Kinderspiel - Dennis Herzog - E-Book

Kinderspiel E-Book

Dennis Herzog

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Beschreibung

Yasmin ist verzweifelt. Nach dem Tod ihres Mannes ist ihr Sohn Erik, der schon immer schwierig war, noch weniger zu kontrollieren. Gewaltbereite Jugendliche und die Polizei sind auf mysteriöse Weise in das jüngste Geschehen verstrickt. Doch die Wahrheit liegt in Vergangenheit und Zukunft zugleich. Erik hütet ein bizarres Geheimnis.

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Dennis Herzog

Kinderspiel

Killerspiel

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Prolog

Nichts.

Nackte Wände, ein kahler, klinisch sauberer Boden.

Alles war einfach fort.

Jeden Raum, den sie durchquerte, fand sie vollkommen leer vor.

Eben noch stand Yasmin in der Küche. Eine Hand voll Kartoffeln, leise vor sich hin brodelnd, im großen Kochtopf. Der Backofen verströmte den herrlichen Duft des beinahe fertigen Rollbratens. Sie hatte sich nur kurz gebückt, um aus dem Schrank unter der Spüle einige Untersetzer für den heißen Topf und die Auflaufform mit dem Fleisch zu holen.

Doch als sie die Tür öffnete und in den Innenraum des weißen Küchenschrankes schaute, war sämtlicher Inhalt verschwunden. Instinktiv sah sie auch im Hängeschrank nach, der ihr am nächsten war. Es fehlten nicht einfach nur alle Gegenstände, der Stauraum sah ganz so aus, als hätten dort niemals zuvor irgendwelche Utensilien gelagert. Alles war völlig sauber, so als wären die Küchenschränke fabrikneu, ganz so als wären sie gerade erst aufgebaut worden.

Verwirrt hatte sie sich wieder aufgerichtet, nur eine Sekunde die Augen geschlossen und sie wieder geöffnet. Vor Schreck stieß sie nun einen spitzen Schrei aus.

Der Schrank, - eben noch offen -, direkt vor ihren Augen – weg!

Die gesamte Arbeitsfläche, sämtliche Regale waren fort.

Die große Küche und alles darin Befindliche war plötzlich verschwunden. Kein Fleisch im Herd, nicht einmal mehr ein Herd. Jeder Gegenstand, jedes Möbelstück, Tisch, Stühle, alles wie weggefegt. Glänzende saubere Böden, frische weiße Farbe an den Wänden. Kein Anzeichen dafür, dass hier überhaupt jemand wohnte.

Selbst die Gardinen fehlten. An der Decke ragten nackte Kabel aus einem sauber gefrästen Loch, wo Sekunden vorher die schöne teure Lampe hing; ein Hochzeitsgeschenk ihres verstorbenen Mannes.

Falls denn „verstorben“ hier der richtige Ausdruck war.

Kein Geruch mehr, kein Lufthauch. Völlige Stille umfing sie. So musste sich ein Taucher fühlen, der in der Tiefe, abgeschirmt von allem Anderen, durchs Wasser glitt, umgeben nur von stummen Fischen und sich wiegenden Wasserpflanzen.

Hektisch war sie aus der Küche und ins angrenzende Wohnzimmer gestolpert, nur um dort angekommen, mit weit aufgerissenen Mund und entgleistem Blick erneut Halt zu machen. Auch hier schrien ihr nur nackte, weiße Wände entgegen. Ein glatt gefliester Boden, der nicht die Ahnung eines Staubkorns zu beherbergen schien. Nicht einmal die charakteristischen hellen Flecken, die unweigerlich auftraten, wenn man Schränke, Sofas, oder an den Wänden hängende Bilder entfernte, waren geblieben. Nichts wies überhaupt darauf hin, dass jene Dinge, die doch zuvor lange Zeit einen festen Platz in diesem Raum beansprucht hatten, jemals vorhanden gewesen waren.

Zaghaft hatten ihre trockenen Lippen ein einzelnes Wort geformt, und sie hauchte es in die gähnende Leere, die sie jetzt umschlungen hielt, wie eine Anaconda ein Wasserschwein: „Hallo?“

Sie sprach bewusst sehr leise und verhalten in die sterile Umgebung, und doch kam ihr ihre eigene Stimme furchtbar laut, fehl am Platz und zudem noch seltsam fremdartig vor. Ihre Frage blieb unbeantwortet. Es gab nur sie und die Einsamkeit an diesem Ort. Ein Ort der ihr über viele Jahre so vertraut war, doch nun so fremd wirkte, als sei sie in eine andere Dimension über gewechselt.

Kurz sah sie sich ratlos um, dann begann sie das gesamte Haus zu durchlaufen. Fand in jedem Raum das gleiche schaurige Nichts vor.

Dies war nicht das Gebäude in dem sie lebte, es war eine Kopie, eine unbewohnte, falsche Version ihres Hauses.

Ihre Verwirrung nahm von Sekunde zu Sekunde stärkere Gestalt an. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander, wie Guppys in einem übervölkerten Aquarium.

Zuletzt trat sie heraus in den kleinen, hellen Wintergarten. Dieser Anbau, die letzte große Ausgabe, die Andreas zu Lebzeiten getätigt hatte, war ihr liebster Zufluchtsort.

Dort wo sie gerne saß, ihre Abende verbrachte, oder einfach nach erledigter Hausarbeit, bei einem oder mehreren Gläsern Wein einen Roman las, blieb sie abermals stehen. Hier brach sie ihre angsterfüllte „Hausbesichtigung“ ab.

Sie schaute hinaus auf den großen, mittlerweile wild bewachsenen Garten.

Hier sah eigentlich Alles völlig normal aus. Dennoch nagte an ihr ein eindringliches Gefühl, das ihr mit stetig wachsendem Nachdruck zuflüsterte, es könne nicht wirklich sein was sie sah. Was im Haus passiert sein musste war schlichtweg unmöglich.

Bevor sie in der Lage war, eingehender darüber zu grübeln wie das alles hier zustande kommen konnte; was hier eigentlich los war; was sie am Anblick des Gartens störte, bemerkte sie etwas neues.

