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Neuauflage des Klassikers zum 250.Geburtstag von Francois René de Chateaubriand am 04. September 2018, in bibliophiler Ausstattung, neu übersetzt und mit einem Nachwort von Karl-Heinz Ott. In überwältigenden Landschaftsschilderungen schildert François-René Chateaubriand (1768–1848) seine Kindheit in der Bretagne. Wir erleben das Meer, die Weite, die Heide wie mit eigenen Augen, als sei dort die Natur seit zweihundert Jahren die gleiche geblieben, während alles um sie herum sich radikal ändert. In Chateaubriands Leben spiegeln sich ganze Epochen. Die Neuübersetzung von Karl-Heinz Ott setzt mit Chateaubriands Geburt in Saint-Malo ein und reicht über den Sturm der Bastille, den er mit eigenen Augen erlebt hat, bis zu seinem Aufbruch nach Amerika. Chateaubriand gilt als der größte Stilist französischer Sprache. Wer ihn liest, vergisst nie wieder die Bilder, mit denen er vom Kleinsten bis ins Größte ganze Welten erstehen lässt. Allen voran aber sind sie eine Liebeserklärung an die Bretagne.
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Seitenzahl: 295
Veröffentlichungsjahr: 2018
François-René de Chateaubriand
Kindheit in der Bretagne
Herausgegeben und übersetzt von Karl-Heinz Ott
Hoffmann und Campe
Sicut nubes … quasi naves … velut umbra.
Hiob[1]
Da es mir nicht möglich ist, den Augenblick meines Endes vorherzusehen, und da in meinem Alter die dem Menschen gegönnte Zeit bloß noch aus Gnadentagen oder, richtiger gesagt, aus Gnadenbrot besteht, so will ich nun, in der Furcht, unterbrochen zu werden, Auskunft über mich geben.
Am kommenden 4. September werde ich achtundsiebzig Jahre alt. Es ist wohl Zeit, dass ich diese Welt, die mich verlässt und der ich nicht nachtrauere, verlasse.
Ich habe die Meere der Alten und der Neuen Welt überquert und meinen Fuß auf die Erde der vier Weltteile gesetzt. Nachdem ich in der Hütte des Irokesen und unter dem Zelt des Arabers, in den Wigwams der Huronen, in den Trümmern von Athen, Jerusalem, Memphis und Granada, bei den Griechen, den Türken und Mauren, zwischen Wäldern und Ruinen mein Lager bezogen habe, nachdem ich die Bärenfelljacke des Wilden und den Seidenkaftan des Mameluken getragen und Armut, Hunger, Durst und Exil erduldet habe, habe ich mich als Minister und Botschafter, goldbestickt und bunt mit Insignien und Borten geschmückt, an die Tafel von Königen, Grafen und Gräfinnen gesetzt, um schließlich ins Elend zurückzufallen und das Gefängnis zu genießen.
Ich habe mich, wie am Zusammenfluss zweier Ströme, zwischen zwei Zeitaltern wiedergefunden. Ich habe mich in ihre aufgewühlten Fluten gestürzt und mich ungern vom alten Ufer, wo ich geboren bin, entfernt, bin jedoch voller Hoffnung zum unbekannten Ufer geschwommen, wo die neuen Generationen ihre Anker lichten.
Diese Erinnerungen wurden zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten geschrieben. Die vielerlei Ereignisse und sprunghaft sich ändernden Lebensumstände durchdringen sich gegenseitig. Es kommt vor, dass ich mich in sorglosen Augenblicken meines Elends entsonnen und in niedergedrückten Stunden meine glücklichen Tage nachgezeichnet habe. Auch die verschiedenen Altersempfindungen durchdringen sich: Meine Jugend weist in die späten Tage hinüber, die Schwere meiner ernsten Jahre verschattet die leichten. Die von der Morgenröte bis zur Abenddämmerung sich kreuzenden und überschneidenden Sonnenstrahlen spiegeln mein Leben und verleihen meiner Arbeit eine undefinierbare Einheit. Meine Wiege birgt mein Grab, mein Grab birgt meine Wiege, meine Leiden verwandeln sich in Freuden, meine Freuden in Leiden, und nie weiß man, ob diese Erinnerungen das Werk eines braungelockten Haupts sind oder eines grauen.
Die Bewohner von Saint-Malo wandten sich am 25. August 1828 durch ihren Bürgermeister an mich wegen eines Flutbeckens, das sie zu errichten wünschten. Ich setzte mich sogleich für dessen Genehmigung ein, bat aber im Gegenzug um den Gefallen, mir ein paar Fuß Erde für mein Grab auf der Grand-Bé zu überlassen.[2] Wegen der gegenüberliegenden Militäranlagen brachte das Schwierigkeiten mit sich. Am 27. Oktober 1831 erhielt ich schließlich einen Brief von Bürgermeister Hovius, in dem er erklärte: »Die Ruhestätte, die Ihr Euch an der Meeresküste, ein paar Schritte von Eurer Wiege entfernt, wünscht, wird Euch in verlässlicher Treue der Malouins gewährt.«[3]
Ich werde also an der Küste jenes Meeres ruhen, das ich so sehr geliebt habe.
Vor vier Jahren, nach meiner Rückkehr aus dem Heiligen Land, kaufte ich mir bei dem Weiler Aulnay, in der Nachbarschaft von Sceaux und Chatenay, ein Gärtnerhaus, das sich zwischen waldigen Hügeln verbirgt. Das wellige, sandige, zum Haus gehörende Grundstück bestand bloß aus einem verwilderten Obstgarten, an dessen Ende sich eine Senke befand mit einem Kastanienwäldchen.
