Kintsugi - Tomás Navarro - E-Book

Kintsugi E-Book

Tomás Navarro

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Schönheit im Unvollkommenen

Kintsugi ist eine traditionelle japanische Methode, um zerbrochene Keramik zu reparieren. Statt den »Makel« der Reparatur zu verbergen, werden die Bruchstellen durch Goldstaub im Kleber noch hervorgehoben. Der Psychologe Tomás Navarro überträgt dies auf die Zerbrechlichkeit, Schönheit und Stärke des Menschen und leitet daraus konkrete Handlungsschritte ab, um nach einer Krise einen Neubeginn zu wagen. Er zeigt, wie wir Verletzungen erkennen, Widrigkeiten annehmen und Resilienz entwickeln. Ob wir unser Selbstvertrauen verloren haben, unter Liebeskummer leiden oder den Verlust der Arbeitsstelle verarbeiten wollen — es gibt Wege, um daraus heil und gestärkt hervorzugehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 414

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tomás Navarro ist Psychologe sowie Gründer einer Beratungsfirma und eines Zentrums für emotionales Wohlbefinden. Er teilt seine Zeit auf zwischen Schreiben, Training, Konferenzen, Coaching- und Beratungsprozessen. Bei seiner Arbeit als Coach liegen Tomás Navarro besonders die Menschen und das, was sie fühlen, denken und tun, am Herzen. Er lebt in Girona und Barcelona.

Tomás Navarro

Kintsugi

Die Kunst, emotionale Verletzungen zu heilen

Aus dem Spanischen von Maria Hoffmann-Dartevelle

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Kintsukuroi.El arte de curar heridas emocionales bei Zenith, einem Imprint der Editorial Planeta, S.A., Barcelona.

Copyright © 2019 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © Tomás Navarro Hernández, 2017

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Maria Hoffmann-Dartevelle

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotive: Weiss Werkstatt, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-23925-1V001

www.koesel.de

Für alle,

die leiden

INHALT

Einleitung

Sokeis Traum

Erster Teil

Raku-yaki, die Kunst des Wesentlichen

Mit Unglück und Schmerz leben

Was tut uns weh?

Warum gerade ich?

Wie reagieren wir auf Unglück?

Kann man das Leben wieder aufbauen?

Zweiter Teil

Kintsugi, die Kunst, das Leben wiederaufzubauen

Sammeln Sie die Bruchstücke auf

Analysieren Sie die Situation

Lernen Sie aus den Geschehnissen

Finden Sie Zugang zu Ihrer emotionalen Stärke

Fügen Sie die Bruchstücke wieder zusammen

Verschönern Sie Ihre Narben

Dritter Teil

Bizen-yaki, die Kunst der Beharrlichkeit

Eine Entlassung bewältigen

Die Selbstachtung reparieren

Das Leben neu aufbauen

Die Liebe wiederherstellen

Die Begeisterung zurückgewinnen

Die Freude wiederherstellen

Schluss

Mottainai, die Kunst, sich eine neue Chance zu geben

Dank

EINLEITUNG

SOKEISTRAUM

Durch einen Türspalt war die Silhouette des hockenden Sokei zu sehen. Aufmerksam betrachtete der Schüler von Chojiro, einem der besten Keramiker Kyotos, die dreißig Tonklumpen, die vor ihm lagen. Schon den ganzen Morgen hockte er davor. Reglos. Ruhig. Abwägend. Der Reihe nach nahm er sie in die Hand und legte sie wieder zurück. Einen nach dem anderen. Jeden für sich. Plötzlich leuchtete auf Sokeis Gesicht ein zartes Lächeln auf. Endlich hatte er den geeigneten Klumpen gefunden!

Sokei war ein Junge von kluger Beharrlichkeit. