Menschenkinder - Herbert Renz-Polster - E-Book

Menschenkinder E-Book

Herbert Renz-Polster

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Was brauchen Kinder wirklich? Eine Umgebung, die zu ihren Bedürfnissen passt, denn diese haben sich in den letzten Jahrtausenden kaum verändert. Bestsellerautor und Kinderarzt Herbert Renz-Polster zeigt: Wer das biologische Urprogramm seiner Kinder versteht, kann ihnen zuverlässig beistehen. Auch in einer Welt, die sich heute so rasant wandelt wie nie zuvor.

»Der bekannte Kinderarzt möchte Eltern ermutigen, den Blick auf ihr Kind zu richten und nicht ständig wechselnden Ratgebern nachzulaufen.« ELTERN, 01.03.2011

Immer neue Theorien erklären, was Kinder angeblich brauchen – und was die Eltern angeblich alles falsch machen. Da ist nur ein Problem: Die Theorien ändern sich ständig – und sie widersprechen sich. Die Eltern stehen damit vor einer ernüchternden Tatsache: Ein guter Teil dessen, was über Kinder behauptet wird, ist reine Spekulation. Gut gemeint (in aller Regel), aber trotzdem: Geschwätz.

Dieses Buch zeigt:

- dass das widersprüchliche Gerede erst aufhört, wenn wir die jahrtausendealte Geschichte unserer Kinder kennen,

- dass es zu billig ist, den Eltern den schwarzen Peter zuzuschieben, wenn die Erziehung nicht klappt,

- dass die artgerechte Kindheit dringend unter Naturschutz gestellt gehört.

Kinder kommen mit uralten Bedürfnissen und Erwartungen auf die Welt. Es mag bequem sein, diese zu ignorieren, doch das hat einen Preis: für die Kinder, für die Eltern – und für die ganze Gesellschaft.

Der Bestsellerautor, Kinderarzt und vierfache Vater Dr. med. Herbert Renz-Polster bringt sein tiefgründiges Verständnis der kindlichen Entwicklung in die Erziehungsdebatte ein. Sein Plädoyer macht Mut und zeigt, was wir alle tun können, damit unsere Kinder die in ihnen angelegten Stärken und Fähigkeiten entfalten.

Neu: Auch als Hörbuch erhältlich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 273

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Immer wieder tauchen neue Theorien auf, die erklären, was Kinder angeblich brauchen – und was die Eltern angeblich falsch machen. Doch diese Theorien ändern sich ständig und sie widersprechen sich. Damit stehen Eltern vor einer ernüchternden Tatsache: Es gibt wenig verlässliche Information darüber, wie Erziehung gelingen kann.

Der bekannte Kinderarzt und Bestsellerautor Herbert Renz-Polster zeigt, dass wir an den Kindern selbst Maß nehmen müssen. Denn die Kinder ändern sich nicht von heute auf morgen. Wir werden ihnen nur dann gerecht, wenn wir berücksichtigen, dass sie seit Jahrtausenden dieselben Bedürfnisse und Erwartungen an ihre Umwelt mitbringen. Und dass sie bestens auf ihre Entwicklung vorbereitet sind – wenn wir ihnen eine artgerechte Umgebung anbieten, die zu diesen Bedürfnissen passt.

»Kapitel um Kapitel bricht Renz-Polster mit guten Argumenten eine Lanze für entspanntere Eltern und die Freiheit der Kinder.«     Deutschlandradio Kultur

Dr. Herbert Renz-Polster, geboren 1960, ist Kinderarzt und assoziierter Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg. Er gilt als eine der profiliertesten Stimmen in Fragen der kindlichen Entwicklung. Mit seinen populären Werken »Kinder verstehen« und »Schlaf gut, Baby!« steht er auf den Bestsellerlisten. Er lebt mit seiner Frau und vier Kindern in der Nähe von Ravensburg.

Kontakt: www.kinder-verstehen.de

Herbert Renz-Polster

Menschen-

kinder

Artgerechte Erziehung –

was unser Nachwuchs

wirklich braucht

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2016 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotiv: © plainpicture/Oscar

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-19745-2V002

www.koesel.de

Die Webseite zum Buch:

www.menschenkinder-das-buch.de

Auf dieser Webseite finden Sie eine Vielzahl weiterer Informationen, zum Beispiel Artikel aus der Presse, Interviews mit dem Autor sowie die genauen Quellenangaben der im Buch genannten wissenschaftlichen Arbeiten.

Apropos Quellenangaben: Der Autor stützt sich in seinen Aussagen auf eine Vielzahl wissenschaftlicher Erkenntnisse zur kindlichen Entwicklung, die um der besseren Lesbarkeit willen bewusst nicht mit Anmerkungsziffern ausgezeichnet sind. Die entsprechenden Literaturangaben finden Sie im Anhang. Diese Quellen können auf der Webseite zum Buch weiterverfolgt werden.

Seit Urzeiten haben sich Menschen

mit ihren Kindern neu auf den Weg gemacht.

Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

Inhalt

Vorwort    Was brauchen Kinder?

1    Die Angst-Masche: Womit Eltern zu kämpfen haben

2    Ausmisten! Welche Mythen entsorgt gehören

3    »Artgerecht« – ab in die Diktatur der Evolution?