Die Bäume, die ich hier gepflanzt habe, gedeihen. Sie sind noch so klein, dass ich ihnen Schatten spende, wenn ich mich zwischen sie und die Sonne stelle. Wenn sie mir eines Tages diesen Schatten zurückgeben, werden sie meine alten Tage beschützen, wie ich ihre Jugend beschützt habe. Ich habe sie mir, soweit es möglich war, in den verschiedenen Ländern ausgesucht, in denen ich umhergeirrt bin. Sie erinnern mich an meine Reisen und nähren in der Tiefe meines Herzens weiterhin Wunschträume.
Auch wenn ich ein irrender Ritter bin, finde ich Gefallen an mönchischer Sesshaftigkeit. Seit ich an diesem abgelegenen Ort lebe, glaube ich, keine drei Mal den Fuß über die Grenze meines Geheges gesetzt zu haben. Sofern meine Kiefern, Fichten, Lärchen und Zedern weiterhin halten, was sie versprechen, werden sie Vallée-aux-Loups eines Tages in eine wahre Kartause verwandeln.
Ich mag diesen Ort. Er hat mir meine heimatlichen Gefilde ersetzt. Ich habe ihn mir mit dem Erlös meiner Träume und meiner schlaflosen Nächte erkauft.
Ich hänge an meinen Bäumen und habe Elegien, Sonette und Oden auf sie geschrieben. Es gibt keinen einzigen, um den ich mich nicht mit eigenen Händen gekümmert und den ich nicht von seinem um die Wurzeln gewundenen Wurm und der an seinen Blättern klebenden Raupe befreit hätte. Ich kenne sie alle mit Namen wie meine Kinder. Sie sind meine Familie, ich habe keine andere und hoffe, in ihrer Mitte zu sterben. Hier schrieb ich die Märtyrer, die Abencerages, die Reise von Paris nach Jerusalem und Moses. Was sollte ich jetzt an diesen Herbstabenden tun? Am heutigen 4. Oktober 1811, meinem Namensfest sowie Jahrestag meiner Ankunft in Jerusalem, will ich anfangen, die Geschichte meines Lebens niederzuschreiben. Jener Mann, der Frankreich heutzutage nur deshalb Macht über die Welt verschafft, um sie mit seinen Füßen zu zerstampfen, jener Mann, dessen Genius ich bewundere und dessen Despotismus ich verabscheue, dieser Mann umfängt mich mit seiner Tyrannei wie mit zusätzlicher Einsamkeit. Doch selbst wenn er die Gegenwart zermalmt, trotzt ihm die Vergangenheit, ich aber bleibe in allem frei, was seinem Ruhm vorausgegangen ist.[4]
Die meisten meiner Gefühle sind am Grund meiner Seele verborgen geblieben oder haben sich nur in Gestalt fiktiver Wesen in meinen Werken gezeigt. Jetzt, wo ich mich nach meinen Schimären zurücksehne, ohne sie noch weiterzuspinnen, will ich wieder die Höhen meiner schönen Jahre erklimmen: Diese Memoiren werden mir als Todestempel dienen, der im Licht meiner Erinnerungen errichtet worden ist.
Schon von Geburt, aber auch wegen der Härten seiner frühen Jahre hatte sich in meinem Vater eines der düstersten Gemüter herangebildet, die es je gab. Sein Gemüt hat auch meine seelische Welt beeinflusst, indem es mir in der Kindheit Angst eingejagt, mich in meiner Jugend traurig gestimmt und die Art meiner Erziehung geprägt hat.
Ich bin adlig geboren. In meinen Augen hat mir das Geschick dieser Herkunft Vorteile gebracht. Ich besitze jene feste Freiheitsliebe, die dem Adel, dessen letzte Stunde geschlagen hat, zutiefst eigen ist. Der Adel hat drei aufeinanderfolgende Epochen durchlebt: die Zeit seiner Übermacht, die Zeit der Privilegien, die Zeit eitler Einbildung. Seit es mit der ersten vorbei ist, degeneriert er in der zweiten und erlischt in der dritten.
Gemäß dem Wandel der französischen Orthographie wurde mein Name zuerst Brien, dann Briant und schließlich Briand geschrieben. Bei Guillaume dem Bretonen ist noch vom Castrum Briani[5] die Rede. Es gibt in Frankreich keinen einzigen Namen, der nicht solche Buchstabenvarianten aufweist.
Gegen Anfang des 11. Jahrhunderts verliehen die Briens ihren Namen einer stattlichen Burg in der Bretagne, die zum Stammsitz der Baronie de Chateaubriand wurde. Anfangs bestand ihr Wappen aus einem Tannenzapfen mit der Devise: Ich säe Gold. Der Baron Geoffroy von Chateaubriand zog mit dem Heiligen Ludwig ins Heilige Land. Nachdem er in der Schlacht von Mansura[6] gefangen genommen worden war, starb seine Frau Sibylle bei seiner Rückkehr aus heller Freude und ganz fassungslos, ihn wiederzusehen. Um sich für dessen Verdienste erkenntlich zu zeigen, verlieh der Heilige Ludwig ihm anstelle des alten Wappens ein rotes, mit goldenen Lilien bestücktes.
Seit ihren Anfängen teilten sich die Chateaubriands in drei Zweige: Der erste namens Barons de Chateaubriand bildet den Stamm für die beiden andern und setzt im Jahr 1000 in Gestalt von Thiern ein, dem Sohn von Brien und Enkel von Alain III., Comte beziehungsweise Vorsteher der Bretagne. Der zweite trägt den Beinamen Seigneurs des Roches Baritaut, auch Lion d’Angers genannt. Den dritten kennt man unter dem Titel Sires de Beaufort.
