Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten - Lea Wedewardt - E-Book

Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten E-Book

Lea Wedewardt

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Beschreibung

"Bedürfnisorientierung" ist in aller Munde. Dieser modernen Sicht auf Kinder liegt eine wertschätzende, achtsame und gewaltfreie Haltung zugrunde, in der Kinder als gleichwürdige Partner gesehen werden. Dabei geht es nicht etwa um eine Laisser-faire-Haltung, sondern um eine klare Orientierung, in der die Grenzen aller Beteiligten − Eltern, pädagogischer Fachkräfte und Kinder − geachtet und die Bedürfnisse aller ernstgenommen werden.  Das Buch liefert wissenschaftlich fundiert Argumente für die Notwendigkeit einer bedürfnisorientierten Grundhaltung − weg von der Erziehung hin zur Beziehung. Praxisbeispiele geben Handlungssicherheit, wie Bedürfnisorientierung im oft hektischen und stressigen Kita-Alltag gelingen kann.  Das Thema wurde bislang nur in Bezug auf die Eltern-Kind-Beziehung behandelt.  Nun endlich auch für pädagogische Fachkräfte in der Kinderbetreuung!

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Lea Wedewardt • Kathrin Hohmann

Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten

Lea Wedewardt • Kathrin Hohmann

Kinder achtsam undbedürfnisorientiertbegleiten

in Krippe, Kita und Kindertagespflege

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

Umschlagmotiv: © rudchenko – iStock

Fotos im Innenteil auf den Seiten 11: © encrier – iStock, 37: © Cube29 – Shutterstock,

39: © photoguns – iStock, , 71: © tanahairstudio − Shutterstock, 79: © Jan Tepass /

imageBROKER – mauritius images, 119: © SolStock – iStock, 99: © omgimages – iStock,

147: © Nadezhda1906 – iStock, 163: © Juanmonino – iStock

Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-82204-9

ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-82203-2

ISBN Print 978-3-451-38930-6

Inhalt

Einleitung

1. Was ist bedürfnisorientierte Kinderbetreuung?

1.1 Bedürfnisorientierung

1.2 Das Bild vom Kind und die pädagogische Haltung

1.3 Die Bedürfnisse des Menschen

1.3.1 Physische Bedürfnisse

1.3.2 Psychische Bedürfnisse

1.3.3 Das Bedürfnis nach Bindung und Autonomie

1.3.4 Das Bedürfnis nach Selbstwerterhaltung

1.3.5 Im Gleichgewicht zwischen Integrität und Kooperation

1.4 Von der Erziehung zur Beziehung

1.5 Die Gehirn- und Entwicklungsreife von Kindern

1.5.1 Mangelnde Empathiefähigkeit „Du weißt doch, das tut weh?!“

1.5.2 Eine kleine Einführung in den Gehirnaufbau

1.5.3 Impulskontrolle „Jetzt mach nicht so ein Theater!“

1.5.4 Das Ja-Gehirn „Nein, nicht da hoch gehen!“

2. Die drei Grundpfeiler der Bedürfnisorientierung: Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen

2.1 Grundpfeiler: Gefühle

2.1.1 Gefühle verstehen

2.1.2 Gefühle haben immer einen Grund

2.1.3 Es gibt keine guten und schlechten Gefühle

2.1.4 Der Einfluss der Bewertung von Gefühlen

2.1.5 Wie drücken sich Gefühle im Körper aus?

2.1.6 Welche Bedürfnisse stehen hinter den Gefühlen?

2.1.7 Wenn Gefühle nicht sein dürfen

2.1.8 Der Umgang mit Gefühlen

2.2 Grundpfeiler: Bedürfnisse

2.2.1 Bedürfnisse wahrnehmen und spiegeln

2.2.2 Bedürfniswahrnehmung vor Bedürfniserfüllung

2.2.3 Der Unterschied zwischen Wunsch und Bedürfnis

2.2.4 Aushandeln von Bedürfnissen

2.2.5 Bedürfnisaufschub lernen

2.3 Grundpfeiler: Grenzen

2.3.1 Grenzen wahrnehmen und achten

2.3.2 Achtsamer Umgang mit den körperlichen Grenzen

2.3.3 Achtsamer Umgang mit den psychischen Grenzen

2.3.4 Grenzen kommunizieren

3. Gewaltfreiheit

3.1 Formen von Gewalt erkennen

3.2 Folgen von Gewalt

3.3 Gewalt durch Fachkräfte sind eine Ausnahme?

3.4 Die Ethik pädagogischer Beziehungen

3.5 Körperliche und seelische Gewalt verhindern

3.6 Erziehungsmethoden auf dem Prüfstand

4. Die Bedürfnisse der Fachkraft

4.1 Sich zeigen

4.2 Bedürfnisorientierte Abgrenzung statt Grenzen setzen

4.3 Werte leben, Orientierung finden

4.4 Selbstfürsorge und Selbstregulation üben

4.5 Das eigene innere Kind reflektieren

5. Bedürfnisorientiertes Lernen

5.1 Unter welchen Umständen ist Lernen schwer?

5.2 Die intrinsische Motivation erhalten

5.3 Das Flow-Erleben

5.4 Wahrnehmung und Unterstützung individueller Lernmomente

5.5 Lernziele sind nicht immer sichtbar

5.6 Die Angebotspädagogik hinterfragen

5.7 Die Schätze der Kinder zum Leuchten bringen

5.8 Freispiel als bedürfnisorientiertes Lernen

5.9 Lernen in Beziehung

6. Konflikte und starke Gefühle bedürfnisorientiert begleiten

6.1 Das eigene Konfliktverhalten verstehen

6.2 Umgang mit Konflikten und starken Gefühlen

6.3 Konflikte unter Kindern begleiten

6.4 Die Kompetenz des Teams nutzen

6.5 Entschuldigung muss nicht sein – oder doch?

6.6 Teilen kommt von alleine

7. Die zehn häufigsten Irrtümer über Bedürfnisorientierung

Literatur

Über die Autorinnen

Einleitung

Im Januar 2020 lernten wir, Lea Wedewardt und Kathrin Hohmann, uns online kennen. Wir wurden durch Social Media aufeinander aufmerksam, da wir sehr ähnliche Ziele mit unserer Präsenz als Kindheitspädagoginnen, Bloggerinnen, Autorinnen und Podcasterinnen verfolgen: Wir möchten ein Umdenken in der Kinderbetreuung anstreben. Auf Grund der erlebten praktischen Erfahrungen in pädagogischen Einrichtungen spürten wir, dass es dringend tiefgreifende Veränderung braucht, damit Kinder in Einrichtungen achtsam, gewaltfrei und bedürfnisorientiert aufwachsen können. Selbst mussten wir öfter schmerzlich feststellen, wie wir mit unserer bedürfnisorientierten Haltung in Einrichtungen gegen den Strom schwammen, besonders dort, wie es noch Gang und gebe ist, dass die Erwachsenen die Macht innehaben, um Kinder zu formen, gar zu brechen.

