Kinder verstehen - Herbert Renz-Polster - E-Book
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Herbert Renz-Polster

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Wie Kinder sich entwickeln – die (R)Evolution im Kinderzimmer

Hinter vielen typischen Familienschwierigkeiten stecken keine Erziehungsfehler. Vielmehr passt das evolutionäre Gepäck, mit dem Kinder auf die Welt kommen, nicht mehr zu den veränderten Lebensbedingungen unserer modernen Welt. Mit einem neuen Verständnis für kindliche Entwicklung können wir Wege finden, um den Bedürfnissen von Eltern UND Kindern gerecht zu werden.

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Seitenzahl: 753

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Der Autor

Dr. med. Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und Wissenschaftler. Er gilt als eine der profiliertesten Stimmen in Fragen der kindlichen Entwicklung. Seine Werke »Menschenkinder«, »Kinder verstehen« und »Wie Kinder heute wachsen« sind Bestseller und haben die Erziehungsdebatte in Deutschland nachhaltig beeinflusst. Er ist Vater von vier erwachsenen Kindern, Großvater von drei Enkelkindern und lebt in der Nähe von Ravensburg.

www.kinder-verstehen.de

Das Buch

»Kinder verstehen« liegt nun in komplett überarbeiteter, ergänzter und aktualisierter Fassung vor. Der bewährte Kern ist geblieben:

Den typischen Familienproblemen – Warum schläft das Kind nicht ein? Warum schreit es so oft? Warum isst es so schlecht? – liegen keine Erziehungsfehler zugrunde. Der Blickwinkel der Evolution zeigt vielmehr: Kinder haben gute Gründe für ihr Verhalten. Vieles, was uns »schwierig« erscheint, hat ihnen in der Vergangenheit geholfen, sich im Leben zu behaupten. Hätten Kleinkinder in früheren Jahrhunderten beispielsweise wahllos grüne Blätter in den Mund gesteckt, hätten sie nicht lange überlebt.

Wenn wir wissen, wie Kinder sich von Natur aus entwickeln, können wir auch natürlicher mit ihnen umgehen. Wenn wir den Sinn hinter kindlichem Verhalten verstehen, fällt auch die Erziehung leichter.

Weitere Informationen unterwww.kinder-verstehen.deAuf dieser Webseite finden Sie eine Vielzahl zusätzlicher Informationen:

Interviews mit dem AutorArtikel aus der PresseDownloads zu einzelnen ThemenAktuelles aus dem Blog des Autors auch unter: http://blog.kinder-verstehen.de

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Copyright © 2009, 2022 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Weiss Werkstatt München, nach einer Idee von Griesbeck Design, München

Covermotiv: U1 – Roger Wright / The Image Bank / Getty Images;

U4 – iPortret / stock.adobe.com

Redaktion der Neuausgabe: Imke Oldenburg, Bremen

ISBN 978-3-641-07913-0V007

www.koesel.de

Inhalt

Vorwort

Geleitwort

Einleitung

»Kinder verstehen« – ein Wegweiser vorweg

Eine kleine Bedienungsanleitung

Kapitel 1 Wie Kinder essen lernen

Einblick und Ausblick: Unreife als Vorteil

Kapitel 2 Stillen – die natürlichste Sache der Welt?

Einblick und Ausblick: Konflikte in der Familie – Fehler im Plan der Natur?

Kapitel 3 Beifüttern – die Sicht der Natur

Einblick und Ausblick: Warum Kinder den Teller nicht leer essen

Kapitel 4 Wie Kinder schlafen lernen

Einblick und Ausblick: Warum Schlaf?

Kapitel 5 Gemeinsam schlafen?

Einblick und Ausblick: Fetisch Selbstständigkeit?

Kapitel 6 Gehört Schreien dazu?

Einblick und Ausblick: Können Tränen lügen?

Kapitel 7 Warum Kinder trotzen

Einblick und Ausblick: Bedürfnisse – Richtschnur der Erziehung?

Kapitel 8 Wie Kinder sauber werden

Einblick und Ausblick: Windellos erziehen?

Kapitel 9 Zwischenspiel: Die Evolution verstehen

Kapitel 10 Das neue Bild von Bindung

Einblick und Ausblick: Wozu der Babyspeck?

Kapitel 11 Warum Kinder fremdeln

Einblick und Ausblick: Kinderkrippen – wider die Natur?

Kapitel 12 Kinder transportieren – der Weg von A nach B aus evolutionärer Sicht

Einblick und Ausblick: Kann man Kinder verwöhnen?

Kapitel 13 Wie Kinder zu Persönlichkeiten werden

Einblick und Ausblick: Die Kindergruppe – der natürliche Hort?

Kapitel 14 Kompetent erziehen – warum Liebe nicht ausreicht

Einblick und Ausblick: Das Elternbild der Evolution

Kapitel 15 Förderung aus Sicht der Evolution

Einblick und Ausblick: Angeboren oder anerzogen?

Kapitel 16 Wie Fairness und Moral entstehen

Einblick und Ausblick: Rätsel Kindheit. Wozu müssen wir Kinder sein?

Kapitel 17 Von anderen Kulturen lernen?

Zum Schluss: Natürlich erziehen?

Anhang

Danksagung

Anmerkungen

Bücher zum Thema

Bildnachweis

Stichwortverzeichnis

Für unsere Kinder

Von deinen Kindernlernst du mehr als sie von dir:Sie lernen eine Welt von dir, die nicht mehr ist.Du lernst von ihnen eine, die nun wird und gilt.(Friedrich Rückert, 1788–1866)

Und für das Kind in uns

Vorwort

Seit dieses Buch im Jahr 2009 zum ersten Mal erschien, sind 13 Jahre und elf Neuauflagen ins Land gezogen. Und auch wenn ich mit jeder Auflage die wichtigsten neuen Erkenntnisse einarbeiten konnte, so ist nun doch der Zeitpunkt gekommen, auch Änderungen in etwas größerem Umfang vorzunehmen. Denn die Welt, in der Eltern ihre Kinder großziehen, hat sich in dieser Zeit überraschend stark verändert. Ich lese das etwa aus einer Befragung der Zeitschrift ELTERN ab, nach der heutige Eltern ihren Säuglingen deutlich mehr körperliche Nähe geben – über ein Drittel der Säuglinge schläft heute mit im Elternbett, die Rate hat sich damit innerhalb von 15 Jahren verdreifacht. Dass kleine Kinder auch getragen werden, ist heute Standard. Ebenso verhält es sich mit vielem anderen, was vormals im Leben mit Kindern als »alternativ« galt.

Und doch haben die Eltern weiterhin dieselben Sorgen und Fragen: Wie kann ich mein Kind so begleiten, dass es einmal standfest in einer ungewissen Zukunft steht? Dass seine Augen wach sind und »hell«? Dass seine Persönlichkeit ein gutes Fundament hat?

An diesen Fragen hat sich so wenig geändert wie an den Antworten darauf. Sie weisen auf die Magie der kindlichen Entwicklung, in der Kinder schier unüberwindbar erscheinende Gegensätze verbinden: Einerseits brauchen sie die Nähe ihrer Erwachsenen, ihr Vertrauen und ihre Verlässlichkeit. Ein Menschenkind muss in der warmen Kuhle des Lebens liegen dürfen. Andererseits aber wollen die Kinder sich die Welt erspielen und erschließen, sie wollen sich bewähren in den Dingen, die ihnen selbst bedeutsam sind. Ein enormer Spagat zwischen Bindung und Freiheit!

Die uralte Spur eben, auf der wir Menschen durch die Geschichte gezogen sind. Mich begeistert sie noch immer. Ich hoffe, das ist aus diesem Buch herauszuspüren.

Herbert Renz-Polster

Sommer 2022

Geleitwort

Unsere Kinder betrachten wir als das Resultat einer aufgeklärten Erziehung, wie wir sie in den letzten 200 Jahren seit Jean-Jacques Rousseau anstreben. Wir erziehen die Kinder immer noch nach Erziehungsgrundsätzen, die ihre Wurzeln in der 2000 Jahre alten christlichen Kultur haben. Die Entwicklung und das Verhalten der Kinder sind aber auch Ausdruck der Lebensumstände, wie sie in den vergangenen 100.000 Jahren vorgeherrscht haben. Kurz, die Kinder sind dem Steinzeitalter in ihrer Anlage noch nicht entwachsen. Und so kommt es, dass sie nicht so ganz in unsere moderne Zeit passen. Drei Beispiele:

Nahrung war in den vergangenen 100.000 Jahren Mangelware. Hunger war eine Erfahrung, die praktisch alle Menschen im Verlaufe ihres Lebens irgendwann machen mussten. Wenn sie Gelegenheit hatten, sich ein Fettpolster anzuessen, haben sie es getan – als Reserve für zukünftige schlechte Zeiten. Unsere Kinder futtern wie im Schlaraffenland, was ihnen nicht sonderlich gut bekommt. Manche leiden an Übergewicht und als Erwachsene werden sie davon die vielfältigen negativen Auswirkungen zu spüren bekommen. Mit der Unterstützung von Präventionsprogrammen bemühen wir uns seit Kurzem, in Familie und Schule die Kinder zu einer gesunden Kost zu erziehen.

Bis in die Neuzeit sind die Kinder mehrheitlich in der Natur aufgewachsen. Ihre Entwicklung ist daher an die Erfahrungen angepasst, die sie auf Wiesen, im Wald und in Savannen machen konnten. Nun werden sie in Räume eingesperrt und sollen gefälligst stundenlang ruhig sitzen. Eltern und Lehrer beklagen sich über eine unerträgliche Hyperaktivität und wollen die lebhaften Kinder mit Medikamenten ruhigstellen.

Die Schrift wurde vor etwa 5000 Jahren erfunden. Wenn man das sehr späte Auftreten der Schrift in der Menschheitsgeschichte berücksichtigt, erstaunt es nicht, dass die Lesekompetenz bei den Kindern unterschiedlich ausgebildet ist. Kinder mit einer Leseschwäche sind in ihrer Schulkarriere behindert. Und so schicken wir sie in eine Legasthenietherapie, wo die Schwäche behoben werden soll.