Als die Linie der Sires de Beaufort in Gestalt von Dame Renée erlosch, erhielt ein gewisser Christophe II. aus einem Nebenzweig dieser Linie einen Anteil an den Ländereien von Guérande en Morbihan. Zu dieser Zeit, also um die Mitte des 17. Jahrhunderts, entstand unter den Adligen reichlich Verwirrung, da man sich mir nichts, dir nichts Titel zusprach und Namen. Ludwig XIV. ordnete eine Untersuchung an, um jedermann wieder in sein Recht zu setzen. Auf Anordnung der in Rennes ansässigen Kammer für die Reformierung der bretonischen Adelsstände behielt Christophe aufgrund alter Registerauszüge, die ihm seinen Adel nachwiesen, sowohl seinen Rang als auch sein Wappen.
Das daraus hervorgegangene Dekret hält fest, dass Christophe de Chateaubriand de la Guérande unmittelbar von jenen Chateaubriands abstammt, zu denen die Sires de Beaufort gehören. Nachdem ich Ludwig XVI. vorgestellt worden war, wollte mein Bruder das Vermögen von mir Jüngerem mit Hilfe einiger kirchlicher Pfründe vergrößern. Da ich dem Laienstand und Militär angehörte, blieb dafür nur ein einziger Weg: Man musste mich in den Malteserorden aufnehmen. Mein Bruder schickte meine Adelsnachweise nach Malta und reichte gleich darauf in meinem Namen ein Gesuch beim in Poitiers ansässigen Kapitel des aquitanischen Großpriorats ein, mit der Bitte, Kommissäre zu ernennen, die so schnell wie möglich einen Beschluss fassen sollten.
Das Gesuch wurde am 9., 10. und 11. September 1789 angenommen. Im Wortlaut des Zulassungsdokuments heißt es, ich sei aus mehr als nur einem einzigen Grund der ersuchten Gunst teilhaftig, zumal Erwägungen von allergrößtem Gewicht mich des von mir beanspruchten Verlangens als würdig erwiesen.
All das fand nach dem Sturm auf die Bastille statt, am Vorabend der Ereignisse vom 6. Oktober 1789 und der Überführung der königlichen Familie nach Paris![7] Dabei hatte die Nationalversammlung in der Sitzung vom 7. August 1789 alle Adelstitel abgeschafft! Wie konnten diese Chevaliers und Adelsprüfer nur zu dem Schluss gelangen, dass ich aus mehr als einem einzigen Grund die von mir beanspruchte Gunst etc. verdiente, ich, der ich nur ein winziger, unbekannter Unterleutnant der Infanterie war, ohne jedes Ansehen, ohne jede Gunst, ohne jede Fortune?
Der älteste Sohn meines Bruders, Comte Louis de Chateaubriand, heiratete Mademoiselle d’Orlandes, mit der er fünf Töchter und einen Jungen hatte, dem man den Namen Geoffroy gab. Christian, Louis’ jüngerer Bruder sowie Urenkel und Patenkind jenes Monsieur de Malesherbes[8], dem er erstaunlich ähnlich sah, diente 1823 mit Tapferkeitsauszeichnung als Kommandant der Dragonergarde in Spanien. In Rom wurde er dann Jesuit. Die Jesuiten wiegen die Einsamkeit in gleichem Maß auf, wie sie von der Erde verschwindet. Christian ist jüngst in Chieri bei Turin gestorben. Alt und krank, wie ich bin, hätte ich ihm zuvorkommen sollen, doch seine Tugenden ließen ihn vor mir, der ich noch so viele Sünden zu beklagen habe, in den Himmel kommen.
Bei der Aufteilung des Familienerbes wurde Christian das Gut von Malesherbes zugesprochen und Louis das Gut von Combourg. Da Christian den gleich großen Anteil nicht für gerechtfertigt hielt, wollte er sich bei seinem Abschied von der Welt jener Güter entledigen, die ihm nicht gehörten, und sie seinem älteren Bruder zurückgeben.
Hätte ich die Aufschneiderei meines Vaters und meines Bruders geerbt, läge es beim Blick in die Urkunden einzig an mir, mich für den allerjüngsten jener Herzöge der Bretagne zu halten, die von Thiern, dem Enkel Alains III., abstammen. Inzwischen treibt man es allerdings in anderer Richtung ein wenig zu weit, denn es ist Mode geworden, sich zur Klasse der Knechte zu bekennen und die Ehre zu besitzen, der Sohn eines Leibeigenen zu sein. Tönen diese Bekenntnisse nicht genauso stolz und sophistisch? Bedeutet es nicht ebenso, sich der Partei der Stärkeren anzuschließen? All die jetzigen Marquis, Grafen und Barone, die weder Privilegien noch Ländereien besitzen, sterben zu Dreivierteln Hungers, schmähen sich gegenseitig, wollen nicht als solche erkannt werden und verleugnen ihre Herkunft. Können diese Adligen, denen man den Namen aberkennt oder bloß zubilligt, wenn von ihnen etwas zu holen ist (sub beneficio inventarii)[9], noch irgendjemandem irgendeine Furcht einflößen? Man verzeihe mir im Übrigen, dass ich mich zu so kindischen Aufzählungen genötigt sehe, nur um der Hauptleidenschaft meines Vaters Rechnung zu tragen, einer Leidenschaft, die den dramatischen Knotenpunkt meiner Jugend gebildet hat. Was mich selbst angeht, so verherrliche oder beklage ich weder die alte noch die neue Gesellschaft. Bin ich in der ersten der Chevalier respektive Vicomte de Chateaubriand gewesen, so bin ich nun in der zweiten François de Chateaubriand. Mein Name ist mir lieber als mein Titel.
Gleich einem mittelalterlichen Großgrundbesitzer hätte mein Herr Vater Gott am liebsten mit Alleroberster Adelsherr angesprochen und den Nikodemus aus dem Evangelium als Heiligen Adligen bezeichnet. Doch ich will nun über meinen Erzeuger hinwegsehen und in gerader Linie vom Lehnsherrn Christophe, Seigneur de la Guérande, zu den Baronen von Chateaubriand vorrücken, bis hin zu mir, François, dem Seigneur de la Vallée-aux-Loups, der weder Vasallen besitzt noch Geld.