4    Die Freiheit der Kinder – und der Angriff auf die Kindheit

5    Das Spieldefizitsyndrom: Warum Spielen so wichtig ist

6    Das Immunsystem der kindlichen Entwicklung: Wie Resilienz entsteht

7    Wie viel Freiheit, wie viele Grenzen?

8    Die richtige Förderung: Wie geht die?

9    Schulversager: Welche Schule ist gut für Kinder?

10    Lügen über die Eltern – und über das Elternsein

11    Unter die Lupe genommen: Das Rätsel der Geburt

12    Gesellschaft in Gefahr: Wo ist das Dorf geblieben?

Fazit    Erziehung neu denken

Danksagung

Gegen das Erziehungsgeschwätz!

Quellen und Literaturhinweise

Anmerkungen

Vorwort

Was brauchen Kinder?

Vorwort    Was brauchen Kinder?

Getty Images / Fox Photos / Richards

Eines der besten Erkennungszeichen für zukünftige »Absonderlichkeit« besteht beim Stillkind darin, dass es sich weigert, seinen Darm zu entleeren, wenn man es aufs Töpfchen setzt. Das sagte der wohl bekannteste und einflussreichste Psychologe der Moderne, Sigmund Freud. Er vertrat allen Ernstes die Meinung, Säuglinge würden zu Neurotikern, wenn sie nicht auf Befehl ins Töpfchen machten. Wohlgemerkt: Säuglinge!

Wie kam Herr Freud eigentlich dazu, so etwas von kleinen Kindern zu behaupten? Und vor allem: Kann das denn stimmen?

Und die heutigen Theorien?

»Mit spätestens sechs Monaten ist eine etwa zehnstündige durchgehende Nachtruhe normal – ohne Mahlzeiten!« Das lesen Eltern in dem Bestseller »Jedes Kind kann schlafen lernen« (in früheren Auflagen war sogar von elf Stunden die Rede – die Babys haben wohl Nachlass bekommen). Eine über eine Million mal verbreitete Behauptung, nur: Stimmt sie denn?

Überhaupt, um gleich bei dem Beispiel zu bleiben, müssen Babys wirklich »lernen«, alleine zu schlafen? Das wird mit der Förderung ihrer Selbstständigkeit begründet. Nur: Stimmt das wirklich?

Stimmt denn die andere große Hoffnung unserer Zeit – nämlich dass Kinder »frühe Bildung« brauchen, um nachher besser im Leben zu stehen? Der bekannte Pädagoge Wassilios Fthenakis fordert dazu »Fachkräfte, die ein Kind von der Geburt bis mindestens zum Ende der Grundschule begleiten und mit ihm gemeinsam Bildungsprozesse organisieren«. Das mag für die Fachkräfte eine schöne Sache sein – aber lohnt das für die Kinder?

Und wenn wir schon bei der Bildung sind – was genau suchen eigentlich die deutschen Arbeitgeberverbände ausgerechnet in den Kitas? Sie fordern dort »mehr strukturiertes Lernen« und begründen das mit der Sorge, dass sonst in Deutschland »in Zukunft nicht mehr genügend Humankapital zur Verfügung steht, um den produktiven Einsatz des Sachkapitals zu ermöglichen«. Das mag den Unternehmen ins Konzept passen, aber passt das denn für die Kinder?

Das ist das Umfeld, in dem heutige Eltern ihre Kinder großziehen: Jeder behauptet etwas über Kinder, was ihm in den Kram passt. Jeder zerrt und zieht am Kind – und begründet das mit großen Worten, Versprechungen und Theorien. Jede der Theorien findet eine gläubige Anhängerschaft – und jede Ansage (und erwiese sie sich in der Praxis auch als komplette Luftnummer) kommt garantiert einmal wieder.

Luftschlösser, schlüsselfertig

Das Wirrwarr geht schon gleich nach der Geburt los: Wie viel Nähe braucht so ein kleiner Mensch? Nur nicht zu viel, sagen die einen – der kleine Mensch könnte verwöhnt werden! Niemals genug, sagen die anderen, eine sichere Bindung schafft Vertrauen für das ganze Leben! Wenn es ums Schlafen geht, dieselbe Pein. Gehört das Kleine an die Seite der Mutter? Oder ein ganzes Stück weg von ihr ins eigene Bett – es könnte sonst am plötzlichen Kindstod sterben? Kann man es in eine Krippe geben – oder widerspricht das seinen natürlichen Bedürfnissen? Und wenn es dann in den Kindergarten kommt, soll da eher das Spielen im Mittelpunkt stehen – oder der Zahlenraum erweitert werden? In der Schule: mehr Drill oder mehr Selbstfindung?

Wohin die Mehrheitsmeinung geht, ändert sich wie die Saumlänge in der Mode. Natürlich brauchen Kinder Pünktlichkeit, frühe Sauberkeitserziehung und Füttern nach der Uhr – so die Überzeugung unserer Großeltern. Für die meisten unserer Eltern war es genauso natürlich, dass sie dies eben nicht brauchen. Dass Kinder früh schon »Förderung« bekommen sollen, war mit dem Ende der 1990er-Jahre plötzlich ganz fest in den Köpfen verankert – so fest, dass aus den Kinderzimmern der Republik auf einmal Mozart erklang, weil diese Musik dem wachsenden Gehirn angeblich ein paar zusätzliche IQ-Punkte abquetschen kann. Und auch das mit den »Grenzen« war auf einmal wieder ausgemachte Sache: Kindern fehlt es an Grenzen. Sicher?

Sicher ist nur eines: Erziehung ist eine wunderbare Spielwiese für Spekulanten. Ihre Annahmen leuchten auf den ersten Blick ein, und sie lassen sich gewiss von so mancher Theorie bestätigen. Wenn da nur nicht ein Problem wäre: Die Annahmen widersprechen sich. Und damit stehen Eltern vor einer ernüchternden Tatsache: Ein guter Teil dessen, was über Kinder behauptet wird, ist falsch. Gut gemeint in aller Regel, aber trotzdem: Geschwätz.