Wir wollten nicht mehr wegsehen, sondern aufstehen und Kindern eine Stimme geben, die sie so sehr brauchen. Neben den schmerzhaften Erfahrungen begegneten wir im Laufe der Jahre gleichzeitig ganz wundervollen Einrichtungen und Fachkräften, die den Kindern auf Augenhöhe begegneten. Orte, die unsere Herzen höher schlagen ließen und uns zeigten: Es geht auch anders! Eine bedürfnisorientierte Kinderbetreuung ist möglich und, so haben wir oft festgestellt, kaum eine Frage der Rahmenbedingungen, als vielmehr der Haltung.

Recht schnell wurde uns klar, dass wir unsere Erfahrungen und unser Wissen in die Welt tragen möchten, um pädagogischen Fachkräften Anstöße zu geben, genauer hinzuschauen, sich zu sensibilisieren und einen neuen Blick auf die Begleitung von Kindern zu wagen. Und so entstand unser gemeinsames Buch. Wir möchten dazu anregen, eigene Sichtweisen zu reflektieren und Handlungsstrategien zu entwickeln, um auch schwierige Situationen ohne Manipulationen, Strafen und Belohnungen zu meistern. Dieses Buch ist eine Einladung, hinter das subjektiv wahrnehmbare Verhalten zu blicken und die Gefühle, Bedürfnisse und individuellen Grenzen aller Beteiligten – Kinder, Fachkräfte und Eltern – unter die Lupe zu nehmen.

Die Bedürfnisorientierte Kinderbetreuung möchte den Erziehungs- und Bildungsauftrag neu definieren. Viele Menschen wünschen sich heute statt Erziehung ein soziales Miteinander geprägt durch eine Gesellschaft, die auf starken Beziehungen fußt. Eine Gesellschaft, die von Empathie und von einem respektvollen Miteinander geprägt ist. Eine Gesellschaft, in der Gewalt keinen Platz hat. Viele wünschen sich einerseits eine Gesellschaft, in der Menschen achtsam und friedvoll miteinander umgehen und sich gleichzeitig frei fühlen sowie ihre Potenziale entfalten können. Das bestätigt eine Studie des Meinungsforschungsinstituts G.I.M. (vgl. Fernow et al. 2017).

Die Kinderbetreuung ist eine Gesellschaft in Kleinform. Deshalb gibt es keinen besseren Ort ein achtsames, friedvolles, glückliches und gesundes Miteinander zu üben. Und keine Entwicklungsphase prägt einen Menschen mehr als die frühe Kindheit. Kinder bauen in dieser Zeit ihren Selbstwert auf und verinnerlichen Botschaften, die sie ihr gesamtes Leben begleiten können, im Positiven wie im Negativen.

Es wird viel Zeit in Anspruch nehmen, bis in pädagogischen Einrichtungen die Bedürfnisorientierung gelebt wird. Wir sind überzeugt, dass im Sinne der kindlichen Entwicklung und aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse dies der einzig gesunde Weg ist. Dabei geht es nicht darum, dass alles perfekt läuft und jeder sich immer „richtig” verhält, vielmehr ist es wichtig, dass sich jeder Mensch auf den Weg macht. Schritt für Schritt kann jeder Einzelne dazu beitragen, dass Menschen sich respektvoll und umsichtig begegnen und so die Welt ein Stück bunter gestalten. Nach dem Satz von Mahatma Gandhi: „Es gibt keinen Weg zum Frieden, denn Frieden ist unser Weg” zeigen wir Kindern, wie wir gewaltfrei miteinander leben können – in Frieden mit uns und mit ihnen.

Wissend, dass sich Bedürfnisorientierung durch bestimmte Stolpersteine wie die eigene Biografieerfahrung, eingebrannte Muster oder auch durch schwierige Rahmenbedingungen unmöglich anfühlen kann, wünschen wir uns, dass jedes dieser Hindernisse als Chance gesehen wird.

In diesem Buch wird deutlich werden, dass auch ein liebevolles, gleichwürdiges Miteinander gelingen kann, dass ein achtsames In-Beziehung-sein notwendige Kompetenzen vermittelt, die die Kinder auf das Leben vorbereiten. Dieses Buch möchte dazu animieren, neue Wege einzuschlagen und mit Kindern, Kollegen und Kolleginnen und Familien ein Miteinander auf Augenhöhe zu erleben, in dem sich jeder mit all seinen Gefühlen, Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten gesehen fühlt. Erste Krippen und Kitas mit Bedürfniskonzept zeigen, dass das möglich ist.

1.

Was istbedürfnisorientierteKinderbetreuung?

1.1 Bedürfnisorientierung

Bedürfnisorientierung ist eine Haltung, kein Konzept. Sie ist keine zusätzliche Bürde, sondern vielmehr ein neuer Blick auf das SEIN, auf das ZusammenSEIN, das MiteinanderSEIN. Sie sieht einen jeden Menschen, ob groß oder klein, als einen Teil der (Kindergarten-)Gesellschaft. Jeder Mensch, sei es Fachkraft, Eltern oder Kind wird als gleichwürdiges Individuum betrachtet, das sich mit seinen ganz individuellen Erfahrungen, Bedürfnissen, Gefühlen, Grenzen und Interessen mit in die Gruppe einbringt und sie dadurch bereichert.

Es stehen also die Bedürfnisse, Gefühle und Grenzen eines jeden Mitglieds der Gemeinschaft gleichwürdig im Zentrum der Aufmerksamkeit. Jeder Erwachsene und jedes Kind wird mit seinen Bedürfnissen gesehen, wird mit seinen Gefühlen wahrgenommen und in seinen ganz individuellen Grenzen geachtet.

Die Bedürfnisorientierung lädt dazu ein, wegzukommen von dem, was sein muss, hin zu dem, was sein darf. Jeder Mensch der kleinen Gemeinschaft darf sein und muss nicht werden. Nicht Bildung und Erziehung der Kinder stehen im Vordergrund, sondern das Miteinanderin-Beziehung-sein und das Aufeinander-bezogen-sein. Jeder kann von jedem lernen, jeder kann sich von jedem in der Gruppe inspirieren lassen – auch die Großen von den Kleinen. Wir als Erwachsene begeben uns in den Einrichtungen tagtäglich in ein Treffen mit vielen anderen (kleinen) Menschen. Wir stellen uns nicht über sie, wir bestimmen nicht, was getan wird, wir meinen nicht genau zu wissen, was die Kinder brauchen, sondern wir freuen uns auf das ZusammenSEIN mit den Kindern, um zu staunen, was sie SIND und wer sie SIND. Wir begleiten sie in ihrem Vorhaben. Gemeinsam verstehen wir uns als eine Lerngemeinschaft.

