein Werk mit dem Titel EinAmerikaner in Pjöngjang«, sagte der Dirigent Lorin Maazel vor dem nordkoreanischen Publikum. Später gab das Orchester auch »Arirang« zum Besten, ein herzerweichendes koreanisches Volkslied über das Gefühl des Verlassenseins, das die ebenfalls ausgesuchten Einwohner Pjöngjangs sichtlich ergriff.

Doch es kam zu keinem Wendepunkt.

Im selben Jahr erlitt Nordkoreas »Geliebter Führer« Kim Jong-il einen schweren Gehirnschlag, der ihn für den Rest seines Lebens zeichnete. Von da an konzentrierte sich das Regime nur noch auf eines: dafür zu sorgen, dass die Kim-Dynastie an der Macht blieb.

Hinter den Kulissen nahmen Pläne Gestalt an, Kim Jong-ils jüngsten Sohn, der zu diesem Zeitpunkt erst vierundzwanzig Jahre alt war, zum nächsten Führer Nordkoreas zu küren.

Der Welt sollte diese Krönung erst zwei Jahre später verkündet werden. Als es so weit war, hofften einige Beobachter, Kim Jong-un werde sich als Reformer erweisen. Schließlich war er in der Schweiz zur Schule gegangen, hatte den Westen bereist und den Kapitalismus kennengelernt. Wer wollte daran zweifeln, dass er etwas davon auch nach Nordkorea bringen würde?

Ähnliche Hoffnungen hatte man gehegt, als im Jahr 2000 in Syrien der in London ausgebildete Augenarzt Baschar al-Assad das Ruder übernahm, und später, als Kronprinz Mohammed bin Salman in Saudi-Arabien an die Macht kam, der das Silicon Valley kannte und Frauen das Autofahren erlaubte.

Auch im Fall von Kim Jong-un sah es zunächst gut aus, dachte Jon Delury, ein Chinaexperte an der Yonsei University in Seoul. Er hielt nach Anzeichen Ausschau, dass der junge Führer Nordkorea Reformen und Wohlstand bescheren würde, ähnlich wie Deng Xiaoping 1978 in China.

Doch im Allgemeinen überwog eine ganz andere Hoffnung: die Hoffnung, dass das Ende nahe sei.

Von dem nahen Seoul bis zum fernen Washington prophezeiten viele Regierungsvertreter und Beobachter dem Land kühn – einige hinter vorgehaltener Hand, andere recht lautstark – schwere Instabilität, einen Massenexodus nach China, einen Putsch, den unmittelbar bevorstehenden Kollaps. All diese Untergangsszenarien einte ein Gedanke: Es konnte doch nicht sein, dass es dem Regime gelang, die Macht zum dritten Mal auf einen totalitären Führer namens Kim zu übertragen, schon gar nicht auf einen Mittzwanziger, der teure europäische Schulen besucht hatte und Fan der Chicago Bulls war – dafür aber weder über militärische noch politische Erfahrung verfügte.

Victor Cha, der in der Regierungszeit von George W. Bush als Chefunterhändler in Nordkorea gewesen war, sagte in der New York Times voraus, das Regime werde in wenigen Monaten, wenn nicht Wochen, zusammenbrechen.

Niemand äußerte eine so klare Prognose wie Cha, aber er war nicht der Einzige, der so dachte. Die meisten Beobachter Nordkoreas sahen das Ende nahen. Dass Kim Jong-un der Aufgabe gewachsen war, wurde allgemein angezweifelt.

Auch ich hatte meine Bedenken. Ich konnte mir Nordkorea nicht unter einem dritten Kim vorstellen. Ich verfolgte nun schon seit Jahren aufmerksam die Entwicklung des Landes, aus der Nähe und aus der Ferne. 2004 hatte mich die Financial Times als Korrespondentin nach Seoul geschickt, um über beide Koreas zu berichten. Es war der Beginn einer großen Leidenschaft.

In den folgenden vier Jahren reiste ich zehnmal nach Nordkorea, darunter fünfmal für Reportagen aus Pjöngjang. Ich besichtigte die verschiedenen Kim-Gedenkstätten, interviewte Regierungsvertreter, Geschäftsleute und Professoren – stets in Begleitung der unvermeidlichen Aufpasser des Regimes. Sie sollten sicherstellen, dass ich nichts zu sehen bekam, was das sorgfältig für mich arrangierte Bild stören konnte.

Die ganze Zeit über hielt ich Ausschau, ob nicht doch irgendwo die Wahrheit hervorschimmerte. Sosehr sich das Regime bemühte, es war unübersehbar, dass es am Boden lag. Nichts war, was es zu sein schien. Die Wirtschaft war marode. Den Augen der Menschen war die Angst abzulesen. Der Applaus für Kim Jong-il, den ich aus fünfzig Meter Entfernung vom Stadion hörte, klang wie eine Tonkonserve.

Dieses System konnte unmöglich in dritter Generation weiterbestehen. Oder etwa doch?

Die Experten, die umfassende Reformen voraussagten, behielten unrecht. Jene, die den unmittelbar bevorstehenden Kollaps voraussagten, behielten unrecht. Ich behielt unrecht.

Im Jahr 2014, nach sechs Jahren Abwesenheit von der koreanischen Halbinsel, reiste ich als Korrespondentin der Washington Post erneut in das Land.

Wenige Monate nachdem ich meinen neuen Posten bezogen hatte, Kim Jong-un war damals schon beinahe drei Jahre an der Macht, kam ich nach Pjöngjang, um über das Wrestling-Turnier zu berichten. Was nimmt man im Journalismus nicht alles auf sich, um ein Visum für Nordkorea zu bekommen.

Ich war sprachlos.

Zwar hatte ich gehört, dass die Hauptstadt einen Bauboom erlebte, aber von seinen Ausmaßen hatte ich keine Ahnung. Praktisch in jeder zweiten Straße wurde ein Wohnturm oder ein anderes Gebäude hochgezogen. Bei meinem letzten Besuch hatte man kaum einmal einen Traktor zu Gesicht bekommen, und jetzt sah ich überall Lastwagen und Kräne, in denen Männer in olivgrünen Uniformen saßen.

Wenn ich früher durch die Straßen lief, schenkte mir niemand auch nur einen flüchtigen Blick, obwohl man sehr selten Ausländer zu Gesicht bekam. Die Menschen senkten einfach den Kopf und gingen weiter. Nun lag fast eine heitere Stimmung in der Luft. Die Leute waren besser gekleidet, Kinder fuhren mit Inlineskates auf neu angelegten Bahnen, alles wirkte viel entspannter.

Es bestand kein Zweifel, dass das Leben in der Hauptstadt, dem Schaufenster des Landes, immer noch trostlos war. An den Haltestellen der klapprigen Busse standen lange Schlangen, man sah immer noch viele alte Mütterchen, die große Bündel auf dem Rücken schleppten, und nach einer beleibten oder auch nur einer etwas molligeren Person hielt man vergeblich Ausschau. Von der Sorte gab es nur die eine ganz an der Spitze. Dennoch stand Pjöngjang, wo die Elite lebte, die Kim Jong-un an der Macht hielt, keinesfalls kurz vor dem Zusammenbruch.

Fast sieben Jahrzehnte nach der Gründung der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK) sah ich nicht einmal im Ansatz Risse in der kommunistischen Fassade.

In diesen sieben Jahrzehnten hatte die Welt viele andere brutale Diktatoren erlebt, die das Volk quälten, während sie ihre eigenen Interessen verfolgten. Josef Stalin. Pol Pot. Idi Amin. Saddam Hussein. Muammar al-Gaddafi. Ferdinand Marcos. Mobutu Sese Seko. Manuel Noriega. Einige taten es aus ideologischen Gründen, einige waren Kleptokraten. Auf viele traf beides zu.

Es gab auch Beispiele von Familiendiktaturen. In Haiti hatte »Papa Doc« Duvalier die Macht an seinen Sohn »Baby Doc« weitergegeben, und Syriens Präsident Hafiz al-Assad machte seinen Sohn Baschar zu seinem Nachfolger. Kubas Fidel Castro sorgte dafür, dass ihm sein Bruder Raúl nachfolgte.

Was die drei Kims auszeichnet, ist die Dauer ihrer Familienherrschaft über das Land. Während der Regierungszeit des Staatsgründers Kim Il-sung hatten die Vereinigten Staaten zehn Präsidenten, von Harry S. Truman bis zu Bill Clinton. Japan wurde in dieser Zeit von einundzwanzig Premierministern regiert. Kim Il-sung überlebte Mao Zedong um beinahe zwei Jahrzehnte und Josef Stalin um vier. Nordkorea besteht nun schon länger als die Sowjetunion.

Ich wollte herausfinden, wie dies dem jungen Mann und dem Regime, das er geerbt hatte, allen Widrigkeiten zum Trotz gelungen war. Ich wollte alles wissen, was man über Kim Jong-un in Erfahrung bringen konnte.