Ihr Lieblingsplatz war nicht völlig der Realität entflohen. Etwas war anders als im Rest des Hauses. Sie blickte durch die grobmaschigen Vorhänge, die halb heruntergelassen, einen Teil der Bodentiefen Panoramafenster bedeckten.

Die kurze, gelbe Couch stand noch an ihrem Platz. Ebenso die ordentlich arrangierten Blumenkästen mit kleinen Akazien und verschiedenen Geranien-arten, die sie liebevoll zu pflegen wusste, da ihr Anblick ihr mehr als vieles Andere Trost zu spenden vermochte.

Jedoch jagte ihr ein neuer Schrecken einen kalten Schauer über den Rücken. Sofort zuckte sie zusammen, als sie den Blick zur Couch wandte.

Sie musste sich die Hände auf den Mund pressen, um den Schrei zu unterdrücken, der in ihrer Kehle hochstieg. Dass sich hier, im einzigen Raum des Hauses, der augenscheinlich „normal“ geblieben war, auf dem gelben Stoff des einzigen verbliebenen Möbelstückes im ganzen Gebäude eine Person befand, damit rechnete sie in der Stille und der absoluten Leere, die überall vorherrschte, am wenigsten. Offensichtlich war es eine Frau, die mit dem Gesicht zur Rückenlehne, mit dem Rücken zu ihr, dort lag. Schulterlange, braune Haare. Anscheinend schlief sie.

Am unerklärlichsten war der Umstand, dass die Frau das gleiche kurze Sommerkleid trug, wie sie selbst. Genauer gesagt musste das gar exakt das selbe Kleid sein. Das beruhigende Blumenmuster auf blauem Grund, eine breite Kordel aus geflochtener Seide, anstelle eines Gürtels an der Hüfte. Der untrügliche Beweis dafür, dass tatsächlich jemand vor ihr lag, der ihr Gewand trug, entlockte ihr ein kurzes wehleidiges Stöhnen. Sie hatte sich am Vortag, auf eben dieser Couch, mit Wein bekleckst und sah nun eben diesen, mittlerweile eingetrockneten, rostbraunen, Fleck auf dem Stoff des Kleides der ihr vermeintlich fremden Person.

Unvermittelt, einer bösen Ahnung folgend, sah sie an sich herunter und musste entsetzt feststellen, dass sie selbst nackt hier stand.

Hatte sie das Haus erkundet, ohne Kleidung zu tragen? War sie eben noch angezogen gewesen und die Veränderung war erst vor Sekunden eingetreten, wie das Verschwinden der Küche mit einem Blinzeln?

Sie trug nicht einmal Schuhe! Dabei hätte sie schwören können, beim Durchqueren der Räume den Widerhall ihrer besohlten Schuhe deutlich gehört zu haben.

Verwirrung war kein ausreichender Ausdruck mehr, für das was in ihr vorging. Sie fühlte ihren pochenden Herzschlag, meinte ihn gar hören zu können. Sie atmete zu schnell. Gedanken und Gefühle überschlugen sich, rasten durch ihr Bewusstsein, wie Mäuse durch ihren Käfig flitzen, die ohne klares Ziel und doch meist auf der steten Suche nach Futter herumwirbelten. Das Futter, das ihr Verstand nun verzweifelt zu finden suchte, war eine „Erklärung“.

Es musste doch irgendwie, irgendwo einen Sinn ergeben? Was geschah nur mit ihr?

Plötzlich vernahm sie ihre eigene Stimme. Sie sprach zu der weiblichen Person auf ihrem Ruheplatz: „Wach auf.“

„Wach doch bitte auf!“ Wiederholte sie, um einiges lauter und wurde sich bewusst, wie gereizt sie klang.

Regelrecht zornig schrie sie: „Yasmin! Wach endlich auf!!!“

Yasmin wachte auf.

Kapitel 1

Eins

Sie öffnete nur widerwillig die Augen. Der Traum klang deutlich langsamer ab, als es ihr lieb war. Sie wusste nicht gleich wo sie sich befand, die Bilder überlagerten einander. Eindrücke, dessen, - was sie jetzt im beinahe Wachzustand sah, - und was sie zuvor im Traum erlebt hatte, vermischten sich. Ihre Atmung war flach, noch immer etwas zu schnell.

Langsam zwängte sich ihr bewusster Verstand in den Vordergrund, schob damit die Orientierungslosigkeit beiseite und gelangte endlich erfolgreich zur Klarheit.

Auf der kleinen Couch im Wintergarten war sie eingeschlafen. Sie lag im Moment ihres Erwachens genau so da, wie sie sich selbst im Traum gesehen hatte. Bekleidet mit dem Wein befleckten Sommerkleid, das Gesicht zur Lehne gewandt. Nur hatte sie im Traum bis zuletzt nicht wirklich begreifen wollen, dass es keine Fremde war, die sie dort gesehen hatte. Ihre hagere Figur, das feine braune Haar, selbst die Art wie die Traumversion ihrer Selbst hier gelegen hatte, hätten ihr diese Schlussfolgerung offenbaren sollen.

Doch Träume folgten bekanntlich stets eigenen Regeln.

Ein beklemmendes Gefühl, ein widerlicher kleiner Teil ihres Verstandes wollte darauf beharren, sie wäre noch immer nicht erwacht. Die Frau die sie gesehen hatte, hätte bloß mit ihr den Platz getauscht und starre nun in ihrem Rücken auf sie herab. Beinahe bildete sie sich ein, sie spüre den ratlosen Blick auf sich ruhen.

Doch als sie langsam den Kopf zum Fenster drehte, war dort niemand.

Lange konnte sie nicht geschlafen haben. Der strahlend schöne Vormittag war kaum voran geschritten, und nun blendeten sie die einfallenden Sonnenstrahlen.

Einige Minuten lang blieb Yasmin noch liegen, ordnete ihre Gedanken, schüttelte den Traum weitestgehend ab und schaute, nachdem sich ihre Augen an die abrupte Helligkeit gewöhnt hatten, einfach hinaus in den grünen Garten.

Jeder Busch, jeder Baum war eine wahre Wohltat für ihre Augen.

