Kinder des Ungehorsams - Asta Scheib - E-Book

Kinder des Ungehorsams E-Book

Asta Scheib

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Beschreibung

Die Macht der Liebe und des Glaubens Als der ehemalige Mönch Martin Luther 1525 die ehemalige Nonne Katharina von Bora heiratet, ist das nicht nur für die Kirche eine ungeheure Provokation, sondern löst selbst bei den Anhängern des Reformators Befremden aus. Doch Martin und Katharina lassen sich nicht beirren. Spannend und mit großem Einfühlungsvermögen erzählt Asta Scheib die bewegte und bewegende Geschichte der Ehe dieser beiden außergewöhnlichen Menschen.

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Seitenzahl: 286

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Asta Scheib

Kinder des Ungehorsams

Die Liebesgeschichte des Martin Luther und der Katharina von Bora

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

1

Katharina, ich habe Angst.«

»Ich auch, Ave.«

In der Zelle ist es ungewöhnlich finster. Diese Osternacht, es ist die Nacht vom 4. auf den 5. April des Jahres 1523, diese Nacht schickt nur wenig Licht durch das kleine, vierteilige Zellenfenster. Es ist kalt. Zu kalt für die Jahreszeit. Ist das die Strafe? Katharina fühlt, wie sich das Zittern ihrer wieder bemächtigen will. »Dort wird Heulen und Zähneklappern sein.« Nur jetzt nicht den Kopf verlieren. Nicht diese Nacht.

»Mir ist kalt«, flüstert Ave.

Katharina rollt sich geräuschlos aus dem Bett. Sie hat es gelernt. Ohne Laut schlüpft sie zu Ave, die ihr das Deckbett öffnet wie eine Kammertür. Die Tür eines Schlupfwinkels. Zärtlich umschlingen sie einander. Wie schon in vielen Nächten vorher. Doch in dieser Nacht tragen sie Schleier, Chorkleid und Gürtel. Bereit zur Flucht.

Ave presst ganz fest Katharinas Hand: »Glaubst du, dass uns der Teufel holen wird?«

Katharina, heftig: »Wenn wir hierbleiben, holt uns der Teufel bestimmt.«

Beide liegen wieder still, lauschen. Seit vier Uhr in der Frühe sind sie wach. Wie jeden Morgen, wenn vom Dachreiter die AveGlocke zum Angelus Domini ruft. Meist noch wie betäubt vom Schlaf huschen sie aus dem Dunkel des Dormitoriums durch die Kreuzgänge zum Gotteshaus. Die Psalmen, Tag um Tag beschworen, gleiten von allein über die Lippen: »Ich darf wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebendigen.«

Die anderen Nonnen sitzen schon im Chor. Im Kerzendämmer der Kirche scheinen sie wie schwarzköpfige Tauben auf- und niederzuschweben. Wie leises Rauschen von Wassern wogt es: »Gott merk auf meine Hilfe, Herr, eile mir zu helfen.«

Das ist Katharinas Tagesbeginn gewesen. Seit fast zwanzig Jahren. Bis zur heutigen Nacht.

»Hilf mir, Herr!« Wieder legt sich die Angst heiß und schwer auf Katharina. Heute noch, gleich, wenn das Zeichen ertönt, wird sie mit Ave und den anderen aus dem Kloster entfliehen. Der Plan, bis ins kleinste Detail festgelegt, erscheint Katharina jetzt wahnwitzig. Todesstrafe steht auf die Entführung und Flucht von Nonnen. Was, wenn Leonhard Koppe den Mut verliert? Er ist Ratsherr und Schösser in Torgau. Ein Steuerbeamter des Kurfürsten, der Ordensfrauen hilft, aus dem Kloster zu entkommen. Wird er sein Wort halten?

»Katharina, hörst du es?«

Ave hat sich aufgerichtet im Bett. Auch Katharina lauscht jetzt angespannt. Ein Käuzchen schreit im Klostergehölz. Das sind sie. Koppe, sein Neffe Leonhard und Wolf Dommitzsch, ebenfalls Ratsherr in Torgau.

»Schnell!« Katharina nimmt Aves Hand.

Beide schleichen aus der Zelle. Da kommen Veronika und Else aus der Nachbarzelle. Schräg gegenüber huschen Magdalene und Laneta schon zur Tür, die zum Garten hinausgeht. Wenn das Dormitorium nicht im Hinterkloster läge, wenn vom Dormitorium nicht eine Tür zum Klostergarten hinausführte, wenn der Klostergarten nicht ans Klosterholz angrenzen würde, wenn, wenn, wenn …

Alle neun sind sie jetzt im Garten, Ave Grosse ist schon drüben im Gehölz, alle rennen und stolpern in ihren weiten schwarzen Chorkleidern die wenigen Meter bis zum Wäldchen. Gott sei Dank. Offenbar hat niemand sie gesehen. Schweigend marschieren sie jetzt, so schnell es eben geht, durch das dichte Gehölz. Es ist finster im Wald. Sie bräuchten eine Fackel. Doch das wäre Aberwitz. Katharina zieht Ave hinter sich her. Sie sucht den Weg durch das dichte Unterholz. Jetzt sind sie schon am Weiher. Die Oberfläche des Wassers glitzert grausilbrig durch die Bäume. Weiter. Sie wissen, dass sie erst in Koppes Planwagen sicher sein können. Jede Sekunde kann im Kloster ihr Verschwinden entdeckt werden. Kann die Glocke läuten, den Torwächter Thalheim alarmieren. Alle würden erwachen. Die Leute im Brauhaus, im Backhaus, im Schlachthaus. Die in der Schmiede und die in der Mühle. Der Vorsteher in der Propstei mit dem Vogt und dem Schreiber. Die beiden Beichtväter – alle würden als Erstes das Wäldchen durchsuchen.