Die bedürfnisorientierte Begleitung von Kindern in der Familie ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Bloggerinnen und Autorinnen wie Susanne Mierau von Geborgen Wachsen, Danielle Graf und Katia Seide von Das gewünschteste Wunschkind, Aida Rodriguez, Nicola Schmidt und viele mehr haben bereits den Weg geebnet, der uns zeigt, eine Erziehung ohne Manipulationen, Strafen und ohne Gewalt ist möglich! Sie zeigen immer wieder auf, wie es geht, mit Kindern einen Weg einzuschlagen, der auf Augenhöhe, wertschätzend und achtsam ist.

In einer Studie der Erziehungswissenschaftlerin Helen Knauf (2019) wurden circa 100 Elternblogs, also ständig aktualisierte Internetseiten, die von mindestens einem Elternteil verfasst werden und über das Leben in der Familie berichten, analysiert. Diese Quelle der Information hat wachsenden Einfluss auf die Gesellschaft. So wurde die Seite babykindundmeer.de von Marisa Hart im Jahr 2018 monatlich 1,5 Millionen Mal aufgerufen und verzeichnet 350.000 Leser und Leserinnen. Bei Susanne Mierau waren es im Jahr 2018 500.000 Zugriffe und 135.000 Leser und Leserinnen (vgl. Knauf 2019). Die untersuchten Blogs haben alle eins gemeinsam: Die Kinder stehen mit ihren Bedürfnissen im Fokus und grenzen sich vom traditionellen Erziehungskonzept, welches durch konsequente Führung und Kontrolle geprägt ist, ab. Die Bedürfnisorientierung, auch intensive Elternschaft genannt, ist durch drei Elemente geprägt: Liebe, Nähe und eine sichere Bindung. Kinder sollen sich rundum geliebt fühlen und intensive Nähe durch ihre Hauptbezugspersonen spüren. Diese Liebe und Nähe sollen zu einer sicheren Bindung führen, „[…] die Grundlage für die Entwicklung starker, selbstbewusster und selbstständiger Kinder. Die Herstellung einer größtmöglichen Nähe wird als handlungsleitendes Erziehungsprinzip damit begründet, dass auf diese Weise die physiologischen Bedürfnisse besonders gut befriedigt werden können“ (Knauf 2019, S. 181). Die intensive Elternschaft, so betont diese Studie, kann auch überaus herausfordernd und anstrengend sein. Sie steht im ständigen Ausloten der Bedürfnisse der Kinder und Eltern und muss an die Anforderungen und Möglichkeiten einer jeden Familie angepasst werden. Die Inhalte der Blogs sind nicht neu, sie gehen auf die Traditionen der Bindungstheorie (engl. „Attachment Theory“) von John Bowlby und der intensiven Elternschaft (engl. „Attachment Parenting“) nach William und Martha Sears zurück. Sie folgen den Prinzipien der „unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung oder der ständigen Verfügbarkeit einer Bezugsperson“ (ebd., S. 185). In der Studie wird ebenso deutlich, dass die Eltern nicht intuitiv, spontan und nur nach ihrem Bauchgefühl erziehen, sondern sich mit (populär)wissenschaftlichen Erkenntnissen kognitiv befassen und sich auf dieser Grundlage ganz bewusst für eine friedvolle Begleitung von Kindern entscheiden. Verständlicherweise wünschen sich diese Eltern für das Aufwachsen ihrer Kinder außerhalb der Familie eine bindungs- und bedürfnisorientierte Begleitung auch in den pädagogischen Einrichtungen (Kindertageseinrichtung und Schule). In vielen pädagogischen Einrichtungen herrscht bislang noch das Bild, ein Kind müsse erzogen werden und durch einen Erwachsenen manchmal schmerzlich erfahren, wie das harte Leben sei.

Bedürfnisorientiert heißt …

sich ganz auf die Bedürfnisse der Kinder (Eltern) einzustellen,die Grenzen der Kinder (Eltern) zu wahren,die Bedürfnisse der Kinder (Eltern) ernst zu nehmen,Kinder (Eltern) in Entscheidungen mit einbeziehen,feinfühlig „Beschwerden“ von Kindern (Eltern) wahrzunehmen,Vertrauen aufzubauen.

Bedürfnisorientiert heißt NICHT …

Kindern (Eltern) alle Wünsche zu erfüllen,Kindern (Eltern) alle Wünsche sofort zu erfüllen,Kindern (Eltern) alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen,Konflikte zu umgehen,Kindern (Eltern) jeglichen Ärger und Frust zu ersparen,eigene Bedürfnisse als Fachkraft zu übergehen,eigene Bedürfnisse als Fachkraft zu leugnen,eigene Bedürfnisse als Fachkraft zu verdrängen,eigene Grenzen als Fachkraft zu übergehen,nie Nein zu sagen.

Bedürfnisorientiert bedeutet VIELMEHR …

auch Nein zu sagen!Bedürfnisse von Kindern (Eltern) UND Fachkräften wahrzunehmen,Grenzen von Kindern (Eltern) UND Fachkräften wahrzunehmen,Bedürfnisse von Kindern (Eltern) UND Fachkräften ernst zu nehmen,Grenzen von Kindern (Eltern) UND Fachkräften ernst zu nehmen,Bedürfnisse von Kindern (Eltern) UND Fachkräften zu verbalisieren,Grenzen von Kindern (Eltern) UND Fachkräften zu verbalisieren.Kompromisse zwischen den verschiedenen Bedürfnissen ALLER (Kinder, Eltern und Fachkräfte) zu finden und in Verbindung zu sein.Empathie für die eigenen und die Bedürfnisse anderer zu entwickeln.Aus einer „erlernten Hilflosigkeit“ in die Verantwortung zu kommen.

Den Bildungsauftrag überdenken

Spätestens, wenn Kinder älter werden und die Einschulung in Aussicht steht, wird die Vorbereitung auf die Schule fokussiert. Fachkräfte möchten ihrem Bildungsauftrag nachkommen und Kinder in die Schule entlassen, die bestens vorbereitet sind, längere Zeit stillzusitzen, sich leise zu melden und die erwarteten Aufgaben und Anforderungen der Lehrkräfte zu erfüllen. Die pädagogischen Fachkräfte möchten ihren Arbeitsauftrag bestmöglich erfüllen. Aber ist das wirklich die Aufgabe der Kinderbetreuung? Die Kinder auf das Schulsystem vorzubereiten? Auf einen zukünftigen Arbeitsmarkt vorzubereiten, der ungewiss ist und sich in den nächsten Jahrzehnten immens wandeln wird?

In erster Linie benötigen wir Heranwachsende, die sich ihrer selbst bewusst sind, mit Interesse und Neugierde die Welt erobern, ihre eigenen Kompetenzen erkennen, respektvoll und empathisch miteinander umgehen, Kinder, die sich in der schnelllebigen Zeit zurechtfinden lernen, für ihre eigenen Bedürfnisse einstehen und gleichzeitig lernen, wie sie in der Gruppe friedvoll kooperieren können. Die Zukunft braucht umsichtige Persönlichkeiten, die an sich selbst glauben und ihren Platz in dieser Welt sicher finden werden.