Die Kinder sind nicht genau so, wie wir sie haben möchten. Es gibt daher dringenden Aufklärungsbedarf, den dieses Buch leisten will und auch kann. Ausgangspunkt sind für Herbert Renz-Polster die »Warum«-Fragen. Warum schreien junge Säuglinge? Warum wollen sie nicht alleine schlafen? Warum trotzen sie? Aus seiner evolutionsbiologischen Sicht müssen diese Verhaltensweisen in der Vergangenheit sinnvoll gewesen sein und den Kindern einen Überlebensvorteil gebracht haben. Worin bestand dieser Überlebensvorteil? Und: Besteht er immer noch?

Als Nächstes wendet sich Herbert Renz-Polster den Eltern zu. Er spricht ihre Befürchtungen und Erwartungen an. Viele Eltern sind zutiefst verunsichert. Warum haben sie solche Angst, ihr Kind durch Nähe zu verwöhnen und unselbstständig zu machen? Weshalb löst der Trotzanfall eines Kindes bei manchen Eltern geradezu Panikgefühle aus? Wieso eigentlich sollen Gemüse und Spinat im Besonderen gesund sein?

Schließlich geht es Herbert Renz-Polster um das Auffinden einer Erziehungshaltung, die den Kindern möglichst gerecht wird, aber für die Eltern auch lebbar ist. Wir können nicht mehr zurück in die Steinzeitkultur der Jäger und Sammler. Den Lebens- und Erziehungsstil der letzten Naturvölker können und wollen wir uns auch nicht mehr zu eigen machen. Die Kinder sind andererseits nun einmal so, wie sie die Natur in den vergangenen 100.000 Jahren geschaffen hat. Kompromisse sind daher angesagt. Lösungen zu finden, welche die Bedürfnisse der Kinder und Eltern gleichermaßen berücksichtigen, ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Dieses Buch kann die Eltern unterstützen, indem es ihnen einen erhellenden Blick zurück in vergangene Zeiten eröffnet und ihnen damit zu einem vertieften Verständnis für die Herkunft des Menschen und die Natur des Kindes verhilft.

Remo H. Largo

Und auch wenn diesem Geleitwort nichts hinzuzufügen ist, will ich es doch tun. Remo Largo ist am 11.11.2020 verstorben. Er hat mein Denken über die kindliche Entwicklung geprägt und mich als freundlicher, bescheidener, unglaublich neugieriger Mensch tief beeindruckt. Wie oft wünschte ich, wir könnten weiter reden, diskutieren und die Welt verstehen!

Einleitung

Kinder verhalten sich oft nicht so, wie es ihre Eltern von ihnen erwarten und sich wünschen: Babys weinen ohne Angabe von Gründen, sie haben wochenlang Koliken, und sie wollen partout nicht im eigenen Bettchen schlafen. Kleinkinder essen kein Gemüse, dafür Süßigkeiten ohne Grenzen, sie schlafen schlecht ein und wachen nachts regelmäßig auf. Sie bekommen aus heiterem Himmel Wutanfälle und lassen sich beim Sauberwerden endlos Zeit.

Es hat sich eingebürgert, all das als ein Defizit der Kinder zu sehen: Sie sind eben noch nicht in der Lage, sich verständlich zu machen. Ihre Blasenfunktion ist noch »unreif«. Ihr Gehirn eine Baustelle. Oder sie tragen mit ihrem Verhalten irgendwelche Konflikte aus – mit sich, mit der Mutter oder ihrem Über-Ich. Oder sie sind schlicht und einfach »unerzogen«.

Diesem Buch liegt eine andere Sichtweise zugrunde. Statt nach dem zu suchen, was unseren Kindern fehlt, fragt es nach den Vorteilen, die ein bestimmtes Verhalten bietet. Was bringt es dem Kind, so zu sein, wie es ist – und nicht anders? Also: Was hat das Kind davon, kein Gemüse zu essen? Was hat es davon, den Teller nicht leer zu löffeln? Was hat es vom Trotzen, was von dem Geschrei, wenn es alleine einschlafen soll? Kurz, dieses Buch nimmt an, dass Kinder gute Gründe haben, wenn sie ihre Eltern vor Rätsel stellen.

Entwicklung als Erfolgsprogramm

Aber welche Gründe? Wo haben die Kinder ihr seltsames Verhalten aufgelesen? Die Antwort von »Kinder verstehen«: Sie haben diese Verhaltensweisen im Laufe der Evolution entwickelt, um besser mit ihrer Umwelt zurechtzukommen, in der sie über Hunderttausende von Jahren gelebt haben. Die von Charles Darwin begründete Evolutionstheorie geht ja davon aus, dass alle heutigen Lebewesen deshalb so aussehen, wie sie aussehen, und sich so verhalten, wie sie sich verhalten, weil sie mit diesen Eigenschaften in der Vergangenheit Erfolg hatten.

Und das gilt auch für unsere Kinder. Dass sie in ihrer Entwicklung auf das uns Eltern einschlägig bekannte und oft frustrierende Repertoire setzen, hat einen einfachen Grund: Es hat ihnen im Laufe der menschlichen Geschichte geholfen, für das Leben gerüstet zu sein und sich erfolgreich zu Erwachsenen zu entwickeln!

Dies ermöglicht eine radikal andere Sicht auf die Entwicklung des Kindes: Kindern fehlt es an nichts. Sie mögen unfertige Erwachsene sein – aber sie sind hundertprozentig dafür gerüstet, Kinder zu sein. Wir Eltern sollten ihr Rüstzeug kennenlernen.

Was bringt der Blick zurück?

Man kann nun einwenden: Warum sollen wir in die Zeit vor der Sintflut zurückschauen, um die Erziehungsfragen von heute zu beantworten? Schließlich müssen unsere Kinder nicht mehr durch wilde Wälder ziehen, sondern sich im Internet zurechtfinden. Und überhaupt: Die Anlagen, die unsere Kinder mitbringen, sind doch längst nicht alles – schon ob der kleine Jakob heute mit dem linken oder dem rechten Fuß zuerst aus dem Bettchen steigt, kann ihn zu einem anderen Menschen machen.

Das stimmt. Unsere Anlagen sind nicht unser Schicksal. Für ihre Entwicklung brauchen Kinder weit mehr als nur ihre natürlichen Anlagen.

Aber das ändert nichts daran: Das Erbe der Vergangenheit wirkt weiter und gibt der Entwicklung unserer Kinder einen Rahmen vor – auch heute noch. Kinder sind wirklich »born to be wild«, wie der Untertitel dieses Buches besagt!

Wie mächtig dieser Rahmen ist, kann schon ein kurzer Blick auf die Liegewiese im Freibad verdeutlichen: Die ewig hungrige, auf Vorratsbildung bedachte Fettzelle war ein Erfolgsmodell, als wir Menschen als Jäger und Sammler von der Hand in den Mund leben mussten. In der heutigen Welt jedoch, wo Kinder praktisch neben dem Kühlschrank aufwachsen, ist der Segen zum Fluch geworden. Die Fettzelle hortet für schlechte Zeiten, die nie kommen werden. Ist es, so betrachtet, ein Wunder, wenn unsere Kinder immer dicker werden?

Auch auf anderen Verhaltensweisen lässt sich der Stempel der Vergangenheit leicht entdecken: Kleine Kinder erfüllt die Nacht mit Unbehagen, auch wenn ihre Bettchen längst hinter Sicherheitsglas stehen und die Eltern mit beiden Ohren am Babyphon kleben. Wir fürchten uns weiterhin schrecklich vor Schlangen, obwohl die Gefahr eines Schlangenbisses hierzulande geringer ist als das Risiko, von einem roten Ferrari überfahren zu werden (auf den die wenigsten von uns mit Panik reagieren). Und kleine Kinder schauen vor dem Einschlafen noch immer unter ihren Betten nach, weil dort »Monster« leben könnten – eine Praxis, die bestimmt einmal Sinn machte, als fieses Getier wirklich dazu neigte, sich ins warme Lager einzuschleichen.

Die Entwicklung unserer Kinder – das ist die Kernaussage dieses Buches – wird von Federn angetrieben, die in der Vergangenheit gespannt wurden. Sie richtet sich nicht primär nach den Anforderungen der heutigen Welt – und auch nicht unbedingt nach den Erwartungen, die wir Eltern haben. Kinder kommen vielmehr mit eigenen Erwartungen auf die Welt. Und Eltern und ErzieherInnen tun gut daran, diese körperlichen und seelischen Erwartungen zu kennen. Denn so durchdacht unsere Erziehungsziele und -methoden auch sein mögen – wenn sie nicht zu unserer evolutionären Geschichte passen, können wir uns als Eltern daran nur die Zähne ausbeißen.

Ein neues Rezeptbuch?

Ist dieses Buch also der verloren gegangene Beipackzettel, der dem Paket »Kind« einmal beigelegen hat? Nein. Dass es eine universelle Gebrauchsanleitung für Kinder nicht geben kann, auch davon handelt dieses Buch.

Die folgenden achtzehn Kapitel sind vielmehr aus der Überzeugung geschrieben worden, dass Eltern allein durch das bessere Verständnis ihrer Kinder kompetenter werden:

Wer um diese Vergangenheit weiß, wird die Entwicklung seiner Kinder kompetenter und gelassener begleiten können. Wer erkennt, welchen natürlichen Zielen und Motiven Kinder folgen, wird vielleicht »natürlicher« auf sie eingehen können – und vielleicht auch die vielen pädagogischen Spekulationsblasen unserer Zeit kritischer betrachten. Und wer nicht immer gleich eine Störung oder ein Defizit vermutet, wird öfter auf Stärken stoßen. Genau das wünsche ich meinen Leserinnen und Lesern!

»Kinder verstehen« – ein Wegweiser vorweg

Kinder treten mit einer Geschichte ins Leben – mit einer von der Evolution geschriebenen Geschichte. Wenn wir diese Geschichte kennen, können wir unsere Kinder besser verstehen. Und das hilft in vielerlei Hinsicht.