Schneller, noch schneller. Durch die Bäume sieht Katharina das kleine Haus des Holzhackers und Hellenheißers. Er, der mit seinen rußigen Händen die Klosteröfen zum Glühen und Bullern bringt, er würde die anderen irreführen … Sein Haus liegt ruhig im Dunkel. Auf dieser Höhe des Waldes liegt auch das Klostergut mit dem Vorwerk und den sechs kleinen Höfen, die dazugehören. Hier leben die Ackerknechte, die Kuh- und Schweinehirten, die Käsemütter und Mägde, die dem Kloster dienen. Eine große Schafherde gehört dem Kloster und mindestens sechzig Stück Rindvieh. Dreißig Pferde und hundert Schweine. Im Moment sind nur vierzig Schweine da, denn die Schweinepest hat gewütet. Alles, was man im Umkreis des Klosters sieht, gehört den geistlichen Jungfrauen. Der Kranz von Dörfern, Gütern und Vorwerken rund um das Kloster ist der lebensspendende Rahmen. »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« Katharina weiß, dass mit dem Weizen und Roggen, mit der Gerste, den Erbsen und Rüben, dass mit Hanf, Flachs und Hopfen auch viel und immer mehr Bitterkeit und Gift ins Kloster geliefert werden. Die zinspflichtigen Bauern geben die Butter, die Eier, die Hühner und Kapaunen nicht mehr gutwillig ab. Es gibt immer neue Anzeichen für Aufruhr und Hass gegen die Nonnen und die Geistlichkeit.

 

Jetzt, da Katharina atemlos durch den Wald hetzt, jetzt, da sie die Häuser der Bauern still und schutzlos im Dunkel liegen sieht, fällt ihr wieder der Sonnabend im Februar ein. Die Schwestern sitzen im Refektorium. Die Ehrwürdige Mutter teilt die Suppe aus. Alle löffeln schweigend. Da, von der Propstei her kommend, zuerst ein Raunen und Poltern, dann laute grobe Stimmen, grobes Schreien. Alles übertönend der Torsteher Thalheim. »Raus, Pack, raus hier!«

Katharina sieht, wie das Gesicht der Domina für einen Moment starr wird. Dann erhebt sich die Ehrwürdige Mutter. »Bleibt ruhig, Kinder, ich komme gleich zurück.«

Doch da kommen sie schon herein, voran Ulrich Schmid und Hans Galster sowie der bucklige Jobst Weißbrod und Lazarus Ebner. Katharina sieht, dass sie ihre besten Kleider tragen. Und jetzt drängen sich Katharina Ebnerin und Klara, die Hausfrau des Galster, zwischen die drei Männer, die vor der Ehrwürdigen Mutter stehen. Die Stimmen der Frauen zittern von lang aufgestauter Wut und gleichzeitiger Angst: »Lasst uns vom Pachtzins ab, Ehrwürdige Mutter!«

Fast scheint es, als sei die Ebnerin selbst erschrocken über ihren Mut. Doch die Galsterin setzt rasch hinzu: »Wir wollen Euch auch keine Hühner und Hennen und Eier mehr geben.« Die Ebnerin: »Und unsere Männer sollen nicht länger zum Dienst gezwungen werden. Ihr habt uns geschunden und geschabt.«

Jetzt schieben sich die Männer vor die Frauen. Doch ehe sie etwas sagen können, hat die Domina sich wieder gefasst: »Ich habe nicht die Macht, dem Kloster das Seine zu mindern. Es befremdet mich, dass ihr mir das zumutet. Doch – lasst mich sehen, wie es die anderen Klöster jetzt mit ihren Untergebenen machen. Ich habe im Übrigen nicht das Gefühl, als ob ich euch so unerträglich beschwere, dass ihr solchen Aufruhr machen und die anderen auch gegen uns aufwiegeln müsst. Ich bitte, damit aufzuhören, wenn nicht das Kloster und damit wir alle ins Unglück kommen sollen.«

Erst sind die anderen stille. Dann jedoch reden alle durcheinander. Männer und Weiber: Sie reden von Adam und Moses. Davon, dass alle, die sich im Kloster wohl sein lassen, auch arbeiten sollen und nicht nur Bauern. Und dass sie für das Kloster nun nicht mehr den Mist breiten, mähen und schneiden wollen. Dass sie das Korn nicht mehr einfahren und dreschen wollen. Sie wollen für das Klosterbier keinen Hopfen mehr pflücken. Sie wollen nicht mehr Flachs und Hanf raufen und rösten. Sie wollen nicht mehr Kraut stechen und hacken. Sie wollen nicht mehr Holz für die Nonnen schlagen. Nicht mehr den Mühlgraben von Schlamm und Eis frei machen. Nicht mehr die Hunderte von Schafen scheren.

Die Leute reden sich immer mehr in Wut.

Noch bevor die Domina etwas entgegnen kann, baut sich der Torwächter Thalheim zwischen der Ehrwürdigen Mutter und den Bauern auf: »Ich bin ein einfacher Mann und kann nicht einen Buchstaben schreiben. Wie ihr alle. Ich weiß auch nicht viel aus der Bibel zu vermelden. Aber eins will ich euch sagen. Ihr irrt! Es steht geschrieben: Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört.«

Und gemeinsam mit dem inzwischen dazugekommenen Vogt und den Schreibern kann er die Bauern zurückschicken.