Werden Eltern beim Eintritt in die Kita gefragt, was sie sich für ihr Kind wünschen, so antworten die meisten, sie möchten ein glückliches Kind, welches soziale Kontakte knüpft. Sie möchten, dass es ihrem Kind gut geht, es sich verstanden fühlt und in ihrer Abwesenheit emotionalen Halt findet. Es reicht ihnen aus, wenn das Kind sich mit seinen Freunden treffen kann, Anregung hat, um zu lernen, und sich entwickeln kann.

Die Achtsamkeitsforschung zeigt, dass Menschen besonders glücklich sind, wenn sie die Fähigkeit besitzen, ganz bei sich zu sein. Wenn Menschen auf sich selbst achten, sich selbst bewusst sind, mit sich im Reinen und versunken den Moment genießen können, das, was sie fühlen, denken, tun (vgl. Killingsworth & Gilbert 2010). Kinder haben für gewöhnlich noch die Fähigkeit, im Moment zu sein. Erwachsene müssen diese Fähigkeit in ihrem späteren Leben häufig wieder mit Anstrengung erlernen, sie ist ihnen abhandengekommen. Um glücklich zu sein, braucht der Mensch also einen Zugang zu seinen inneren Gefühlen, Bedürfnissen, Wünschen, Träumen und Visionen. Die Gefühle sind die Triebfeder, um die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen und die Grenzen zu wahren. Gleichzeitig möchte der Mensch als soziales Wesen mit anderen in Verbindung sein und den Zusammenhalt einer Gruppe spüren. So können bereits Kinder dabei unterstützt werden, ihre eigene Integrität zu wahren und gleichzeitig als Teil der Gemeinschaft zu kooperieren.

1.2 Das Bild vom Kind und die pädagogische Haltung

In der Bedürfnisorientierung wird jeder als Individuum betrachtet, das darauf bedacht ist, sich seine Bedürfnisse zu erfüllen. Menschen stehen für sich und ihre Bedürfnisse ein, um psychisch und physisch gesund zu bleiben. Sie wenden die unterschiedlichsten Strategien an, um sich ihre Bedürfnisse zu erfüllen – manchmal sind Vorgehensweisen passend, manchmal weniger. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass jeder Mensch zu jeder Zeit sein Bestes tut. Er möchte sowohl für sich selbst einstehen als auch zur sozialen Gruppe dazugehören. Er möchte kooperieren und gleichzeitig seine Grenzen wahren. Menschen handeln in der Regel für sich, nie gegen jemand anderen. Sie nutzen manchmal Strategien, die so scheinen, als wären sie gegen jemanden gerichtet, dabei versuchen sie händeringend, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Strategien, sich eigene Bedürfnisse zu erfüllen.

Das Menschenbild der Bedürfnisorientierung kann in wesentlichen Punkten mit den Werten der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg (vgl. Rosenberg 2016) verglichen werden, die besagen:

Alles, was Menschen tun, ist ein Versuch, sich Bedürfnisse zu erfüllen.

Menschen tragen gerne zum Wohle anderer Menschen bei; wenn sie es freiwillig tun, können sie darauf vertrauen, dass ihre Bedürfnisse ebenfalls berücksichtigt werden und keine wichtigen eigenen Bedürfnisse dagegen stehen.

Menschen erfüllen sich Bedürfnisse bevorzugt in Kooperation anstatt durch Anwendung von Macht, Zwang oder Gewalt.

Menschen wenden dann Gewalt an, wenn sie keine bessere Möglichkeit sehen, für die Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse zu sorgen.

Jeder Mensch wird im Menschenbild der Bedürfnisorientierung von Grund auf als Individuum gesehen, welches begründet handelt und den ständigen Drang verfolgt, sich selbst zu verwirklichen, zu entfalten, zu entwickeln und persönlich zu wachsen. Jeder ist bestrebt, seine Probleme selbstbestimmt zu lösen. Deshalb brauchen Menschen keine Ratschläge, sondern einen Mentor oder eine Mentorin, der/die ihnen ihren Zustand in Sprache übersetzt, um ein Bewusstsein darüber zu erlangen und eigene Ideen zu entwickeln.

In der Bedürfnisorientierung gehen alle Beteiligten eine gleichwürdige Beziehung ein, in der jedes Mitglied, ob groß oder klein, als vollständige Persönlichkeit wahrgenommen wird. Fachkräfte, Eltern und Kinder begegnen sich aufAugenhöhe mit der Grundhaltung aus Achtung, Respekt und Wertschätzung (vgl. Juul 2013) ohne Gewalt, Macht oder Manipulation. Jedes Gefühl, jedes Bedürfnis und jede Grenze haben ihre Berechtigung, den wahrgenommen und respektiert. In der Gruppe werden Bedürfnisse gegeneinander abgewogen, priorisiert und ausgehandelt. Der Familientherapeut Jesper Juul schreibt dazu: „Gleichwürdig bedeutet nach meinem Verständnis sowohl ‚von gleichem Wert‘ (als Mensch) als auch ‚mit demselben Respekt gegenüber der persönlichen Würde und Integrität des Partners‘. In einer gleichwürdigen Beziehung werden Wünsche, Anschauungen und Bedürfnisse beider Partner [der Erwachsenen und der Kinder] gleich ernst genommen und nicht mit dem Hinweis auf Geschlecht, Alter oder Behinderung abgetan oder ignoriert. Gleichwürdigkeit wird damit dem fundamentalen Bedürfnis aller Menschen gerecht, gesehen, gehört und als Individuum ernst genommen zu werden.“ (ebd., S. 24) (vgl. Kapitel 3.6).

Das Kind wird nicht als tyrannisches, provokatives, unbändiges, unselbstständiges, unkontrollierbares Wesen wahrgenommen, das gestoppt, gehemmt und erzogen werden muss. Jedes Kind hat verdient, dass Erwachsene sich ihm mit positiver Absicht und mit bedingungsloser Wertschätzung zuwenden. Unter dieser Form der Wertschätzung ist zu verstehen, dass der Erwachsene sich dem Kind gegenüber, unabhängig von seinem Verhalten, zugewandt, bestärkend und positiv verhält. Diese Zuwendung ist nicht an Bedingungen oder Erwartungen geknüpft (vgl. Kohn 2019, S. 18; Weltzien et al. 2016, S. 74f.).

Der Blickwinkel verändert sich, weg von der überholten Annahme, Kinder seien Objekte, in die etwas wie mit einem Trichter eingeführt und denen etwas beigebracht wird, hin zu der Überzeugung, dass sie ihr Leben selbst gestalten wollen und am Lernen interessiert sind.