Über dem kleinen Teich konnte sie sogar einige Libellen ausmachen, die geschwind ihre Kreise zogen. Sie mochte die seltenen, violetten Insekten, deren Körper metallisch in der Sonne glitzerten.

Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Eine Mimik, die nicht mehr oft vorkam.

Yasmin erfreute sich nur noch sehr selten an irgendetwas in der heutigen Zeit.

Sogleich fiel ihr allzu deutlich auf, wie wenig Pflege dem Rasen und allen Pflanzen im großen Bereich hinter dem Haus, in den letzten Monaten zuteil geworden war.

Monate? - So lange war es noch nicht einmal her, da hatte es noch den geliebten Partner an ihrer Seite gegeben. Schmerzlich presste die Erinnerung ihre Brust zusammen. Eine Erinnerung an bessere Zeiten, an ihn. An den Mann, in dessen Armen sie hier Stunde um Stunde hatte verbringen dürfen, als es ihn noch gab.

Es war August. Ihr Mann, ihr Partner und Freund hatte sie im April verlassen; war ihr entrissen worden! Nicht einmal ein halbes Jahr war vergangen, doch für Yasmin bedeutete jede Minute eine Ewigkeit in Einsamkeit.

Täglich schwankte sie zwischen Trauer und Freude, in Gedanken an ihren wundervollen Mann. Er hatte es geliebt stundenlang im Garten zu arbeiten, wühlte im Unkraut, setzte Bäume, stutzte Büsche und kümmerte sich beherzt um Blumen und die kleine Teichanlage, die sein ganzer Stolz war.

Seine schier unerschöpfliche Energie nutzte der stattliche Mann in beinahe jeder freien Minute, indem er entweder seine Freizeit für die beiden Kinder zu opfern bereit war, oder sich voll und ganz für seinen Garten hergab.

Was nicht etwa hieß, dass Yasmin selbst dabei zu kurz gekommen wäre. Nein. Die Abende, wenn Rebecca und Erik im Bett waren, wenn die Sonne hinter den Hügeln verschwand, diese Zeit gehörte einzig ihrer Liebe.

An so manchen Tagen hatte sie das Gefühl gehabt die wohl glücklichste Frau der Welt sein zu müssen. Weil sie einen Menschen wie Andreas zum Partner hatte.

Warum nur? Wie hatte Gott zulassen können, dass ihr und ihren Kindern dieser wunderbarste aller Menschen genommen worden war?

Den zuvor erlebten Traum zu erklären, die verschrobenen Bilder in Zusammenhang zu bringen, fiel ihr nicht einmal schwer: Es war die Leere in ihr, die ihr aufgezeigt wurde. Die Lücke, die entstanden war, durch den Tod ihres Mannes. Sie manifestierte in ihren Träumen ihre Einsamkeit mit dem Fehlen aller Dinge! Aller Notwendigkeiten. Obgleich sie die Meinung vertrat, dass es nicht einen einzigen, - und sei er noch so kostbar, - Gegenstand geben konnte, der jemals einen Menschen zu ersetzen vermochte.

Ganz besonders nicht diesen Einen. Schrecklich und unmöglich jemals zu verkraften, dass alles was sie geteilt hatten, nun ihr allein überlassen sein sollte. So eingespielt, so vertraut waren beide im Umgang mit einander gewesen. Andreas hatte es fertiggebracht sich zeitweise buchstäblich „blind und taub“ auf sie zu verlassen.

So war es in gegenseitigem Vertrauen immer gewesen, und niemals war einer von ihnen vom jeweils anderen enttäuscht worden.

Wie beinahe täglich, liefen Yasmin jetzt warme Tränen die Wangen herab, sie wischte sie nicht weg, ließ wie immer ihren Gefühlen freien Lauf.

Jedenfalls, wenn sie alleine war. Vor Rebecca kam es nur selten vor. Und in Gegenwart von Erik hielt sie sich generell tapfer zurück, mimte die Unerschütterliche.

Ihr Make-up konnte nicht verlaufen, sie trug ja keines, tat dies ohnehin beinahe nie.

Andreas hatte sie so immer am schönsten gefunden, wenn sie sich natürlich gab.

Unzählige Male hatte er mit stets aufrichtiger Miene verkündet: „Du bist am herrlichsten anzusehen, wenn du gerade aufgewacht bist!“

Es fand sich somit auch heute kein geeigneter Grund, daran jetzt etwas ändern zu wollen.

Er hatte sie geliebt, so wie sie war. So wie sie ihn geliebt hatte. Dazu bedurfte es keiner Maskerade, hatte es nie.

Langsam wagte sie es, sich in sitzende Position aufzurichten. Wenn sie so dasaß konnte sie beinahe den groß gewachsenen, attraktiven Mann dort draußen stehen sehen. Andi hatte oft bei schönem Wetter mit freiem Oberkörper gearbeitet.

Er trug dabei immer seine alte, zerrissene Jeans, die nicht viel länger war, als ein Minirock. Das Innenfutter der Seitentaschen nach außen gekehrt, damit es nicht albern unter dem Saum herauslugte, was nur zur Folge hatte, noch alberner zu wirken.

Sie hatte ihn so sehr geliebt! Sie tat es noch immer!

So oft hatte es ihr genügt, ihm einfach nur zuzusehen, wenn sich seine Muskeln unter der verschwitzten Haut abzeichneten. Die verklebten, leicht lockigen Haare fielen ihm in die Stirn. Hals Brust mit feuchter Erde beschmiert. Er trug ein auffälliges Tattoo auf dem rechten Schulterblatt. Es zeigte einen grinsenden Harlekin, der seine Haare zu wilden Zöpfen geflochten, dem Betrachter den Rücken zu wand, aber mit stechendem Blick, über die Schulter zurückblickte.

Nicht selten hatte Yasmin ihm gesagt, wie gut ihrer Meinung nach, diese Figur zu seinem Charakter passte. Er war oft am feixen und beinahe immer zu albernen Scherzen aufgelegt gewesen, was ihm besonders bei den Kindern, als sie jünger gewesen waren, viel Sympathie eingebracht hatte.

Früher einmal, am Anfang ihrer Beziehung, aber auch danach, besonders in der Zeit ihrer ersten Schwangerschaft, hatte sie sich immerzu gefragt, wie er nur darauf gekommen war gerade sie zu wählen.