In diesem Buch werde ich zeigen,

■  dass das Geschwätz erst aufhört, wenn wir an den Kindern selbst Maß nehmen; denn die Kinder ändern sich – im Gegensatz zu den Ansagen, die wir über sie machen – doch eher nicht von heute auf morgen;

■  dass wir dieses Maß nur finden können, wenn wir die jahrtausendealte Geschichte unserer Kinder berücksichtigen – bis heute beruht ihre Entwicklung auf den Strategien, die sich für sie in der Menschheitsgeschichte bewährt haben;

■  dass wir eine – angeblich vor allem für Legehennen wichtige – Frage auch für Menschenkinder stellen müssen: die Frage nach der artgerechten Umwelt.

Artgerecht – gewiss ein erklärungswürdiger Begriff. Bisher ist er uns ja eher aus der Tierhaltung bekannt. »Haltungseinrichtungen«, so § 13 der Haltungsverordnung für Legehennen, »müssen eine Fläche von mindestens 2,5 Quadratmetern aufweisen, auf der die Legehennen sich ihrer Art und ihren Bedürfnissen entsprechend angemessen bewegen können. Sie müssen so ausgestattet sein, dass alle Legehennen artgemäß fressen, trinken, ruhen, staubbaden sowie ein Nest aufsuchen können«. Es erscheint mir dringend geboten, dass wir die Frage nach der artgerechten Umwelt auch für die andere Seite der Gitterstäbe stellen: Welche Umwelt brauchen Kinder, um ihre menschlichen Potenziale zu entfalten?

Wir kommen ohne diese Frage in der Erziehungsdiskussion nämlich nicht weiter. Dass wir immer wieder neuem Geschwätz aufsitzen, liegt ja nicht an den Kindern. Es liegt auch nicht daran, dass den Eltern ein Erziehungsführerschein fehlt. Es liegt daran, dass wir mit immer neuen Zielen, immer neuen Hoffnungen über die Kinder herfallen. Dass wir Bilder errichten, statt die Kinder selbst kennenzulernen.

Dass wir nicht weiterkommen, liegt aber auch daran, dass wir uns zu lange vor einem Rundgang durch das »Dorf« gedrückt haben, in dem unsere Kinder heute aufwachsen. Was liegt da im Argen? Stehen Kinder, Jugendliche, Mütter, Familien wirklich dort, wo sie hingehören – in unserer Mitte? Warum bedeuten dann Kinder, die ja angeblich ein Reichtum sind, immer öfter ein Armutsrisiko? Warum brauchen wir immer mehr Schreiambulanzen, Schlaf-Sprechstunden, Logopäden, Bewegungstherapeuten und andere Entwicklungshelfer für unsere Kinder? Geht das Versprechen der »frühen Bildung« wirklich auf? Wo sind dann die bedeutsamen Beziehungen und die altersgerechten Stellenschlüssel, die die Frühpädagogik nach eigenem Bekunden braucht, um diesen Schuh zu füllen? Und, zu guter Letzt: Stimmt es wirklich, dass wir Erwachsenen nach einer »besseren Welt« trachten und alles tun, um unseren Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen? Geht es in dieser Welt nicht in Wirklichkeit – ob wir es gut finden oder nicht – um etwas anderes: um die möglichst effektive materielle Wertschöpfung, der wir uns mit Haut und Haar unterwerfen? Muss uns nicht allmählich auffallen, dass Kinder dadurch als Erste in Not kommen?

Neu Maß nehmen

Wie kommen wir weiter? Vielleicht müssen wir uns als Erstes eine ganz banale Frage stellen: Stehen hinter den vielen Behauptungen über die Kinder nicht vielleicht auch ganz bestimmte Interessen?Denn wenn man die immer wieder neuen Programme betrachtet, die da für die Kinder angepriesen werden, fällt schon etwas Seltsames auf: Da reden überraschend viele mit, die mit Kindern eigentlich gar nichts zu tun haben! Die Priester und Geistlichen des Mittelalters wussten, was gut für Kinder ist. Die Generäle im Deutschen Reich wussten es auch. Auch heute reden gerade in der Bildungsdebatte viele Menschen und Gruppen mit, die sich eigentlich um ganz andere Dinge kümmern – um Wirtschaftsunternehmen etwa oder um deren Stiftungen und Verbände.

Ein Grundmuster, das uns zu denken geben sollte: Immer scheinen die, die in der Gesellschaft gerade das Sagen haben, sich auch Ansagen zur »richtigen« Erziehung zuzutrauen. Vielleicht interessieren sie sich ja weniger für die Kinder selbst als vielmehr für das, was diese zu bieten haben, wenn sie erst einmal »gebildet und erzogen« sind? Vielleicht ändern sich ja deshalb die Ansagen in der Erziehung immer dann, wenn sich die Machtverhältnisse in den Gesellschaften ändern?

Und vielleicht tut deshalb etwas Zweites not. Dass, wer wirklich mit Kindern zu tun hat, seinen Blick eben nicht nur in die Zukunft richtet, sondern auch in die Vergangenheit. Ja, ich glaube fest, dass die Vergangenheit unser Maß sein muss: Wer den Kindern gerecht werden will, muss berücksichtigen, wie sie sich über Tausende, ja Hunderttausende von Jahren entwickelt haben. Warum? Weil unsere Kinder eine Geschichte in sich tragen – und diese Geschichte bestimmt ihr Leben auch heute noch (oft mehr, als uns lieb ist).