Gegen die pädagogischen Spekulationsblasen. Es gibt keine Theorie, die ErziehungsexpertInnen nicht schon vollmundig verkündet hätten: dass Kinder durch Körperkontakt verzärtelt werden, dass das Schlafen im Elternbett die Entwicklung des Ichs behindere oder dass die Kinder vom Tragen einen krummen Rücken bekämen. Die evolutionäre Sicht stellt diese Behauptungen auf den Prüfstand der Menschheitsgeschichte: Warum sollen kindliche Erfahrungen und Verhaltensweisen, die jahrtausendelang das Überleben der Kinder gesichert haben, heute auf einmal eine »Störung« oder gar ein Entwicklungshemmnis sein?

Mehr dazu lesen Sie in

Kapitel 5, 5 Einblick & Ausblick (E&A), 12 E&A

Die kindliche Entwicklung braucht artgerechte Bedingungen. Säuglinge hierzulande hinken in ihrer motorischen Entwicklung den Säuglingen in traditionellen Gesellschaften um etwa einen Monat hinterher. Vielleicht ist der Grund der: Viele moderne Babys liegen ausgiebig in ihrem Bettchen oder sie werden liegend durch die Landschaft geschoben. Sie werden damit vielleicht Experten im In-den-Himmel-Schauen, aber womöglich liegt ihnen eher das Leben in körperlicher Nähe zu Erwachsenen im Blut?

Kapitel 2, 4, 5, 9, 12, 15

Nicht die Eltern, sondern unsere Gesellschaft braucht einen Elternführerschein. Kinder haben ihre Spielflächen verloren. Zuerst den Wald, dann die Wiesen, die Höfe, dann die Hinterhöfe, nun auch die Straßen. Und damit haben sie auch Entwicklungsraum eingebüßt, den die besten Spielplätze nicht wettmachen können (auf denen die Elterndichte oft größer ist als die Kinderdichte). Und nach den verkürzten Spieljahren geht es ab in eine Schule, die nicht der Entwicklung der Kinder dient, sondern der Vermittlung eines Curriculums. Nur, was nutzen einem drei Fremdsprachen, wenn man mit sich selbst nicht klarkommt?

Kapitel 14, 15

Kinder brauchen Kinder – auch in der Erziehung. Betrachtet man die Kindheit aus evolutionärer Sicht, so spielen Eltern eine wichtige, aber keine alles bestimmende Rolle. Kinder müssen später einmal mit ihren gleichaltrigen Kameraden zurechtkommen, nicht mit Mama und Papa. Deshalb schauen sie sich so hartnäckig bei anderen Kindern um (vor allem im Jugendalter). Darin, dass sich Kinder einen eigenen Reim auf das Leben machen müssen, liegt aber auch eine Hoffnung. Denn evolutionär gedacht sind wir Erwachsenen derzeit nicht sonderlich erfolgreich – wenn nicht alle Zeichen trügen, sind wir dabei, unsere Lebensgrundlagen unwiederbringlich zu zerstören. Da wäre eigentlich nur zu hoffen, dass unsere Kinder eben nicht in unsere Fußstapfen treten, oder?

Kapitel 10, 13, 15 E&A, 16 E&A

Es ist an der Zeit, das Dorf für Kinder fit zu machen. Menschenkinder sind nach Einschätzung der Verhaltensforschung der »teuerste« Nachwuchs im Tierreich überhaupt. Zu allen Zeiten war es deshalb das »Dorf«, das mithelfen musste (und nebenbei den gestressten Eltern Asyl und Ausgleich bot). Da ist es heute höchste Zeit für eine kritische Dorfbesichtigung: Wo sind denn die guten Kinderkrippen, wo die vielen Paten (immerhin kommen heute auf jedes Kind von 3 bis 9 Jahren statistisch gesehen etwa 15 Erwachsene), wo die Geburtsvorbereitungskurse, in denen man nicht nur das Hecheln, sondern auch etwas über das Leben mit einem Baby lernt?

Kapitel 11 E&A, 14, 14 E&A

Ist Erziehung vielleicht eine Art kultureller Mode? Hierzulande folgen sehr viele Eltern einem Beikost-Fahrplan, den schon unsere Großeltern kannten. Zentrale Annahme dabei: Beikost ist Breikost. Kurze Frage: WARUM? Wenn es wirklich den einen Beikost-Fahrplan gäbe, wäre die Menschheit schon längst ausgestorben. Könnte vieles von dem, was wir als richtig für unsere Kinder sehen, vielleicht ähnlich gut begründbar sein wie die teils noch immer unumstößliche Überzeugung, dass bei Frauen die Achselhaare rasiert gehören?

Kapitel 2, 3, 17, 18

Eine kleine Bedienungsanleitung

Die hier behandelten Themen brennen sowohl Eltern als auch Erziehenden unter den Nägeln. Ein Teil davon ist eher praktischer Natur – diese Themen begegnen uns Tag für Tag im Erziehungsalltag: das Stillen, das Beifüttern, das Schlafen, das Trotzen, usw. Diese, an einem unmittelbaren Brennpunkt der Entwicklung ansetzenden Themen bilden den Anfangsteil eines jeden Kapitels.

Davon abgesetzt enthält jedes Kapitel einen – meist kürzeren – zweiten Teil Einblick und Ausblick. Diese Abschnitte greifen einzelne Motive aus dem Anfangsteil des jeweiligen Kapitels auf und beleuchten deren Hintergrund. Diese eher erklärenden Teile geben einen Einblick in spannende Theorien oder führen durch kontroverse Diskussionen. Oder sie geben Anregungen zum Weiterdenken – einen Ausblick eben.

Dieses Buch verarbeitet Fakten aus Dutzenden von Büchern und Hunderten von wissenschaftlichen Artikeln – und soll sich trotzdem wie eine packende Geschichte über die Entwicklung unserer Kinder lesen. Damit der rote Faden nicht ausfranst, sind manche Details aus den Kapiteln ausgelagert:

Auf ergänzende Inhalte wird in grünen Zahlen verwiesen (etwa so1).Diese Anmerkungen sind am Ende des Buches zu finden. Auch wenn ich Ihnen das Blättern gerne erspart hätte, es lohnt sich!Manche weiterführenden Inhalte sind eher für die interessant, die sich noch tiefer in das Thema einarbeiten wollen. Auf diese, oft eher wissenschaftlich orientierten Inhalte wird in grauen Zahlen verwiesen (etwa so1) – sie sind auf der das Buch begleitenden Internetseite www.kinder-verstehen.de/kv_anmerkungen.html zu finden.Auf dieser Webseite finden Sie auch die wichtigsten Literaturquellen, also Hinweise auf wissenschaftliche Fachartikel oder Buchbeiträge, auf die sich die jeweiligen Aussagen stützen.

Ein Wort zur begleitenden Webseite: Bücher stoßen Diskussionen an. Sie machen Appetit aufs Weiterlesen und sie geben dem Leser das Faktenwissen, um aktuelle Diskussionen zu verfolgen. Dies – und vieles mehr – will www.kinder-verstehen.de bieten. Besuchen Sie die Seite, verfolgen Sie, was sich rund um das Thema kindliche Entwicklung tut. Und schicken Sie mir eine E-Mail, wenn Sie Anregungen, Fragen oder Kritik haben:

[email protected]

Kapitel 1 Wie Kinder essen lernen

In einem sind sich Eltern einig: Wenn es ums Essen geht, sind kleine Kinder komplett unvernünftig. Sie bevorzugen ungesunde Nahrungsmittel, von Schokoriegel bis Pommes frites. Und um Gemüse und Obst, ja, selbst um die Soße zu den Spaghetti machen sie einen verdammt großen Bogen.

Vom Standpunkt der Evolution aus betrachtet ist das ein ziemlich auffälliges Verhalten. Denn Essen war über 99 Prozent der menschlichen Geschichte nicht gerade im Überfluss vorhanden. Kinder sollten eigentlich das essen, was ihnen vor den Mund gehalten wird, oder?

Dieses Kapitel gibt eine klare Antwort auf diese Frage, und sie heißt: Nein. Die geschmacklichen Eskapaden sind von der Natur vorgesehen! Aber was steckt dahinter? Warum mögen kleine Kinder keinen Brokkoli? Wie entwickeln sich die kindlichen Geschmacksvorlieben? Warum finden südamerikanische Eingeborenenkinder gebratene Vogelspinnen oder Erdmaden lecker, bayerische Kinder dafür Weißwürste und Knödel? Und wodurch lernen sie schließlich doch, dass Gemüse sie nicht umbringt und vielleicht sogar lecker schmeckt?

Warum kleine Kinder keinen Brokkoli mögen

Auf den Tierbildern in den Kinderzimmern sieht man den Panda immer mit dem gleichen Essen: Bambus. Das hat einen Grund – der Pandabär isst nämlich nur Bambus. Diese Vorliebe ist Teil seines angeborenen, instinktiven Verhaltens.

Ganz anders der Mensch. Er kann im Gegensatz zu allen anderen Säugetieren in praktisch allen Klimazonen (neuerdings sogar in einer kleinen Weltraumstation) leben. Egal ob in der gemüsefreien Arktis oder in den vitaminreichen Tropen, er kommt mit den vor Ort verfügbaren Nahrungsquellen zurecht. Von allen Tierarten kommt er damit einem »Allesfresser« am nächsten. Von Getreide, Früchten, Pilzen über Nüsse, Meeresfrüchte und Wurzelknollen, von Gemüse, Insekten, Fischen und anderem Getier bis hin zur abgepackten Suppe oder Formeldiät: Der Mensch isst alles – ja, sogar Bambussprossen!

Das macht ihn zwar weitaus unabhängiger als den Pandabären, der nicht ohne Grund am Aussterben ist. Doch einen Nachteil hat die Freiheit: Die Essensvorlieben können nicht als Instinkte fest in den Menschen einprogrammiert sein. Und damit stellt sich dem Menschen, im Gegensatz zum Panda, das Problem der Auswahl.

Denn eingestreut in das tausendfache Angebot sind viele unverträgliche oder sogar tödlich giftige »Nahrungs«mittel – und sie können sich so ähnlich sehen wie eine Heidelbeere und eine Tollkirsche.