Ich machte mich daran, mit allen zu sprechen, die ihm jemals begegnet waren, um mir ein Bild von diesem geheimnisvollsten aller Führer zu verschaffen. Das war keine leichte Aufgabe. Nur wenige Menschen hatten direkt mit ihm zu tun gehabt, und die Gruppe derer, die ihn über einen längeren Zeitraum gekannt hatten, war noch bedeutend kleiner. Ich ging jeder möglichen Spur nach.

Ich konnte Kim Jong-uns Tante und seinen Onkel ausfindig machen, die sich um ihn gekümmert hatten, als er in der Schweiz zur Schule ging. Ich fuhr in die Schweizer Hauptstadt Bern, um etwas darüber zu erfahren, was ihn als Teenager geprägt hatte, stand vor seinem dortigen Wohnhaus und schaute mir seine ehemalige Schule an.

Zweimal traf ich mich in einem schmuddeligen Restaurant in den Japanischen Alpen mit Kenji Fujimoto, der bessere Tage als Sushi-Koch für Kims Vater gesehen hatte und so etwas wie ein Spielgefährte des zukünftigen Führers gewesen war. Ich sprach mit Leuten, die im Gefolge des Basketballers Dennis Rodman nach Nordkorea geflogen waren und von Trinkgelagen und Ausschweifungen zu erzählen hatten.

Als ich hörte, dass Kim Jong-uns Halbbruder Kim Jong-nam in Kuala Lumpur getötet worden war, setzte ich mich sofort in ein Flugzeug, um mir die Stelle anzuschauen, an der dies wenige Stunden zuvor geschehen war. Ich wartete vor der Leichenhalle, in der seine sterblichen Überreste lagen, und sah aufgeregte nordkoreanische Regierungsvertreter kommen und gehen. Ich fuhr zur nordkoreanischen Botschaft, um festzustellen, dass dort Reporter so unerwünscht waren, dass man sogar den Klingelknopf am Tor entfernt hatte.

Ich spürte Kim Jong-nams Cousine auf, die Frau, die quasi seine Schwester wurde und mit ihm lange nachdem sie aus dem Land geflohen und er ins Exil gegangen war, in Kontakt blieb. Sie führte bereits seit einem Vierteljahrhundert ein völlig neues Leben mit einer neuen Identität.

Dann, inmitten der turbulenten diplomatischen Ereignisse des Jahres 2018, wurde es auf einmal viel einfacher, Menschen zu finden, die den nordkoreanischen Führer persönlich kennengelernt hatten.

Die Südkoreaner und die Amerikaner hatten Gipfeltreffen zwischen Kim Jong-un und dem südkoreanischen Präsidenten Moon Jae-in und Donald Trump arrangiert. Ich interviewte Personen, die mit ihm in Pjöngjang gesprochen hatten, von einer südkoreanischen Sängerin bis hin zu einem deutschen Sportfunktionär. Ich sah in Singapur seinen Autokorso an mir vorbeiziehen. Mit jeder Begegnung, die der mysteriöse Machthaber hatte, versuchte ich ein bisschen besser zu verstehen, wer er war.

Ich fragte auch wiederholt die nordkoreanischen Diplomaten, die bei den Vereinten Nationen akkreditiert waren, einer Gruppe weltgewandter Funktionäre, die alle auf Roosevelt Island im East River wohnten, weshalb die Insel manchmal scherzhaft als die Sozialistische Republik von New York City bezeichnet wird, ob ich ein Interview mit Kim Jong-un führen könne. Sehr aussichtsreich war das nicht, aber auch keine völlig abwegige Idee. Immerhin hatte Kim Il-sung kurz vor seinem Tod 1994 eine Gruppe ausländischer Journalisten zum Essen empfangen.

Jedes Mal, wenn ich einen von ihnen traf – stets beim Essen in einem Steakhouse in Manhattan, wo sie ohne Ausnahme das Filet Mignon für 48Dollar bestellten und niemals das preiswerte Tagesgericht –, versuchte ich es erneut. Und jedes Mal lachten sie mich einfach aus.

Bei der letzten Gelegenheit, einen Monat nach Kim Jong-uns Gipfeltreffen mit Donald Trump Mitte des Jahres 2018, lachte mir der charmante Diplomat, der für die Beziehungen zu den amerikanischen Medien zuständig ist, ins Gesicht und sagte nur: »Träumen Sie weiter!«

Doch statt zu träumen, schaute ich mir die Realität außerhalb der Lügenfassaden der Hauptstadt an, und zwar an Orten, die mir das Regime nicht zeigen wollte. Ich stieß auf Nordkoreaner, die Kim Jong-un kennengelernt hatten, nicht persönlich, aber durch seine Politik, Nordkoreaner, die seine Staatsführung am eigenen Leib erfahren und es geschafft hatten, ihr zu entfliehen.

In den Jahren, in denen ich über Nordkorea berichtete, habe ich sehr viele, wahrscheinlich Hunderte Menschen getroffen, die dem Kim-Staat den Rücken gekehrt hatten. Sie werden oft als »Überläufer« bezeichnet, aber mir widerstrebt diese Bezeichnung. Sie suggeriert, dass sie mit ihrer Flucht vor dem Regime eine Art Verrat begangen hätten. Ich nenne sie lieber »Gerettete« oder »Geflüchtete«.

Es wird zunehmend schwerer, Menschen zu finden, die bereit sind, offen zu reden. Dies liegt auch daran, dass der Flüchtlingsstrom seit Kim Jong-uns Herrschaft schwächer geworden ist, was einerseits an stärkerer Bewachung der Grenze, andererseits aber am steigenden Lebensstandard im Land liegt. Ein weiterer Grund ist, dass die Flüchtlinge zunehmend erwarten, für ihre Aussagen mit Geld entlohnt zu werden, was für mich aufgrund meiner journalistischen Grundsätze tabu ist.

Über Organisationen, die Nordkoreaner bei der Flucht oder bei der Ankunft in Südkorea unterstützen, gelang es mir dann doch, mit Dutzenden Personen in Kontakt zu kommen, die auch ohne Geld zu reden bereit waren: Funktionäre und Händler, denen es in Pjöngjang gutgegangen war, Menschen aus den Grenzregionen, die ihren Lebensunterhalt auf den Märkten verdient hatten, und solche, die für nichtige Vergehen in den grausamen Gefängnissen des Regimes geschmachtet hatten.

Ich traf auch Menschen, die anfangs geglaubt hatten, dass dieser junge Führer positive Veränderungen einleiten würde; es gab sogar einige, die immer noch stolz darauf waren, dass er ein Atomwaffenprogramm auf die Beine gestellt hatte, wie es Nordkoreas reicherer Nachbarstaat nicht vorweisen konnte.

Einige traf ich nach ihrem Arbeitstag am Stadtrand von Seoul, oft in einem einfachen Grillrestaurant. Mit anderen sprach ich am Ufer des Mekong oder saß mit ihnen zusammen in schäbigen Hotelzimmern in Laos und Thailand auf dem Fußboden, wo sie auf ihrer gefährlichen Flucht Zwischenstation machten.

Am riskantesten waren die Begegnungen mit Flüchtlingen im Norden Chinas. China betrachtet Menschen, die Nordkorea den Rücken gekehrt haben, als Wirtschaftsmigranten, das heißt, sie werden bei Entdeckung zurückgeschickt und vom Regime schwer bestraft. Trotzdem erzählten sie mir in den Wohnungen, in denen sie Unterschlupf gefunden hatten, tapfer ihre Geschichte.

Aus Hunderten Stunden Interviews, die ich in acht Ländern führte, setzte ich das Puzzle zusammen, das Kim Jong-un heißt.

Teil 1

Lehrjahre

Kapitel 1

Die Anfänge

»Der hoheitsvolle Genosse Kim Jong-un, vom Himmel geboren und empfangen von Paektu.«

Rodong Sinmun, 20.Dezember 2011

Wŏnsan ist ein Paradies auf Erden – oder zumindest eines in Nordkorea.

In einem Land mit zerklüfteten Bergen und steinigen Böden, sibirischen Frösten und Sturzfluten ist das Küstengebiet um Wŏnsan eine der wenigen reizvollen Landschaften. Hier gibt es weiße Sandstrände und einen natürlichen Hafen, der mit kleinen Inseln übersät ist. In Wŏnsan verbringen Nordkoreas obere Zehntausend den Sommer. Es ist ihre Côte d’Azur, ihr Monte Carlo.

Die Urlauber baden im Meer oder entspannen sich in den Pools ihrer Strandhäuser. Sie zutzeln das köstliche Fleisch aus den pelzigen Klauen der teuren Wollhandkrabbe, die hier heimisch ist, und löffeln den Rogen aus ihrem Inneren. Sie begeben sich zum nahe gelegenen Sijung-See, dessen 47Grad heißer Schlamm revitalisierend wirken und Falten glätten soll, ein Jungbrunnen für erschöpfte, alte Parteikader. Insbesondere die Elite der Eliten hat ein Faible für diese Region: die Familie Kim, die seit mehr als siebzig Jahren die Geschicke Nordkoreas bestimmt.