Ich spreche von ihrer evolutionären Geschichte. Alle Lebewesen dieser Erde tragen die Prägungen der Vergangenheit in sich – sie helfen ihnen beim Überleben und Gedeihen. Das gilt auch für unsere Kinder. Wie sie sich verhalten und wie sie sich entwickeln, ist keine Willkür. Dahinter steht vielmehr ein Muster – ein von Generation zu Generation vererbtes Muster. Dieses Muster hat sich als Antwort auf die Herausforderungen gebildet, vor denen die Kinder in der Geschichte immer wieder standen.

Dieses Muster ist der Grund, weshalb Kinder sich rund um die Erde in denselben Schritten entwickeln, auch wenn ihre Umwelt unterschiedlicher nicht sein könnte. Und es ist der Grund, weshalb die heutigen Kinder sich in vielen Aspekten so wenig von denen unterscheiden, die in Zeiten geboren wurden, als so ziemlich alles anders war als heute.

Dieser Blick kann die Erziehung verändern. Denn wer an den Realitäten Maß nimmt, unter denen sich die Kinder über Tausende von Jahren entwickelt haben, stößt zunächst einmal auf Stärken, nicht auf Mängel, Defekte oder Schwachstellen, von denen die Erziehungsdiskussion so besessen scheint. Auf ihrem Weg durch die Geschichte mussten die Kinder ja all das perfektionieren, was einem kleinen, unreifen Menschen hilft, ein großer, erfolgreicher Erwachsener zu werden. Sie mussten lernen, wie man das Großwerden am besten anpackt. Ja, die kindliche Entwicklung ist für die Eltern nicht immer eitel Sonnenschein (man denke nur an die berüchtigten Zornanfälle), aber sie ist dennoch Grund zu Optimismus: Sie beruht auf einer Auswahl dessen, was funktioniert hat (Zornanfälle inklusive – wir kommen darauf zurück).

Wenn das kein willkommenes Gegengift ist gegen die vielen Ängste, die uns die Kleinen einjagen! Ein Kind, das auf eine solche jahrtausendelange Entwicklung baut, ist ein »vorbereitetes« Wesen, es ist geeicht und gerüstet. Über ein solches »vorbereitetes« Geschöpf kann man nicht einfach behaupten, was einem in den Kram passt.

Noch eine Theorie?

Kommt jetzt noch eine Theorie, noch eine Erziehungsmethode, noch ein Erfolgsrezept? Noch ein Experte, der Ihnen sagt, wie Sie in sieben Schritten zu einem durchschlafenden, brav essenden und lächelnden Kind kommen – und wenn Sie es nicht hinkriegen, haben Sie sich eben nicht richtig angestrengt?

Nein, was ich hier einbringe, ist kein neues Programm, sondern eine neue Perspektive. Wer Kinder wirklich fördern will, muss die Wurzeln ihrer Entwicklung kennen. Wer sie auf ihrem Weg in die Zukunft begleiten will, muss ihre Herkunft kennen. Wir haben unsere Kinder viel zu lange nach den immer neuen, schicken Theorien tanzen lassen, die aktuelle Mode an ihnen durchprobiert – ja, sie zu Versuchskaninchen gemacht. Dagegen will ich den Pflock der Evolution einrammen. Die Welt mag heute süchtig nach Wachstum sein und ihr Heil darin sehen, die Kinder möglichst porentief und früh auf eine möglichst durchschlagende Rolle in der Wertschöpfungskette vorzubereiten – aber wie Kinder sich entwickeln und stark werden, hat sich dadurch kein bisschen geändert. Wer, bitte schön, garantiert uns denn, dass die Kinder-Optimierer, die jetzt unterwegs sind und nach mehr Druck rufen, nicht die Bedürfnisse der Wirtschaft mit den Bedürfnissen unserer Kinder verwechseln? Wer garantiert uns denn, dass es denjenigen, die jetzt ruck, zuck die Kinder »fördern« wollen, wirklich um die Kinder geht? Vielleicht geht es ihnen ja doch darum, an den Stoff zu kommen, aus dem die Wachstumsraten sind? Wer kann uns garantieren, dass die Männer (um die handelt es sich ja zumeist), die da den »Schonraum« der Kindheit sanieren wollen, nicht ihre eigenen Probleme auf die Kinder übertragen? Wer garantiert uns, dass ihre Spekulationen nicht genauso platzen wie die Blasen zuvor – wer erinnert sich noch an die antiautoritäre Erziehung? Noch einmal: Dagegen will ich eine Prüfung fordern. Die Frage nach dem Wohin – das ist meine feste Überzeugung – kann nur beantworten, wer die Antwort auf die Frage nach dem Woher kennt. Deshalb wird uns in fünf oder zehn Jahren auch die derzeit geradezu hysterisch gefeierte »frühe Bildung« wieder nur ein Kopfschütteln wert sein.

Der Maßstab, den ich hier einfordere, ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Er hat ein eigenes Gewicht – das Gewicht der vielen tausend Jahre, in denen unsere Kinder zu dem wurden, was sie heute sind. Wir brauchen dieses Gewicht, damit die Luftschlösser wieder auf dem Boden landen. Wir brauchen dieses Gewicht, damit wir wieder über Kinder reden, wie sie sind – und nicht von Kindern, wie wir sie uns tagesaktuell zusammenreimen.