Welche Haltung Menschen einnehmen, wie sie andere Menschen sehen – ob als kompetent, selbstbestimmt oder als bedürftig und schwach – bestimmt im Wesentlichen, wie sie mit ihnen in Interaktion treten. Gehen Fachkräfte beispielsweise davon aus, dass das Kind das Produkt eigener pädagogischer Bemühungen ist, gehen sie anders auf das Kind ein, als wenn sie davon überzeugt sind, dass Kinder intrinsisch und aus sich selbst heraus lernen (vgl. Kapitel 5). Fachkräfte können es lediglich darin unterstützen und eine anregende Umgebung schaffen. Wenn sie denken, Kinder sind kompetente Wesen, die in einem gewissen Rahmen Gefahren selbst abschätzen können (z.B. auf der Schaukel, auf dem Klettergerüst), gehen sie anders auf Kinder ein, als wenn sie die Haltung haben, auf Kinder muss man immer aufpassen, sie sind selbst nicht dazu in der Lage. Wenn Fachkräfte denken, sie können Kindern nicht vertrauen, sie werden sie hintergehen, werden sie ihnen auch kein Vertrauen schenken können. Wenn sie denken, Kinder werden als Egoisten oder Tyrannen geboren, werden sie ihr Leben lang Tyrannen sehen und versuchen, alles dagegen zu tun, damit sie zutage treten. Wenn Fachkräfte Angst davor haben, dass Kinder sich nicht an Regeln halten können, versuchen sie vielleicht mit machtvollen erzieherischen Methoden, Regeln beizubringen. Wenn Fachkräfte denken, Eltern wollen sie kontrollieren, gehen sie anders auf Eltern zu, als wenn sie davon ausgehen, sie bringen ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse mit in die Einrichtung, die gesehen werden wollen. Diese Beispiele ließen sich unendlich fortsetzen. Es kommt also auf die Haltung der Erwachsenen an, wie sie auf Situationen blicken und letztlich, wie sie daran orientiert handeln. Jede Situation lässt sich in kürzester Zeit mit einer anderen Haltung auch anders bewerten. Die Haltung ist ausschlaggebend dafür, wie Situationen bewertet werden, wie Fachkräfte handeln und ob etwas gedeihen oder nicht gedeihen kann.

Die innere Haltung gegenüber Kindern, Eltern oder den pädagogischen Fachkräften ist von individuellen Erlebnissen, Erfahrungen, der eigenen familiären Sozialisation, Betreuungsbiografie und vom gesellschaftlichen sowie persönlichen Bild vom Kind abhängig (vgl. Nentwig-Gesemann et al. 2012). Auch in welcher Form sich Fachkräfte um sich selbst kümmern, auf sich selbst Acht geben und sich selbst nähren, hat einen großen Einfluss auf eine einfühlsame Haltung gegenüber sich selbst, den Eltern und Kindern (vgl. Kapitel 4).

Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick hat herausgefunden, dass nur 20 Prozent der Kommunikation tatsächlich verbal abläuft und 80 Prozent nonverbal über Gestik, Mimik und Körperhaltung. Das bedeutet, die Haltung gegenüber Kindern drückt sich in Windeseile über nonverbale Zeichen aus. Man kann sie nicht wirklich verstecken. Bereits die Gedanken der Fachkräfte teilen sich unmittelbar mit. Kinder und Eltern nehmen wahr, welche Einstellung Fachkräfte ihnen gegenüber haben, ob sie etwas sagen oder nicht. In der Psychologie wird auch von der vegetativen Resonanz gesprochen. „Kurz gesagt, niemand kann vor jemand anderem in Wirklichkeit verbergen, wie er über ihn denkt und wie er innerlich zu ihm steht. Das vegetative Nervensystem reagiert, wenn mich jemand mit verächtlichen Gedanken betrachtet, auch wenn er dabei grinst und versucht, seine Gedanken hinter einer Maske zu verbergen“ (Köhler 2004, S. 1060).

Die bedürfnisorientierte pädagogische Haltung

In der Bedürfnisorientierung nehmen Erwachsene die Haltung der Achtsamkeit, Gleichwürdigkeit und des gegenseitigen Respekts in ihr Wesen auf. Sie leben durch ihren gesamten Körper ein friedvolles Miteinander, in dem Kinder, Eltern, Kolleginnen und Kollegen als eigenständige Wesen verstanden werden, die darum bemüht sind, sich mit bester Absicht ihre Bedürfnisse zu erfüllen.

Der Kita-Podcast (Folge 40): Bedürfnisorientierte Kinderbetreuung – was ist das genau? mit Kathrin Hohmann.

www.beduerfnisorientierte-kinderbetreuung.de/40-beduerfnisorientiertekinderbetreuung-was-ist-das-genau-ein-gespraech-mit-kathrin-hohmann

1.3 Die Bedürfnisse des Menschen

Um in der Kinderbetreuung bedürfnisorientiert arbeiten zu können, ist es notwendig, sich die Bedürfnisse eines jeden Menschen vor Augen zu führen.

Bedürfnisse

Alle Menschen haben die gleichen menschlichen Bedürfnisse – unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, Kultur oder ihres Alters. Über die Bedürfnisse stehen Menschen miteinander in Verbindung, und sie bilden das Fundament, wie das Leben gestaltet wird. Die eigenen Bedürfnisse geben dem Menschen eine wichtige Kraft, insofern sich der Mensch mit ihr verbindet. Bedürfnisse können erfüllt werden oder bleiben unerfüllt. Über den Ausdruck von Gefühlen werden sie sichtbar. Vordergründig möchten Bedürfnisse gesehen und wahrgenommen werden, die Erfüllung ist nicht das primäre Ziel. Von Geburt an stehen Menschen mit ihren Bedürfnissen in einer natürlichen Verbindung, die von außen beispielsweise über Belohnung oder Bestrafung durch einen Erwachsenen gestört werden kann (vgl. Brazelton & Stanley 2008; Leitner 2020; Maslow 1962; Rosenberg 2016).

Ein Mensch ist dann glücklich und zufrieden, wenn seine Bedürfnisse gesehen werden und ausreichend Befriedigung finden. Menschen, bei denen mehrere wichtige körperliche oder psychische Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, werden hingegen depressiv, unglücklich und verlieren die Freude am Leben. Werden Bedürfnisse jedoch ausreichend erfüllt, spiegelt sich das im Gehirn wieder. Es werden körpereigene Opioide, Dopamin, Serotonin und Oxytocin ausgeschüttet, also glücklich machende Hormone. Dadurch fühlt sich der Mensch wohl. Bei Missachtung von Bedürfnissen kann die Ausschüttung hingegen verhindert werden und der Mensch wird unglücklich (vgl. Hornung 2009).

Es können zwei Bedürfnisbereiche unterschieden werden, die physischen und die psychischen Bedürfnisse.