Hierher kam 1945 auch ein junger antiimperialistischer Kämpfer mit dem Kampfnamen Kim Il-sung, als er in seine Heimat zurückkehrte, nachdem Japan im Zweiten Weltkrieg besiegt und von der Halbinsel vertrieben worden war.

Hier wuchs Kim Jong-il im Verborgenen auf, bei Kriegsende gerade einmal vier Jahre alt, während sich sein Vater an die Spitze des neu gegründeten Nordkorea manövrierte. Dieser Teil der Halbinsel wurde von der Sowjetunion und China unterstützt, die südliche Hälfte von den Vereinigten Staaten.

Und hier war es auch, wo ein kleiner Junge namens Kim Jong-un lange Sommer im Müßiggang verbrachte, an den Stränden herumtollte und in einem Bananenboot über die Wellen flitzte.

Als er am 8.Januar 1984 zur Welt kam – eine Jahreszahl, die dank des Romanciers George Orwell in der übrigen Welt für immer mit Unterdrückung und Dystopie in Verbindung gebracht werden sollte –, regierte der Großvater des Jungen die Demokratische Volksrepublik Korea seit sechsunddreißig Jahren. Er war der Große Führer, die Sonne der Nation und der »stets siegreiche hervorragende General Kim Il-sung«.

Der Vater des Jungen, ein sonderbarer Mann mit gedrungener Figur, ein Filmfan, dessen große Leidenschaft dem Kino galt und der kurz vor seinem zweiundvierzigsten Geburtstag stand, war zum Erben des Regimes bestimmt worden, womit er diesem die zweifelhafte Ehre verlieh, zur ersten kommunistischen Dynastie der Welt zu werden. Er bereitete sich darauf vor, der Geliebte Führer zu werden, der Glorreiche General, der vom Himmel Geborene, der Leitstern des 21.Jahrhunderts.

Wie sein Vater hielt er sich gern in Wŏnsan auf. Genauso der kleine Junge, der eines Tages in die Fußstapfen der beiden treten sollte. In seiner Kindheit und Jugend reiste Kim Jong-un im Sommer aus Pjöngjang und später von einer Schweizer Schule kommend hierher. Viele Jahre danach, als er mit seinem persönlichen Vergnügungspark prahlen wollte, holte er einen exzentrischen amerikanischen Basketballspieler zu Bootstouren und Partys nach Wŏnsan – es waren wilde Partys. Noch später sollte ein exzentrischer amerikanischer Immobilienmagnat, der es zum Präsidenten gebracht hatte, »die großartigen Strände« Wŏnsans loben und sie als perfekten Ort für den Bau von Eigentumswohnungen bezeichnen.

Das Kim-Regime teilte die Naturschönheiten Wŏnsans mit ausgewählten Ausländern, um den Mythos vom »sozialistischen Paradies« Nordkorea zu pflegen. Die Stadt selbst war nicht besonders attraktiv. Im amerikanischen Bombenhagel des Koreakriegs war sie gänzlich zerstört und dann im eintönigen sowjetischen Stil wieder aufgebaut worden. Rote Schilder mit der Aufschrift »Lang lebe der Große Führer Genosse Kim Il-sung« und überdimensionale Werbeplakate für einen Totalitarismus, den die Bevölkerung ohnehin über sich ergehen lassen musste, krönten die grauen Betonbauten im Zentrum.

Die Hauptattraktion war stets der unberührte Strand von Songdowon. In den 1980er-Jahren, als Kim Jong-un hier am Strand spielte, war Wŏnsan einer der wichtigsten Orte für kommunistische Zusammenkünfte. Ein Pfadfindercamp zog 1985 Gruppen aus der Sowjetunion und der DDR an, und die staatlichen Medien veröffentlichten Fotos von glücklichen Kindern, die aus der ganzen Welt herbeiströmten, um den Sommer in Wŏnsan zu verbringen.2

Die Realität jedoch sah schon damals, als die Sowjetunion noch existierte und ihren asiatischen Klientelstaat stützte, ganz anders aus.

Als der Agraringenieur Lee U-hong, ein in Japan aufgewachsener Koreaner, 1983 nach Wŏnsan kam, um an der Landwirtschaftsschule zu unterrichten, sah er eine Gruppe junger Frauen alles über einen berühmten Baum lernen, der Goldkiefer genannt wurde. Lee hielt sie anfangs für Schülerinnen, doch wie sich herausstellte, waren es Studentinnen – sie sahen nur viel jünger aus, was auf Mangelernährung zurückzuführen war.3

Eines Tages ging er zum Strand, um sich die berühmte Weinrose von Wŏnsan anzusehen, konnte aber keine finden. Ein Einheimischer erklärte ihm, die Kinder litten derartig Hunger, dass sie die Blumen pflückten, um ihren Samen zu essen.

Lee sah nichts von den fortschrittlichen Landwirtschaftsmethoden oder den mit Maschinen ausgestatteten Agrarbetrieben, mit denen sich die Regierung und ihre Vertreter brüsteten – stattdessen fand er Tausende Menschen, die Reis und Getreide mit der Hand ernteten.4 Für das Kim-Regime galt es, einen Nationalmythos aufrechtzuerhalten.

Als 1984 Überschwemmungen Südkorea verwüsteten, schickte der Norden Lebensmittelhilfen von Wŏnsan aus. Der Hafen befindet sich nur knapp 130Kilometer nördlich der entmilitarisierten Zone, des vier Kilometer breiten Niemandslandes, das seit dem Ende des Koreakriegs 1953 die Halbinsel teilt.

Acht Monate nach der Geburt Kim Jong-uns, als die Nordkoreaner selbst unter schwerer Nahrungsmittelknappheit litten, wurden in Wŏnsan Säcke mit der Aufschrift »Hilfsgüter für südkoreanische Flutopfer« und dem Symbol des nordkoreanischen Roten Kreuzes verschifft.

»Da dies das erste glückliche Ereignis seit unserer 40-jährigen Trennung war, herrschte große Begeisterung bei der Verladung«, berichtete 1984 die Rodong Sinmun, das Sprachrohr der herrschenden nordkoreanischen Partei der Arbeit. »Auf dem breiten Kai hallten frohe Abschiedsgrüße … Der ganze Hafen war ein einziges Bild familiärer Liebe.«

Kim Jong-un bekam von alledem natürlich nichts mit. Er führte ein unbekümmertes Leben in der Abgeschiedenheit eines der Familienanwesen in Pjöngjang oder in der Residenz am Strand von Wŏnsan, die so groß war, dass die Kim-Kinder mit einem elektrischen Golfwägelchen darin umherfuhren.5

In den 1990er-Jahren, als die nordkoreanischen Kinder Samen aufklaubten, schlemmte Kim Jong-un Sushi und sah sich Actionfilme an. Er begeisterte sich für Basketball und besuchte den Vergnügungspark Disneyland bei Paris.

Bis zu seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag 2009 lebte er hinter dem Vorhang des unzugänglichsten Regimes der Welt. Als er dann der Elite des Landes offiziell als Nachfolger seines Vaters vorgestellt wurde, entstand in Wŏnsan das erste offizielle Foto von ihm. Es zeigt ihn in einem schwarzen Mao-Anzug zusammen mit seinem Vater, seinem Bruder und seiner Schwester sowie zwei weiteren Männern unter einem Baum stehend. Es wurde nur ein- oder zweimal im nordkoreanischen Fernsehen gezeigt und ist sehr grobkörnig.

Wŏnsan blieb ein enorm wichtiger Ort für Kim Jong-un. Nachdem er Staatsoberhaupt geworden war, finanzierte er die Errichtung eines riesigen Freizeitparks in Wŏnsan, vielleicht um sich die Sorglosigkeit und die Vergnügungen seiner Jugend in Erinnerung zu rufen. Inzwischen gibt es in der Stadt auch ein Aquarium, durch das ein Tunnel führt, ein Spiegelkabinett wie auf einem Jahrmarkt und den Songdowon-Wasserpark, einen weitläufigen Komplex mit Hallen- und Freibädern samt einer verschlungenen Wasserrutsche – das Bild des sozialistischen Paradieses im Zeitalter der Themenparks.

Kim Jong-un besuchte das Projekt schon bald nach seinem Aufstieg zum »Geliebten und Verehrten Obersten Führer« im Jahr 2011. Bekleidet mit einem weißen Hemd, in der Höhe des Herzens eine rote Anstecknadel mit den Porträts seines Vaters und seines Großvaters, beugte er sich über die Wasserrutsche. Breit lächelnd gab er seiner Freude darüber Ausdruck, dass Nordkorea ganz aus eigener Kraft einen Wasserpark habe errichten können.

Von den Sprungtürmen aus konnten die Kinder die bunten Sonnenschirme am Strand und die Tretboote in der Bucht sehen. Sommer in Wŏnsan, das sei »der ungewohnte Anblick von Schülern, die mit bunten Schwimmreifen am Sandstrand stehen, und lachender Großeltern, die Hand in Hand mit ihren Enkelkindern herumhüpfen und auf das Meer hinausschauen«, berichteten die staatlichen Medien.