Verfolgt man die aus drei Zweigen bestehende Linie der Chateaubriands zurück, so sind die beiden ersten ausgestorben, während die dritte, die der Herren von Beaufort, aufgrund der Landesgesetze unvermeidlich verarmen musste. Denn wie es den bretonischen Gebräuchen entsprach, bekamen die Ältesten zwei Drittel der Güter, während alle Jüngeren das verbleibende Drittel des väterlichen Erbes unter sich aufteilen mussten. Je mehr geheiratet wurde, desto schneller vollzog sich die Zerstückelung des kümmerlichen Namensteils. Und weil diese Aufteilung von zwei Dritteln zu einem auch für deren Kinder galt, hatten die Jüngsten dieser Jüngeren es schnell mit der Teilung einer Taube, eines Kaninchens, eines Ententeichs oder Jagdhunds zu tun, wobei sie nach wie vor Hohe Chevaliers und Mächtige Seigneurs eines Taubenschlags, eines Krötensumpfs und eines Hasenstalls blieben. Man trifft in den alten Adelsfamilien auf eine ganze Menge jüngerer Söhne. Folgt man ihnen über zwei oder drei Generationen, so verschwinden sie, tauchen mit einem Pflug in der Hand auf oder werden von den arbeitenden Klassen absorbiert, ohne dass man noch erführe, was aus ihnen geworden ist.
Das Namensoberhaupt meiner Familie war zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts Alexis de Chateaubriand, Seigneur de la Guérande, Sohn von Michel und Bruder von Amaury. Michel war der Sohn jenes Christophe, der per Gerichtsentscheid als Sohn der Sires von Beaufort und der Barone von Chateaubriand bestätigt worden war. Alexis de la Guérande war Witwer. Als ausgemachter Säufer verbrachte er seine Tage mit Trinken, führte ein wildes Leben mit seinen Zofen und benutzte die schönsten Familienurkunden als Deckel für Buttertöpfe.
Zu dieser Zeit gab es auch noch dessen Cousin François, den Sohn von Amaury und jüngeren Bruder von Michel. Dem am 19. Februar 1683 geborenen François gehörten die kleinen Güter von Les Touches und La Villeneuve. Er heiratete am 27. August 1713 Pétronille-Claude Lamour, Dame de Lanjegu, mit der er vier Söhne hatte: François-Henri, René (meinen Vater), Pierre, Seigneur du Plessis, und Joseph, Seigneur du Parc. Mein Großvater François starb am 28. März 1722. Meine Großmutter, die ich als Kind noch kannte, hatte sogar im Schatten ihres hohen Alters noch ein schönes Lächeln um die Augen. Als ihr Mann starb, wohnte sie im Gutshaus von La Villeneuve in der Nähe von Dinan. Das gesamte Vermögen meiner Ahnin belief sich auf nicht mehr als 5000 Livres, von denen der älteste Sohn zwei Drittel, also 3333 Livres, erhielt, sodass 1667 Livres für die drei jüngeren geblieben waren, von denen der ältere für sich den größten Teil abzweigte.
Um das Maß vollzumachen, wurden die Wünsche meiner Großmutter auch noch durch die Eigenarten ihrer Söhne konterkariert. Der Älteste, François-Henri, dem die herrliche Erbschaft der Seigneurie de la Villeneuve zugeflogen war, weigerte sich zu heiraten und wurde Priester. Statt die Privilegien in Anspruch zu nehmen, zu denen ihn sein Name berechtigt hatte und mit denen er seine Brüder hätte unterstützen können, scherte er sich, voller Stolz und Sorglosigkeit, um rein gar nichts. Er zog sich in eine Landpfarrei zurück und wurde in der Diözese von Saint-Malo erst Rektor von Saint-Launeuc und dann von Merdignanc. Seine Leidenschaft galt der Poesie. Ich habe eine Menge Verse von ihm gelesen. Sein fröhliches Wesen vom Schlag des adligen Rabelais und der Kult, den dieser christliche Priester mit den Musen trieb, erregten Aufsehen. Er verschenkte alles, was er besaß, und starb mit Schulden.
Joseph, der vierte Bruder meines Vaters, zog nach Paris und verschanzte sich in einer Bibliothek. Man schickte ihm jedes Jahr 416 Livres, die diesem Jüngsten als Erbrente zustanden. Er verbrachte seine Tage namenlos inmitten von Büchern und versenkte sich in historische Forschungen. Während seines kurzen Daseins schrieb er jeden ersten Januar an seine Mutter, was das einzige Lebenszeichen war, das er je von sich gab. Sonderbares Schicksal! Der eine Onkel Gelehrter, der andere Dichter. Mein älterer Bruder schrieb nette Verse, und auch eine meiner Schwestern, Madame de Farcy, besaß wahres Talent für Poesie, wogegen eine weitere, die Comtesse Lucile, ein Stiftfräulein, in der Zeit, als ich selbst reichlich viel Papier vollgekritzelt habe, mit ein paar bewundernswerten Schriften hätte berühmt werden können. Mein Bruder fand den Tod auf dem Schafott, meine zwei Schwestern schieden, nachdem sie in Gefängnissen dahingesiecht waren, aus einem schmerzvollen Leben. Meine zwei Onkel hinterließen nicht einmal so viel, dass man die vier Bretter ihres Sargs hätte bezahlen können. Das geistige Leben und die Dichtung waren die Quellen meiner Freuden und Leiden, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, mit Gottes Hilfe im Hospital zu sterben.[10]
Nachdem meine Großmutter, um aus ihren zwei Ältesten etwas zu machen, ihr ganzes Vermögen hingegeben hatte, konnte sie für die andern, für meinen Vater René und meinen Onkel Pierre, nichts mehr tun. Diese Familie, die laut ihrer Devise Gold gesät hatte, blickte von ihrem Landsitz auf jene reichen Abteien, die sie gestiftet hatte und in denen ihre Vorfahren begraben lagen. Als ihr noch eine der neun Baronien gehört hatte, stand sie der bretonischen Ständeversammlung vor, während sie heute nicht einmal mehr über so viel Einfluss verfügt, dass sie ihren Namensnachkommen zu einer Unterleutnantsstelle verhelfen könnte.