1.3.1 Physische Bedürfnisse

Jeder Mensch hat die physiologischen Grundbedürfnisse nach Schlaf, Essen, Trinken, auf Toilette gehen, nach Nähe, Distanz, Gesundheit, Luft, Licht, Sexualität und körperlicher Unversehrtheit. Zudem brauchen Menschen die Möglichkeit, sich körperlich zu betätigen, Bewegung, Spannung und die Möglichkeit nach Ruhe und Erholung sowie einen sicheren Rückzugsort (ein Dach über dem Kopf).

Abb. 1: Physische Bedürfnisse

1.3.2 Psychische Bedürfnisse

Zu den psychischen Grundbedürfnisse zählen Bindung, Autonomie, Selbstwerterhaltung, Selbstwerterhöhung, Lustgewinn und Unlustvermeidung (vgl. Grawe 2004). Das Fundament und das wichtigste psychische Grundbedürfnis ist das Bedürfnis nach Bindung, gefolgt vom Bedürfnis nach Autonomie, und nicht zuletzt ist das Bedürfnis nach Selbstwerterhaltung eines der wichtigsten seelischen Bedürfnisse für eine stabile, gesunde Psyche. Darauf soll in diesem Buch der Fokus gelegt werden (vgl. Abb. 2)

Abb. 2: Psychische Bedürfnisse

1.3.3 Das Bedürfnis nach Bindung und Autonomie

In der Bindungstheorie, begründet durch den Psychoanalytiker John Bowlby, wird von dem grundlegenden psychischen Bedürfnis eines Menschen nach Bindung gesprochen. Jeder Mensch hat demzufolge ein angeborenes Bedürfnis nach Kontakt und emotionaler Sicherheit. Das Bindungsbedürfnis erfüllen sich Kinder, indem sie ein emotionales Band zu einer oder mehreren Bindungspersonen aufbauen, die ihnen Schutz, Wärme, Körperkontakt, Nahrung und Trost spenden. Dieses emotionale Band kann mit einem unsichtbaren Gummi verglichen werden, das Kindern eine spürbare Verbindung signalisiert. Je nach Temperament und je älter Kinder werden, umso länger wird dieses Gummiband. Das angeborene Bindungssystem sichert Kindern das Überleben. Besonders in emotional belastenden Situationen nutzen sie ihre Bindungsperson, ihren „sicheren Hafen“, um in stürmischen Zeiten emotional aufzutanken, Stress abzubauen und wieder in ihre emotionale Mitte zu finden. In ähnlicher Weise bauen Kinder auch zu pädagogischen Fachkräften eine Beziehung auf, die „bindungsähnlich“ ist (Hörmann 2014, S. 6). Um ihre Bindungsbeziehung aufrechtzuerhalten, zeigen Kinder Bindungssignale, die darauf aufmerksam machen, welche Bedürfnisse gerade unerfüllt sind. Feinfühlige Bezugspersonen beantworten diese Signale zuverlässig und passend. Im Feinfühligkeitskonzept von Mary Ainsworth (vgl. Ainsworth 1978) und im Konzept der Sensitiven Responsivität von Rempsberger (2011, S. 125) zeigt sich, dass eine Bindungsperson feinfühlig handelt, wenn sie in der Interaktion mit dem Kind:

die

Signale

des Kindes

bemerkt

,

sie richtig

interpretiert

und

angemessen (situationsangemessen und altersangemessen) und prompt auf die Signale des Kindes

reagiert

.

Auf der Grundlage responsiver, feinfühliger Interaktionen kann sich also zwischen Fachkraft und Kind eine sichere, verlässliche Beziehung entwickeln. Wenn hingegen Feinzeichen der Kinder fehlinterpretiert, unpassend oder gar gewaltvoll beantwortet werden, kann sich eine unsichere Bindung entwickeln.

Sichere Bindungen sorgen dafür, dass Stress reguliert und eine gesunde Entwicklung ermöglicht werden kann. Sicher gebunden kommen Kinder stressfreier durch den Alltag, sind „flexibler in ihrer Anpassung, ausdauernder, enthusiastischer und effektiver im Umgang mit Neuem“ (Grossmann & Grossmann 2004, S. 200). Sie entwickeln insgesamt eine höhere Widerstandskraft (Resilienz) (vgl. Wustmann 2004). Dabei spielen die Bindungen der Kinder an ihre Eltern selbstverständlich eine herausragende Rolle. Allerdings können Fachkräfte als sekundäre oder tertiäre Bindungspersonen diese Kompetenzen bei Kindern ebenso mit beeinflussen, indem sie ihnen als wichtige Bindungsperson zur Verfügung stehen, ihre Bedürfnisse ausreichend gut wahrnehmen und erfüllen.

Ob Fachkräfte fähig sind, in Interaktionen feinfühlig zu handeln, hat viel mit ihrer eigenen Biografie zu tun, ihrem eigenen Bindungsstatus (sicher, unsicher, desorganisiert) und ihrer Reflexionskompetenz, sich mit diesen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Wenn Fachkräfte beispielsweise selbst ein inneres Arbeitsmodell einer unsicher vermeidenden Bindung in sich tragen, fällt es ihnen schwerer, mit Gefühlen umzugehen und sie bei Kindern zu regulieren (vgl. Fonagy & Target 2003).

Neben der Bindung, und das wird häufig vergessen, ist die Autonomie der Kinder laut der Bindungstheorie als das zweite wesentliche Grundbedürfnis zu verstehen. Kinder streben zwar nach Bindung, aber ebenso nach Freiheit, Erfahrungen, Lernen, Abgrenzung, Erkundung und Exploration. Sie wollen die Welt kennenlernen, die sie umgibt. Neben einem Bindungssystem trägt jedes Kind also auch ein Explorationssystem in sich. Beide Pole sind gleichwertig zu betrachten und dürfen immer wieder wie auf einer Wippe austariert werden. Wenn einer der beiden Pole aktiv ist, kann der Gegenspieler nicht erfüllt werden.