1

Die Angst-Masche: Womit Eltern zu kämpfen haben

1   Die Angst-Masche: Womit Eltern zu kämpfen haben

Shutterstock / Milan Bruchter

Wie sehr wir schwimmen, zeigt sich schon an der Angst, die immer mit von der Partie ist, wenn es um den »richtigen« Umgang mit Kindern geht. Tatsächlich haben die meisten Theorien, die da über Kinder lanciert werden, einen gemeinsamen Nenner: Sie sind verzagt, sie sind pessimistisch, und sie verbreiten eine Heidenangst.

Angstbesetzt? Pessimistisch? Verzagt? Gerade die Elternmagazine scheinen doch grenzenlosen Optimismus zu verbreiten: »In jedem Baby steckt ein Super-Kind!« Und dazu strahlende Babys, strahlende Eltern – jeder Geigerzähler würde an seine Grenzen kommen.

Je tiefer es aber ins Kleingedruckte geht, desto schwieriger wird die Materie. In Wirklichkeit nämlich sind die fröhlichen Kinder – Mimosen!

»Brauchen Babys Regelmäßigkeit?« – »Na klar! Erfahrene Mütter zeigen, wie man den Tag strukturiert!«

»Die ersten Worte – jetzt mit den richtigen Spielen fördern!«

»So wird Ihr Kind ein Optimist – hier sind die Glücksregeln.«

Ja, nicht einmal schlafen können die Kleinen – sie müssen das durch »Schlaftrainings« lernen – die zum Teil nur deshalb nicht unter die Genfer Konvention fallen, weil damit keine Kriegsgefangenen, sondern Babys behandelt werden. (Ich sehe insbesondere das von Annette Kast-Zahn popularisierte »kontrollierte Schreienlassen« kritisch – ich gehe darauf ausführlich in meinem Buch »Schlaf gut, Baby« ein.)

Und dann ist da diese Zeitungsbeilage zur Beikost – zwölf Seiten dick, nach einem Farb-Leitsystem aufgebaut. Gläschen für den fünften Monat, Gläschen für den sechsten Monat (mit Putenfleisch), Gläschen für den siebten Monat (mit Rindfleisch). Für jeden Monat zehn verschiedene Mischungen! Der Übergang von der Muttermilch zu fester Kost scheint mindestens ein Studium der Ernährungswissenschaft vorauszusetzen.

Und deshalb breitet sich hierzulande ein neuer Sport aus – nämlich danach zu suchen, was die Natur bei der Grundausstattung der Kleinen wohl vergessen haben könnte. Eine Zeichensprache für Babys etwa? Ein paar Schwimmhäute zwischen den Fingern? Die Gene für mehr Begeisterung beim Gemüse? Eine App für die frühe Ausbildung der richtigen Stifthaltung?

Apropos Stifthaltung, da scheint der Spaß in der Tat aufzuhören. Da stellt sich im Jahr 2016 ein Kinder- und Jugendpsychiater vor die Eltern und warnt sie vor den »Superkids« und den »Burnout-Kids«, die sie in ihrem Ehrgeiz heranziehen. Um sie dann gleich vor der nächsten Gefahr zu warnen – vor Waldkindergärten! Die würden oft nicht »ausreichend auf die Schulrealität vorbereiten«. Und da dachte doch einer, wenigstens die Kindergärten hätten etwas mit der Vorbereitung auf das Leben zu tun.

Aber der Trick scheint zu funktionieren. Mit jeder neuen Entdeckung, was Kinder angeblich brauchen, wird eine neue Angst fixiert: Was, wenn ich das alles – Gott bewahre – meinem Kind nicht gebe oder nicht geben kann? Mit jedem neuen Eintrag in das Lexikon der Erziehung wird die Latte noch ein bisschen höher gelegt. Was Eltern alles verpassen und vermasseln können!

Tatsächlich haben sich Eltern in ihrer Verunsicherung an jede noch so banale Verhaltensweise der Kleinen geklammert, um ein Besserungsprogramm aufzulegen. Selbst das Pullern und der Stuhlgang wurden zu Exerzierfeldern der Erziehung: Die frühe Kontrolle über den Schließmuskel, da waren sich auch die medizinischen Autoritäten einig, würde aus diesem unbeherrschten Triebkind ein diszipliniertes, eben »sauberes« Kind machen. Und heute? Hängen viele Eltern ihre Hoffnungen – und das genauso bleischwer – an etwas anderes, das alle Babys tun, wenn auch auf ihre Art: das Schlafen. Wenn man die Babys nur irgendwie dazu bringe, dass sie so schliefen, wie wir Großen das tun – also möglichst lang am Stück und im eigenen Bett –, würden sie selbstständiger, autonomer, eben »größer«. Seither lassen sich in den westlichen Ländern Millionen von Eltern auf eine Art Kampfbeziehung zu ihren Kleinen ein – natürlich um »das Beste« für ihr Kind zu erreichen (Erziehung wurde noch nie anders begründet). Da wird sogar das Stillen zum erzieherischen Akt: Ja, sie sollen gestillt werden, die Kleinen – aber doch bitte nicht so doll, dass sie dabei auch noch einschlafen. Eine solche »falsche Gewohnheit« könnte sie nämlich, so die verbreitete Angst, davon abhalten, den Schritt in den Schlaf selbst zu tun – und sie damit in ihrer Entwicklung zur Selbstständigkeit behindern …

Angst und bang

All das ist nicht nur Ausdruck von Unsicherheit. Es ist vor allem Ausdruck von ganz elementaren Ängsten. Sie sind so tief verwurzelt, dass sie eigentlich zur Geschichte der Erziehung gehören wie das Amen zur Kirche (warum diese Ängste zu manchen Zeiten und in manchen Kreisen stärker sind, ja, warum sie sich bisweilen zu regelrechten Obsessionen auswachsen, ist eine spannende Frage, die uns noch beschäftigen wird):

■  Die Angst vor dem Verwöhnen. Geben wir den Kleinen das, was sie von uns verlangen, so könnten sie später am Leben scheitern. Insbesondere Nähe steht unter Generalverdacht: Schlafen im Bett der Eltern, Hochnehmen, wenn sie schreien, langes Stillen – alles könnte sie »verwöhnen«.