Dem verarmten bretonischen Adel blieb nur ein einziger Ausweg: die königliche Marine. Für meinen Vater versuchte man daraus Vorteil zu schlagen, wofür man allerdings zuerst einmal nach Brest zu gehen hatte, dort leben, Lehrer bezahlen, eine Uniform, Waffen, Bücher und mathematische Instrumente kaufen musste. Wie sollte man für alle diese Ausgaben aufkommen? Da man keinen Gönner hatte, der sich für eine Beförderung hätte einsetzten können, bekam man auch die beim Marineministerium beantragte Ernennungsurkunde nicht. Die Schlossherrin von Villeneuve machte das krank vor Kummer.
Damals lieferte mein Vater den ersten Beweis für seine mir nur zu gut bekannte Entschiedenheit. Er war ungefähr fünfzehn, als er seiner Mutter ihre Sorgen anmerkte, daher an ihr Bett trat und zu ihr sagte: »Ich will Euch keine Last mehr sein.« Worauf seine Mutter in Tränen ausbrach (ich habe diese Szene zwanzig Mal von meinem Vater erzählt bekommen). »René«, hatte sie ihm geantwortet, »was willst du tun? Bestelle dein Feld.« – »Davon können wir uns nicht ernähren, lass mich ziehen.« – »Gut«, sagte die Mutter, »geh hin, wohin Gott will, dass du gehst.« Schluchzend umarmte sie ihr Kind. Am selben Abend verließ mein Vater das mütterliche Anwesen und ging nach Dinan, wo eine Verwandte ihm ein Empfehlungsschreiben für einen Bewohner von Saint-Malo mitgab. Als verwaister Abenteurer schiffte er sich als Freiwilliger auf einem bewaffneten Schoner ein, der wenige Tage später die Segel hisste.
Damals hielt Malo als die einzige kleine Republik auf dem Meer die Ehre der französischen Flagge aufrecht. Der Schoner schloss sich der Flotte an, mit der Cardinal de Fleury König Stanislaus zu Hilfe kam, der in Danzig von den Russen geschlagen worden war.[11] Kaum hatte mein Vater seinen Fuß an Land gesetzt, fand er sich sofort inmitten jener denkwürdigen Schlacht, die sich am 29. Mai 1734 fünfzehnhundert Franzosen unter dem mutigen Bretonen Bréhan, Comte de Plélo, mit vierzigtausend Moskowitern geliefert hatten. Der Diplomat, Kriegsmann und Dichter Bréhan wurde dort getötet und mein Vater zwei Mal verletzt. Er kehrte nach Frankreich zurück und fuhr erneut zur See. Bei einem Schiffbruch an der spanischen Küste wurde er in Galizien von Marodeuren überfallen und ausgeraubt. Er wurde berühmt für seinen Mut und seinen Ordnungssinn. Er begab sich auf die Inseln, wurde in den Kolonien wohlhabend und legte damit das Fundament für das neuerliche familiäre Vermögen.[12]
Meine Großmutter vertraute ihrem Sohn René ihren Sohn Pierre an, den Monsieur de Chateaubriand du Plessis, dessen Sohn Armand de Chateaubriand auf Befehl Bonapartes am Karfreitag des Jahres 1810 füsiliert worden war. Er war einer der letzten französischen Adligen, die für die Sache der Monarchie sterben sollten. Mein Vater sorgte sich um das Schicksal seines Bruders, obwohl er sich wegen seiner Gewöhnung ans Leiden einen unerbittlichen Charakter zugelegt hatte, den er sein Lebtag behielt. Das Unglück hat seine harten wie seine zarten Seiten.
Monsieur de Chateaubriand war groß und hager. Er hatte eine Adlernase, schmale und bleiche Lippen, hohle, kleine und so himmel- oder blaugrüne Augen wie die von Löwen oder alten Barbaren. Nie habe ich einen vergleichbaren Blick gesehen. Stieg Zorn ihn ihm hoch, schien der funkelnde Augapfel herauszukippen und uns wie eine Kugel anzuspringen.
Mein Vater wurde von einer einzigen Leidenschaft getrieben, nämlich der seines Namens. Sein üblicher Zustand bestand aus tiefer Traurigkeit, die im Alter noch zunahm, und aus einer Stille, aus der er bloß während seiner Wutanfälle heraustrat. Voller besessener Hoffnung, seiner Familie den einstigen Glanz zurückzugeben, voller Hochmut gegenüber den bretonischen Adelsständen, hart mit seinen Vasallen in Combourg, schweigsam, despotisch und bedrohlich in den eigenen vier Wänden, empfand man bei seinem Anblick nur Angst. Hätte er bis zur Revolution gelebt und wäre er jünger gewesen, hätte er gewiss eine bedeutende Rolle gespielt oder sich auf seinem Schloss hinrichten lassen. Zweifellos besaß er große Fähigkeiten. Mit Sicherheit hätte er an der Spitze der Verwaltung oder der Armee einen außerordentlichen Mann abgegeben.