Dieses Mal noch gehen sie, zwar scheltend, weg. Doch zu Oculi am 19. März sind sie wieder da. Und am Montag nach Lätare, dem 27. März, kommen sie mit Pferd und Wagen zurück. Sie nehmen das Korn, den Most, das Bier und viel Trockenfleisch mit. Der Hofmeister meldet es zornbebend der Domina. Die Ehrwürdige Mutter kommt aus der Klausur, bedeutet der Priorin und der Subpriorin, sie in den Klosterhof zu begleiten. Katharina, Laneta, Ave und Else laufen hinter den Schwestern her. (In der Aufregung verbietet es ihnen niemand.) Im Klosterhof sind eine Anzahl Bauern mit ihren Weibern dabei, Säcke, Flaschen und Schüsseln wegzutragen. Der Torwächter Thalheim brüllt: »Ihr kommt allesamt an den Galgen, ihr elendes Gesindel! Wartet, bis der Herr Abt davon erfährt und der Kurfürst! Alle werdet ihr hängen!« Da tritt die Galsterin ganz nah vor die Domina. Ihr ausgemergeltes Gesicht ist hochrot. Sie schreit: »Wir wollen nicht mehr jeden Tag Kraut essen! Wir wollen unsere Fische, unsere Hühner und unsere Butter selber haben! Und am Sonntag anstatt Wasser unseren Most, den wir gekeltert haben! Alles gehört uns! Und der Teufel holt nicht uns, sondern Euch! Der Luther hat es gesagt!«

Die Ebnerin schreit womöglich noch lauter: »Wir wollen Herrin sein genau wie Ihr! Und wenn Ihr unsere Männer töten lasst, wollen wir Euch würgen. Geht Ihr doch hinaus auf die Felder und in die Ställe, geht! Zieht unsere kratzigen Joppen an und melkt die Kühe! Wir wollen dafür im Kloster sitzen und beten und warme Pelze tragen! Wir wollen Euch zu den Huren treiben, Eure weißen Kleider wollen wir über Euren Köpfen zusammenbinden! Und dann sollen die Männer über Euch herfallen! Ihr sollt Kinder haben und Wehen gleich uns!«

Wie weiß das Gesicht der Ehrwürdigen Mutter ist. Sie sagt kein Wort. Dreht sich schließlich um und geht. Alle gaffen mit offenen Mäulern der Domina hinterher. Auch die Bauern und ihre Weiber verlassen den Klosterhof.

Die Subpriorin hat rote Flecken am Hals: »Da könnt ihr es sehen, Kinder, das sind die Früchte des Neuen Evangeliums. Niemandem mehr gehorsam sein, sich aufbäumen und empören an allen Orten, sich zusammenrotten, geistliche und weltliche Obrigkeit berauben und erschlagen.«

»Bitte, schweig«, sagt die Mutter Äbtissin.

Nie wird Katharina das weiße Gesicht der Ehrwürdigen Mutter vergessen.

Warum war keine Wut in ihren Augen? Warum hat sie die Bauern nicht verfolgen lassen? Warum hat sie nicht einmal den Abt Peter unterrichtet? Wieder hat Katharina den Gedanken, dass die Domina …

 

Nein, der Gedanke ist absurd. Katharinas eigene Angst, ihre ständigen Selbstzweifel haben ihr diesen Gedanken eingegeben. Wenn die Ehrwürdige Mutter die Flucht ihrer Nonnen entdeckt, wenn sie erkennt, dass neun ihrer Kinder das Gelübde brechen. »Süße Mutter Gottes, hilf!«

Die Mädchen taumeln jetzt endlich aus dem schützenden Wald heraus. Vor ihnen liegt die Straße nach Grimma. Hier soll Leonhard Koppe mit dem Wagen warten. Doch, wo ist er? Alle drängen sich um Katharina, keuchend von der Anstrengung des Marsches, zitternd vor Angst. Was, wenn Koppe nicht kommt? Wenn er im letzten Moment Luthers Bitte doch nicht entspricht? Laneta von Gohlis beginnt laut zu schluchzen. Still. Da sind doch Schritte. Im undeutlichen Licht der Nacht wird die Gestalt eines Mannes sichtbar, der sich bisher im Gebüsch verborgen hielt. »Ich bin Koppe. Im Namen Luthers. Macht rasch.«

Zwei Männer, der junge Koppe und Wolfgang Dommitzsch, führen jetzt vorsichtig einen Planwagen aus dem Dunkel des Waldrandes. Sie helfen den Mädchen hinauf. Auf einer dicken Schicht Stroh, über das Säcke gebreitet sind, drängen sich die völlig Ermatteten und Verängstigten aneinander. Die drei Männer steigen auf den Kutschbock. Sie ziehen die Plane auch vorne fest zusammen.

»Heilige Mutter Maria, danke.«

Sie schluchzen, weinen und beten durcheinander. Dann ist es still. Nur das Ächzen und Ruckeln des Wagens, das Klappern der Hufe. Else von Canitz erbricht.

»Sie kotzt sich den Teufel aus dem Leib«, sagt Ave.

»Keinen Streit jetzt«, fleht Veronika von Zeschau. Alle sind müde, und sie möchten eigentlich nur schlafen. Doch das Rütteln und Holpern ist zu stark. Und auch die Angst.

 

Ostermontag in Torgau.

Ob ich in der Welt ein anderer Mensch werde? Katharina weiß nicht, ob sie diesen Satz geträumt hat. An der Grenze zwischen Schlaf und Erwachen, da, wo Freude, aber auch Angst und Trauer die Seele so heftig erschüttern, dass man Geträumtes und Wirkliches nicht zu trennen vermag, da hat sie das Fegefeuer gesehen. Oder was ist es sonst gewesen?