Oftmals hatte sie die Befürchtung gehabt, sie allein könne so viel Glück gar nicht verdient haben, - oder es ertragen.

Andreas war schon immer einer der beliebtesten und viel umschwärmten Typen gewesen. Während der Schulzeit, in der sie seiner zum ersten Mal gewahr wurde, hatten sie anfangs kaum mit einander zu tun. Darüber hinaus hätte er unzählige Liebschaften und so manches schöne Mädchen haben können. Doch Andreas hatte sich für Yasmin entschieden.

Sie selbst hatte nie den Mut besessen sich an ihn heran zu wagen, - er war es gewesen, der ihr eines Tages entgegentrat und sie einfach einlud mit ihm auszugehen.

Warum sollte dieser „Star“ der Schule nur mit einem unscheinbaren Mädchen, wie sie es war, verkehren? Sie hatte sich natürlich nicht getraut ihm eine solche Frage zu stellen. War so überglücklich gewesen. Und doch anfangs sehr besorgt; der junge Mann könne sich vielleicht einen Scherz mit ihr erlaubt haben. Oder gar schlimmer noch, - eine blöde Wette, wie sie Jungen in Post-pubertärem Alter gerne machten, verloren haben. Die unangenehme Konsequenz daraus könnte jetzt das „unfreiwillige“ Treffen mit einer Grauen Maus vom Schulhof sein.

Damit hatte sie allerdings so falsch gelegen, wie es nur sein konnte. Ihre Befürchtungen hatten sich nicht nur sprichwörtlich, sondern real in „Wohlgefallen“ aufgelöst. All ihre Zweifel und Befürchtungen, seine Einladung könne nicht aufrichtig sein waren völlig unbegründet. Sie hatten einen herrlichen Abend verlebt. Andreas war ein höflicher, zuvorkommender und vor allem witziger Zeitgenosse, der sich ernsthaft und redlich für sie interessiert hatte. Er hatte sich um sie bemüht!

Es hatte keine volle Stunde gedauert, da war Yasmins Herz für immer vergeben, und sie hatte Andi darin eingeschlossen. Ein Liebesgefängnis, - ohne Chance auf Bewährung.

Damals war sie neunzehn, und er einundzwanzig Jahre alt gewesen. Der junge Mann stand kurz vor seinem Abitur. Sie hatte, mit dem selben Ziel, noch anderthalb Jahre Schulbank vor sich.

Weder fand sich Yasmin zu dieser Zeit hübsch, noch hätte sie behauptet überhaupt bemerkenswert, oder gar interessant zu wirken. Ihrer Meinung nach war sie ein schlichtes, eher unscheinbares Mädchen.

Doch dieser eine Junge, dem so viele hübsche Mädchen, mit ihren blonden Mähnen, langen Beinen und üppigen Brüsten, zu imponieren versuchten, ihm heimlich Briefe zusteckten, oder einfach plumpe Anmachen starteten, wies sie alle ab. Dieser außergewöhnliche Mensch hatte entschieden, dass ihm das langweilige, kleine Mädchen, mit den kurzen, braunen Haaren und der Brille besser gefiel. Keine blauen Augen, ein unansehnliches braun, fand sie.

Keine großen Brüste, mit einem Meter vierundsechzig um einiges kleiner als die meisten Schulkameradinnen.

Doch nie hatte er sie, wie andere es taten, spöttisch betrachtet.

Auch noch zwei Tage nach ihrem ersten Date, als er zu ihr gekommen war und fragte, ob sie nicht vielleicht zusammen ins Kino gehen könnten, kam es ihr noch immer so vor, als habe er tatsächlich nicht gewusst, dass ihre Antwort in keinem Falle „Nein“ hätte lauten können.

Sie hatte kaum zu atmen gewagt, als er noch anfügte: „Oder möchtest Du Dich lieber bei einem leckeren Eis mit mir zusammen setzen und reden?“

Er hatte zuvor mit ein paar seiner Freunde während der großen Pause auf dem Schulhof gestanden, zu denen er nun zurück ging. Wäre sie zu diesem Zeitpunkt allein, und nicht umgeben von vielen anderen, und manch neugierigen Blicken gewesen, sie wäre jauchzend und jubelnd in die Luft gesprungen, so sehr hatte sie sich damals gefreut.

Sie erinnerte sich daran, dass jemand, - sie wusste nicht mehr wer -, mal gesagt hatte:

„Es kann genauso sehr erdrückend sein, für jemanden Liebe zu empfinden, wie das empfinden von Trauer.“ Dieser Satz klang für sie noch immer so seltsam, so unrichtig, und unvollständig. Und doch hatte sie ungewollt erkennen müssen, welch unwiderlegbare Wahrheit sich in diesen wenigen Worten verbarg.

Die Liebe kommt ganz plötzlich, sie überrascht und wird willkommen geheißen. Du stehst einfach nur da, du fühlst und fühlst. Du siehst nur noch das Großartige, siehst in der Welt nur noch die Schönheit. Du lässt keinen noch so geringen Gedanken an etwas Negatives zu. Du bist überwältigt von der Liebe. Doch dieses Gefühl umgibt dich gleichzeitig, wie ein enger Käfig. Es nimmt dir jede Chance an etwas anderes zu denken, oder gar nur zu glauben, als an die Liebe.

Die Trauer hingegen, sie ist schlimm, sie engt dich ebenso ein, aber sie ist wie eine immer wieder kehrende Stimme. Sie sagt dir immerzu, dass es dir schlecht geht. Es gelingt dir nicht diese Gefühle der Trauer zu verjagen, plötzlich sind sie richtig, sie werden dir wichtig, obgleich sie dich bedrücken. Die Trauer schleicht sich ein, wie ein nerviger Vertreter, der unangemeldet herein schneit und mit unsinnigen Angeboten lockt, - er ist nicht wirklich böse, nicht absichtlich -, doch du erkennst auch, dass er nicht wirklich an deinem Wohlergehen interessiert ist, sondern vielmehr nur seinen eigenen Vorteil zu erringen versucht.