Diese Einrichtungen sind für das Proletariat vorgesehen. Für die Angehörigen der Führerdynastie gibt es ganz andere.

Auf dem riesigen Anwesen der Familie Kim stehen luxuriöse Strandvillen und geräumige Gästehäuser, weitläufig verteilt und von Bäumen abgeschirmt, um Privatsphäre zu schaffen. Diskretion ist für die Elite von höchster Bedeutung. Auf dem Gelände befindet sich ferner ein großes Hallenbad; Becken auf Schuten, die vor der Küste dümpeln, ermöglichen der Familie, gefahrlos im Meerwasser zu baden. Ein überdachtes Hafenbecken beherbergt die Jachten der Familie und über ein Dutzend Jetskis. Es gibt ein Basketballfeld und einen Hubschrauberlandeplatz. Und Kim Jong-un hat es auch nicht weit zu einem kleinen Flugplatz, sodass er das Urlaubsrefugium seiner Familie bequem mit seinem Privatflugzeug erreichen kann.

Die Familie teilt ihren Spielplatz mit der Elite, die sie an der Macht hält. Das Staatsschutzministerium, die erbarmungslose Behörde, die Lager für politische Gefangene unterhält, besitzt hier ein Sommerhaus am Strand. Ebenso das Büro 39, die Abteilung des Zentralkomitees, die insbesondere die Aufgabe hat, Geld für die Kasse der Familie Kim einzutreiben. Da das alles hier durch ihre Arbeit finanziert wird, ist es nur gerecht, wenn man sie auch an deren Früchten teilhaben lässt.6

Einen ungewöhnlichen Anblick – ungewöhnlich insofern, als man ihn in keinem der westlichen Disneylands findet, die mit harmloserem Feuerwerk auskommen – bietet die Raketenabschussbasis an der Küste von Wŏnsan. Kim Jong-un hat hier seit seiner Machtübernahme den Knopf für den Start Dutzender Raketen gedrückt und großen Artilleriemanövern beigewohnt.

Einmal sah er zu, wie seine Waffenexperten mit neuen 300-Millimeter-Raketenwerfern eine Insel unmittelbar vor der Küste pulverisierten. Bei anderer Gelegenheit musste er nicht einmal auf den Komfort seiner Strandresidenz verzichten. Seine Waffeningenieure rollten ihm eine Rakete auf einer mobilen Abschussbasis direkt vors Haus, sodass er den Start Richtung Japan grinsend vom Schreibtisch aus verfolgen konnte.

Hier, an seinem Privatstrand, veranstaltete Kim Jong-un 2014 auch eine Schwimmübung für die höchsten Kommandeure der Marine. Die Männer, sämtlich im Pensionsalter, tauschten ihre weißen Uniformen und Mützen gegen Badehosen, liefen ins Meer und schwammen fast fünf Kilometer weit, als gälte es, eine Schlacht zu schlagen.

Es war ein merkwürdiges Bild. Der neue Führer, der gerade erst dreißig geworden war, saß am Strand hinter einem Tisch und beobachtete durch ein Fernglas, wie sich Männer, die doppelt so alt und deutlich schlanker waren als er, auf seine Anweisung hin in die Fluten stürzten. Ein Jungspund ohne militärische Meriten zeigte den altgedienten Kadern, wer der Boss war. Dafür gab es keinen besseren Ort als seine höchsteigene Domäne in Wŏnsan.

Der Anspruch der Familie Kim auf die Führerschaft in Nordkorea hat seinen Ursprung in den 1930er-Jahren, als sich Kim Il-sung in der im Norden Chinas gelegenen Region Mandschurei als antijapanischer Partisan einen Namen machte.

Kim Il-sung, der ursprünglich Kim Song-ju hieß, wurde am 15.April 1912, demselben Tag, an dem die Titanic einen Eisberg rammte und sank, am Stadtrand von Pjöngjang geboren. Damals war die Stadt ein Zentrum des Christentums und wurde gar als Jerusalem des Ostens bezeichnet. Kim Il-sungs Familie war protestantisch, und einer seiner Großväter war Pastor.

Das kaiserliche Japan hatte Korea zwei Jahre vor Kim Il-sungs Geburt annektiert und führte sich als brutale Besatzungsmacht auf. Die Familie Kim floh in den 1920er-Jahren in die Mandschurei, um sich den japanischen Kolonialisten zu entziehen. Hier startete die Rebellion gegen die japanische Okkupation, und Kim – er nahm Anfang der 1930er-Jahre den Namen Il-sung an, was so viel bedeutet wie »die Sonne werden« – entwickelte sich zum antiimperialistischen Anführer.

In seinen offiziellen Erinnerungen stilisierte Kim den Kampf mit blumigen Worten. »Der Feind verglich uns mit ›einem Tropfen im Meer‹, aber hinter uns stand ein Meer von Menschen mit unerschöpflicher Stärke«, schrieb er. »Wir konnten den unerbittlichen Feind, der bis zu den Zähnen bewaffnet war, schlagen … weil wir ein mächtiges Bollwerk namens Volk und das grenzenlose Meer in Gestalt der Massen hatten.«7

In der offiziellen Geschichtsschreibung Nordkoreas werden Kims Leistungen stark übertrieben dargestellt. Er wird als Herz des Widerstands zu einer Zeit geschildert, in der er noch chinesische und koreanische Generäle über sich hatte, und es wird behauptet, die Partisanenbewegung wäre ohne ihn zusammengebrochen. Obwohl nur ein Rädchen in der Maschinerie des Widerstands, beanspruchte Kim das Verdienst an der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg ganz allein für sich.

Im Gegensatz zum offiziellen Narrativ verließ Kim Il-sung irgendwann seinen Stützpunkt in der Mandschurei und ging mit einer Frau, die er 1940 heiratete, in die Sowjetunion. Kim Jong-suk war vermutlich erst fünfzehn Jahre alt und arbeitete als Näherin, als Kim Il-sung sie 1935 kennenlernte.

Im Jahr 1942 – auch dies nach offiziellen Quellen, in Wirklichkeit war es 1941 – gebar sie ihren ersten Sohn Kim Jong-il in einem Militärlager bei Chabarowsk im fernen Osten der Sowjetunion.

Nach dem Ende des Pazifikkriegs 1945 und der Befreiung Koreas von den japanischen Besatzern war das Schicksal der Halbinsel ungewiss. Seit fast vierzehn Jahrhunderten hatte sie als ein Land existiert, aber die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, die Sieger im Pazifikkrieg, beschlossen, die Halbinsel unter sich aufzuteilen – ohne dass sie es für notwendig befanden, die Koreaner zu fragen, was sie denn wollten.

Ein junger Oberst der US-Armee namens Dean Rusk, der später amerikanischer Außenminister werden sollte, und ein weiterer Offizier, der zukünftige Vier-Sterne-General Charles Bonesteel, nahmen einfach eine Landkarte von National Geographic, zogen eine Linie quer über die koreanische Halbinsel entlang des 38. Breitengrads und schlugen vor, dass die Amerikaner die südliche Hälfte und die Sowjets den nördlichen Teil kontrollierten. Zu ihrer Überraschung stimmte Moskau zu.

Es sollte eine temporäre Lösung sein, sie hatte aber viel länger Bestand, als Rusk und Bonesteel je vermutet oder beabsichtigt hatten. Nach dem blutigen Koreakrieg von 1950 bis 1953 wurde diese Grenze mit der entmilitarisierten Zone zementiert – sie besteht jetzt bereits seit sieben Jahrzehnten.

Die Sowjets mussten einen Führer in ihrem neuen Klientelstaat in der nördlichen Hälfte des Landes einsetzen, einem gebirgigen Territorium von etwa 120000 Quadratkilometern, ungefähr so groß wie Griechenland.

Kim Il-sung war bereit, diese Aufgabe zu übernehmen.

Während seiner Zeit im Militärlager bei Chabarowsk hatte er seine sowjetischen Gönner genügend beeindruckt, um erwarten zu dürfen, eine tragende Rolle im neuen nordkoreanischen Regime zu spielen. Aber die Sowjets stellten ihn sich nicht als Führer des Landes vor. Sie betrachteten seine Ambitionen mit Skepsis. Stalin wollte nicht, dass er sich eine eigene, von den sowjetischen Okkupationstruppen unabhängige Machtbasis schuf.8

So wurde Kim Il-sung keineswegs mit Jubelrufen empfangen, als er am 19.September 1945 in einer sowjetischen Armeeuniform auf dem Kriegsschiff Pugatschow nach Korea zurückkehrte, das in Wŏnsan anlegte. Er durfte nicht einmal am siegreichen Einzug der sowjetischen Truppen in Pjöngjang teilnehmen, nachdem sie die letzten verbliebenen japanischen Besatzer vertrieben hatten.