Irgendwann am Anfang des Lebens muss Homo sapiens also lernen, sich einen Reim auf dem vorgefundenen Angebot zu machen. Er muss lernen, das zu mögen, was ihm bekommt – ob gegrillte Vogelspinnen oder Fruchtzwerge. Und er muss lernen, das zu meiden, was ihm schaden könnte.

Aber wie löst er dieses Dilemma des Generalisten, wie ErnährungswissenschaftlerInnen es nennen? Nach welchen Regeln lernt er, die »richtigen« Nahrungsmittel zu mögen und die anderen zielsicher abzulehnen?

Angeborene Vorlieben

Der Mensch hat zwar keine genaue Beschreibung der ihm bekömmlichen Fressalien mit auf den Weg bekommen wie etwa der Pandabär, einen groben Kompass aber hat er immerhin, mit dem er das Nahrungsangebot beurteilt – und der gilt für alle, ob Inuit oder Raumfahrer.

Da wäre als Erstes der Geschmackssinn. Über »Antennen« an den Geschmacksknospen der Zunge beurteilt der Mensch die Nahrung nach den Qualitäten süß, sauer, salzig, bitter und umami. (Die letztere Geschmacksqualität wurde erst im Jahr 2002 entdeckt und zeigt die Aminosäure Glutamat an, welche dem Körper besonders eiweißreiche Nahrung signalisiert – das japanische Wort steht in etwa für »fleischig«).

Während die Wahrnehmung von »süß« hilft, reife und damit möglichst kohlenhydratreiche Früchte zu erkennen,1 steht »sauer« für unreif, d. h. kalorisch minderwertig oder auch für »möglicherweise verdorben«. »Bitter« weist ebenfalls auf potenziell ungünstige Nahrung hin, denn Bitterstoffe kommen besonders in verdorbenen oder sogar giftigen Nahrungsquellen vor.2 Pflanzen haben Bitterstoffe nämlich entwickelt, um sich und ihre Früchte gegen Fressfeinde zu schützen. Bitterstoffe wirken zum Beispiel lähmend auf Insekten und ziehen sie so aus dem Verkehr. Da wundert nicht, dass viele Gemüsearten erst durch Züchtung überhaupt genießbar geworden sind! Tatsächlich sind die süßen, saftigen Möhren und die leckeren Brokkoli, die wir unseren Kindern heute auf den Teller schaufeln, alles andere als ursprüngliche Gemüsesorten. Sie sind die Resultate jahrhundertelanger Züchtungen, die systematisch Gerb- und Bitterstoffe aus den Pflanzen entfernt haben.1

Und »fett«? Für Fett gibt es keine eigenen Geschmacksantennen auf der Zunge.3 Dennoch werden fettreiche Nahrungsmittel schon ab der Säuglingszeit bevorzugt. Fett verstärkt nämlich die positiven Geschmacksqualitäten – das Essen schmeckt süßer und würziger.

Fassen wir zusammen. Kinder bewerten das Nahrungsangebot nach dessen Sicherheit und nach dessen Überlebenswert: Süßes, Eiweißhaltiges und Fettes weist auf problemfreie, energiereiche »Überlebensnahrung« und wird deshalb bevorzugt. Bitteres und Saures dagegen wird kritisch gewertet – schließlich steht es für wenig Nahrhaftes, möglicherweise Verdorbenes oder sogar Giftiges. Das führt uns zu einer erstaunlichen Erkenntnis: Dass Kinder Nutella und Pommes frites gegenüber Selleriestängeln und Spinat bevorzugen, hat einen sinnvollen Hintergrund. Wer Kalorienbomben bevorzugte, kam besser über die nächste Notzeit. Und auch der kritische Blick auf das Gemüse hat sich nicht aus Trotz gegen die Eltern entwickelt, sondern als Vorsichtsmaßnahme in einer mit giftigen Pflanzen beladenen Umwelt!

Der Garcia-Effekt

Neben dem Geschmackssinn gibt es noch weitere Leitplanken, die alle Menschen zu einem sicheren Essen führen. Etwa der sogenannte Garcia-Effekt: Hat ein Nahrungsmittel einmal Übelkeit oder Erbrechen ausgelöst – und sich so als potenziell giftig erwiesen –, so wird es langfristig abgelehnt. Eine einzige schlechte Erfahrung reicht dabei aus, um das jeweilige Nahrungsmittel jahrelang zu meiden – zumindest bei Kindern.

Die Angst vor Neuem

Und da ist ein dritter Einfluss, der die Nahrungsvorlieben aller Kinder rund um den Globus prägt – und der Eltern recht verlässlich zur Verzweiflung treibt: das Meiden bisher unbekannter Nahrungsmittel. Viele Eltern kennen dieses auch als Neophobie (Angst vor Neuem) bezeichnete Phänomen nur allzu gut. Solange Marie ein Baby war, ließ sich stolz berichten, wie viele Nahrungsmittel sie ausprobierte: Pesto, Olivenstückchen, Tomatensoße … Als Kleinkind ist dasselbe Wesen kaum wiederzuerkennen: Wehe, man bringt auch nur ein Gemüsemolekül in die Nähe der Nudeln! Dass das Meiden neuer Nahrungsmittel tatsächlich einer Art Angst entspricht, zeigt auch die Tatsache, dass gerade ängstliche und schüchterne Kinder am stärksten betroffen sind!4

Die Neophobie folgt einem bei allen Kindern in etwa gleichen zeitlichen Verlauf: Zwischen vier und sechs Monaten ist sie am geringsten ausgeprägt – die meisten Säuglinge probieren in diesem Alter praktisch alles, was ihnen angeboten wird.5 Ab etwa dem 18. Monat verengt sich der Auswahlhorizont allmählich, der Blick wird immer kritischer, der Mund öffnet sich immer zögerlicher. Im späten Kleinkind- und Kindergartenalter hat die Skepsis gegenüber Neuem ihr Maximum erreicht: Kinder sind dann wirklich schlechte Esser und lehnen neue, geschmacklich komplexe oder eventuell bitter schmeckende Nahrungsmittel oft komplett ab. Erst zwischen acht und zwölf Jahren weitet sich der Wahlhorizont wieder, Kinder beginnen jetzt mit vorher undenkbaren Nahrungsmitteln wie Pilzen, stärkeren Käsesorten und auch Gemüse wie Brokkoli zu experimentieren.

Auf der Hitliste der kindlichen Ablehnung stehen Kohlgewächse wie Rosenkohl übrigens ganz oben – und das nicht ohne Grund. Diese Gemüsesorten sind schwefelhaltige Senfgewächse, die kleinen Kindern nicht selten Bauchweh machen.

Sinnvoller Verlauf

Der zeitliche Verlauf der Neophobie erklärt sich evolutionsbiologisch so: Während das Kind gestillt wird und in unmittelbarer Nähe der Mutter lebt, soll sein Geschmackshorizont noch breit sein – schließlich sorgt die Mutter (oder andere vernünftige Erwachsene) dafür, dass das, was das Kind zu essen bekommt, auch sicher ist. Ganz anders, wenn das Kind die Umwelt auf eigenen Beinen erforschen kann. Was ab jetzt in den Mund kommt, unterliegt nicht mehr der Kontrolle der Eltern. Anstelle der Eltern sichert nun die natürliche Verengung des Wahl- und Geschmackshorizonts das Überleben. Alles, was unbekannt ist, wird hartnäckig gemieden – insbesondere, wenn es dazu noch grün ist oder bitter schmeckt. Erst wenn die kindlichen Organe reifer (d. h. weniger anfällig gegenüber Giftstoffen) sind und wenn die Nahrungsauswahl durch soziales Lernen abgesichert ist, kann sich der Geschmacks- und Wahlhorizont wieder öffnen.6

Soziales Lernen

So viel zu dem Kompass, der unsere Kinder zumindest einmal in die richtige Richtung weist und ihnen hilft, unbedenkliche Nahrungsquellen zu bevorzugen. Aber was genau landet langfristig auf ihrem Speiseplan? Wie gewöhnen sich Kinder an das Angebot vor Ort?

Die Antwort heißt: durch Vorbilder und durch Gewöhnung. So zeigen Experimente, dass kleine Kinder, die ein Nahrungsmittel zunächst ablehnen, dieses doch annehmen, wenn es ihnen an aufeinanderfolgenden Tagen noch etwa zehn weitere Male angeboten wird.7 Kinder essen also bestimmte Nahrungsmittel nicht deshalb, weil sie ihnen schmecken, sondern sie schmecken ihnen, weil sie immer wieder davon essen!

Dabei nähern sich Kinder dem neuen Nahrungsmittel in vorsichtigen Schritten. Wenn sie probieren, dann zuerst nur ganz wenig. (Dem Prinzip der vornehmen Zurückhaltung folgen auch andere Säugetiere: Ratten etwa nagen von ungewohnten Nahrungsquellen nur kleine Stückchen ab. Wenn ihnen dann nicht schlecht wird, essen sie mehr.)

Auch hat sich gezeigt, wie wichtig Vorbilder bei der Entwicklung des kindlichen Geschmacks sind. Das Kind am Tisch greift oft spontan nach dem, was sich Mutter oder Vater in den Mund stecken wollen. Studien bestätigen das: Ein- bis Vierjährige probieren ein neues Nahrungsmittel doppelt so häufig, wenn ein freundlicher Erwachsener davon zuerst nimmt! Und auch wenn sie sehen, dass andere, vor allem Geschwister, das Essen mögen, greifen sie eher zu.8

Darüber hinaus beschleunigt lustvolles Spielen die Gewöhnung. Wie Experimente zeigen, wird Nahrung besser akzeptiert, wenn Kinder die nicht gerade geförderten Verhaltensweisen wie In-den-Mund-Stecken, Ablutschen und Wegwerfen zeigen dürfen – auch das taktile Erleben scheint zum »Kennenlernen« von Nahrungsmitteln zu gehören.9

Geschmacksprogrammierung

Aber auch frühe Geruchs- und Geschmackserfahrungen sind für das spätere Essverhalten entscheidend. Tierforscher wissen das schon lange: Werden trächtige Kaninchen mit Wacholderbeeren gefüttert, so ziehen die Kaninchen aus diesem Wurf später Wacholderwiesen vor!10

Auch bei der Ausbildung von Nahrungsvorlieben beim Menschen spielt die vorgeburtliche Prägung eine wichtige Rolle. In Experimenten, in denen Spuren von Knoblauch, Vanille, Anis oder Karottensaft in das Fruchtwasser eingebracht wurden, bevorzugten die neugeborenen Babys nach der Geburt genau diese Geschmacksvarianten.11

Und auch die geschmackliche Zusammensetzung der Muttermilch – und damit das, was die stillende Mutter isst – prägt das Baby. Bei der Beifütterung bevorzugt es solche Geschmacksvarianten, die ihm von der Brusternährung bereits bekannt sind.12 Stillen ist also tatsächlich ein »Probelauf durch die Regale des Supermarkts«, wie die Neurobiologin Lise Eliot einmal sagte.