Abb. 3: Exploration und Bindung

Schwingt die Wippe des Bindungssystems beispielsweise nach oben, kann keine Exploration stattfinden und umgekehrt. So können Kinder erst dann ihrem Spieldrang folgen, wenn sie eine ausreichende emotionale Sicherheit in sich spüren. Das ist besonders gut in Eingewöhnungsprozessen zu beobachten. Solange Eltern als wichtige Bindungspersonen anwesend sind, spielen Kinder meist lieber, als wenn sie sich verabschieden. Sie brauchen dann manchmal mehrere Monate, bis eine solche verlässliche Beziehung zur Fachkraft und eine innere Sicherheit entstanden sind, auf deren Basis sie sich erneut ausgelassen und fröhlich ihrem Autonomiedrang widmen können. Das bedeutet, ein jedes Kind hat einen angeborenen Drang, in die Welt zu gehen, sie zu erfahren und zu erkunden. Dafür müssen Fachkräfte nicht sorgen. Kinder müssen nicht ins Spiel und in die Selbstständigkeit gedrängt werden, sie suchen sie sich selbstständig, wenn sie so weit sind. Als Grundlage dafür benötigen sie jedoch ein inneres Gefühl von Verlässlichkeit und Zuversicht, dass im Notfall jemand für sie da ist. Mit dieser inneren Sicherheit können sie sich nun selbstgesteuert ihr Bedürfnis nach Autonomie erfüllen. Was Fachkräfte tun können, ist, genauso, wie sie die Zeichen nach Bindung wahrnehmen, auch die Zeichen der Autonomie zu verstehen und ihr Raum zu geben. Wenn ein Kind wegkrabbelt oder Nein sagt, gilt es, das als wichtigen Autonomieschritt wahrzunehmen und zu feiern. Fachkräfte sollten Abgrenzungen der Kinder also nicht als Provokation oder gar persönliche Verletzung verstehen, sondern als Teil des Autonomiedrangs, eines wichtigen Bedürfnisses. Wenn Kinder Dinge selbst entscheiden wollen, sollten Fachkräfte Kindern dabei so viel Freiraum wie möglich einräumen. Kinder und Eltern benötigen folglich sowohl das Gefühl der Verbundenheit und emotionalen Sicherheit als auch das Gefühl, autonom zu sein, Dinge selbst entscheiden zu dürfen und einbezogen zu werden.

Die Fachkraft Tim ist gerade dabei, die einjährige Emma einzugewöhnen. Er wendet sich ihr liebevoll zu, bietet viel Körperkontakt an, trägt sie in der Tragehilfe, achtet auf die Gefühle der Kleinen und gibt ihr und ihren Eltern viel Zeit. Er weiß, dass es für das Wohlbefinden des Kindes und der Eltern sehr wichtig ist, dass sie sich untereinander gut kennenlernen und er zu einer wichtigen Bindungsperson für Emma wird. Es ist für ihn selbstverständlich, dass er die Signale von Emma beobachtet, auf sie bestmöglich eingeht, sie tröstet und bei Bedarf trägt. Die Fachkraft Leonie beäugt die Eingewöhnungsform von Tim schon eine Weile mit Skepsis. „Tim bindet sich aber eng an Emma“, denkt Leonie, „das ist nicht gut! Ob das die Eltern so wollen? Er ist doch nicht ihr Papa. Sie gewöhnt sich möglicherweise an die Nähe und dass jemand ständig für sie da ist. Wir können das doch gar nicht leisten, ihr weiterhin das Pensum an Nähe zukommen zu lassen“, zweifelt sie. „Und wenn er sie die ganze Zeit trägt, gewöhnen wir sie nur daran, dann wird sie immer weinen, wenn wir sie absetzen und nie spielen.“ Leonie macht sich viele Sorgen darum, dass Emma ein anhängliches, weinerliches und anstrengendes Kind in der Kinderbetreuung bleiben könnte.

Immer wieder tritt bei Leonie die Sorge auf, dass Tim eine zu enge Bindung an Emma entwickeln könnte. Sie will auf keinen Fall, dass Emma sich an die viele Zuwendungen gewöhnt. Wenn man in die Bindungsforschung schaut und die Praxis beobachtet, wird schnell klar: Diese Sorge ist unbegründet. Jedes Kind sucht in unsicheren, stressigen Momenten Schutz, Wärme, Sicherheit, Nähe, Körperkontakt – also Bindung. Die Wippe steht auf der Seite der Bindung und das Bindungssystem ist hoch aktiv. Wenn sich nach einiger Zeit durch viel Nähe, Körperkontakt und das Tragen jedoch ein sicheres inneres Gefühl beim Kind eingestellt hat, kippt die Wippe automatisch auf die Seite der Exploration und das Kind wird sich selbstständig und ganz von allein seinem Bedürfnis nach Autonomie, Erkundung und Spiel zuwenden. Das geht aber nur, wenn ein stabiles Sicherheitsgefühl entstanden ist und der innere Stress nachlässt.

Das Stress-Regulations-Behältnis

Abb. 4: Das Stress-Regulations-Behältnis

Emotionale und körperliche Nähe durch Fachkräfte tragen dazu bei, dass das innere Nähe-Behältnis des Kindes stets gut gefüllt ist und es somit entspannt durch den Tag kommt. Kinder können durch Körperkontakt und emotionale Nähe Stress abbauen.

Wenn kindlicher Nähebedarf hingegen verwehrt oder nicht bemerkt wird, kommt es dazu, dass Kinder nach und nach die Reserven ihres Nähehaushalts aus dem Behältnis aufbrauchen. Sie werden mit der Zeit immer gestresster und unglücklicher. Kinder benötigen also Fachkräfte, die ihr Nähebedürfnis feinfühlig wahrnehmen.

Wenn Fachkräfte versuchen, Kinder schneller in die Autonomie zu drängen, als ihr Bedürfnis es zulässt, entsteht Bindungsstress, der für die Eingewöhnung, das Sicherheitsempfinden und damit für die gesunde Entwicklung des Kindes nicht zuträglich ist. Die Kinderbetreuung wird für sie dann ein Ort der Unsicherheit und des Stresses bleiben. In den ersten Wochen der Betreuung zeigt sich bei Krippenkindern ein um 75 bis 100 Prozent höherer Cortisolwert im Blut als zu Hause. Und auch nach fünf Monaten in der Betreuung ist der Wert noch um ein Drittel erhöht (vgl. Vermeer, van Ijzendoorn et al. 2006). Auch deshalb fordert die Neurobiologin und Autorin Nicole Strüber hinsichtlich der Kinderbetreuung zurecht: „Bindung rein − Stress raus.“ Bei viel Nähe und Getragenwerden schüttet der Körper das glücklich machende Bindungshormon Oxytocin aus, das dem Stresshormon Cortisol entgegenwirkt. Auch deshalb sind Tragen, Körperkontakt und Nähe für Eingewöhnungskinder und auch noch danach so unglaublich wichtig. Tim hat also alles richtig gemacht.

Die Studie von Vermeer und van Ijzendoorn (2006) ergab auch, dass „[…] das Stressniveau von Kindern mit der Gruppengröße (wenn die Gruppe mehr als 15 Kinder umfasste), dem Alter der Kinder (Kinder unter drei Jahren wiesen den höchsten Cortisolspiegel auf), mit dem Platz, der den Kindern verfügbar war (negativ mit weniger als 5 Quadratmeter pro Kind), und mit der Anzahl der Erwachsenen (Bei mehr als vier Erwachsenen in der Abteilung erhöhte sich das Stressniveau!) zusammenhing“ (Helle & Fløgstad 2020, S. 84f.).