Der von Moskau bevorzugte Kandidat für die Führung des neuen Klientelstaats war ein Nationalist namens Cho Man-sik, ein 62-jähriger presbyterianischer Konvertit, der eine gewaltlose, von Gandhi und Tolstoi inspirierte Reformbewegung angeführt hatte. Er entsprach nicht unbedingt den Idealvorstellungen der Sowjets – sie misstrauten seinen Verbindungen zu den Japanern –, aber er trat für Bildung und wirtschaftliche Entwicklung ein, um Korea in eine leuchtende und unabhängige Zukunft zu führen.9

Doch Kim Il-sung ließ sich nicht aufhalten. Bald schon brachte er sich für die Führerrolle im neuen Nordkorea in Stellung, unter anderem indem er seine sowjetischen Schutzherren zu feuchtfröhlichen Banketten mit Prostituierten einlud.

Tatsächlich gelang es ihm auf diese Weise, sein Ansehen bei den sowjetischen Generälen zu erhöhen. Nicht einmal einen Monat nach seiner Rückkehr hielt Kim Il-sung auf einer Kundgebung in Pjöngjang eine von Vertretern Moskaus geschriebene Rede. Als er das Podium betrat, ertönte es aus der Menge: »Lang lebe Kommandeur Kim Il-sung.« Die Leute hatten ehrfurchterregende Geschichten über diesen herausragenden Partisanenführer und seine wagemutigen Heldentaten in der Mandschurei gehört.

Der Mann auf der Bühne entsprach jedoch keineswegs dem Bild in ihren Köpfen. Sie hatten einen grauhaarigen Veteranen, eine charismatische Gestalt erwartet. Stattdessen stand da ein Mann, der viel jünger aussah als die dreiunddreißig Jahre, die er zählte, in einem marineblauen Anzug, der eine Nummer zu klein und offensichtlich geliehen war.

Noch schlimmer war, dass er nach sechsundzwanzig Jahren im Exil nicht mehr besonders gut Koreanisch sprach. Das bisschen Bildung, über das er verfügte, hatte er sich auf Chinesisch angeeignet. Er stammelte sich durch die schwülstige, von Vertretern der sowjetischen Besatzungsmacht verfasste Rede voller kommunistischer, unbeholfen ins Koreanische übertragener Phrasen. Ebenso unangenehm wirkte seine »quäkende, flache Stimme«, wie Cho Man-siks Sekretär später berichtete.10

Ein Beobachter meinte, er habe »einen Haarschnitt wie ein chinesischer Kellner« gehabt und ausgesehen wie »ein dicker Lieferjunge einer chinesischen Garküche«. Andere bezeichneten ihn als Hochstapler oder Handlanger der Sowjets.11

Kim Il-sung war alles andere als eine Erfolgsnummer.

Aber er hatte Glück und bekam noch eine zweite Chance. Stalins Leute mussten feststellen, dass der Pazifist Cho weder Kommunist noch leicht zu dirigieren war. Auf irritierende Weise beanspruchte er Unabhängigkeit als Führer des Landes. Plötzlich sah der farblose Kim Il-sung wie ein nützlicher, formbarer Anwärter aus.

Cho wurde bald verhaftet und verschwand von der Bildfläche, und Moskau entschied sich für den ambitionierten jungen Bewerber als seinen Mann in Korea. Sie bugsierten ihn die Karriereleiter hinauf, bis die sowjetische Besatzung offiziell beendet wurde. Am 9.September 1948 wurde die Gründung der Demokratischen Volksrepublik Korea erklärt und Kim Il-sung als ihr Führer eingesetzt.

Kaum war er ernannt worden, schuf Kim einen Personenkult, der Stalins Anstrengungen auf diesem Gebiet als amateurhaft erscheinen ließ. Nach einem Jahr legte er sich den Titel »Großer Führer« zu. Es tauchten Statuen von ihm auf, und die Geschichte Nordkoreas wurde umgeschrieben.

Die missratene Rede von 1945 wurde in Kim Il-sungs offizieller Biografie als faszinierender Augenblick geschildert. Die Leute »konnten den Blick nicht von [seiner] stattlichen Gestalt wenden« und jubelten aus »grenzenloser Liebe und Hochachtung vor ihrem großen Führer«.12

Kim Il-sung stellte in Windeseile eine Koreanische Volksarmee unter Führung seiner alten Kameraden aus der Zeit des antijapanischen Kampfes auf die Beine. Darüber hinaus arbeitete er einen Plan für die Übernahme Südkoreas aus und versuchte, Stalin bei einem Treffen in Moskau im März 1949 von der Unterstützung einer militärischen Invasion mit dem Ziel der Wiedervereinigung zu überzeugen. Stalin aber erteilte ihm eine Abfuhr – er wollte keinen Krieg mit der Atommacht USA – und beschied, Nordkorea solle nur bei einem Angriff Militär einsetzen.

Doch Kim und seine Generäle beobachteten voller Neid, wie im selben Jahr die chinesischen Kommunisten den nationalistischen Führer Chiang Kai-shek und seine Kuomintang vertrieben. Und so bedrängte er Stalin weiterhin, sich den Süden vorzuknöpfen, vor allem nachdem die Vereinigten Staaten im selben Jahr sämtliche Kampftruppen aus Südkorea abgezogen und damit diesen Teil der Halbinsel schutzlos zurückgelassen hatten.

Ein Jahr nachdem Kim Il-sung für einen Krieg geworben hatte, gab Stalin schließlich nach und billigte die Invasion grundsätzlich, jedoch nur wenn Mao Zedong in China ebenfalls zustimmte. Im Mai 1950 fuhr Kim nach Peking und versuchte, Mao zu überzeugen, aber den chinesischen Führer interessierten vor allem Chiang und seine Nationalisten in Taiwan. Erst als Stalin ihn bedrängte, lenkte er schließlich ein.13

Kim Il-sung nutzte seine Chance. In den frühen Stunden des 25. Juni 1950 rollten einhundertfünfzig aus sowjetischer Produktion stammende T-34-Panzer der nordkoreanischen Volksarmee über die Demarkationslinie in den Süden. Sieben Divisionen donnerten auf Seoul zu, gefolgt von nordkoreanischer Infanterie.

Die Nordkoreaner nahmen das gesamte Land bis auf ein Gebiet um die südliche Stadt Busan ein. Alles deutete auf einen raschen Sieg hin.

General Douglas MacArthur, Befehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Japan, wurde von der Invasion völlig überrascht, reagierte jedoch umgehend. Im September landeten seine Truppen bei Incheon westlich von Seoul auf dem Wattenmeer und drängten die Invasoren aus dem Norden zurück. China erkannte die brenzlige Lage und entsandte Truppen zur Unterstützung Nordkoreas.

Nach sechs Monaten war die nordkoreanische Armee wieder auf ihren Ausgangspunkt, den 38. Breitengrad, zurückgeworfen. In den folgenden zweieinhalb Jahren traten beide Seiten auf der Stelle und kamen keinen Schritt voran.

Die Vereinigten Staaten gaben sich durchaus große Mühe, den toten Punkt zu überwinden. Nur fünf Jahre nach der unvorstellbaren Verwüstung von Hiroshima und Nagasaki brachte MacArthur ernstlich den Gedanken auf, eine Atombombe gegen Nordkorea einzusetzen.

Die Idee wurde zwar rasch verworfen, aber die Vereinigten Staaten verfolgten mit dem Einsatz konventioneller Bomben dann buchstäblich die Strategie der verbrannten Erde und ließen insgesamt über 635000 Tonnen Sprengstoff – im gesamten Pazifikkrieg waren 503000 Tonnen eingesetzt worden – auf das Land herabregnen.14 Allein 200000 Bomben gingen in Pjöngjang nieder – eine pro Einwohner der Hauptstadt.

Laut Curtis LeMay, Chef des amerikanischen strategischen Luftkommandos, brannten die Amerikaner »sämtliche Städte in Nordkorea nieder«. Als ihnen die urbanen Ziele ausgingen, zerstörten ihre Bomber Kraftwerke und Bewässerungswehre, überfluteten Ackerland und vernichteten die Ernte. Die Luftwaffe beklagte sich, bald nichts mehr zum Bombardieren zu haben.15 Laut einer sowjetischen Bestandsaufnahme nach dem Krieg waren 85 Prozent aller Bauwerke im Norden zerstört.

Historikern zufolge starben in dem Krieg fast drei Millionen Koreaner, wurden verwundet oder vermisst – zehn Prozent der Bevölkerung auf der Halbinsel. LeMay schätzte, dass etwa zwei Millionen der Toten auf den Norden entfielen.16 Etwa 37000 amerikanische Soldaten fielen im Kampf.

Nach all der Zerstörung und lange nachdem klar war, dass weder der von China und der Sowjetunion unterstützte Norden noch der Süden, hinter dem die USA standen, einen klaren Sieg erringen konnte, vereinbarten beide Seiten einen Waffenstillstand. Am 27.Juli 1953 endeten die Kämpfe. Da jedoch nie ein Friedensvertrag geschlossen wurde, ist der Krieg bis heute offiziell nicht beendet.

Kim Il-sungs Regime schob die Schuld an dem Konflikt einer von den Amerikanern unterstützten Invasion aus dem Süden zu, eine Lüge, die bis heute in Nordkorea verbreitet wird. Und es erklärte sich zum Sieger.