Genauso wie Muttermilch kann auch Kunstmilch geschmacklich prägen. Kinder, die als Säuglinge die für ihren säuerlichen Geschmack bekannten hydrolysierten Säuglingsnahrungen (HA-Nahrung) bekamen, bevorzugen in Experimenten später die sauersten Fruchtsäfte; die mit Sojamilch Aufgewachsenen dagegen einen mit bitteren Geschmacksstoffen angereicherten Apfelsaft. Sojamilch-Trinker sind als Kleinkinder übrigens auch stärker an Brokkoli interessiert als die mit Formelmilch auf Kuhmilchbasis ernährten Gleichaltrigen.13

Dabei scheint es für die geschmackliche Prägung eine – womöglich je nach Nahrungsmittel unterschiedliche – sensible Phase zu geben. Hydrolisierte Säuglingsnahrungen etwa lassen sich in den ersten vier Monaten recht einfach einführen, danach werden Hydrolysatnahrungen von Kindern praktisch nicht mehr akzeptiert.

»Supertaster«

In welcher Geschmackswelt Kinder letzten Endes landen, folgt aber auch erblichen Einflüssen: Rund ein Viertel der Mitteleuropäer sind sogenannte Supertaster – sie haben besonders viele Geschmacksrezeptoren für Bitterstoffe auf der Zunge. Bitteres schmeckt für sie also noch bitterer! Manches Kind, das »besonders schlecht isst«, dürfte zu dieser Gruppe gehören. Andererseits können sie auch feinere Unterschiede in der Welt des Bitteren erkennen. Das könnte erklären, warum Supertaster im Erwachsenenalter häufiger unter den Starköchen zu finden sind. Supertaster verfügen zudem über ein sehr empfindliches Mundgefühl – sie empfinden etwa sehr fette Nahrung als unangenehm.14 Kein Wunder, dass Supertaster (zu denen übrigens überdurchschnittlich viele Asiaten zählen) im Durchschnitt schlanker sind – ihr Body Mass Index liegt im Erwachsenenalter im Schnitt bei nur 23,5 (verglichen mit 25,3 bei der übrigen Bevölkerung).

Auch die Vorliebe für eiweißreiche Nahrung hat eine erbliche Komponente. Der »süße Zahn« dagegen scheint entgegen der Annahmen vieler Eltern nur wenig von den elterlichen Anlagen abhängig zu sein.15

Ekelhaft!

Um die Umwelt nach ihren Chancen und Risiken zu bewerten, braucht das Kind aber noch ein weiteres, recht eigensinniges Abneigungsprogramm – das Ekelgefühl.

Babys und Kleinkinder spielen interessiert mit Dingen, die einen Erwachsenen zum Würgen bringen: Rotz, Erbrochenes und Schleim jeder Art sind für Babys keinesfalls »igitt« – und Stuhlgang schon gar nicht. Erst mit dem vollendeten dritten Lebensjahr beginnen Kinder angenehme Gerüche von unangenehmen zu unterscheiden – das Ekelgefühl setzt ein. Etwa mit der Einschulung sind die Kleinen von den Geruchsvorlieben und -abneigungen mit Erwachsenen vergleichbar und beziehen Ekel auch auf Nahrungsmittel.16 Rund um die Erde empfinden Kinder jetzt die gleichen Sachen als »ekelig«, egal ob sie von einem Feinkoch erzogen werden oder von einem Holzfäller.

Der evolutionäre »Sinn« von Ekel ist leicht zu verstehen: Ekelgefühle schützen vor der Aufnahme von verdorbener oder mit Krankheitserregern belasteter Nahrung. Aber warum empfinden Kinder dann in den ersten paar Lebensjahren keinen Ekel? Vielleicht weil sie über die Muttermilch noch einen besonders guten Immunschutz haben? Vielleicht auch, weil Ekelgefühle vorher gar keinen Sinn ergeben würden. Daran, dass sie noch »undicht« sind und immer wieder mit ihren Ausscheidungen in Berührung kommen, können kleine Kinder nun einmal nichts ändern. Auch dass beim Rülpsen immer wieder Land mitkommt, ist eine unabänderliche Tatsache des Babylebens – es wäre wenig hilfreich, da beständig Ekel zu empfinden. Kleine Kinder können dem Auslöser ja nicht entkommen.

Wie Kinder zu vernünftigen Essern werden

Was die Ernährung angeht, kommt das Kleinkindalter einer Revolution gleich: Das Kind wechselt von einem sicheren, von der Mutter hautnah überwachten Nahrungsumfeld in eine Welt voller Gefahren. War vorher die hygienisch einwandfreie und optimal auf die Bedürfnisse des Kindes zugeschnittene Muttermilch das Grundnahrungsmittel, so muss das Kind ab dem Kleinkindalter seinen Hunger in einer Welt stillen, in der Nahrhaftes und Ungenießbares oft direkt nebeneinander wachsen. Um in dieser Welt zu überleben, hat die Evolution dem Kind folgende Regeln mitgegeben:

Bevorzuge »Überlebensnahrung« – die süßen, energiedichten »Lieblingsspeisen« eben. Die sind nicht nur sicher, sie sättigen auch gut.Iss nur, was du kennst. Hüte dich vor allem vor bitteren Sachen. Darin könnten schließlich größere Mengen an Giftstoffen stecken.Wenn du was Neues essen musst, nimm zuerst einmal nur ganz wenig davon.Iss, was deine Eltern und Geschwister mögen – damit liegst du immer richtig.Iss nicht noch einmal, was dir einmal den Magen verdorben hat.

Diese Regeln bringen uns zu einer radikalen Erkenntnis. Dass Kinder so wählerisch und so auf süße und fette Nahrung versessen sind, Gemüse aber kritisch gegenüberstehen, ist Teil der normalen Entwicklung des Kleinkindes. Ein vorbehaltlos von Gemüse, Früchten und Beeren begeistertes Kleinkind wäre zu 99 Prozent in unserer Geschichte bald kein gesundes Kind mehr gewesen!

Natürlich sind diese Schutzprogramme heute, wo die Regale der Supermärkte garantiert tollkirschenfrei sind und wo wir in kleinen, abschließbaren Wohnungen über jeden Schritt unserer Kinder wachen, komplett überflüssig geworden – aber der Körper unserer Kinder folgt nun einmal dem sozusagen im Urwald entwickelten Erfolgsprogramm, auf das er sich über Hunderttausende von Jahren hat verlassen können.

Die schleckigen Kleinen – einmal positiv betrachtet

Vielleicht sollten wir die Essensvorlieben unserer Kinder einfach anders herum betrachten: Die beschriebenen Regeln, nach denen sich Kinder der essbaren Umwelt nähern, sind im Grunde eine ziemliche Erfolgsstory. Denn sie erreichen etwas, von dem wir sonst nur träumen – sie bringen Angebot und Nachfrage nämlich passgenau zur Deckung, und das an jedem Ort der Welt!2

Sogar extreme Sonderbedingungen können mit diesen simplen Regeln abgedeckt werden. Scharf essen zum Beispiel ist dort sinnvoll, wo Nahrungsmittel schnell verderben, denn scharfe Gewürze können Keime und Parasiten abtöten – schon Kleinkinder in Asien essen scharfe Gewürze in Mengen, die einem erwachsenen Mitteleuropäer das Hemd ausziehen würden. Und auch kompliziertere Essregeln lernen Kinder en passant: Andenbewohner etwa essen wilde Kartoffeln zusammen mit Lehm – das hilft, die giftigen Inhaltsstoffe dieser Sorten zu neutralisieren.

Licht am Ende des Tunnels

Das Beste an diesem übervorsichtigen Lernprogramm ist aber das: Es hat ein Verfallsdatum und setzt sich irgendwann selbst außer Kraft. Je mehr die Organe nämlich ausreifen und je mehr Kinder über ihre Welt gelernt haben, desto mehr lässt die Angst vor neuen Nahrungsmitteln nach. Der schleckige Zahn wird mutiger, und wenn die Kinder mit dem Wachsen fertig sind, essen sie schließlich doch ihr Gemüse.

Insofern ist das Essen ein Beispiel dafür (wir werden in diesem Buch noch auf viele andere stoßen), dass nicht alles, was Eltern an ihren Kindern stört, als »Störung« zu betrachten ist. Dass Kleinkinder schleckig sind, war einmal gut für ihr Überleben und ist damit Teil einer normalen Kindheit.

Was es Kindern heute zusätzlich schwer macht

»Schwierige Esser« gab es schon immer – sonst wären zum Beispiel Bücher wie Der Suppenkasper nicht geschrieben worden. Fragt man erfahrene Kinderärzte, so hat dieses Problem aber in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Und das ist eigentlich bemerkenswert. Während die Kühlschränke immer voller wurden und immer mehr Kinder mit Chipstüten, Milchschnitten, TV und Smartphone ins Schlaraffenland umgezogen sind, sind immer mehr Eltern händeringend damit beschäftigt, ihre Kleinen Löffelchen für Löffelchen vor dem sicheren Hungertod zu bewahren. Warum ist das Essen heute besonders schwer?

Die Decke der Vorbilder ist dünn. Wie wir gesehen haben, erleichtern Vorbilder das Essenlernen: Freundliche Erwachsene bringen Kinder dazu, mehr zu probieren. Wohlgemerkt: freundliche Erwachsene. In der Wirklichkeit sind viele Kinder aber eher mit einer Art wohlmeinender Einpeitscher konfrontiert oder mit stirnrunzelnden Eltern, die um ihre Kinder Todesängste ausstehen. Kinder reagieren aber nicht auf Sorgen oder Druck, Essen muss ihnen Spaß machen.