■  Die Angst vor den Tyrannen. Kinder wollen sich doch gegen die Eltern durchsetzen? Setzen wir ihnen nicht frühzeitig Grenzen, so übernehmen sie bestimmt die Macht im Haus – sie werden zu den gefürchteten »Tyrannen«.

■  Die Angst, nicht perfekt zu sein. Entwicklung ist ein Balanceakt. Wo wir alles perfekt machen, läuft sie gut – was aber, wenn wir einmal das Falsche tun? Dann macht eine Synapse zick anstatt zack, und die Kleinen sind für ihr Leben geschädigt!

■  Die Angst, unsere Kinder zu wenig zu fördern. Um sich möglichst gut zu entwickeln, brauchen Kinder unbedingt möglichst viel Anregung, Unterstützung und Hilfe von den Eltern und von Experten. Nur so entfalten sie das Potenzial, das sie gerade heute so dringend brauchen!

Die Masche ist einfach: Jede Angst bildet den Grundstoff einer neuen Erziehungstheorie. Jede Angst ist frisches Futter für die Spekulanten auf dem Erziehungsmarkt. Und mit jeder Angst lässt sich wunderbar Geld verdienen.

Vor allem aber fällt an diesem Viereck der Angst eines auf: Es lässt die Geschichte unserer Kinder außer Acht. Wenn unsere Kinder wirklich auf ihrem jahrtausendelangen Weg bestehen konnten, dann nicht, weil sie mit Problemen beladene Mimosen waren, sondern deshalb, weil sie guteAntworten auf die Herausforderungen gefunden haben, die sich ihnen stellten. Deshalb, weil sie Stärken entwickelt haben. Warum denn sollten sie eine Ansammlung von Problemen und Schwächen sein? Wie hätten wir Menschen uns dann unter den schwierigen Bedingungen der Vergangenheit behaupten können? Warum also sollten unsere Kinder uns Angst einjagen?

Sehen wir unsere Ängste deshalb endlich als das, was sie sind: als unsere eigenen Erfindungen.

Die Angst vor dem Verwöhnen

Packen wir gleich die erste Angst bei den Hörnern: die Angst vor dem Verwöhnen. Eltern haben längst akzeptiert, dass Kinder nach ihrem eigenen Tempo sauber werden, und die meisten sehen auch die Zornanfälle nicht mehr gleich als moralische Kernschmelze an. Nur beim Thema Verwöhnen scheint sich seit den Zeiten wenig getan zu haben, als noch Freud persönlich davor warnte, zu viel mütterliche Zärtlichkeit beschleunige die sexuelle Reifung des Kindes. »Bekommt ein Säugling nur ein einziges Mal die Flasche mit zu großer Saugöffnung« – so die aktuelle Warnung eines bekannten Pädagogen –, »wird diese Trinkerleichterung ab sofort lauthals eingefordert.« Was man als nimmersattes Monsterbaby eben so unternimmt, um sich einen faulen Lenz zu machen …

Auch heute steht hinter der Angst vor dem Verwöhnen eine erhebliche Sorge: Zu »weich« behandelte Kinder könnten es später schwer haben in der rauen Welt. Die Welt ist nun mal nicht mit Plüsch ausgelegt! Eine gewisse Härte und »dosierte Versagung« könnten den Kindern also helfen, ihren Platz im Leben besser zu finden und zu behaupten.

Der Behaviorismus (die in der Nachkriegszeit tonangebende psychologische Denkschule) ließ diese Argumentation geradezu zwingend erscheinen. Wie Experimente an Ratten eindeutig belegten, wird deren Verhalten durch Belohnung häufiger, durch Bestrafung seltener. Auf ein Baby übertragen, müsste das doch heißen: Wird ein schreiendes Baby hochgenommen, so wird es wegen dieser »Belohnung« nur noch häufiger schreien! Und ein kleines Kind, durch viel Kuscheln, Getragenwerden oder überhaupt durch Nähe zu seiner Bezugsperson »belohnt«, wird nach dieser Logik umso gieriger sein nach Nähe und Umsorgtsein! Ja, heute werden die Eltern sogar – allen Ernstes – von einem Rostocker Kinderarzt davor gewarnt, ihre Kinder in den Schlaf zu singen. Denn dadurch gewöhne man ein Baby ja daran, dass da Menschen sind, die es in den Schlaf begleiten.

Aber selbst das ist noch zu toppen: Ein Kind kann sogar zum Nimmersatt erzogen werden! Das Online-Familienportal swissmom etwa vermeldet voller Sorge: Gewöhne sich ein Baby daran, durch Nuckeln an der Brust einzuschlafen, so entwickle es dadurch einen »angelernten Hunger«!