Dennoch wirst du ihn nicht los, hältst an seinen Worten fest, sie ergeben sogar irgendwie noch einen Sinn, denn die Trauer ist auch eine Art zu fliehen: Die Flucht davor, zu wissen!

Dieser unterschiedlichen Gefühlen Herr zu werden, die sich doch so ähneln sollten. Zugleich all die damit einhergehenden Eindrücke und Empfindungen zu verarbeiten, war beinahe unerträglich.

Sie schwelgte in schönen Erinnerungen an eine wunderbare Zeit, empfand eine tiefe ehrliche, ausfüllende Liebe. Zugleich überwältigte sie die Trauer, legte sie in Ketten, grinste sie mit schiefen Zähnen an, um zu verkünden: „All deine Liebe war einmal! Sie ist nicht mehr! Wird nicht mehr sein!“

Zwei der elementarsten Gefühle, die es gibt, prallen mit Wucht aufeinander. Sie zehren all deine Kräfte auf. Nach und nach.

Yasmin bemühte sich aus ihrer melancholischen Tragträumerei aufzutauchen, zwang sich mit innerer Gewalt in die echte Welt zurück.

Die Umgebung wahrzunehmen, wie sie nun einmal war, wollte ihr nicht recht gelingen. Die Triste Beklommenheit blieb ihr erhalten, hatte sich an ihr festgesaugt, wie einer dieser kleinen Putzer-fische am Leib eines Haies oder Rochens.

Wie sollte man es denn auch jemals lernen, zu verkraften, dass einem das Wichtigste genommen worden war? Wer konnte einem helfen, der gezwungen worden war, einen geliebten Menschen gehen zu lassen? Andreas Zeit war noch nicht gekommen gewesen! Keine höhere Macht hatte entschieden, er habe seine „Aufgabe“ in dieser Welt erledigt. Dennoch war er unwiderruflich fort, kam niemals wieder.

Die Endgültigkeit, diese eine Tatsache, die die weder er noch sie, noch sonst irgendjemand hatte voraussehen können, diese schiere Ungerechtigkeit, all das machte sie mürbe. Es nagte an ihrer Seele.

Augenscheinlich war, dass Yasmin, gäbe es ihre Kinder nicht, sie längst jeden Lebenswillen verloren hätte. Es wäre ihr nicht weiter möglich gewesen einen Grund dafür finden zu sollen, fortan auf dieser Welt zu existieren.

„Die Zeit heilt alle Wunden.“ Sagt man.

Doch die Wirklichkeit und all Jene, die diese zu erkennen gezwungen sind, strafen derart Phrasen mit Gelächter und entlarven solch Wortgeflecht als das, was es ist: „Lüge!“

Ihr Blick wanderte zur Uhr im angrenzenden Wohnzimmer, das sich natürlich nicht unbelebt und leer darbot, sondern einfach aussah wie immer. Wie viele andere Räume in Häusern dieser Gegend auch. Es beherbergte einen kitschigen, viel zu bunten Teppich, eine dreiteilige Sitzgarnitur und natürlich eine Ansammlung von Bildern und Schnickschnack, verteilt an Wänden und auf diversen Ablageflächen der Schränke und Regale.

Auf dem schlichten, hölzernen Tisch lagen unordentlich eine Fernsehzeitung, Schalen mit Knabberzeug und die Fernbedienungen mehrerer Audio- und Videogeräte herum.

Neben der Leidenschaft seines Grünen Daumens hatte Andreas Filme geliebt.

Es gab im Raum eine Dolby Surround Anlage und eine sündhaft teure DVD/BlueRay/Fernsehapparatur in monströsem Ausmaß.

Die Zeiger der Wanduhr, die designet war wie die Armbanduhr eines riesigen Zyklopen, etwa aus der Odysseus-Saga, waren auf Viertel vor Zwei vorgerückt.

Die Mittagszeit war verstrichen, während sie lediglich ihren Gefühlen und einigen Erinnerungen nachgehangen hatte.

Mit verheulten Gesicht zwar, aber innerlich gefasst und mit gelassener Miene schritt sie in die Küche. Noch einmal fühlte sie sich einen winzigen Augenblick an die Erlebnisse im Traum erinnert und widerstand dem Impuls das Haus zu durchlaufen. Sie würde alles so vorfinden wie es sein sollte, sie war wach und verdrängte die letzten Zweifel an diese Tatsache.

Bald würden die Kinder aus der Schule kommen. Sie sollte sich langsam daran machen, das Mittagessen herzurichten. Ein erneutes weiches Lächeln umspielte ihre Lippen, als ihr kurz der Gedanke kam, vielleicht die Zubereitung eines Rollbratens mit Kartoffeln in angriff zu nehmen.

Von ihren Alpträumen ließ sich Yasmin nicht mehr lange beeindrucken. Es war heute zwar ungewöhnlich emotional abgelaufen, doch anfangs, in den ersten Tagen nach Andreas´s Tod war es schlimmer gewesen.

Als die Träume derzeit begannen, hatte sie kaum gewagt sich überhaupt schlafen zu legen. Aber auch die seltsamsten Phantasiegebilde und die grausamsten Monster verloren ihre Schreckenswirkung, wenn sie jede Nacht aufs Neue in Erscheinung traten.

Während Yasmin den ersten Eierpfannkuchen wendete, - sie hatte sich natürlich gegen die Realisierung ihres „Festmahls“ aus dem Traum entschieden, da ihr ohnehin die benötigte Zeit fehlen würde, - hoffte sie, Erik würde heute ohne Blessuren oder schrammen heimkommen.

Erst letzte Woche hatte sie eine kleine Platzwunde und ein blaues Auge verarzten müssen.

In Folge dessen war sie am kommenden Montag zu einem Gespräch mit der Rektorin der Schule eingeladen. Der gerade einmal zehnjährige Junge hatte sich nach dem Tod seines Vaters zu einem kleinen Rowdy entwickelt. Im Laufe nur eines Monats war er ganze vier mal mit einigen seiner Mitschülern aneinander geraten. Zur Rede gestellt, und auf die Frage hin, worum es bei derart ausufernden Streitigkeiten eigentlich gegangen sei, bekam Yasmin lediglich ein Schulterzucken als Antwort.