Nach seiner Rückkehr aus Amerika beschloss er zu heiraten. Geboren am 23. September 1718, ehelichte er am 3. Juli 1753 mit fünfunddreißig Jahren Apolline-Jeanne-Suzanne de Bedée, die am 7. April 1726 als Tochter von Messire Ange-Annibal, des Comte de Bedée und Chevalier und Seigneur de La Bouëtardais, geboren worden war.
Er ließ sich mit ihr in Saint-Malo nieder, ungefähr sieben bis acht Meilen von deren beider Geburtsort entfernt, sodass sie von ihrem Haus auf den Horizont schauen konnten, unter dem sie auf die Welt gekommen waren.
Meine mit reichlich Geist und sprühender Phantasie ausgestattete Mutter hatte ihre Bildung durch die Lektüre Fénelons, Racines und Madame de Sévignés erhalten und sich an Anekdoten ergötzt, die man sich vom Hof Ludwigs XIV. erzählte. Apolline de Bedée besaß kräftige Gesichtszüge, war schwarzhaarig, klein und hässlich. Ihr elegantes Auftreten und reges Wesen standen in allergrößtem Kontrast zur Strenge und Stille meines Vaters. Weil sie die Gesellschaft in gleichem Maß liebte wie er das Alleinsein und so ausgelassen und so lebhaft war wie er steif und kalt, besaß sie keinerlei Vorlieben, die denen ihres Gatten nicht entgegengesetzt gewesen wären. Bei aller Leichtigkeit und allem Frohsinn, die sie einst besessen hatte, ließ sie dieses Gegensätzliche melancholisch werden. Zum Schweigen gezwungen, wenn sie hätte reden wollen, entschädigte sie sich durch eine Art geräuschvoller Schwermut, unterbrochen von Seufzern, die einzig die triste Stummheit meines Vaters unterbrachen. Was Frömmigkeit angeht, war meine Mutter ein Engel.
Meine Mutter gebar in Saint-Malo einen ersten Jungen, der in der Wiege starb und Geoffroy getauft wurde, wie fast alle Erstgeborenen in meiner Familie. Diesem Sohn folgten ein weiterer und zwei Töchter, die nur wenige Monate lebten.
Diese vier Kinder fanden den Tod durch Hirnblutung. Schließlich brachte meine Mutter einen dritten Jungen zur Welt, den man Jean-Baptiste taufte. Er wurde später der Schwiegersohn von Monsieur de Malesherbes. Nach Jean-Baptiste wurden vier Töchter geboren: Marie-Anne, Bénigne, Julie und Lucile, alle vier von seltener Schönheit, von denen als Einzige die zwei Älteren die Gewitter der Revolution überlebten. Ich war das Letzte von zehn Kindern. Vermutlich verdankten meine vier Schwestern ihre Existenz dem Verlangen meines Vaters, seinen Namen durch die Ankunft eines zweiten Sohnes gesichert zu wissen. Doch ich hielt stand. Ich besaß eine Abneigung gegen das Leben.
Das von meinen Eltern damals bewohnte Haus lag in einer dunklen, schmalen Straße von Saint-Malo, genannt die Judengasse. Heute dient dieses Haus als Herberge. Das Zimmer, in dem meine Mutter gebar, zeigte auf einen unbelebten Teil der Stadtmauern, wo man durch die Fenster sehen konnte, wie das Meer sich an den Klippen brach und so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Zum Paten hatte ich, wie aus dem Taufregister ersichtlich, meinen Bruder, und als Patin die Comtesse de Plouër, Tochter des Marschalls de Contades. Ich war fast tot, als ich das Licht erblickte. Das durch Sturmböen ausgelöste, die herbstliche Tagundnachtgleiche ankündigende Brausen der Wellen verhinderte, dass man meine Schreie hörte. Oft hat man mir von diesen Umständen erzählt. Ihr Trauriges hat sich nie aus meinem Gedächtnis gelöscht. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht in Gedanken den Felsen wiedersehe, auf dem ich geboren worden bin, sowie das Zimmer, in dem meine Mutter mir das Leben geschenkt, und auch den Sturm, dessen Tosen mich in den ersten Schlaf gewiegt, und ebenso den unglücklichen Bruder, der mir zu meinem Namen verholfen hat, den ich in meinem Unglück immerzu mit mir geschleppt habe. Der Himmel schien all diese verschiedenen Dinge miteinander zu vereinen, um mir schon in die Wiege ein Bild meines Schicksals zu legen.
Gleich nach dem Verlassen des Mutterschoßes durchlebte ich mein erstes Exil. Man verbannte mich nach Plancouët, einer hübschen Stadt zwischen Dinan, Saint-Malo und Lamballe. Der einzige Bruder meiner Mutter, der Comte de Bedée, hatte in der Nähe der Stadt das Schloss Monchoix errichtet. Die Güter meiner mütterlichen Großmama erstreckten sich bis in die Umgebung des Dorfes Corseul, bis zu jenen Curiosoliten, denen man schon in den Kommentaren von Cäsar begegnet.[13] Meine Großmutter, seit langem Witwe, wohnte mit ihrer Schwester, Mademoiselle de Boisteilleul, in einem Weiler, den eine Brücke von Plancouët trennte und den man wegen eines Benediktinerklosters, das der Jungfrau von Nazareth geweiht war, die Abtei nannte.
Weil meine Amme sich als steril erwiesen hatte, nahm mich eine andere arme Christin an ihre Brust. Sie empfahl mich der Schutzheiligen dieses Weilers, der Jungfrau von Nazareth, indem sie ihr gelobte, dass ich ihr zu Ehren bis zu meinem siebten Lebensjahr Blau und Weiß tragen sollte. Kaum hatte ich ein paar Stunden gelebt, hinterließ das Gewicht der Zeit bereits Spuren auf meiner Stirn. Warum ließ man mich nicht sterben? Es lag in Gottes ewigen Ratschlüssen, dieses so undurchsichtige wie unschuldige Gelübde und damit das Leben eines Wesens anzunehmen, das bald schon von eitlem Ruhm bedroht werden sollte.