Katharina kann aus ihrem Traum nicht erwachen. Obwohl sie das will, hält er sie fest. Sie hat von Martin Luther geträumt. Durch die Erzählungen Margaretes und Veronikas, deren Oheim ihn des Öfteren gesehen hat, ist in Katharinas Kopf ein Bild von dem berühmten Reformator entstanden. Sie hat gehört, dass er blitzende Augen haben soll, einen hageren Körper, von Sorgen und Studien erschöpft. Dass er mit seiner scharfen, deutlichen Stimme seine Feinde widerlegt. Sie sagen, er tue das unbesorgter und bissiger, als das für einen Theologen schicklich sei. Sie sieht im Traum Martin Luther zu Pferde über den Friedhof des Klosters reiten. Sein Pferd ist fahl im Nachtlicht, doch es hat reiches Zaumzeug. Luther sprengt über die Grabsteine. Er hat das Schwert gezogen. In seinem Gefolge ein Heer von Toten, die mit ihren Leichentüchern bekleidet sind. Katharina sieht, dass Ave, Veronika, Margarete, Else und die anderen zu den Toten gehören. Sie sind mit Äxten, Sensen und Knüppeln bewaffnet. Ihre Totenköpfe lächeln. Sie selbst, Katharina, trägt eine Lanze. Soldaten und Bauern sind am Wege, sie bitten um Erbarmen. Katharina fühlt noch im Erwachen Angst. Bedeutet der Traum, dass sie alle mit Luther sterben müssen? Unruhig wälzt sich Katharina auf ihrem Strohsack. Die anderen sollen jetzt auch wach werden. Sie hat nicht länger Lust, sich Gedanken zu machen. Wäre sie doch nur mit Ave allein geflüchtet. Jetzt hat sie die anderen am Hals. Katharina vergisst für einen Moment, dass ohne Veronika und Margarete von Zeschau vermutlich alles beim Alten geblieben wäre. Hätte nicht deren Oheim, der Edelmann Wolfgang von Zeschau, immer wieder Luthers Schriften ins Kloster geschmuggelt, woher hätten sie dann die Wahrheit erfahren? Erst letztes Jahr ist er, der Prior des Augustiner-Klosters Grimma, mit einer Anzahl Ordensbrüdern ausgetreten. Er ist jetzt Spitalmeister des Johanniterhospitals zum Heiligen Kreuz in Grimma. Er hat seine Nichten regelmäßig besucht und niemals mit leeren Händen.

Was für ein Tag, als er die erste Flugschrift mitbrachte! Vier Schriften sind es, die Margarete von Zeschau aus der Besucherstube mitbringt. Sie hat die Rollen im weiten Ärmel ihres Kleides mühelos verborgen. Sie sind schon geschickt im Verbergen. Im Suchen nach Verstecken, wo sie mit brennenden Wangen und Ohren lesen: ›Den Sermon von den guten Werken‹. ›An den christlichen Adel deutscher Nation, von des christlichen Standes Besserung‹. ›Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche‹. ›Von der Freiheit eines Christenmenschen …‹

Zu dieser Zeit ist Luther ihnen allen schon vertraut. Er sitzt mit im Chor beim Angelus, er hält die Tischlesung, er lobt Gott in der Non. Alle wissen, dass der Bann des Papstes drohend über Luther hängt. Offiziell darf im Kloster sein Name nicht erwähnt werden. Katharina weiß jedoch, dass die Domina in der Klausur die Schriften Luthers studiert. Und Katharina weiß auch, wo diese Schriften aufbewahrt werden. Jedesmal, wenn die Ehrwürdige Mutter mit der Priorin und der Subpriorin nach Torgau gefahren ist, um mit dem Ratsherrn abzurechnen und für das Kloster einzukaufen, dann hat Katharina mit klopfendem Herzen und hämmernden Schläfen von dem großen Kampf gelesen, den ein Mönch begonnen hat und der sich jetzt mit ungeheurer Gewalt entwickelt. Die höheren Stände und der gemeine Mann haben sich gleichermaßen erhoben, um mit dem Mönch zu streiten.

Martin Luther. Katharina hat viele Bilder von ihm in ihrem Kopf. Sie wandeln sich. Sie kennt aus Luthers Schriften den kleinen Martin, wie er in der Stube seines Elternhauses sitzt und sich mit einer lateinischen Fibel abmüht. Er weiß, dass es gemeine Rutenschläge setzt, wenn er nicht konjugieren kann. Martin fürchtet sich vor der Schule. Er kann seine Gedanken oftmals nicht zusammenhalten. Deklination, Syntax, Metrik, Schläge, Angst, Jammer.

Vater, ich hab Euch lieb. Die Schläge tun weh, Vater. Ich will morgen besser lernen, Vater. Mutter, wird mich der Alb holen, wird er mir das Herz abdrücken? Erzähl mir von den guten Wichtelmännern, Mutter, kann ich auch so ein Tarnkäppchen haben? Dann können mich die bösen Hexen nicht finden und verzaubern, nicht wahr, Mutter, dann können sie mir nichts tun. Mutter, ist es denn wahr, hat die Klara Nutzlin unsere Schwester verhext? Hat sie sich darum zu Tode geschrien? Hat sie den Hagel geschickt und den Kühen die Milch abgesogen? Mutter, kann sie in der Nacht durch die Luft reiten? Mir die Luft abwürgen, Mutter? Katharina weiß, was den kleinen Luther geängstigt hat in den Nächten und an dunklen Tagen. Sie selbst hat mit pochendem Herzen den Schilderungen Schwester Angelas gelauscht, die ihr den Hexenwald in allen Winkeln ausmalte: Da hocken sie am Boden, junge und alte Hexen, mit prallen oder hängenden Brüsten. Sie zerstoßen giftige Kräuter im Mörser, bereiten Zaubertränke, mit denen sie Mensch und Vieh verderben. Mit schauerlichen Gesängen und mit schrillem Gelächter reiten sie nackt durch die Lüfte. Sie holen kleine Mädchen, um sie zu Hexen zu machen und auf ewig der Hölle zu weihen.