In Nordkorea wird die kriegerische Auseinandersetzung als »Siegreicher vaterländischer Befreiungskrieg« bezeichnet. Ihm ist auch ein Museum in Pjöngjang gewidmet, wo die Wrackteile abgeschossener amerikanischer Kriegsflugzeuge sorgfältig aufbewahrt werden. Es dient dazu, die Erinnerungen an die erbitterten Kämpfe aufrechtzuerhalten, die Bevölkerung in einem permanenten Alarmzustand zu halten und um die Familie Kim zu scharen.

Unmittelbar nach dem Krieg festigte Kim Il-sung seine Vormachtstellung in dem zerschlagenen Land, indem er ein riesiges, von den Verbündeten Nordkoreas finanziertes Wiederaufbauprogramm auflegte. Außerdem eliminierte er eine Reihe altgedienter Militärführer und Mitglieder der Partei der Arbeit, denen er die Schuld am Verlust von Bauwerken und Menschenleben gab, und säuberte die Partei von verbliebenen Gegnern.

Unterdessen verstärkten seine Agitatoren ihre Bemühungen, ihn als allseits geliebten Führer aufzubauen. Selbst den Sowjets, denen Personenkult keineswegs fremd war, ging die Art und Weise, in der Kim Il-sung die Verehrung seines Volks erzwang, zu weit. In einer sowjetischen Depesche von 1955 aus Nordkorea nach Moskau hieß es, unter älteren Mitgliedern der Partei der Arbeit herrsche »eine ungesunde Atmosphäre der Speichelleckerei und Unterwürfigkeit gegenüber Kim Il-sung«.17 Damals nahm selbst die Sowjetunion Abstand von einer solchen Weise der Vergötterung. Stalin war gestorben, und Nikita Chruschtschow hatte in einer geheimen Rede die Verehrung, die sein Vorgänger für sich beansprucht hatte, angeprangert.

Der neue nordkoreanische Führer machte sich nun auch daran zu beweisen, dass er weder eine chinesische noch eine sowjetische Marionette war. So stellte er sich als großer Denker dar, der an der Spitze eines unabhängigen, blockfreien Staates stand.18

Er zimmerte ein ideologisches Konzept namens Juche zusammen (gesprochen: Juu-tschei), was so viel wie »Eigenständigkeit« bedeutet.

Der zentrale Gedanke war, dass Nordkorea völlig autark sei und seine sämtlichen Errungenschaften von der »eigenen Nation« hervorgebracht seien, womit praktischerweise die totale Abhängigkeit von seinen kommunistischen Gönnern ausgeblendet wurde. Allerdings hatte Nordkorea in der Außen- und Verteidigungspolitik tatsächlich ein gewisses Maß an Eigenständigkeit erreicht.

Die Juche wurde in den 1970er-Jahren als politischer Grundsatz in die Verfassung aufgenommen. Brian Myers, Professor für internationale Studien in Südkorea, hat wiederholt darauf hingewiesen, das Konzept sei so inhaltsarm, dass der Eintrag für den Juche-Turm, ein Gebäude in Pjöngjang, in einer nordkoreanischen Enzyklopädie doppelt so lang sei wie der Eintrag für diesen ideologischen Grundpfeiler.

Dennoch war die Wirtschaft des Landes bis Mitte der 1970er-Jahre der im Süden überlegen. Der Grund dafür lag unter anderem darin, dass der Norden über den Löwenanteil an Rohstoffen verfügte, sodass Kim Il-sung nur die Schwerindustrie und den Bergbausektor, die die japanischen Besatzer entwickelt hatten, wieder aufbauen musste. Hinzu kamen die Zuwendungen der Sowjetunion an ihren Klientelstaat und die Mobilisierung der Arbeiterschaft im sozialistischen Stil. Südkorea hingegen musste nach dem Krieg bei null anfangen.

Als Kim Il-sung in seinen Sechzigern war, dachte er über sein Vermächtnis nach – und darüber, wie er gewährleisten konnte, dass die von ihm installierte Diktatur weiterbestehen würde. Während in der Sowjetunion und China neue Staatsführer aus dem Apparat ihrer jeweiligen Kommunistischen Partei rekrutiert wurden, wollte Kim Il-sung die Macht in der Familie halten. Eine Zeitlang spielte er mit dem Gedanken, seinen jüngeren Bruder zu krönen. Zum Entsetzen mancher beschloss er jedoch, seinen ältesten Sohn als Nachfolger zu bestimmen.

Doch zunächst musste an ein paar Stellschrauben im System gedreht werden.

In der Ausgabe des »Nordkoreanischen Wörterbuchs der politischen Begriffe« von 1970 heißt es, die Erbfolge sei »eine reaktionäre Gepflogenheit ausbeuterischer Gesellschaften«. In späteren Veröffentlichungen wurde dies still und heimlich gestrichen.19 Die staatlichen Medien sprachen jetzt vom »Parteizentrum«, ein Ausdruck, der sich indirekt auf Kim Jong-il bezog, ohne seinen Namen explizit zu nennen. Damit begann Kim Jong-ils Aufstieg in der Parteihierarchie.

Schon früh erkannten die Alliierten Nordkoreas, was Kim Il-sung vorhatte. Der ostdeutsche Botschafter in Pjöngjang telegrafierte 1974 an das Außenministerium der DDR, bei Zusammenkünften der Partei der Arbeit würden die Leute im ganzen Land aufgefordert, »Kim Jong-il Treue zu schwören … für den Fall, dass Kim Il-sung etwas Schwerwiegendes zustößt«. An den Mauern von Regierungsgebäuden tauchten Porträts von Kim Jong-il auf, dazu Losungen von ihm über die Wiedervereinigung oder den sozialistischen Aufbau, berichtete der Botschafter.

In offiziellen Verlautbarungen wurde Kim Il-sung als wohlwollender, väterlicher Mensch dargestellt. Fotos und Gemälde zeigten ihn jovial lachend im Kreis von Kindern. Dieselbe freundliche Herrscherfassade sollte fünfzig Jahre später ein Comeback feiern, wenn Kim Jong-un, von seinem Großvater inspiriert, in die Rolle des lächelnden Diktators schlüpfen würde.

Kim Il-sungs erste Frau und sein ältester Sohn wurden nun erstmals an höchster Stelle präsentiert und mit ihm zusammen zu einer Art nordkoreanischer Heiliger Dreifaltigkeit stilisiert. Auf manchen Fotos war zu sehen, wie Kim Jong-il Propagandisten und Filmproduzenten unterwies. »In seinen Gesprächen mit Bürgern der DVRK zeigt er bereits die Pose, die gewöhnlich Kim Il-sung vorbehalten ist«, schrieb der DDR-Botschafter. »Diese Beobachtung bestätigt unsere frühere Annahme: Kim Il-sungs ältester Sohn wird systematisch zu seinem Nachfolger aufgebaut.«20

Auf dem 6. Kongress der Partei der Arbeit im Jahr 1980 in Pjöngjang wurde die Sache offiziell gemacht. Der jüngere Kim erhielt mit einem Schlag hohe Posten in den drei Hauptorganen der Partei – im Präsidium des Politbüros, in der Zentralen Militärkommission und im Parteisekretariat. So kam es zu der einmaligen Situation, dass die drei wichtigsten Gremien der Arbeiterpartei eine Doppelspitze hatten.21 Kim Il-sung präsentierte Kim Jong-il als seinen Erben und erklärte, sein Sohn werde gewährleisten, dass die revolutionäre Aufgabe »von einer Generation nach der anderen« kontinuierlich weiterverfolgt werde.

Kim Jong-il übernahm zunehmend Verantwortung in der Partei und begleitete seinen Vater bei seinen »Anleitungen vor Ort«, zu denen er durchs Land reiste. Dabei erscheinen Nordkoreas wohlwollende und allwissende Führer irgendwo unangekündigt und lehren Bauern, wie sie am besten ihre Nutzpflanzen anbauen, und Fabrikdirektoren, wie man am besten Stahl produziert. Auf Fotos sieht man, wie die Empfänger dieser klugen Ratschläge pflichtbewusst jedes Wort in kleine Notizbücher eintragen.

1983 machte Kim Jong-il seine nach westlicher Kenntnis erste Auslandsreise ohne seinen Vater: Er besichtigte Fabriken im aufstrebenden China. Es war einer von einer Handvoll Besuchen, die der Geliebte Führer über die Jahre in China unternahm, und sie dienten den Plänen Pekings, Nordkorea dazu zu ermuntern, sich nach seinem Vorbild auf den Weg wirtschaftlicher Transformationen ohne Demokratisierung zu begeben.