Sicher hatte man auch früher kaum behaupten können, der Kleine sei ein durch und durch lieber Kerl gewesen. Nein. Schon im Säuglingsalter war in Erik der Trotzkopf durchgedrungen. Sie hatte lange Zeit nicht geglaubt, dass es andere Mütter geben konnte, die es so schwer gehabt haben konnten. Ein Baby zu so etwas Selbstverständlichem wie sich stillen zu lassen, überreden, ja gar zwingen zu müssen, war doch wirklich schon recht eigenartig.

Der Knirps hatte sich vehement gewehrt und sogar gerne mal zugebissen, was an so empfindlichen Körperteilen, wie Brustwarzen, gerade nach der Geburt, ganz und gar kein Spaß war. Viele Male war es vor gekommen, dass man ihm gerade die Windel gewechselt hatte, da war diese im nächsten Moment wieder prall gefüllt.

Klar wurde Andi nicht müde immer und immer wieder derart Vorkommnisse als „unabsichtlich“ zu deklarieren. Was konnte denn ein Säugling auch schon für Absichten haben? Es wurde also entweder belächelt, oder stillschweigend hingenommen, dass der zweite Spross der Familie Zielke eben etwas mehr Arbeit machte, als die kleine Rebecca in ihrer Zeit.

Unvermittelt schweiften Yasmins Gedanken abermals ab. Verfingen sich im Geflecht der Vergangenheit. Sie dachte zurück an jenen schicksalhaften Tag, der vor einigen Jahren ihre Lebenssituation nachhaltig verändert hatte. Dieses Ereignis hatte seine Auswirkungen bis heute erhalten und komplizierte den Umgang mit dem eigenen Sohn noch immer. Es veranlasste sie bisweilen, sich wesentlich mehr Sorgen zu machen, als es Eltern im allgemeinen sowieso schon taten.

Wieder traten ihr die Tränen hervor, als ihr schmerzlich bewusst wurde, dass auch dieses, in ihren Gedanken konservierte Ereignis, die Trauer um den Verlust des Familienoberhauptes verstärkte. Er war ihr einziger Rückhalt gewesen, besonders in diesem Fall. Der Mann, der in jeder und speziell in jener Krise so sehr geholfen, sich so sehr bemüht hatte, alles wieder ins Lot zu bringen, war nicht mehr!

Es gab keinen Zweiten, der ihr nun zur Seite stehen konnte. Heute musste sie all den Kummer, den ihr Sohn ihr bereitete, alleine bewältigen.

Kapitel 2

Zwei(Juni, vor sieben Jahren)

Als eine Erzieherin des Kindergartens, am dritten Tag nach Erik Beitritt im Selbigen, anrief und Yasmin mitteilte der Knirps hätte ein anderes Kind mit einem Malstift attackiert, da dachte sie zunächst an einen schlechten Scherz. Was konnte schon Schlimmes dabei gewesen sein? Hatte ihr Junge einen anderen angemalt? Hatten irgendwelche „Weicheieltern“ ein so übertrieben weinerliches Kind in die Kindergartengruppe geschickt, dass ein kleiner Schlag mit einem Stift zum Ausruf des Ausnahmezustandes ausreichte?

Doch die Anruferin beharrte darauf, sie müsse unverzüglich vor Ort erscheinen.

Yasmin hatte ihren Sohn nicht einmal eine Stunde zuvor dorthin gebracht. Sie hielt das Ganze auf jeden Fall für eine immense Übertreibung, aber angesichts der Tatsache, dass Erik noch recht neu dort war, machte sie sich auf den Weg.

Das Bild was sich ihr bot, als sie also der Forderung schlussendlich doch nachgegeben hatte, ohne bisher überhaupt Genaueres erfahren zu haben, darüber was sich im Einzelnen abgespielt hatte, warf sie beinahe um!

Der Kindergarten St. Marien war nur eine Straße von ihrer damaligen Wohnung entfernt, - keine 400 m Luftlinie. Mit dem Auto einmal um den Block.

Sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass es an jenem Tag erstaunlich warm und sonnig gewesen war.

Der beinahe wolkenlose blaue Himmel und die frühsommerliche Hitze trieben ihr damals im Auto den Schweiß aus den Poren.

Sie stieg aus ohne den Wagen zu verschließen, eilte zum großen Tor und betrat den Kindergarten, noch immer in der naiven Annahme, ihr Sprössling müsse lediglich abgeholt werden, weil er sich etwas dickköpfig („wie immer“) verhielt, und somit Schwierigkeiten hatte sich zu etablieren. Also betrat sie recht unbekümmert und selbstsicher den Gruppenraum. „Schlimmstenfalls hat ja Erik ein Kind mit dem Stift beworfen.“ Redete sie sich damals ein.

Das Vorhandensein eines Notarztes und der Anblick etlicher verängstigter und schluchzender Kinder, machten ihr schnell klar, dass sie sich gewaltig geirrt hatte.

Der kleine Junge lag am Boden, um seinen Kopf herum eine Blutlache. Daneben der Koffer des Arztes. Der Mann trug zivile Kleidung, er kniete neben dem scheinbar

reglosen Körper, leicht über ihn gebeugt und versperrte somit Yasmin die Sicht.

Sie konnte unmöglich Genaueres bezüglich des Zustands des Kindes erkennen.

Die anderen Kinder wurden erst jetzt nach und nach aus dem Raum geführt, beinahe alle weinten leise und jedes einzelne sah erschrocken aus. Eine Frau versuchte sie mit sanfter Stimme zu beruhigen. All das hatte Yasmin in den wenigen Sekunden wahrgenommen, als sie das große Spielzimmer des Kindergartens betrat. Sie war betroffen und verwundert zugleich. Der Anblick des Blutes hatte ihr den Atem geraubt und sie konnte nur stumm dastehen. Sie bekam es mit der Angst zu tun.

„Warum bewegt sich der Kleine nicht?“

Mittlerweile waren außer ihr, dem Arzt und einer Erzieherin, die einige Meter Abstand zu der Szene einhielt, keine weiteren Erwachsenen mehr im Raum. Die einzige n noch anwesenden Personen waren Erik und der bedauernswerte kleine Junge am Boden.