Angst, blinder Gehorsam, Strafe. Das ist auch Katharinas Kinderwelt. Sie ist fünf Jahre alt und starrt auf die hölzerne Tür, deren Riegel gerade zugeschoben wird. Sie darf nicht hinaus. Sie will auch nicht. Da draußen hockt die Angst in allen Winkeln. Da ist es dunkel, kalt. Mutter ist nicht mehr da. Ihr faltenreicher Rock raschelt nicht mehr durchs Haus. Ihr Schritt klingt nicht mehr auf den Dielen. Ihre weichen Arme nehmen Katharina nicht mehr auf. Mutter liegt im Vorderhaus. Sie lassen Katharina nicht hinein zu ihr. Seit zwei Tagen nicht mehr. Katharina darf sich wie immer zu den Hühnern in den Hof hocken. Sie hört aber nichts von deren Lärm. Die Sonne zeichnet Schatten auf den Sandboden, doch in Katharina wird es nicht warm. Mutter. Da ist so ein Schweigen im Haus. Dann wieder ein Wispern, das rasch vor Katharina verstummt.

Und jetzt rattert und holpert da draußen der Rollwagen ab. Katharina könnte hochklettern an dem hölzernen Sims, sich hineinhocken in die tiefe Fensternische. Sie könnte hinausschauen. Katharina will es und will es nicht. Sie möchte weinen. Doch da ist ein Stein in ihr. Der liegt oben im Hals und lässt die Tränen nicht hinaus.

Die andere Frau mit den anderen Röcken schläft nun beim Vater. Sie hat keine weichen Arme. Aber harte Hände. Sie kleidet Katharina für die Fahrt an.

»Du wirst ins Kloster reisen«, sagt der Vater. »Das ist ein großes Haus mit vielen Frauen und Mädchen. Und Gott wohnt da.«

Katharina kennt Gott. Manchmal geht er mit seinen großen Stiefeln im Himmel umher, und dann donnert und blitzt es. Katharina hat sich früher davor nicht gefürchtet. Mutters warmer weicher Rücken war die Antwort auf alle Fragen, der Schutz vor aller Furcht.

Katharinas neues Kleid kratzt auf der Haut, der Gürtel drückt. Nur dies Unbehagen spürt sie, als man sie auf den Wagen hebt. Der Vater sitzt stumm, die Frau auch. Katharina müsste dringend auf den Lokus. Die Frau hat sie vor der Abreise daran gemahnt. Jetzt drängt das Wasser in Katharinas Blase, doch sie wird nichts sagen. Ihr ist schwindlig vom Schütteln des Wagens, vom Juckreiz, vom Drang in der Blase. Katharina presst fest die Lippen zusammen. Verstohlen klemmt sie einen Fuß zwischen die Schenkel. Niemand kann es sehen unter dem langen Rock.

Die Kutsche ruckt und rüttelt Katharina in einen Halbschlaf, aus dem sie hochfährt, als es ihr heiß die Beine herunterrinnt. Katharinas Herz klopft, ihr Kopf scheint zu platzen. Sie schaut zum Vater, doch der ist eingenickt, sein Kopf pendelt haltlos hin und her. Aber die Frau. Sie hat es gesehen. Sie schaut Katharina an mit dem Blick, den sie immer hat, wenn der Vater nicht dabei ist. Die Frau schaut und schweigt und hat einen schmalen Mund. Katharina rückt sich in der unangenehmen Nässe zurecht. Sie wird von nun an nicht mehr für die Frau beten. Nie wieder.

 

Über all diesen Erinnerungen ist Katharina noch mal eingeschlafen. Sie hat von ihrer Mutter geträumt, wie es ihr häufig geschieht. Katharina erwacht jedes Mal mit einem starken, schmerzlichsüßen Gefühl der Liebe. Sie ist dann weich und sanft gestimmt … In der Schlafstube ist es inzwischen taghell geworden. Gerade ist die Magd hereingekommen, um den Ofen zu reinigen und neu anzuzünden. Das junge Mädchen trägt über einem derben braunen Hemd eine hellere Schürze. Um den Kopf hat sie ein rotes Tuch gebunden. Jetzt stemmt sie die Fäuste in die Hüften: »Habt Ihr im Kloster auch immer so lange geschlafen?«

Undeutlich vor sich hin schimpfend, macht sie sich am Ofen zu schaffen. Kehrt den Ruß heraus, dass es nur so poltert und staubt.

Alle sind jetzt wach. O Gott, was wird der Tag uns bringen? Else von Canitz jammert vor sich hin. Katharinas weiche Stimmung verfliegt sofort. Der Teufel soll sie alle holen. Alle, außer Ave natürlich.

Die anderen mit ihrem ständigen Geheul, Geplärr und Gezänk sind ihr lästig. Besonders aber Else. Falsch wie die Schlange im Paradies. Ständig von Hysterie heimgesucht. Sie stopft unmäßig viel Essen in sich hinein. Dann speit sie wieder alles aus. So geht das dauernd. Keine will bei ihr schlafen. Else sollte auch nicht mit. Doch sie hat alles belauscht. Katharina sieht Else an. Die unruhigen Augen der Neunzehnjährigen sind jetzt stark gerötet. Ihre Nase auch. Sie ist offenbar erkältet. Katharina selbst fühlt sich ebenfalls fiebrig. Der Lauf durch den Wald gestern, schweißüberströmt hat sie auf dem Wagen gehockt. Die kalte Luft. Katharina hat einen dumpfen, schweren Kopf. Das fehlt gerade noch, dass sie jetzt krank wird! Laneta neben ihr hustet, und Margarete klagt über heftige Halsschmerzen. Der Ratsherr Koppe wird sich bedanken. Neun entlaufene Nonnen in seinem Haus, und alle krank.