»Durch seine dreißigjährige unermüdliche revolutionäre Tätigkeit leitete er eine neue Ära des Wohlstands ein«, heißt es in einem offiziellen nordkoreanischen Bericht über Kim Jong-ils Leben, der kurz nach seinem Amtsantritt veröffentlicht wurde.22

Doch der Unterschied zwischen dem zurückhaltenden Kim Jong-il und seinem geselligen Vater hätte nicht größer sein können. Kim Il-sung war als furchtloser Partisanenkämpfer vergöttert worden, der die Verantwortung im Kampf gegen die imperialistischen Japaner übernommen hatte. Kim Jong-il hingegen besaß so gut wie keine militärische Erfahrung. Er war ein Filmliebhaber, ein stark dem Alkohol zusprechender Playboy mit Haartolle, der seinen wichtigsten Beitrag zur Entwicklung der Nation bisher als Regisseur in Form von Filmen abgeliefert hatte.

Dennoch wurde er 1991 zum Obersten Befehlshaber der Koreanischen Volksarmee erklärt. Für die Etablierung der Nachfolge war das kein besonders günstiger Zeitpunkt. Die Berliner Mauer war gefallen. Nur zwei Tage nach seiner Ernennung brach die Sowjetunion zusammen. Der kommunistische Block, der das nordkoreanische Regime unterstützt hatte, existierte nicht mehr, weder wirtschaftlich noch ideologisch.

Um unter diesen schwierigen Umständen die Erbnachfolge durchzusetzen, erfand das Regime eine fantastische Geschichte über die Herkunft Kim Jong-ils, die sich stark an die koreanische Mythologie und das Christentum anlehnte. Er war nicht einfach deshalb zum neuen Führer bestimmt, weil er von seinem Vater dazu ernannt worden war, sondern weil er über Gottesgnadentum verfügte. Offiziell war er nun nicht mehr in einem Partisanenlager in Chabarowsk zur Welt gekommen, sondern auf dem Paektu, jenem sagenumwobenen Vulkan an der Grenze zu China, der in der koreanischen Kultur einen prominenten Platz einnimmt. Er gilt als Geburtsort Tanguns, des mythischen Vaters des koreanischen Volkes, halb Bär, halb Gottheit. Der Mythos verlieh dem Volk einen himmlischen Ursprung, und so war auch Kim Jong-il ein Himmelsgeborener.

Die nordkoreanischen Propagandisten machten hier jedoch nicht Halt. Sie erklärten, Kim Jong-il habe in einer Holzhütte das Licht der Welt erblickt, während am Himmel ein einzelner heller Stern leuchtete. Immerhin gingen sie nicht so weit, aus der Hütte eine Krippe und seine Mutter zu einer Jungfrau zu machen. Doch sicherheitshalber fügten sie noch einen doppelten Regenbogen hinzu, der plötzlich über dem Berg erschienen sei. Damit war der Mythos des Paektu-Stammbaums perfekt.

Kim Jong-il hatte schon seit Ende der 1960er-Jahre dafür gesorgt, dass sich das Paektu-Geschlecht weiter verzweigte. Er hatte ein beträchtliches Ensemble von Ehefrauen und Geliebten – und Kindern – vorzuweisen.

1966 hatte Kim Jong-il eine Frau mit der passenden revolutionären Ahnentafel geheiratet, die sein Vater ausgesucht hatte. Dem Vernehmen nach bekamen die beiden 1968 eine Tochter. Die Ehe hielt nicht, die beiden ließen sich 1969 scheiden. Die Frau aber genoss noch Jahre später hohes Ansehen, war fünfzehn Jahre lang Mitglied der Obersten Volksversammlung und danach noch fast zwanzig Jahre Direktorin der wichtigsten pädagogischen Hochschule, sodass ihre Laufbahn noch in die Ära Kim Jong-uns hineinreichte.

Kim Jong-il begann nun ein Verhältnis mit einer berühmten Schauspielerin namens Song Hye-rim, die er als Filmregisseur entdeckt hatte. Sie war älter als er, verheiratet und hatte mindestens ein Kind; er bestand darauf, dass sie sich von ihrem Ehemann scheiden ließ. Er brachte sie in einer seiner Villen in Pjöngjang unter, und 1971 gebar sie ihren gemeinsamen Sohn Kim Jong-nam. Kim Jong-il war überglücklich. Im traditionell konfuzianischen Korea werden männliche Nachfahren als Erben hoch geschätzt, da sie den Familiennamen weitertragen und den Stammbaum fortsetzen. Die Beziehung und das uneheliche Kind wurden bis etwa 1975 vor Kim Il-sung geheim gehalten.

Als Kim Jong-nam drei Jahre alt war, ermahnte der Große Führer seinen Sohn, wieder zu heiraten. Unfähig, die Existenz seiner Geliebten und ihres gemeinsamen Kindes zu offenbaren, folgte Kim Jong-il der Anweisung seines Vaters und heiratete die Frau, die offiziell als seine einzige Ehefrau gelten sollte. Mit ihr hatte er zwei Kinder, zwei Mädchen.

Es dauerte nicht lange, da fiel Kim Jong-il eine schöne junge Tänzerin mit dem Namen Ko Yong-hui auf, die Koreanerin, aber in Japan geboren war. Sie hatten drei Kinder zusammen: zwei Jungen, die 1981 und 1984 geboren wurden und die sie Jong-chol und Jong-un nannten; 1988 folgte ein Mädchen, das den Namen Yo-jong erhielt.

Es gibt einige Unsicherheiten über Kim Jong-uns wahres Geburtsjahr, laut manchen Quellen ist es 1983. Manche vermuteten, sein offizielles Geburtsdatum sei auf 1982 geschoben worden, um eine Parallele zu seinem 1912 geborenen Großvater und zu seinem Vater herzustellen, dessen Geburtsdatum von 1941 auf 1942 verlegt worden war.

Kim Jong-uns Tante Ko Yong-suk lachte, als ich sie nach dem Geburtsdatum ihres Neffen fragte. Es war fast zwanzig Jahre her, dass sie vor dem nordkoreanischen Regime geflohen war, aber sie war sich ganz sicher, dass Kim Jong-un 1984 geboren wurde. Sie hatte im Monat davor selbst einen Sohn zur Welt gebracht und stets beiden Kindern gemeinsam die Windeln gewechselt.

Die Tante hütete alle Kinder. Ihre Schwester, Kim Jong-ils Konkubine, kümmerte sich um den designierten nächsten nordkoreanischen Führer, als er sich in der Partei hocharbeitete.

Ko und ihr Mann lebten auf einem Gelände mit mehreren Häusern in Pjöngjang – darunter eins für sie und eins für Kim Jong-il – mit einer schwer bewachten Außenmauer, die um den ganzen Komplex verlief. Eine weitere Mauer war um Kim Jong-ils Haus gezogen, das riesig war, wie sie mir sagten, und über ein eigenes Theater und ein großes Spielzimmer für die Kinder verfügte.

Trotz der luxuriösen Umgebung führten die Kinder ein relativ abgeschiedenes Leben. Sie spielten mit ihren Cousinen und Vettern oder blieben bei ihrem Vater, wenn er zu Hause war.

Andere Kinder gab es hier keine. Der zutiefst paranoide Kim Jong-il hielt seine Familien voneinander fern, sodass die Kinder aufwuchsen, ohne ihre Halbgeschwister oder sonst jemanden in ihrem Alter kennenzulernen. Selbst als er sie in die Schweiz schickte, wählte er zwei verschiedene Schulen für sie aus. Jong-nam ging nach Genf, die anderen drei Kinder nach Bern.

Unterdessen führte Kim Jong-il weiterhin die »Abteilung für Öffentlichkeit und Information«, das Propaganda- und Agitationsministerium, betätigte sich als Filmregisseur und schrieb seiner offiziellen Biografie zufolge sechs Opern. Auch tauchte er nach wie vor an der Seite seines Vaters auf und verteilte bei den Vor-Ort-Anleitungen Perlen der Weisheit über alles Mögliche, von landwirtschaftlichen Methoden bis hin zu Militärtaktiken.

Dann kam der Tag, für den schon alles vorbereitet war: Am 8. Juli 1994 starb Kim Il-sung nach einem schweren Herzinfarkt. Sein Tod wurde vierunddreißig Stunden geheim gehalten, in denen das Regime die letzten Vorkehrungen für die Bestätigung des Nachfolgers traf.23 Erst dann verkündete Radio Pjöngjang die Nachricht: »Das Große Herz hat aufgehört zu schlagen.«

In einer siebenseitigen Verlautbarung erklärte die Zentrale Koreanische Nachrichtenagentur, Kim werde als ein Mensch in Erinnerung bleiben, der »aus nichts etwas schaffen konnte … Er verwandelte unser Land, in dem jahrhundertelang Rückständigkeit und Armut geherrscht hatten, in eine mächtige sozialistische Nation, die unabhängig, autark und voller Selbstvertrauen ist.«24

Obwohl sich das Regime ein Vierteljahrhundert auf diesen Augenblick vorbereitet hatte, kam Kim Il-sungs Tod einem Erdbeben gleich. Das um einen Personenkult herum aufgebaute System hatte sein Zentrum verloren. Jetzt musste geschehen, was es noch in keinem anderen kommunistischen Regime gegeben hatte: Die Führung musste vom Vater auf den Sohn übertragen werden.