Das Gelübde dieser bretonischen Bäuerin gehört nicht mehr diesem Jahrhundert an, auch wenn es einen rührt, wie die Muttergottes als Vermittlerin zwischen dem Kind und dem Himmel steht und die Sorgen der irdischen Mutter teilt.
Nach drei Jahren brachte man mich nach Saint-Malo. Ich war bereits sieben, als mein Vater das Grundstück von Combourg wiedererworben hatte. Er wünschte auf die Güter, wo seine Vorfahren ihr Leben verbracht hatten, zurückzukehren. Weil er weder die an die Familie Goyon gefallene Seigneurie de Beaufort noch die an das Haus Condé gegangene Baronie de Chateaubriand bekommen konnte, warf er ein Auge auf Combourg, das bei Froissart noch Combour heißt.[14] Mehrere Zweige meiner Familie hatten es durch Heirat mit den Coëtquen besessen. Combourg verteidigte die Bretagne während der normannischen und englischen Feldzüge. Junken, der Bischof von Dol, hat es 1016 erbaut, der große Turm datiert auf das Jahr 1100 zurück. Marschall von Duras, der Combourg von seiner Frau Maclovie de Coëtquen, einer geborenen Chateaubriand, bekommen hatte, wurde sich mit meinem Vater handelseinig.
Ich wurde für die Königliche Marine auserkoren. Die Distanz zum Hof gehörte zum Naturell eines jeden Bretonen, was ganz besonders für meinen Vater galt. Unsere eigenwillige Art von Adelsstand bestärkte ihn nur in diesem Gefühl.
Als ich nach Saint-Malo zurückgebracht wurde, war mein Vater in Combourg und mein Bruder auf dem Kolleg von Saint-Brieuc, während meine vier Schwestern bei meiner Mutter lebten, deren Gefühle sich auf den Ältesten konzentrierten. Ohne sagen zu können, dass sie die anderen Kinder nicht gemocht hätte, zeigte sie jedoch für den jungen Comte de Combourg eine blinde Vorliebe. Gewiss besaß ich als Junge, als zuletzt Gekommener, als Le Chevalier – wie man mich nannte – gegenüber meinen Schwestern ein paar Privilegien, doch im Grunde hatte man mich dem Dienstpersonal überlassen. Im Übrigen kümmerte sich meine so geistreiche wie tugendhafte Mutter vor allem ums Gesellschaftliche und die religiösen Pflichten. Die Comtesse de Plouër, meine Patentante, war ihre Busenfreundin, die auch bei den Verwandten von Maupertuis und Abbé Trublet ein und aus ging.[15] Sie liebte den öffentlichen Lärm, die Welt und die Politik, wobei man wissen muss, dass in Saint-Malo die Politik wie bei den Mönchen von Saba im Kidrontal betrieben wird.[16] Sie warf sich voller Eifer in die Affaire La Chalotais[17]. Man sagt, sie besitze einen grimmen Humor, eine wirre Vorstellungskraft und sie sei knauserig, was uns zuerst einmal daran hindert, ihre bewundernswerten Eigenschaften wahrzunehmen. Doch trotz ihres Ordnungssinns wuchsen ihre Kinder ohne jede Ordnung auf, trotz ihrer Großzügigkeit schien sie geizig zu sein, trotz ihrer sanften Wesensart hatte sie ihre Tage ständig mit Geschimpfe verbracht. Mein Vater war der Schrecken der Dienerschaft, meine Mutter deren Plage.
Aus diesem Charakter meiner Eltern wurden die ersten Empfindungen meines Lebens geboren. Ich klammerte mich an die Frau, die mich umsorgte, an ein wunderbares Geschöpf, das man die Villeneuve nannte, deren Namen ich mit dem Gefühl allergrößter Hochachtung und mit Tränen in den Augen niederschreibe. Die Villeneuve war eine Art Hauptsachwalterin des Hauses, sie trug mich in ihren Armen, gab mir im Geheimen alles, was sie finden konnte, trocknete meine Tränen, umarmte mich, warf mich in eine Ecke, holte mich wieder hervor und murmelte immerzu: »Der da wird nie überheblich! Er hat ein gutes Herz! Er ist nicht widerlich zu den Armen! Ei, kleiner Bub«, während sie mich mit Zucker und Wein vollstopfte.[18]
Meine kindliche Wertschätzung für die Villeneuve wurde allerdings bald durch eine noch verdientere Freundschaft gezügelt.
Lucile, meine vierte Schwester, war zwei Jahre älter als ich. Als vernachlässigte Jüngste bestand ihr ganzes Geschmeide aus den Hinterlassenschaften ihrer Schwestern. Man stelle sich ein kleines mageres Mädchen vor, das zu groß für ihr Alter ist, mit schlaksigen Armen, scheuem Blick, Schwierigkeiten beim Reden und außerstande, etwas zu lernen. Man ziehe ihr ein Kleid an, das für einen ganz anderen Umfang gemacht worden ist, man zwänge ihre Brust in ein geschnürtes Korsett, dessen Kanten ihr an den Seiten Wunden zufügen, man stütze ihren Hals mit einem eisernen Collier, das mit braunem Velours bestückt ist, man klemme ihr Haar über dem Kopf zusammen und befestige es mit einer Mütze aus schwarzem Stoff, und man hat jene elende Kreatur vor Augen, die mir bei meiner Rückkehr unters väterliche Dach gegenübergestanden hat. Kein Mensch hätte dabei an die kümmerliche Lucile gedacht, an ihre Fähigkeiten und ihre Schönheit, die eines Tages an ihr aufblühen sollten.