»Herzige Osterlämmer seid Ihr.«

Die Magd sagt es im Hinausgehen. Sie gibt die Tür Walpurga, Leonhard Koppes Hausfrau, in die Hand. Walpurga fragt, wie die Jungfrauen geschlafen haben. Und jetzt sollten sie dann zum Frühmahl in die Stube kommen. Walpurga Koppe trägt über einem weißen Hemd ein weichfallendes Überkleid aus feinstem blauen Tuch. Dazu hat sie eine weiße Haube mit Seidenlitzen ziemlich tief in die Stirn gebunden. Sie sitzt am unteren Ende des eichenen Esstisches. Linker Hand verbreitet der dunkelgrüne Kachelofen behagliche Wärme. Er ist sechseckig und hat wunderschön verzierte Reliefkacheln. Katharina lobt die Schönheit des Ofens, und Walpurga Koppe sagt stolz, dass ein berühmter Ofensetzer aus Italien ihn erst vor einem Jahr gebaut habe.

Der Ratsherr Leonhard Koppe ruft zu Tisch. Die Mädchen sehen ihn eigentlich erst jetzt, bei Tageslicht, richtig. Koppe ist ein stämmiger Mann in den Fünfzigern. Sein bartloses Gesicht ist fleischig. Der Mund energisch. Die Kinder und das Gesinde schauen ihm nach den Augen.

Die Kinder drücken sich jetzt leise auf die Sitzbänke. Es ist jedoch ein eher fröhliches Stillesein, Katharina sieht verstohlene Blicke, unterdrücktes Lachen. Koppe gibt das Zeichen zum Tischgebet, das der jüngste Sohn mit angestrengt niedergeschlagenen Augen runterleiert. Katharina spürt plötzlich starken Hunger. Das gewürzte Brot ist gut. Es gibt sogar weiße Semmeln. Dazu Mandelmilch und Milchrahm. Auch Brei von Grieß und Körnermus. Da schreit eins der Kinder auf. Es hat sich einen Zahn ausgebissen. Im Brot war ein Stein. Walpurga Koppe fragt streng die Magd, die am Tisch bedient: »Hast du wieder das Mehl nicht gesiebt? Ich hab dir tausendmal schon gesagt, dass du es dreimal sieben musst, um die Mahlsteine zu entfernen. Du unnützes Ding! Sollen uns allen die Zähne ausfallen?«

»Noch einmal, und du kannst dich packen.« Der Ratsherr beendet mit dieser Drohung den Wutausbruch seiner Frau.

Katharina gönnt der vorlauten Magd von Herzen den Ärger. Zumal auch sie auf einen dicken schwarzen Stein gebissen hat. Glücklicherweise nicht sehr fest. Auch Ave Grosse kaut vorsichtig an einem Bissen und legt dann wortlos ein Steinchen neben ihren Teller.

Nach dem Frühmahl wird es weitergehen nach Wittenberg. Doch, was sollen die Mädchen anziehen? So, in ihrer Ordenstracht, können sie als entlaufene Nonnen unmöglich bleiben. Walpurga Koppe klagt, dass es ihr nicht gelungen sei, Kleider für die Mädchen zu besorgen. Niemand will etwas geben. Sie selbst hat vielleicht für eines der Mädchen ein Gewand, aber das ist auch alles. Also bleiben die weißen Chor-Kleider. Gürtel und Schleier legen alle ab. Komisch genug sehen sie aus mit ihren stoppelig kurzen, filzigen Haaren. Mitleidig sagt Walpurga: »Wollt Ihr den Schleier fürs Erste nicht tragen?«

Die Mädchen schauen auf Katharina. Sie knüllt ihren Schleier, wirft ihn heftig zu Boden. Sie schreit fast: »Dieser Schleier besonderer Heiligkeit steht uns nicht an. Luther hat ihn uns vom Kopf gerissen.«

Alle schweigen. Die Magd kommt und bringt für die Mädchen warme Tücher und Decken. Damit können sie sich notdürftig verhüllen, als sie zur Weiterreise nach Wittenberg wieder auf den Planwagen steigen.

Nahe beim Haus des Koppe liegt die Torgauer Kirche. Gern wäre Katharina hineingegangen, um Gott für die geglückte Flucht zu danken. Doch das ist noch zu gefährlich. Die Torgauer Kirche steht unter dem Patronat des Klosters Marienthron, und noch weiß niemand, ob die Mutter Äbtissin ihre entlaufenen Nonnen nicht verfolgen lässt. So schickt Katharina einen wortlosen Dank zum Gotteshaus. Sie kann nicht wissen, dass sie dort, wo ihr eigentliches Leben beginnt, dreißig Jahre später begraben werden wird.