Kim Jong-il trat in eine dreijährige Trauerperiode ein, nicht etwa weil er besonders schmerzerfüllt gewesen wäre, sondern weil sich das Land in einem katastrophalen Zustand befand und er unbedingt eine Schuldzuschreibung vermeiden wollte.

Als Ergebnis einer jahrzehntelangen Misswirtschaft durch das Kim-Regime war eine verheerende Hungersnot ausgebrochen. Während des Kalten Krieges hatte es kaum Anreize gegeben, um den kargen Boden des Landes urbar zu machen, die Sowjetunion und China lieferten ja Lebensmittel. Als diese Lieferungen eingestellt wurden, verfügte Nordkorea nicht über genügend landwirtschaftlich nutzbare Flächen und auch nicht über die benötigte Energie für chemische Düngemittel, um ausreichend Nahrungsmittel anzubauen.

Dieses politische Desaster fiel mit einer Reihe von Naturkatastrophen zusammen. Überschwemmungen und Dürren Mitte der 1990er-Jahre vernichteten die ohnehin geringen Ernteerträge. Niemand weiß genau, wie viele Menschen damals starben. Manche Beobachter sprechen von einer halben Million, andere meinen, es könnten sogar zwei Millionen gewesen sein.

In dieser Zeit nahm die Zahl der Kinder, die auf der Straße lebten, weil ihre Eltern gestorben waren oder sie ausgesetzt hatten, sprunghaft zu. Seltsamerweise wurden sie als »Blumenschmetterlinge« bezeichnet, als ob sie herumschwirrten, um nach Nektar zu suchen. In Wirklichkeit stahlen sie alles von Kanaldeckeln bis zu Drahtresten, um sich irgendwie durchzuschlagen.

Viele derjenigen, die überlebten, waren zu Skeletten abgemagert. Sie hatten einzelne Getreidekörner aus Kuhfladen herausgelöst und Ratten verspeist. Manche hatten Unvorstellbares erdulden müssen, waren sogar zu Kannibalen geworden, um eine Zeit zu überstehen, die in Nordkorea euphemistisch als der »beschwerliche Marsch« bezeichnet wird. So hatte man Kim Il-sungs Kampf in der Mandschurei genannt, und nun griff man darauf zurück, um den Eindruck zu vermitteln, es handle sich um eine weitere gewaltige Schlacht für das Vaterland.

Die Hungersnot lockerte den Griff, mit dem das Regime die Bevölkerung umklammerte, wie kein anderes Ereignis zuvor. Es wurden keine rationierten Lebensmittel mehr verteilt, die Menschen waren nun ganz auf sich selbst angewiesen. Die Bewohner des kommunistischen Landes wurden aus Not gleichsam zu Kapitalisten – und die Behörden mussten es hinnehmen, weil der Staat nichts mehr hatte, was er ihnen hätte geben können.

Pak Hyon-yong, ein junger Mann, der zur Zeit der Hungersnot in Hamhŭng nördlich von Wŏnsan lebte, musste mit ansehen, wie sein jüngerer Bruder vor seinen Augen verhungerte. Danach die Kinder seiner älteren Schwester, dann seine Schwester selbst. Als ihm klarwurde, dass er der Nächste sein würde, stellte er Nudeln aus »Maisreis« her, einem armseligen nordkoreanischen Ersatz für Reis, der in Wahrheit aus getrockneten Maiskörnern besteht. Er aß ein wenig davon, verkaufte aber den Rest und erwarb mit dem erbärmlichen Gewinn weiteren Maisreis für die Ration des folgenden Tages.

»Immer wieder kam die Polizei vorbei und wollte mir klarmachen, dass ich mich nicht dem Kapitalismus unterwerfen solle. Der Geliebte Führer werde unseren Nahrungsmangel beseitigen«, erzählte mir Pak in der nordchinesischen Stadt Yanji, wo er nach seiner Flucht aus Nordkorea untergetaucht war.25 Doch das tat der Geliebte Führer nicht.

Die Hungersnot in Nordkorea fiel fast genau mit Kim Jong-ils Aufstieg zur Macht zusammen, sodass seine Person für immer mit extremer Not in Verbindung gebracht wurde. Bis heute erinnern sich aus Nordkorea geflohene Menschen meist mit Zuneigung an Kim Il-sung; sie kannten noch eine Zeit, als Nordkorea wirklich stark und wohlhabend war, nicht nur in der Darstellung der staatlichen Medien. Zu Kim Jong-il gibt es eine solche Zuneigung hingegen nicht. Die Nordkoreaner fragten sich: Wenn er sich so sehr um uns sorgt, warum verhungern wir dann?

Als der »beschwerliche Marsch« vorbei war und Nordkorea zu einem Zustand des nagenden Hungers und der Mangelernährung zurückkehrte, investierte Kim Jong-il seine Kräfte in das Militär. Nach dem Motto »das Militär zuerst« leitete er eine neue Politik ein und setzte die Streitkräfte in der Hierarchie an die höchste Stelle. Die Partei der Arbeit stellte sich unter die Parole »Das Militär ist die Partei, das Volk und die Nation«.26

Einem klammen Regime, das seine Armee stärken will, bietet keine Waffe mehr fürs Geld als eine Atombombe. Im Laufe der Jahre hatte Nordkorea all seine Energie und Mittel in ein geheimes Atomprogramm geworfen. Mit dem ersten Atomtest des Landes deckte Kim Jong-il es 2006 mit einem Schlag auf.

Zu diesem Zeitpunkt war der Führer, inzwischen vierundsechzig Jahre alt, sichtlich krank. Der einst füllige Mann war jetzt von hagerer Gestalt, und seine Haut wirkte fahl. Mitte August 2008 erlitt er einen Schlaganfall.

Er erholte sich zwar, doch als er schließlich wieder in der Öffentlichkeit auftrat, wirkte er geschwächt. Er sah kleiner und dünner aus, und seine linke Körperhälfte schien gelähmt zu sein.

Man begann, darüber zu spekulieren, wer dem Führer nachfolgen würde. Nach den Regeln der traditionellen koreanischen Erbfolge hätte es Kim Jong-nam sein müssen.

Viele sagten später, der Erstgeborene habe den Anspruch auf die Krone aufgrund eines peinlichen Vorfalls im Jahr 2001 verloren.

Damals kam heraus, dass Kim Jong-nam mit einem gefälschten dominikanischen Pass unter dem Namen Pang Xiong – chinesisch für »Dicker Bär« – mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn nach Japan gereist war. Er wolle, erklärte er den japanischen Behörden, mit seiner Familie ins Disneyland von Tokio. Danach flog er nach Macau bei Hongkong, das zum chinesischen Territorium gehört, wo er dann bis zum Ende seines Lebens seinen Wohnsitz hatte. Es wurde nie geklärt, ob er ins Exil gezwungen worden war oder seiner Heimat freiwillig den Rücken gekehrt hatte.

Tatsächlich war er schon viele Jahre zuvor in Ungnade gefallen. Die Frage der Erbfolge hatte eher mit mütterlichen Ambitionen als mit der Eignung der Söhne zu tun.

Kim Jong-nams Mutter lebte seit 1974 mehr oder weniger ständig in Moskau, als Kim Jong-il die Beziehung zu seiner nächsten »Ehefrau« begann. Als sie nach Pjöngjang zurückkehrte, war sie oft launisch und litt unter Migräne oder Stimmungsschwankungen, die das ganze Haus in Mitleidenschaft zogen. Hinzu kam, dass sie aufgrund ihrer Erziehung ehrgeizig war und sich eine eigene Karriere wünschte, nicht das Leben einer traditionellen Hausfrau. Mit der Rolle der unterwürfigen, pflichtbewussten Ehefrau mochte sich die Schauspielerin nicht abfinden.

Die Mutter von Kim Jong-un hingegen stand stets an der Seite Kim Jong-ils. Als seine Lieblingsgemahlin säte sie hinter den Kulissen die Saat für den Führungswechsel. Ihr Einfluss wurde überall sichtbar, etwa darin, dass plötzlich Zeichentrickfilme mit »Donald Duck« und »Tom und Jerry« auf Koreanisch im Fernsehen auftauchten, und zwar genau zu der Zeit, als ihre Kinder in dem Alter waren, in dem man solche Filme mag.27

Etwa zur selben Zeit bekam Kim Jong-il einen Tobsuchtsanfall, als er herausfand, dass sich Kim Jong-nam, damals etwa zwanzig Jahre alt, in Bars der Hauptstadt betrunken hatte. Wegen dieses Verstoßes gegen seine Regeln stellte er die ganze Familie seines Sohnes für einen Monat unter Hausarrest, sorgte dafür, dass sie keine Lebensmittel geschickt bekamen und sie selbst das Haus putzen mussten. Er drohte sogar, sie in ein Arbeitslager zu schicken, in dem politische Gefangene als Bergarbeiter eingesetzt wurden.

Zudem galt Kim Jong-nam als uneheliches Kind, weil seine Mutter vor der Verbindung mit Kim Jong-il verheiratet gewesen war.