Man hatte sie mir wie ein Spielzeug überlassen, an dem ich nie meine Macht missbrauchte. Statt sie meinem Willen zu unterwerfen, sollte ich ihr Fürsprecher werden. Man brachte uns beide jeden Morgen zu den Schwestern Couppart, zu zwei alten schwarz gekleideten Buckligen, die Kindern das Lesen beibrachten. Lucile las ziemlich schlecht, ich las noch schlechter. Schimpfte man sie aus, so kratzte ich die Schwestern, worauf an meine Mutter große Klagen gerichtet wurden. Man fing an, mich für einen Tunichtgut zu halten, für einen Widerborst, für einen Faulenzer, ja schließlich für einen Esel. Solche Bilder setzten sich im Kopf meiner Eltern fest. Mein Vater hatte behauptet, alle Chevaliers von Chateaubriand seien nichts als Hasenauspeitscher, Säufer und Streithammel gewesen. Sah meine Mutter, wie mein Mantel in Unordnung war, schluchzte und schimpfte sie. Ganz Kind, das ich war, empörten mich die Worte meines Vaters. Krönte meine Mutter seine Vorwürfe noch dadurch, dass sie meinen Bruder lobte, den sie als einen Cato und Helden rühmte, fühlte ich mich wahrlich in der Lage, alles erdenklich Böse zu tun, das von mir erwartet wurde. Mein Schreiblehrer, Monsieur Després, der mit Matrosenperücke umherspazierte, war mit mir am Ende nicht weniger unzufrieden als mit meinen Eltern. Er ließ mich unentwegt Verse abschreiben, die ganz seinem Geschmack entsprachen, mir aber verhasst waren.
Saint-Malo ist nichts als ein Felsen. Einst erhob es sich aus salzigem Sumpf und wurde im Jahr 709, als das vordringende Meer die Bucht aushöhlte und den Mont Saint-Michel mitten in die Flut setzte, zu einer Insel. Heute ist der Fels Saint-Malo mit dem Festland nur noch durch einen Deich verbunden, den man poetisch Le Sillon – die Furche – nennt.[19] Auf der einen Seite wird Le Sillon vom offenen Meer bestürmt, auf der andern von der Flut ausgewaschen, die um sie herumströmt, um in jenen Hafen zu gelangen, den 1730 ein Sturm nahezu völlig zerstört hat. Wenn während Ebbe der Hafen trocken bleibt, trifft man am östlichen und nördlichen Meeresufer auf schönsten Sand. Man kann dann von meinem väterlichen Nest aus seine Runden drehen. Nah und fern ist um diese Zeit alles mit Felsen, Festungen und unbewohnten Inselchen übersät: das Fort-Royal, La Conchée, Cézembre und Le Grand-Bé, wo mein Grab sein wird. Ich habe es gut ausgesucht, ohne zu wissen, dass Bé im Bretonischen Grab bedeutet.
Bei einer Kreuzigungsgruppe am Ende von Le Sillon stößt man an der offenen Meeresküste auf einen Sandhügel. Diesen Hügel nennt man La Hoguette. Er wird überragt von einem alten Galgen, dessen Pfosten uns beim Spielen als vier Ecken dienten, die wir den Küstenvögeln streitig machten. Nie haben wir diesen Ort ohne eine Art Schauder betreten.
Dort treffen auch die Miels aufeinander, jene Dünen, auf denen Büffel weiden. Rechter Hand befinden sich am unteren Ende von Paramé Wiesen, der Postweg von Saint-Servan, der neue Friedhof, eine Kreuzigungsgruppe und auf den Hügeln Mühlen, wie sie sich über dem Grab von Achill am Eingang des Hellespont erheben.[20]
Ich näherte mich meinem siebten Jahr, als meine Mutter mich nach Plancouët brachte, wo wir die Großmutter besuchten, um mich vom Gelübde meiner Amme zu entbinden. Sofern ich je das Glück gesehen habe, war es gewiss in diesem Haus.
Meine Großmutter bewohnte in der Rue du Hameau de l’Abbaye ein Haus, dessen Gärten terrassenförmig ins Tal hinabwiesen, an dessen Ende sich ein von Weiden eingefasster Springbrunnen befand. Madame de Bedée konnte nicht mehr gehen, obwohl sie, davon abgesehen, in ihrem Alter sonst keine Unannehmlichkeiten plagten. Sie war eine angenehme alte Frau, korpulent, bleich, reinlich, mit herrschaftlicher Miene, schönen und noblen Manieren, Faltenkleidern wie aus früheren Zeiten und schwarzer Spitzenhaube, die unter dem Kinn zugebunden wurde. Sie besaß einen hübschen Witz, ihre Unterhaltungen hatten etwas Getragenes, ihr Humor blieb immer kultiviert. Versorgt wurde sie von ihrer Schwester, Mademoiselle de Boisteilleul, die ihr in nichts ähnelte als in ihrer Gutmütigkeit. Sie war eine kleine, hagere, heitere, gesprächige, zum Spotten aufgelegte Person. Sie hatte den Comte de Trémigon geliebt, der sie heiraten wollte, jedoch sein Wort brach. Meine Tante hatte sich dadurch getröstet, dass sie Lieder auf ihre Liebe anstimmte, denn sie war Dichterin. Ich erinnere mich, oft gehört zu haben, wie sie, die Brille auf der Nase, näselnd sang, während sie für ihre Schwester zweireihige Manschetten stickte. Einer ihrer Lobgesänge setzte mit den Versen ein:
Ein Sperber liebte eine Mücke,
Auch sie, sagt man, hat ihn geliebt.
Was mir für einen Sperber immer sonderbar erschien. Das Lied endete mit dem Refrain:
Oh ist das nicht, Trémigon, obskür?
Türilür, türilür.