Nun könnte man sagen, wer im 21. Jahrtausend sein Baby nicht mehr in den Schlaf singt, weil ein an Laborratten entwickeltes psychologisches Denkschema das angeblich nahelegt, der hat auch mit sich selbst noch so manches auszuhandeln. Das mag sein. Und doch liegt für mich eine andere Erklärung auf der Hand: Ein solcher Mensch, der sich partout nicht auf die Bedürfnisse eines Menschenkindes einlassen kann, kennt unsere menschliche Geschichte nicht. Ihm fehlt damit eine wichtige Wegskizze, um sich mit seinem Kind auf die Reise zu machen. Ich würde jedem ein solches ehrliches Miteinander wünschen. In unseren Kindern haben wir ja ganz wunderbare Begleiter.

Schadet Nähe?

Unsere Kinder erzählen uns nämlich eine ganz andere Geschichte. Denn sie stammen aus einer Welt, in der Nähe – und zwar viel davon – ihr wichtigster Schutz war. Über die weiteste Strecke der menschlichen Geschichte lebten wir Menschen ja den Lebensstil der Jäger und Sammler. Genauer gesagt, verbrachten wir auf diese Art über 99 Prozent unserer Geschichte – bis wir vor etwa 10 000 Jahren (in vielen Gebieten Europas erst vor 4 000 Jahren) sesshaft wurden. In den Hunderttausenden von Jahren davor spielte sich das Leben in mobilen Gruppen von vielleicht 50 bis 150 Stammesmitgliedern ab, dauerhaft geschützte Behausungen gab es nicht.

In dieser Welt war die Nähe vertrauter Erwachsener und deren unmittelbare Zuwendung für kleine Kinder das einzige Ticket zum Überleben. Kinder etwa, die bedenkenlos allein unter den vielbesungenen Sternlein am Himmel eingeschlafen wären, wären in dieser Welt in nur einer Nacht tote Babys gewesen! Sie wären von Hyänen verschleppt, von Nagetieren angeknabbert oder bei einem nächtlichen Temperatursturz unterkühlt worden. Auch dass kleine Kinder viel getragen wurden, dass sie häufig, nach Bedarf und lange gestillt wurden, dass ihr Schreien rasch erhört wurde – all das war Teil des ganz normalen, für jeden kleinen Homo sapiens zu erwartenden Lebensprogramms.

Können Kinder wirklich »verwöhnt« werden, indem sie das bekommen, was ihnen bis in die jüngste Vergangenheit überhaupt erst das Überleben ermöglichte?

Andere Zeiten – andere Kinder?

Aber ist der Vergleich mit der Vergangenheit eigentlich zulässig? Die Umwelt ist heute garantiert tigerfrei, die Zentralheizung funktioniert, die Eltern sorgen auf moderne Art für Schutz und Geborgenheit der Kleinen.

Wenn da nicht die Instinkte der Kinder wären. Mit denen leben unsere Kinder noch immer in der »alten« Welt, in der ihr einziger Schutz aus der Nähe vertrauter, starker Erwachsener bestand. Dass die Eltern die Webcam über dem Bettchen laufen haben, das spürt ein Baby nicht. Woher soll es denn wissen, dass die Tür sicher verschlossen ist und es Bären nur noch im Zoo gibt? Sicherheit kann es zunächst nur körperlich erfahren, durch Berührungen, Gerüche, durch sinnliche Erfahrungen also. Sein von der Evolution gestricktes Gefühlskleid hat sich durch die Erfindung des Babyphones ja nicht geändert – die dreifach verglasten Fenster, die die Kälte abhalten und vor Raubtieren schützen, sind sozusagen noch nicht in seiner Seele angekommen.

Wer zweifelt, mag sich an einen Campingurlaub erinnern. Da raschelt es dort draußen, da streicht vielleicht ein Igel durchs Gebüsch – wirklich ein Igel? In der Ferne hört man Laute, die man sonst nie hört, und wenn es zu tröpfeln beginnt, droht gewiss ein Sturm. Selbst uns Erwachsene treibt es da näher zueinander (dabei wissen wir ja tatsächlich, dass die Geräusche dort draußen von keinem Säbelzahntiger stammen!). In der sichersten aller Welten bekommen wir Großen es mit der Angst zu tun.

Würden wir unseren Säugling da in ein eigenes Zelt legen? Undenkbar! Undenkbar selbst in lauen Nächten, in denen ein Baby nicht gleich erfrieren würde, wenn es sich aus seinem Schlafsack strampelt. Undenkbar erst recht in einer Umwelt, in der draußen ein Wildbach rauscht, Raubtiere nach Beute suchen und in der die Temperatur eben nicht auf die empfohlenen 16 bis 18 Grad einzustellen war.

Aber genau das ist die Welt, in der die Instinkte unserer Babys noch heute wurzeln. Mit ihren Ängsten und Erwartungen leben auch die modernen Kleinen zunächst einmal dort draußen. Bis sie ihre eigenen Sicherheiten gebildet haben (ein Prozess, der Zeit braucht, und zwar seine eigene Zeit), sind sie im Grunde Steinzeitbabys. Und die brauchen mehr als ein bisschen Ruckeln am Kinderwagen und ab und zu den Schnuller rein.

Nähe heute – wozu?

Dass das auch heute noch gilt, zeigt die Wissenschaft. Nach ihren Befunden hilft früher Hautkontakt den Babys bei der Anpassung ihres Stoffwechsels nach der Geburt. Eine Unterzuckerung etwa kommt am Körper der Mutter weitaus seltener vor. Atmung, Kreislauf und Körpertemperatur sind bei Körperkontakt stabiler, und auch das Stillen klappt Haut an Haut besser. Von Frühgeborenen ist bekannt, dass sie bei »Känguru-Pflege« (bei der das Baby statt im Inkubator zeitweise am Körper der Mutter liegt) schneller wachsen und ein stärkeres Immunsystem entwickeln.