Das Problem wird dadurch verstärkt, dass viele andere natürliche Vorbilder, die das Essenlernen erleichtern, heute fehlen – etwa ältere Geschwister oder überhaupt ältere Kinder. Jeder weiß, dass kleine Kinder den etwas älteren Kindern ins Meer folgen würden – sie werden auch das essen, was diese essen. Deshalb haben es Erstgeborene bzw. Kinder in kleinen Familien potenziell besonders schwer.

Neue Ernährungsregeln. Das lustvolle Kennenlernen der Nahrung wird heute bisweilen von einem weiteren Trend unterminiert: alles muss gesund sein. Nichts gegen eine gesundheits- und verantwortungsbewusste Auswahl von Nahrungsmitteln, aber mit einem allzu dichten – oder gar moralisch markierten – Regelwerk rund um das Essen kommen Kinder an ihre Grenzen.

Das rasche Abstillen kann Säuglinge überfordern. Wir setzen unsere Kinder heute straffen Vorgaben aus. Wir haben zum Beispiel klare Vorstellungen davon, ab wann Kinder beigefüttert werden. Und oft genug ist das dann auch der Zeitpunkt, an dem Kinder von der Brust entwöhnt werden – Beifüttern und Abstillen sind für nicht wenige Eltern sozusagen zwei Seiten der gleichen Medaille. Das Ziel ist dann häufig, möglichst bald schon ganze Mahlzeiten durch Gläschenkost zu ersetzen. Für manche Kinder ist dieses Doppelpaket aber möglicherweise problematisch. Nicht nur müssen sich Kinder bei einem solchen Crash-Programm gleichzeitig an Milchflasche und Gläschenkost gewöhnen – auch bei den Eltern entsteht nur allzu leicht die Erwartung, dass aus einer Milchmahlzeit im Handumdrehen eine komplette Gläschenmahlzeit wird. Das aber kann manchem Säugling die Möglichkeit nehmen, sich in seinem Tempo an die neue Nahrungs- und Geschmackswelt zu gewöhnen. Denn auch wenn Säuglinge geschmacklich mutiger sind als Kleinkinder, so müssen sie sich doch an die neue Art der Ernährung erst gewöhnen. Wenn ihnen Gläschen angeboten werden, muss also damit gerechnet werden, dass zunächst allenfalls Proben gezogen werden. Und diese Phase kann sich hinziehen. Günstiger ist deshalb ein langsames, ganz entspanntes Einführen von Beikost – die Kinder können sich dann unter Beibehaltung der Stillroutine in kleinen Häppchen an das neue Nahrungsangebot gewöhnen.

In der Tat zeigt ein Blick um den Globus, dass das Einführen der Beikost in solchen Kulturen weniger konflikthaft verläuft, wo sich Muttermilchernährung und Beikosteinführung längere Zeit überlappen. Dass Mütter zu einem bestimmten Termin an den Arbeitsplatz zurückkehren müssen, scheint die Natur einfach nicht berücksichtigt zu haben!

Vorschläge für den Alltag

Versuchen wir zum Schluss dieses Kapitels, die von der Evolution vorgegebenen Regeln und Begrenzungen nicht als Last, sondern als eine Hilfe für eine gesunde Entwicklung zu sehen. Wie können wir unseren Kindern auch unter heutigen Bedingungen helfen, gesunde Essensvorlieben zu entwickeln?

In der Schwangerschaft

Fangen wir am Beginn des Lebens an. Eine schwangere Frau sollte essen, was ihr schmeckt, denn so sorgt sie auch bei ihrem Mitbewohner im Mutterleib für einen breiten Geschmackshorizont. Sie sollte sich dabei nicht von angeblichen Allergierisiken beirren lassen – es ist ein längst widerlegter Mythos, dass das Meiden bestimmter Nahrungsmittel in der Schwangerschaft beim Kind die Entwicklung von Allergien verhindern könne.17 Die Sitten in vielen traditionellen Kulturen ergeben weitaus mehr Sinn – dort bekommen gerade die Schwangeren die vielfältigsten und am aufwändigsten zubereiteten Gerichte.18

Stillen

Stillen unterstützt die Entfaltung eines breiten Geschmackshorizonts. Im Gegensatz zu Fläschchenmilch enthält Muttermilch eine in 1001 Geschmacksnoten verpackte Botschaft: Hier kommt das in deinem späteren Leben vorherrschende Nahrungsangebot … Bekannt ist, dass gestillte Kinder, deren Mütter sich abwechslungsreich ernähren, später häufiger Neues probieren als Flaschenkinder und auch beispielsweise Obst gegenüber aufgeschlossener sind.19 Und auch in der Stillzeit spricht nichts für eine Einfaltsdiät. Dadurch kann weder eine Besserung der Säuglingskoliken noch eine Vorbeugung gegen Allergien erreicht werden.3

Beikost

Beikost sollte nicht zu spät eingeführt werden. Denn: Die Einführung in eine vielfältige Geschmackswelt klappt am besten, solange der Geschmackshorizont der Kleinen noch weit offen ist. Wird Beikost erst nach neun bis zwölf Monaten eingeführt, so ist eine geschmackliche Einengung zu befürchten.20

Es wird oft empfohlen, bei der Beifütterung nur wenige, bekannte Nahrungsmittel zu verwenden. Das mag für bestimmte Kinder mit Neurodermitis sinnvoll sein, für gesunde Kinder aber gilt generell: Es darf ruhig ein Streifzug durch die Küche sein. Und der muss nicht nach einem bestimmten Schema ablaufen (zuerst Karotten, dann Kartoffeln usw.). Gerade bei gestillten Kindern ist anzunehmen, dass sie die von der Muttermilch bekannten Geschmacksrichtungen wiedererkennen und bei der Beifütterung akzeptieren. Insofern spricht einiges dafür, dass das Selbst-Zubereiten der Beikost nach dem Geschmack der Mutter den 0815-Gläschen aus dem Regal überlegen ist.

»Zwingen«

Druck bei der Einführung von Beikost auszuüben verbietet sich. Der weiter vorne besprochene »Garcia-Effekt« sorgt sonst für eine nachhaltige Ablehnung. Es gibt sogar Hinweise, dass Kinder, deren Eltern beim Essen Druck machen, mit zwei Jahren weniger wiegen als die ohne Druck essenden Kinder!21 Glücklicherweise ist das moderne Angebot an vollwertiger Nahrung so breit, dass der rituelle Kampf um den Spinat heute nicht mehr geführt werden muss, um Kinder gesund zu erhalten. (Wohin es führt, wenn man Kinder »zwingt«, zeigt der ehemals mächtigste Mann der Erde, George W. Bush, der kurz nach seiner Amtseinführung nichts Besseres zu tun hatte als sich trotzig zu beklagen: »Ich hasse Brokkoli. Das habe ich schon als kleines Kind getan, als meine Mutter mich zwang, ihn zu essen. Jetzt bin ich Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, und ich denke nicht daran, in meinem Leben noch einen einzigen Bissen Brokkoli zu essen!«)

Auch das Zwingen durch Sorgenfalten bringt nichts. Denn wie wir gesehen haben, lernen Kinder durch freundliche Gewöhnung. Für sie gilt auch beim Essen: Positive Emotionen sind Lernverstärker.

Gegen die Ablehnung von Gesundem hilft nur Hartnäckigkeit. Konkret heißt das: Neue Nahrungsmittel, Obst und Gemüse sollten zunächst nur in ganz kleinen Häppchen angeboten werden, aber auch bei anfänglicher Ablehnung mindestens ein bis zwei Wochen lang immer wieder auf den Tisch gebracht werden.

Was die Mahlzeiten angeht

Selbst-Kochen ist nicht nur für die Geschmacksentwicklung, sondern auch für die Gesundheit günstiger als Fertigmahlzeiten. Kommerzielles Essen ist nicht nur süßer und salzhaltiger, sondern auch um einiges energiedichter. Evolutionär ist der Mensch nach Schätzung von Evolutionsbiologen auf eine durchschnittliche Energiedichte von 107 Kilokalorien pro 100 Gramm Nahrung eingestellt – ein Hamburger hat 287.

Aber wie mit dem doch sehr konservativen Geschmacksprogramm der Kleinkinder umgehen? Sollen Eltern ihre Dreijährigen nur Nudeln essen lassen? Schließlich scheint der Verzicht auf die Soße ja einen evolutionsbiologischen Sinn zu haben …

Keineswegs. Das Programm der Neophobie zielt auf Vorsicht, nicht auf Verzicht auf alles, was nicht gleich auf den ersten Anhieb rutscht! Es kann deshalb nicht oft genug wiederholt werden: Das Kind ist evolutionär zur Zurückhaltung angehalten – aber es hat auch ein Gewöhnungsprogramm an Bord, das ihm den Weg zu den »schwierigeren« Nahrungsmitteln dann doch ebnet. Das auf geschmackliche Enge zielende Programm der Neophobie wird von dem auf geschmackliche Erweiterung zielenden Programm der Gewöhnung austariert.

Dieses Gewöhnungsprogramm läuft jedoch nicht automatisch ab, sondern braucht einen Motor. Und das ist der Hunger: Hunger macht mutig und sorgt dafür, dass der Geschmacksspielraum immer wieder ein bisschen weiter gedehnt wird. Hungrige Kinder probieren eine breitere Auswahl an Nahrungsmitteln als halbsatte Kinder – wer hungrig einkaufen geht, kommt ja auch mit einem volleren Wagen an der Kasse an.