Erik saß zusammengekauert an einem winzigen Tisch, etwas abseits der Szenerie und blickte irgendwie teilnahmslos in Richtung der Tür, durch die Yasmin zuvor herein gekommen war.

Er wirkte beinahe katatonisch, schien seine Mutter gar nicht wahrgenommen zu haben.

Sie wäre am liebsten sofort zu ihrem Sohn hinüber gelaufen, wollte ihn packen, ihn umarmen und küssen. Aber sie wollte ihn auch fragen was um Himmels Willen hier passiert war.

Statt dessen war sie nach wie vor wie versteinert, rührte sich nicht vom Fleck.

Ihr Blick richtete sich mühsam weg von Erik, hin zu der Erzieherin, die im Zimmer und bislang stumm geblieben war.

Sie kam mit diskreter und nichtssagender Miene auf sie zu.

Die Frau war etwa fünfzig Jahre alt, trug eine riesige Brille, die unter anderen Umständen sicherlich auf Yasmin belustigend gewirkt hätte. Ihre Kleidung bestand aus einem etwas zu männlich wirkenden beigen Hosenanzug, der allerdings ihrer fülligen Figur schmeichelte.

Yasmin straffte sich, spannte instinktiv den Körper an, da sie fest damit rechnete, dass ihr die sicherlich katholische Sauberfrau nun Probleme bereiten würde.

Um so mehr war sie damals überrascht gewesen, als die Dame urplötzlich ein wirklich bezauberndes Lächeln aufsetzte, während sie in respektvollem Abstand vor ihr stehen blieb.

Dabei hatte sie ihren Körper so geschickt zu ihr hin manövriert, dass sie exakt zwischen Yasmin und den am Boden liegenden Jungen zum stehen kam.

Die Erzieherin überragte Yasmin um einige Zentimeter. Sie streckte ihr freundlich und ein wenig zu förmlich die Hand entgegen, als sich ihre Körper genau auf Armesslänge voneinander entfernt befanden.

Sie stellte sich mit dem Namen Larkin vor und fügte an: „Ich bin die Leiterin der Frühschicht im St. Marien-Kinderhort. Wir kennen uns noch nicht. Als ihr Sohn vorige Woche zu uns kam, war ich noch im Urlaub.“

Sowohl der aufrichtige, beinahe liebevolle Gesichtsausdruck, als auch ihre überaus warmherzige Art zu sprechen, veranlassten Yasmin augenblicklich dazu, ihr Gegenüber ins Herz zu schließen. Sie entspannte sich und schämte sich sogar ein wenig ob ihrer Vorurteile und des anfänglichen Misstrauens.

Beinahe hätte sie vergessen, warum sie eigentlich gekommen war, bis sich nun die nette Frau abwandte und wieder den Blick auf das verletzte Kind, und ihren abseits sitzenden Sohn freigab.

In der Ferne waren bereits die Sirenen eines Rettungswagen zu hören, als Frau Larkin Yasmin gestattete näher an das verletzte Kind heranzutreten.

Der Notarzt, ein etwa dreißigjähriger Mann mit asketischen, etwas zu hart wirkenden Gesichtszügen und dunklem Teint, erhob sich und trat einen Schritt zurück.

Die Erzieherin hatte sich blitzschnell hin gehockt, ergriff sanft die Hand des Jungen und streichelte mit der freien beruhigend seinen Kopf.

Das sollte ihr Sohn getan haben?

Um die Stirn des Jungen hatte der Mann einen Druckverband gelegt, der die linke Gesichtshälfte bis über die Wange und das linke Ohr verdeckte. Ein kleiner roter Fleck blühte bereits darauf auf, wie ein kleiner frecher Tinten-Farbklecks auf blütenweißem Papier.

Eine kleine Menge Blut war auch vorne auf dem T-Shirt des Jungen auszumachen. Das frei liegende Auge war geöffnet, der Junge bei Bewusstsein.

Aber er wirkte völlig apathisch, weder weinte er, noch ließ sich einwandfrei erkennen ob, oder welche Schmerzen er gerade zu ertragen hatte.

Yasmin hatte damals richtig geschlussfolgert, dass dieser Zustand auf den vorangegangenen Schock und die vermutlich vom Notarzt verabreichten Medikamente zurückzuführen war. Es lagen zwei dieser Plastikfolien, die normalerweise Spritzen beinhalten, am Boden.

Zwei weitere Personen fanden ihren Weg zurück in den Raum, beides Erzieherinnen.

Im Moment schenkten sie weder ihrer vermutlich Vorgesetzten, noch Yasmin jegliche Beachtung. Die augenscheinlich ältere der Beiden, blieb nur wenige Schritte von Erik entfernt stehen und ließ nun den regungslos dasitzenden Jungen nicht aus den Augen.

So argwöhnisch betrachtete sie ihn, als befürchtete sie, er könne jeden Augenblick aufspringen und eine weitere grausame Bluttat begehen. Ihr Gesicht war von Yasmins Position aus nur seitlich zu erkennen, doch die frauliche Gestalt und eine ordentliche Frisur, ließen darauf schließen, dass sie keine Auszubildende mehr war und etwa Ende Zwanzig sein musste.

Die Zweite war hingegen ganz offensichtlich erst kurze Zeit dort und nicht sonderlich bewandert in ihrem Job; sie hatte es bislang nicht geschafft ihrer Emotionen Herr zu werden. Sie blieb zitternd und weinend im Türrahmen stehen und betrachtete fortwährend Junge und Notarzt.

Immer wieder schüttelte die kleine Rothaarige den Kopf und murmelte leise unverständliche Worte.

Yasmin vermutete, dass die Teenagerin entweder stille Gebete anstimmte, oder sich gerade selbst zu überzeugen versuchte, dass sie dieses Praktikum, oder diese Ausbildung weiterführen könne, ohne daran zu Grunde zu gehen.

Frau Larkin war nun anscheinend zu der Überzeugung gelangt endlich aufklären zu müssen, was denn eigentlich vorgefallen war. Yasmin hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch immer kein einziges Wort gesprochen. Sie musste den Anwesenden recht schüchtern vorkommen, was eigentlich ja auch meist zutraf. Auch als sie jetzt der Schichtleiterin zuhörte brachte sie keinen Ton hervor, schaffte es nur mit einiger Mühe nicht unentwegt zu Erik, oder dem verletzten Jungen zu blicken, der offensichtlich eingeschlafen war. Demnach hatte der Notarzt wohl ein Sedativum verabreicht.