Als der Planwagen in Wittenberg ankommt, erregt er großes Aufsehen. Gottlob ist der Weg von Torgau nach Wittenberg nicht so weit wie der vom Kloster Marienthron nach Torgau. Trotzdem sind die Mädchen wie zerschlagen. Sie fühlen sich schmutzig. Lanetas und Elses Köpfe sind hochrot vom Streit. Sie haben mal wieder richtiggehend gerauft. Doch jetzt schweigen alle still; schauen beklommen auf die gaffenden Leute, die den Wagen umstehen. Immer mehr kommen hinzu. Studenten in Uniform, den Dolch im Gürtel. Es sind Jungen von höchstens zwölf Jahren und Männer um die vierzig. Drei Doktores im roten Barett beaufsichtigen die Studenten. Marktfrauen lassen ihr Gemüse und die Hühner im Stich und rennen herbei. Die Studenten benutzen die Gelegenheit, sie zu bestehlen. Handwerksburschen kommen und halten Maulaffen feil.

Die Mädchen klopfen sich in tödlicher Verlegenheit das Stroh aus den Röcken.

»He, Ihr, sucht Ihr die Freiheit oder sucht Ihr Freier?«

Einer der Studenten hat es gerufen, und alle lachen.

»Der Luther sagt, die Heiligen Jungfrauen sind in Wahrheit Satansjungfrauen.«

Wieder lachen alle.

Leonhard Koppe, der die Mädchen so rasch es geht zum Haus des Lucas Cranach führt, wird wütend. Er geht auf den Schreier los: »Du bist so dumm und verlogen, dich sollte man an den Bratspieß eines Klosters stecken und dir den Arsch rösten.«

 

Verloren sitzen die Mädchen in der reichgeschnitzten, holzvertäfelten Wohnstube des Lucas Cranach. Seine Frau Barbara eilt mit einer Dienstmagd herbei. Sie reicht den Ankommenden Wasser, Wein und Brot.

Lucas Cranach ist ein hochgewachsener, feingliedriger Mann in den Fünfzigern. Er hat hellgrüne, lebendig glitzernde Augen, die Katharina sofort anrühren. Obwohl sie sich fiebrig und elend fühlt, schaut sie sich den berühmten Maler genau an. Er hat dichtes, braunes Haar, durch das sich helle Fäden ziehen. Über der starken Stirn sind ein paar Fransen abgeschnitten, ansonsten reicht das Haar bis weit über die Ohren. Ein kräftiger Schnauz- und Backenbart sowie starke dunkle Brauen unterstreichen noch sein vitales Aussehen.

Wie beneidet Katharina Cranachs Frau, die mit ruhigen, sicheren Bewegungen die Gäste bewirtet. Barbara Cranach mag etwa fünfunddreißig sein. Sie ist groß und füllig. Vielleicht sogar schwanger? Jedenfalls trägt sie das reichste und schönste Kleid, das Katharina bislang gesehen hat. Es ist dunkelblau. An den Ärmeln und am Saum hat es weiße Spitzen. Dieses Überkleid ist etwa wadenlang und lässt ein Unterhemd aus feinstem hellblauen Tuch sehen, bestickt mit dunklen Sternen. Eine schöne Frau in einem schönen Haus. Ein Mann, der sie um die Schulter nimmt und ins Gespräch einbezieht.

 

Katharina fühlt heißen Neid und kalte Wut. Wie sieht sie selbst dagegen aus. Angespuckt vom Pöbel, ohne Familie, ohne Haus, ohne einen Groschen steht sie da. Es tröstet sie nicht, dass es den anderen ebenso geht. Jede von ihnen hat mündlich oder brieflich die Eltern angefleht, sie um Christi willen aus dem Kloster zu holen. Und wo das nicht anging, solle man ihnen doch wenigstens Geld und Kleidung schicken. Nicht eine der Familien tat dergleichen. Katharina hat die wenigste Hoffnung gehabt. Ihr Vater ist verstorben. Die Stiefmutter daheim ist völlig verarmt, bringt sich und die Söhne (Katharinas Halbbrüder Hans, Klemens und Florian) mehr schlecht als recht durch.

Katharina zieht selbstzerstörerisch immer wieder Bilanz: Was bin ich? Eine entlaufene Nonne (was für viele Leute gleichbedeutend ist mit Hure), eine Adelige ohne Besitz, dazu schon vierundzwanzig Jahre alt. Das hat doch der Teufel gesehen! Katharina möchte sich die Haare einzeln ausraufen, mit den Füßen stampfen, das schöne Geschirr, die böhmischen Gläser vom Tisch fegen – der Teufel soll das Kloster, Wittenberg, die ganze Welt holen. Sie, Katharina, will mit ihm zur Hölle fahren und gegen alle wüten, die sie in diese Lage gebracht haben. Zuerst wird sie die Dämonen auf den Vater hetzen. O du harter, steinerner Vater. Wie unglaublich bist du mit deinem Kind umgegangen. Wie konntest du dein eigen Fleisch und Blut so wegwerfen und es dem Klosterleben überantworten? Ja, wenn es noch so wie früher wäre, als man Kinder liebevoll im Kloster erzog, bis ein guter Mann sie zur Ehe begehrte, ja, dann hätte ich es wohl verstanden, dass du mich ins Kloster gestoßen hast. Aber nichts davon. Du hast meine unmündige Jugend auf ewig an die Kette gelegt. Sag, war es wegen der Ehre? Wegen deiner oder wegen meiner? Es wäre mir eine größere Ehre gewesen, wenn du mir einen Mann gegeben hättest und wäre es auch ein Handwerker gewesen. So gering wolltest du aber nicht geachtet werden, nein! Ach, wie bist du doch dumm. Weißt du nicht, dass das Hineinstoßen ins Kloster erst recht allen Menschen gezeigt hat, wie arm du bist?