Wie aber kann erreicht werden, dass Kinder mit Hunger an den Tisch kommen? Indem weniger vor dem Essen gegessen wird! Schon etwa 20 Prozent der bei einer durchschnittlichen Hauptmahlzeit verzehrten Kalorien reichen aus, um den Appetit von Kindern stark zu dämpfen. Wer halbsatte Kinder an den Familientisch setzt, darf keine große Experimentierfreude erwarten. Also: Kinder sollten 40 bis 60 Minuten vor dem Essen nur noch kalorienneutrale Getränke (am besten Wasser) oder kalorienarme Zwischenmahlzeiten bekommen, etwa Gemüse oder Obstschnitze. Gerade die sättigende Wirkung von Säften und gesüßtem Tee wird oft unterschätzt! Eine Ausnahme von dieser Regel bilden die Kleinkinder. Wenn sie Hunger haben, macht das Warten sie nur unleidlich und gewiss nicht zu einer guten Begleitung am Tisch – hier spricht alles dafür, sie schon mal beim Essen-Zubereiten probieren zu lassen.

Aus evolutionsbiologischer Sicht wäre also die Antwort auf die »Spaghetti-ohne-Soße-Frage« die: Ja, die Kinder sollen wählerisch sein dürfen und sich das vom Angebot am Tisch nehmen, was ihnen schmeckt. Brauchen sie extra zubereitete »Kindermahlzeiten«? Das kommt auf die Mahlzeiten an. Bei einem reich gedeckten Essenstisch werden Kinder auch so auf ihre Kosten kommen, gibt es vor allem Erwachsenen-Essen (den leckeren Salatteller etwa), dann wird ohne eine kindgerechte Ergänzung keine Freude am Tisch herrschen.

Den Teller leer essen? Auch wenn es für manche Großeltern aus verständlichen Gründen noch immer schwer zu akzeptieren ist: »Den Teller leer essen« passt als Lernziel weder zum evolutionsbiologischen Verhaltensrepertoire von Kleinkindern noch stellt es ein gesundheitsförderliches Lernziel in einer Umwelt dar, in der die Essensportionen – vom Schokoriegel bis zur Mahlzeit im Restaurant – selbst für Schwerarbeiter zu groß sind.22(Mehr zum Thema »Teller leer essen« in Kapitel 3 Einblick und Ausblick.)

Besser ist es, wenn das Essen nach vorsichtigen Schätzwerten auf den Teller portioniert wird oder sich die Kinder, klug beraten, entsprechend selbst bedienen. Ein Nachschlag ist dann immer möglich. Hat sich ein Kind überschätzt, so darf es das Essen zurücklegen oder für später zurückstellen lassen.

Das Essen nett herrichten? Wenn das Essen nett und kindgerecht serviert wird, kann das durchaus zum Spaß beim Essen beitragen. Und auf wirklich unattraktiv aussehende Nahrungsmittel (wie gekochter Spinat) zu verzichten ist schon im eigenen Interesse sinnvoll. Allerdings braucht die kindgerechte Dekoration auch nicht übertrieben zu werden: Hungrige Kinder fangen nicht zu protestieren an, weil ihnen das Tischtuch nicht gefällt.

Dürfen Kinder »schlingen«? Alle Menschen neigen zum hastigen Essen, wenn sie hungrig sind. Das ist evolutionär sinnvoll: Je hungriger wir sind, desto wichtiger ist es, sich vom Angebot möglichst rasch möglichst viel zu sichern – wer weiß, wann wieder eine günstige Gelegenheit kommt und wie lange man noch ungestört bleibt? Aber ist es nicht gesünder, wenn wir langsam essen, oder sogar, wie manchmal geraten wird, das Essen vor dem Schlucken 11-mal (wahlweise 22-mal oder 33-mal) kauen? Evolutionär betrachtet ist das blanker Unsinn – wenn Essen wirklich nur verträglich wäre, wenn wir es ganz langsam einnehmen oder gar jeden Bissen 22-mal kauen, wären wir längst ausgestorben. Und was das Argument angeht, wer »schlinge«, würde sich überessen, so geben Experimente Entwarnung: Jugendliche, die in Versuchen zum langsamen Essen angehalten werden, essen nicht weniger Kalorien, als wenn sie das Essen in einem Satz hinunterschlingen dürfen.23 (Natürlich spricht dieser Befund nicht dagegen, bei Tisch auf das entspannende Ritual eines achtsam eingenommenen Mahls zu setzen – hier können Eltern durchaus auf ihre langfristige Vorbildfunktion vertrauen.)

Trinken

Beim Trinken sollte berücksichtigt werden, dass Kleinkinder wegen des noch hohen Wasserumsatzes im Vergleich zu Erwachsenen relativ viel trinken. In vielen Familien hat es sich eingebürgert, den Durst nicht mit Wasser zu stillen, sondern mit Softdrinks oder Säften. Besonders der Fruchtsaftkonsum ist bei Kleinkindern in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen, und auch die nach dem Abstillen gerne als »Übergangsgetränk« genommenen Tees sind manchmal gesüßt. Dies könnte zum einen die Geschmacksentwicklung auf »süße Erwartungen« polen. Zum anderen sorgen kalorienhaltige Getränke für eine recht üppige kalorische Beladung – Kinderärzte gehen davon aus, dass energiereiche Getränke mit für das zunehmende Übergewichtsproblem bei Kindern verantwortlich sind. Zudem mehren sich die Hinweise, dass die in Fruchtsäften (v. a. Apfelsaft) reichlich vorhandene Fruktose für eine ungünstige Einstellung des Stoffwechsels bei Kindern sorgen kann – die Saftpulle, die aus vielen Kinderwägen nicht mehr wegzudenken ist, wird von Kinderärzten zunehmend als Einfallstor für Übergewicht, Diabetes und Co. gesehen.4

Evolutionsbiologisch betrachtet gab es nach dem Abstillen nur einen Durstlöscher: Wasser. »Flüssige Nahrung« kommt im Repertoire des Menschen eigentlich nur in Form von Muttermilch vor. Ausnahme sind da nur die wenigen menschlichen Populationen, die seit wenigen tausend Jahren auch Tiermilch vertragen (mehr dazu in Kapitel 3). Und gegen das eine oder andere Glas Milch ist in der Tat auch nichts einzuwenden – als Zwischenmahlzeit, aber nicht als zusätzliche Flüssigkeit gegen den Durst.

Müssen Kinder ständig an das Trinken erinnert werden, weil sie sonst »austrocknen« oder sonstwie Schaden nehmen? Diese Furcht hat sich in den letzten 30 Jahren klammheimlich ins Repertoire der elterlichen Sorgen eingeschlichen, sie ist evolutionsbiologisch aber wenig plausibel. Denn schon von klein auf sorgt das Durstgefühl dafür, dass Kinder ausreichend Wasser trinken – und das funktioniert zumindest bei gesunden Kindern absolut zuverlässig. Auch Nierenspezialisten geben Entwarnung: Mehr zu trinken, als der Durst verlangt, bringt ansonsten gesunden Menschen rein gar nichts.5

Richtig ist, dass kleine Kinder und insbesondere Säuglinge Wasser noch nicht so gut »aufsparen« können wie ältere Kinder. Das liegt daran, dass ihre Nieren den Urin noch nicht so gut konzentrieren können. Säuglinge müssen deshalb häufiger trinken. Dem hat die Natur auch Rechnung getragen – schließlich haben kleine Kinder unter natürlichen Bedingungen in den ersten zwei bis vier Lebensjahren freien Zugang zur Brust und können sich damit regelmäßig mit Flüssigkeit versorgen. Kein Wunder also, dass sich Säuglinge im Sommer häufiger an der Brust bedienen als im Winter und dass die Stillhäufigkeit in den verschiedenen Klimazonen der Erde stark schwankt. Kleinkinder ab etwa drei Jahren können aber ihren Wasserhaushalt schon viel besser an ein zeitweilig schwankendes »Angebot« anpassen. Ihr Körper ist darauf vorbereitet, es sozusagen von Wasserloch zu Wasserloch schaffen. Gesunde Kinder müssen also nicht rund um die Uhr mit Flüssigkeit versorgt werden und auch nicht dauernd ans Trinken erinnert werden. Wenn die Pulle auf einem Spaziergang mal nicht dabei ist, gleichen sie das bei der nächsten Gelegenheit aus. Entsprechend pinkeln Kleinkinder im Tagesverlauf einmal mehr und einmal weniger, und eine »Pinkelpause« auch von mehreren Stunden ist absolut normal.

Die Einstellung der Eltern

Mit manchen Überzeugungen stehen sich Eltern selbst im Weg. Gerade was den Appetit angeht, so erwarten sie oft mehr, als Kinder leisten können (Details begegnen uns im Kapitel 3 E&A). Evolutionär betrachtet kann Eltern deshalb nur geraten werden, den Appetit oder den Gemüsekonsum ihrer Kinder nicht als Maß dafür zu nehmen, wie gut sie als Eltern sind.

Einen Trost für Eltern von wählerischen Kindern hält die Forschung parat: »Schlechte« Esser konsumieren zwar weniger Früchte und weniger Gemüse – aber auch weniger Fett und weniger Süßigkeiten.27 Und auch wenn ihnen die Vitamine vielleicht nicht aus den Ohren quellen: Wählerische Kinder sind nicht weniger gesund als andere Kinder,28 und sie wachsen auch nicht langsamer.29 Aber sie sind, das dürfte einleuchten, seltener übergewichtig.

Und zum Schluss noch ein Wort zu den Rippen. Es mag hierzulande an vielem mangeln, an hochwertiger Nahrung mangelt es nicht. Es ist normal, wenn im Kleinkind- und Vorschulalter die Fettreserven abschmelzen. Die Fettmasse des Kindes erreicht mit fünf bis sechs Jahren ihren Tiefpunkt (den sogenannten Fettnadir). Dass sich jetzt die Rippen zeigen ist evolutionär vorgesehen und kein Zeichen von Unterernährung.

Einblick und Ausblick Unreife als Vorteil

In diesem ersten Kapitel haben wir eines gesehen: Dass Kinder ihre Eltern manchmal an den Rand der Verzweiflung bringen, hat einen guten Grund. Ja, sie verziehen den Mund, wenn das Löffelchen mit dem Grünzeug kommt. Ja, sie essen lieber Süßes, auch wenn es noch so ungesund ist. Ja, sie schlingen, wenn sie Hunger haben. All das war unter früheren Bedingungen einmal ihr Erfolgsrezept. Es hat den Kindern geholfen zu überleben. Dass Kinder einmal in gefliesten Wohnungen leben würden, wo keine giftigen Sträucher oder Pilze wachsen, dass sie einmal im Schlaraffenland aufwachsen würden, wo sich die Regale vor Leckereien nur so biegen, konnte die Natur ja nun wirklich nicht wissen.