Ein Blick in die Geschichte

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass noch im Jahr 1888 Müttern in dem Buch „The Wife‘s Handbook“ dazu geraten wurde, mit dem Kind auf Distanz zu gehen und es so wenig wie möglich zu berühren. In dieser Zeit starben in den Waisenhäusern unzählige Kinder an Infektionen und Krankheiten. Die Sorge war dementsprechend groß, dass der Kontakt und die Nähe die Säuglinge und Kleinkinder in den Tod treiben könnten. So wurden die Säuglinge förmlich steril abgegrenzt und aufbewahrt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts überließen einige Eltern ihre Säuglinge dem Arzt Couney, der diese in Brutkästen auf Weltausstellungen präsentierte. Dies wurde noch bis in die 30er Jahre durchgeführt. Es glich einem Wunder, dass diese Kinder überlebten. Krankheiten verschwanden langsam und die Impfungen setzten ein. Was aber blieb, war die Überzeugung, dass Säuglinge und Kinder durch die Mutterliebe in Gefahr seien. Im Buch „The Dangers of Too Much Mother Love“ wird betont, dass Kinder, die Liebe und Zuneigung erhalten, zu weinerlichen und unselbstständigen Versagern heranwachsen würden (vgl. Blum 2010, S. 49ff.). Die Kindersterblichkeit in den Krankenhäusern ging allmählich zurück. 1931 beobachtete der Arzt Brennemann, dass Babys, welche von Krankenschwestern gemocht und daher trotz Verbot gestreichelt wurden, besser heranwuchsen.

Ein weiterer Meilenstein in der Psychologie wurde durch Harry Harlow und seinem Doktoranden Abraham Maslow in den 30er Jahren gelegt. Anhand von Affen wurden Untersuchungen durchgeführt. Es konnte nachgewiesen werden, wie bedeutsam die soziale Bindung für die emotionale Entwicklung der Primaten ist. Auch John Bowlby bestärkte diese Erkenntnis. Er vertritt die Auffassung: „Ein Baby braucht jemanden, der zuverlässig und liebevoll ist, damit die Welt stimmt. Das ist das, wovon die Beziehungstheorie letztlich handelt“ (Blum 2010, S. 260). Dieser kleine Rückblick zeigt, dass Bedürfnisorientierung lange Zeit völlig abgelehnt worden ist und sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten als entwicklungsfördernd herausstellte. Viele Menschen der heutigen Erwachsenengenerationen wuchsen in autoritären Elternhäusern auf, wurden in Krippen und Kitas betreut, ohne dass je eine Eingewöhnung stattgefunden hat, und waren möglicherweise als Kleinkinder in Krankenhäusern längere Zeit von den Eltern isoliert. Heute sind viele von diesen Erwachsenen der Meinung, dass aus ihnen „doch auch etwas geworden sei“ und somit schlussfolgern sie leichtfertig, dass ihnen ihre Kindheit nicht geschadet habe. Die Wissenschaft zeigt jedoch, dass Kinder ohne eine sichere Bindung in ihrem weiteren Leben mit psychischen Leiden zu kämpfen haben (vgl. Grossmann & Grossmann 2004). Heutzutage wissen wir es besser und sollten die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.

1.3.4 Das Bedürfnis nach Selbstwerterhaltung

Den Begriff des Selbst entwickelte der US-amerikanische Psychiater und Psychoanalytiker Daniel N. Stern. Die Entwicklung des Selbstbildes folgt seiner Ansicht nach einer Struktur von Erfahrungen, die mit emotionalen Bewertungen verknüpft und als Erinnerungen abgespeichert werden. Treten diese Erfahrungen immer wieder auf, werden sie als Struktur verinnerlicht und bilden das Selbstkonzept eines Menschen (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2009). Erfährt ein Kind beispielsweise immer wieder: „Wenn ich traurig bin, hilft mir jemand“, bewertet es sich selbst als wirksam und fähig, sich zu helfen. Es speichert in seinem Konzept über sich selbst ab: „Ich bin fähig, ich bin gut, ich bin wirksam.“ Erlebt ein Kind: „Wenn ich traurig bin, werde ich allein gelassen“, verinnerlicht es hingegen: „Wenn es mir nicht gut geht, ist niemand für mich da.“ Ein solches Bild über sich selbst entwickeln Kinder bereits im Kindergartenalter. Das bedeutet, schon früh lernen Kinder, wer sie sind, was sie bewirken können, in welchen Momenten sie sich sicher fühlen können, in welchen sie ohnmächtig sind und nicht zuletzt, welchen Wert sie sich selbst geben. Frühe Interaktionen mit wichtigen Bezugspersonen prägen Kinder außerordentlich. Sie lernen dabei, ob sie sich später selbst als wertvoll betrachten können oder nicht. Neben den Eltern haben pädagogische Fachkräfte einen Einfluss auf den Selbstwert und das Selbstbild der Kinder.

Je nachdem, wie mit Kindern gesprochen wird, wie stark sie mit ihren Gefühlen gesehen werden, wie ihre Bedürfnisse erfüllt werden, bilden sie ein positives oder negatives Bild von sich selbst aus. Muss ein Kind sich dauerhaft unterwerfen, werden seine Bedürfnisse nicht erfüllt, seine Grenzen missachtet, lebt es in Angst, ist im Stress und muss immer wieder für sich kämpfen: Es entwickelt eine innere Repräsentation über sich, die negativ ist. Es denkt von sich selbst: „Ich bin nichts wert, ich kann nichts erreichen, ich kann nichts bewirken, ich bin nicht liebenswert.“ Wenn Menschen sich selbst als „schlecht“ einschätzen, führt das nachweislich zu psychischem Leid (vgl. Borg-Laufs 2012, S. 8). Wenn psychische Grundbedürfnisse wie Bindung und die Erhaltung des Selbstwertes bei Kindern nicht ausreichend erfüllt sind, leidet ihre psychische Gesundheit. Das konnte in einer Vergleichsstudie zwischen gesunden und psychisch kranken Kindern festgestellt werden (vgl. Borg-Laufs & Spancken 2010). Erfährt ein Kind hingegen, dass es mit all seinen Gefühlen und Bedürfnissen angenommen ist, dass seine Grenzen geachtet werden und es etwas erreichen kann, entwickelt es ein positives Bild von sich selbst. Es denkt von sich: „Ich bin gut, ich kann etwas erreichen und bewirken. Ich werde geliebt!“ Und nicht zuletzt: „Ich bin wertvoll, nur weil ich so bin, wie ich bin!“ Fühlen Kinder diese beständige Akzeptanz und Geborgenheit, können sie auf dieser Basis ein positives Selbstbild entwickeln und ihren Selbstwert stärken. Dadurch können Kinder eine stabile und gesunde Psyche aufbauen, die sie ein Leben lang trägt. Ein positiver Selbstwert wird neben sicheren Bindungsbeziehungen sowie Selbstwirksamkeitsüberzeugungen als einer der wichtigsten Schutzfaktoren benannt, der Kinder vor Entwicklungsrisiken schützt (vgl. Weltzien et al. 2016, S. 74f.; Wustmann 2004, S.18).