Sie gab lediglich der lächelnden Frau mit einem gelegentlichen Kopfnicken zu verstehen, dass sie ihr zuhörte, als diese berichtete:

„Erik und Matthias, so heißt der arme, kleine Wurm, hatten gerade eine Gruppenarbeit, als spielerische Aufgabe zu bewältigen. Die beiden, also Matthias“, dabei deutete sie mit einer Hand auf den verletzten Jungen, „haben zusammen mit Marie, ein Mädchen aus unserer gemischten Gruppe, ein Team gebildet. Wir losen so Etwas aus.“

Die Dame nahm ihren Beruf ernst und schien Yasmin so etwas wie einen kleinen Überblick über die Strukturen der Einrichtung vermitteln zu wollen, ehe sie auf den Punkt kam.

„Wie bei den anderen Gruppen, galt es gemeinsam ein Bild zu malen, auf einem großen Stück Pappe.“ Sie deutete mit dem Finger auf ein solches, das direkt links von ihnen auf einem der winzigen Tische lag. Darauf war mit viel Phantasie so etwas wie ein halbfertiges Flugzeug zu erkennen.

„Nun, der Wesentliche Teil der Aufgabe bestand darin, dass die Kinder sich ein Thema, beziehungsweise ein Motiv in Zusammenarbeit überlegen und es dann gemeinsam umsetzen sollten.“

Die jedes mal deutliche Betonung der Worte „Gemeinsam“ und „Zusammen“ ließen keinen Zweifel an dem klar gewünschten Ziel dieses Kindergartens: Es ging definitiv um soziales Miteinander, um den zwischenmenschlichen Umgang, der den Knirpsen möglichst früh vermittelt werden sollte.

„Ich kann nicht sagen, warum es zwischen den Dreien plötzlich zum Streit kam, wir Drei,“ damit umschrieb sie sich und die beiden anderen im Raum befindlichen Mitarbeiterinnen, „waren bei anderen Gruppen, an anderen Tischen, als Marie plötzlich aufschrie.“

Obgleich sie die Auseinandersetzung nicht hatte voraussagen können, noch die Möglichkeit gehabt hatte, zu verhindern was geschehen war, machte Frau Larkin den Eindruck, als wolle sie sich jetzt für die Geschehnisse rechtfertigen und fühle sich indirekt schuldig.

Yasmin war sich später sicher, dass trotz Allem keine der Erzieherinnen eine Schuld traf. Niemand hätte das Unglück verhindern können, dafür war alles viel zu schnell gegangen.

Ein Eingreifen wäre vermutlich nicht einmal möglich gewesen, hätte eine von ihnen direkt mit den Kindern am Tisch gesessen.

Während die mittlerweile eingetroffenen Rettungssanitäter Matthias mittels einer Trage zum Krankenwagen brachten und mit Notarzt und Frau Larkin noch einige Worte wechselten, hatte die ältere der beiden anderen Frauen das Wort an Yasmin gerichtet. Ihr Name war Claudia, er prangte in fetten Druckbuchstaben auf einem Aufkleber vor auf ihrer blass-blauen Bluse, die die gewaltigen Brüste im Zaum hielt.

Sie führte an, sie habe sich am Nachbartisch befunden, um dort den drei Mädchen im Team einige Tipps zu geben.

Dann erzählte sie:

„Als ich neben mir den Ausdruck Arschloch hörte, und erkannte dass es Matthias gewesen war, der dieses Schimpfwort ausgesprochen hatte, drehte ich mich um, damit ich eine entsprechende Rüge erteilen konnte.“

Die anscheinend recht strenge Erzieherin hatte sich nach eigenen Worten den Dreien zugewandt, und da passierte es bereits.

„Ob Erik etwas erwidert hatte, still geblieben, oder seinerseits zuvor etwas Beleidigendes gesagt oder getan hatte, war nicht mehr nachvollziehbar.“

Führte sie weiter aus. „Ich konnte nur noch zusehen, wie es Erik gelang, in Sekundenschnelle einen der herumliegenden Malstifte zu greifen. Er holte kaum aus, schwang sofort den angespitzten Stift in Richtung von Matthias.“

Die Reaktion, so erzählte sie weiter, des attackierten Jungen war leider das genaue Gegenteil dessen was ihn vermutlich gerettet hätte:

„Anstatt die Hände zur Deckung zu heben, zurückzuweichen, oder sich zu ducken, hatte Matthias versucht seinerseits zuzuschlagen. Allerdings mit leeren Händen. Da er sich dabei Erik sozusagen noch entgegen beugte, hat er sich dem Stift nur noch mehr genähert.“

Der Schlag des kleinen Jungen ging ins Leere, Erik war schneller gewesen. Da Matthias sein Gesicht direkt dem sich nahenden Malstift entgegen gedreht hatte, blieb im nicht die geringste Chance dem Folgenden zu entgehen.

„Was für eine schreckliche Eskalation? Eine Beleidigung, ein normalerweise harmloser Streit unter Kindern.“ Sagte Claudia und rang jetzt sichtlich um Fassung. Sie musste eine lange Pause machen, in der sie abwechselnd, den unverändert dasitzenden Erik, und die zu ihnen zurück kehrende Schichtleiterin ansah. Dann beendete sie die Geschichte:

„Als Marie schrie, steckte der Stift, noch immer gehalten von Erik rechter Hand, im linken Auge von Matthias. Von Schock und Schmerz überwältigt war das Kind zusammengebrochen.

Er rutschte seitlich vom Stuhl. Der Malstift, fest in der Hand ihres Sohnes wurde aus der Augenhöhle des Jungen gerissen.“

In Yasmins Phantasie stellte sie sich die Szene grotesker Weise mit einem deutlich vernehmbaren Geräusch vor, das dem genüsslichen Schlürfen eines Cocktails sehr nahe kam. Sie bemühte sich diesen ekelerregenden Gedanken sofort zu verscheuchen.

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