In den folgenden Kapiteln dieses Buches werden wir den Blick auf andere Bereiche der kindlichen Entwicklung richten – etwa auf das Schlafen, das Schreien oder die – völlig überflüssigen? – Zornanfälle. Und auch da werden wir vernünftige Gründe für das oft erstaunlich »unvernünftige« Verhalten finden.

Vorher jedoch wäre es an der Zeit, die kleinen Heldinnen dieses Buches einmal genauer vorzustellen und ihre Entwicklung aus der Vogelperspektive zu betrachten.

Kinder sind keine defekten Erwachsenen

Seit Anfang des letzten Jahrhunderts ist der Grund bekannt, warum Babys nicht sprechen: Weil sie absolut nichts zu sagen haben! Das jedenfalls meinte der einflussreiche niederländische Pädagoge Frater Rombouts und befand sich damit ganz im Einklang mit seiner Zeit, die Kinder vor allem als eines sah: als inkompetente Mängelwesen.6

Erst in den letzten Jahrzehnten wurde dieses Bild zurechtgerückt. Da wurde klar, dass selbst Babys so manche Fähigkeit besitzen, von der Erwachsene nur träumen können …

Gesichter erkennen beispielsweise. Zeigt man Babys Bilder von Affengesichtern, so können sie die haarigen Gesichtchen bald schon ohne Weiteres auseinanderhalten – Erwachsene müssen da passen, Affe ist für sie Affe.30 Auch Gesichter von Menschen aus anderen Kulturen können Babys leichter unterscheiden – für im globalen Westen lebende Erwachsene dagegen sieht ein Chinese nicht viel anders aus als ein anderer Chinese (jedenfalls solange sie wenig Umgang mit Chinesen haben). Und selbst mäßig intelligente Kinder lernen eine komplizierte Sprache – wie etwa Russisch, Deutsch oder Kiswahili – weitaus schneller als jeder erwachsene Nobelpreisträger!

Ja, sie können Sprachen sogar neu erfinden: Würfelt man kleine Kinder aus verschiedenen Sprachwelten zusammen, so endet das keineswegs im babylonischen Sprachwirrwarr – es entsteht vielmehr eine neue Sprache. Viele Gegenden der Karibik, in denen Einwanderer aus den verschiedensten Ländern aufeinandertrafen, verdanken ihre heutigen Kreol-Sprachen niemand anderem als den Kindern. Die bauten beim gemeinsamen Spielen aus den unterschiedlichen Sprachfetzen nämlich eine ganz eigene Sprache mit voll funktionierender Grammatik zusammen, die nach und nach auch von den Erwachsenen übernommen wurde. Nur Kinder sind nach Meinung der Sprachwissenschaftler in der Lage, Regelmäßigkeiten in der gesprochenen Sprache intuitiv zu erkennen und daraus neue, regelhafte Satz- und Wortstrukturen, eben eine neue Sprache, zu bilden!31 Kurz, es scheint an der Zeit, die Stärken der Kinder in den Vordergrund zu rücken.

Unreife: ein ungeheures Potenzial

Der Biologe Midas Dekkers fasst das neue Bild vom Kind so zusammen: »Ein Baby kann alles, was es können muss. Als Mensch ist es ein Rohrkrepierer, aber als Baby ist es perfekt.«32 Tatsächlich: Wären Kinder unzulänglich, um die Lebens- und Entwicklungsaufgaben ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe zu lösen, wäre die Menschheit längst auf der Strecke geblieben. Kinder sind keine viertel fertigen, halb fertigen oder dreiviertel fertigen Erwachsenen – sie sind 100 Prozent fertige Säuglinge, 100 Prozent fertige Kleinkinder, ja sogar 100 Prozent entwickelte Jugendliche!

Das beginnt schon mit der Anatomie. Warum haben Säuglinge ein Stupsnäschen? Damit ihre Eltern sie süß finden? Nein, die Evolution wird von ganz praktischen Überlebensvorteilen angetrieben: an einer milchgefüllten Mutterbrust bekommt man mit einem Hakennäschen einfach nicht gut Luft. Kein Wunder, dass sich die individuellen Nasenformen erst nach dem »natürlichen Abstillalter« von etwa drei Jahren ausbilden.

Unreife als Voraussetzung des Lernens?

Statt nach dem Defekt zu suchen, blicken wir deshalb in diesem Buch auf die Potenziale der Kinder – was bringen sie mit, um ihre Entwicklung zu meistern? Und diese Perspektive ist auch aus Sicht der Hirnforschung topaktuell. Hirnforscher singen neuerdings nämlich ein regelrechtes Loblied auf die Unreife des Kindes.

Der Ulmer Neurowissenschaftler Manfred Spitzer etwa versteht das reifende Gehirn als eine Art »didaktischen Filter«: Das kindliche Gehirn kann zunächst nur einfache Zusammenhänge erlernen. Erst nach und nach erweitert es seine Möglichkeiten und wendet sich dem Komplizierteren zu. Das heißt, eben weil es reift, lernt das Gehirn zuerst die Grundlagen, die Prinzipien, und erst anschließend die Feinheiten. Es lernt damit manche Dinge weitaus effektiver als ein Erwachsenengehirn, das vor lauter Bäumen schnell den Wald aus den Augen verliert. Spitzer dazu: »Hätten Sie das Gehirn, das Sie jetzt haben, bereits bei der Geburt gehabt, hätten Sie wahrscheinlich nie sprechen gelernt.«33 Also: Kinder mögen aus Erwachsenensicht unzulänglich sein, aber sie haben das, was sie für ihr tägliches Weiterkommen brauchen. Sie sind verdammt gut darin, Kinder zu sein.

Vorteile selbst im Jugendalter

Und das gilt sogar für Teenager, die heute ja nicht gerade die beste Presse bekommen. Ihr Gehirn sei eine Baustelle, heißt es, vor allem am Frontalhirn werde noch kräftig gearbeitet – kein Wunder, dass Pubertierende so unkontrolliert, uneinsichtig und eben »schwierig« seien! Aus evolutionärer Sicht ist das zu kurz gedacht: Das unausgewogene Teenager-Gehirn muss seinen Besitzern über Hunderttausende von Jahren gute Dienste geleistet haben, die Pubertierenden von früher haben es mit ihren »schwierigen« Gehirnen ja immerhin geschafft, unsere Vorfahren zu werden!

Da liegt die Vermutung nahe, dass das Gehirn des Jugendlichen genau das hat, was es braucht, um die Kurve ins Erwachsenenalter zu nehmen. Die Begeisterungsfähigkeit, die Risikobereitschaft, die Fähigkeit, rasch soziale Netze zu knüpfen, das Suchverhalten: Das war kein Ballast, sondern die Grundlage eines ungeheuren Innovationspotenzials, das menschlichen Gemeinschaften gut anstand. Natürlich waren es Jugendliche, die vor über 500.000 Jahren einmal das Feuer gezähmt haben, so wie Jugendliche auch heute noch neue Technologien schneller »zähmen« als jeder Erwachsene. (Dass Jugendliche heute in eine immer längere Zeit der Abhängigkeit von Erwachsenen hineingezwängt sind, dass ihre Kraft brach liegt und sie mit ihren spezifischen Fertigkeiten in der Gesellschaft nicht mehr »ankommen«, steht auf einem anderen, dringend zu diskutierenden Blatt.)

Doppelgleisige Entwicklung

Das heißt nicht, dass Kinder in allem, was sie tun, gleich Meister sind. Ein Teil des kindlichen Entwicklungsprogramms dient tatsächlich dem Zweck, die Kinder auf die speziellen Anforderungen der Kultur vorzubereiten, in der sie gelandet sind. Fährten lesen muss aktiv erlernt werden, Schreiben muss erlernt werden, Jagen, Fahrradfahren und Rechnen ebenso – all diese Fertigkeiten stellen sich nicht automatisch ein, sie setzen Übung voraus.34

Die Fertigkeiten dagegen, die alle Mitglieder der Art Homo sapiens schon immer für ihr Leben gebraucht haben, entwickeln sich automatisch – so lange die Kinder in einer artgerechten Beziehungs- und Umwelt aufwachsen. Man muss einem Kind das Sprechen nicht beibringen. Kinder lernen sprechen, indem sie in bedeutsamen Beziehungen leben, so einfach ist das. Wo sich Menschen etwas bedeuten, wird kommuniziert, und dass Kinder dabei auch die sprachliche Kommunikation entwickeln, ist ein eingebautes Überlebensprogramm. Auch Sauberkeit »lernen« sie von alleine (wir kommen in Kapitel 8 darauf zurück).35 Kinder sind in ihrer Entwicklung also sowohl Meister als auch Lehrlinge!

Ein befreiendes Bild

Das Bild, nach dem Kinder nicht nur »kleine Menschen sind, die es noch nicht gelernt haben, erwachsen zu sein« (wie Midas Dekkers diese überholte Perspektive karikiert), kann Eltern auch in der Erziehungspraxis helfen, ihre Kinder besser zu verstehen.

Nicht jedes die Erwachsenen störende Verhalten ist gleich eine Störung. Natürlich liegt es nahe, Kleinkindern eine Schlafstörung zu bescheinigen, wenn sie nicht alleine einschlafen, und eine Essstörung, wenn sie unserer Meinung nach nicht genug Gemüse essen. Evolutionär gedacht ist genau dieses »störende« Verhalten vollkommen sinnvoll und rational – Kinder sind damit nun einmal in der evolutionären Vergangenheit gut gefahren (allein schon dieses erste Kapitel hat eine Fülle von Beispielen geliefert).

Auch eine weitere Erkenntnis dürfte zur Entkrampfung der Erziehungspraxis beitragen: Eben weil sie die Entwicklung im Hier und Jetzt absichern, sind viele kindliche Verhaltensweisen an eine bestimmte Entwicklungsstufe gebunden und damit vorübergehende Erscheinungen.