Du wolltest mich nicht in einen armen, ehelichen Stand geben, sags doch gleich. Du dachtest, dass dein Kind in seinen Begierden ausbricht und sich mit Schande und Sünde einem Stallknecht oder einem Viehhirten unterwerfe. Ja, wenn es nur so gekommen wäre. Nun ist aber weit Ärgeres geschehen … Und jetzt sage mir du, wem soll ich meine Not klagen? Darf ich meinem Beichtvater trauen? Wirst du jetzt vor Gott verantworten, Vater, dass ich mein Gelübde gebrochen hab? Sag Gott, deine Tochter sei nicht aus Holz oder Eisen. Sag ihm, ich hätte zu den ewigen Messen und Psalmen, zu dem Beichten, Singen und Kasteien keine Lust mehr gehabt. Sag ihm, ich will in die Messe gehen, wenn ich Sehnsucht nach Gott habe. Ich will singen, wenn mein Herz sich zu Gott hebt. Und der Striemen auf meinem Rücken sind auch genug.

Weißt du denn nicht, Vater, wie viel Feindschaft es gibt hinter Klostermauern, wie viel Nachstellung, Verfolgung und Verleumdung? Ich weiß nicht, was du weißt. Ich weiß aber eines, Vater: Wenn ich dich sicher in der Hölle wüsste (und ich wette, du sitzt drinnen), wenn ich es sicher wüsste und ich könnte dich mit einem Ave-Maria herausbitten, Vater, ich wollte dich noch tiefer hineinbeten, weil du mich in diese elenden Verhältnisse gebracht hast.

 

»Um Christi willen, Jungfer, Ihr seid ja krank!« Barbara Cranach ist zu Katharina getreten, fasst ihr ans Handgelenk. »Sie hat hohes Fieber. Sie muss sich hinlegen. Ruft den Doktor Schurf!«

Katharina weiß, das Fieber in ihrer Seele, die Hitze, die aus dem Hass kommt, dies Fieber ist viel gefährlicher und vor allem verwerflicher als Erkältungsfieber. Katharina kann sich bis zur Ohnmacht in Hassgedanken hineinsteigern. Das weiß sie seit ihrem neunten Geburtstag.

Es ist der 29. Januar 1508. Katharina lebt damals noch im Kloster zu Brehna.

Nach der Mittagshore wird die Neunjährige zur Äbtissin gerufen. Katharina sieht die Ehrwürdige Mutter zum ersten Mal in ihren Privaträumen. Da sitzt sie an einem Schraubstock, in den eine kleine Holzfigur eingeklemmt ist. Die Domina hat schon ein Gesicht aus dem Holz herausgemeißelt und arbeitet jetzt am Faltenwurf. Sie wendet sich Katharina zu mit ihrem abwesend freundlichen Lächeln.

»Höre, mein Kind, deine Eltern und ich haben beschlossen, dass du morgen ins Kloster Marienthron nach Nimbschen gebracht wirst.«

Katharina hat nur einen Gedanken, nur eine Frage: »Und Clara?«

Die Äbtissin hebt die Brauen. »Clara? Clara Preußer bleibt. Dr. Johann Preußer hat dem Kloster gerade wieder eine Passionstafel gestiftet.«

Die Ehrwürdige Mutter sagt es mehr zu sich selbst. Sie wendet sich wieder ihrer Schnitzarbeit zu und erläutert Katharina: »Ein Höherer lenkt unsere Wege. Alles kommt von Gott.«

Gott. Clara, Clara, Gott. Warum? Warum? Warum? Katharina begreift nichts, will nichts mehr begreifen, nicht die Ehrwürdige Mutter, nicht Gott. Sie weiß nur: Clara, ihre einzige Freundin in Brehna – sie wird ihr genommen! Katharina will nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen. Sie schreit, schlägt mit dem Kopf gegen die Wand, wirft sich zu Boden und schreit.

Schwestern kommen, nehmen Katharina vom Boden hoch, rennen mit ihr zur Heiltumssäule. (Fast jedes Kloster besitzt eine solche heilkräftige Säule.) Hier sind einige der kostbaren Reliquien des Klosters aufbewahrt: Splitter vom Kreuz Christi und von seiner Dornenkrone. Ein Fetzen von des Heilands Schweißtuch. Haare der Heiligen Jungfrau. Reste ihres Schleiers. Das Heiltum hat schon oft Wunder gewirkt. Kranke gesund gemacht. Eine Bäuerin, die ihren siebenjährigen Sohn im Zorn zum Teufel gewünscht hatte, bringt ihn, der nicht mehr stehen kann, sich brüllend und schäumend windet, eilends hierher. Ein anderes Kind, schrecklich zerrauft und entstellt, vermag als einziges Wort nur mehr »Teufel« zu sagen und wird hier geheilt. Auch Erwachsene, die unter einem Zauberbann stehen, werden hierher gebracht.

Die Schwester Küsterin hat jetzt alle Mühe, die schwere, schreiende Katharina dreimal um die Säule zu tragen. Doch ihr Glaube und die angstvollen Fürbitten der Schwestern, die jeden ihrer Schritte begleiten, machen sie stark. Schon beim zweiten Gang um das Heiltum beruhigt sich Katharina, und nach dem dritten Gang liegt sie erschöpft im Arm der Küsterin. »Dich, Gott, loben wir, dich, Herr, preisen wir.« Die Nonnen singen es in glücklichem Triumph.

 

Es hat geschneit. Alles ist weiß, so weiß. Das Kloster Marienthron hebt sich wie eine Burg aus der stillen und hügeligen Landschaft. Die Straße, die von der Stadt Grimma nach Süden führt, zieht sich von einer schroff abfallenden Höhe bald wieder hinab in sanfte Auen. Im weiten Bogen begrenzen waldige Hügel im Westen und der ruhig dahinströmende Fluss im Osten die Wiesen und Felder, die dem Kloster reichen Ertrag geben.