Die Nähe scheint aber nicht nur dem Körper gutzutun, sondern auch der Seele. Babys, die regelmäßig am Körper getragen werden, sind ausgeglichener und weinen insgesamt weniger. Zugleich hilft ihnen die Nähe bei der Entwicklung von Urvertrauen – auch »Bindungssicherheit« genannt. Entwicklungspsychologen führen das darauf zurück, dass in körperlicher Nähe mehr »Kanäle« für die Kommunikation benutzt werden. Von der Nähe profitiert ebenso die Mutter: Mütter, die ihre Neugeborenen häufig bei sich haben, leiden seltener an Wochenbettdepressionen. (Hier sei kurz daran erinnert, dass zu den wissenschaftlichen Aussagen jeweils Quellenangaben im Anhang zu finden sind.)

Körperliche Nähe ist also auch heute noch »eingeplant«. Und sie stärkt nicht nur das Baby, sie stärkt auch die Mutter – ein Hinweis darauf, dass das Leben mit einem Säugling kein Tauziehen ist, wie es manchmal dargestellt wird, sondern ein wechselseitiges Geben und Nehmen.

Nähe und Lernen

Ja, Nähe erleichtert sogar das Lernen. Ist das denn in den ersten Wochen und Monaten überhaupt schon Thema bei den Kleinen? Und wie! Denn Eltern und ihre Babys mögen Traumpartner sein, das gemeinsame »Tanzen« im Alltag aber müssen sie nach und nach erst entdecken und – ja: erlernen. Die ersten Lebensmonate sind sozusagen eine Übungsstrecke. Da erfahren Mutter und Kind, wie man ohne großen Aufwand, feinfühlig und niederschwellig miteinander kommuniziert. Glückt der Tanz, so kann auf grobe Signale (wie etwa Schreien) leichter verzichtet werden.

Tatsächlich lässt sich auch im Alltag zeigen, dass Nähe den intuitiven Austausch fördert. In einem klassischen Experiment erhielten 25 zufällig ausgewählte sozial benachteiligte Mütter nach der Geburt Tragesäcke. 25 andere, ebenfalls zufällig ausgewählte Mütter bekamen gepolsterte Plastikliegeschalen für ihre Kinder. Das ganze erste Lebensjahr über wurden die Kleinen regelmäßig auf ihren Entwicklungsstand untersucht, und der Umgang von Mutter und Kind wurde beobachtet und ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass die Mütter, die ihre Säuglinge trugen, schon nach wenigen Monaten sensibler mit ihren Kindern umgingen. Nach einem Jahr wurde bei 83 Prozent der »Tragekinder« eine sichere Bindung zur Mutter festgestellt – also eine gute emotionale Beziehung. Unter den Nichtgetragenen wiesen nur 38 Prozent eine sichere Bindung auf.

Belohnen und bestrafen

Aber was ist dann mit der Annahme, dass Babys auch mal warten sollten, damit sie nicht allzu fordernd werden? Vermasseln wir uns mit der Nähe nicht die Erziehung? Bekommt, wer auf »unerwünschtes Verhalten« nachgibt, nicht irgendwann dafür die Quittung – ein ewig schreiendes, ein schlecht schlafendes, immer forderndes, immer unzufriedenes Kind?

Zumindest wissenschaftlich hat diese Altlast der Pädagogik ihr Endlager gefunden. In den Untersuchungen der heutigen Entwicklungspsychologie zeigt sich nämlich eines: Diejenigen Bedürfnisse, die für die Entwicklung eines Kindes von grundlegender Bedeutung sind, können von außen gar nicht gesteuert werden. Kinder werden nicht weniger hungrig, wenn wir ihren Hunger ignorieren. Und sie fangen nicht an, uns aus dem Haus zu futtern, wenn wir ihnen zu essen geben, wenn sie hungrig sind!

Und so ist es auch mit dem Weinen: Babys, die verlässlich getröstet werden, schreien später eben nicht mehr,sondern weniger als solche, die »warten« mussten. (Das zeigen Vergleichsstudien, bei denen die tägliche Schreidauer bei unterschiedlichen »Pflegestilen« gemessen wurde.) Babys geben das Weinen nicht auf, nur weil wir sie schreien lassen. Sie weinen aus ihrer Sicht ja nicht, um ungebührliche Ansprüche anzumelden, sondern um ihr Leben zu retten!

Diese Zusammenhänge sind wissenschaftlich so gut untermauert, dass man sich schon fragen muss, warum man dieses Geschwätz über Babys noch immer so oft zu hören bekommt.

Kinder dürfen satt werden1

Können Sie sich ein Buffet vorstellen, beladen mit duftenden Gerichten und Leckereien? Sie stehen in der Schlange mit einem interessanten Gesprächspartner, vertieft in bunte Geschichten und Erzählungen … bis Sie merken, dass sich die Schalen und Schüsseln am Buffet rasch leeren. Mit einem Auge sind Sie jetzt immer öfter bei den Platten, die nach und nach abgeräumt werden. Ihr Gespräch wird unkonzentrierter, Ihre Blicke wandern jetzt immer schneller an dieser nicht kürzer werdenden Menschenschlange entlang zu den leckeren Spießchen und Salaten. Ja, statt Ihr Gespräch zu bereichern, kleben Ihre Gedanken längst an den Leuten dort vorne, die sich die schwindenden Happen auf die Teller häufen, wählerisch und unendlich langsam. Und natürlich, auch bei Ihrem Gesprächspartner sind die funkelnden Ideen und Geschichten längst im Bauch versunken …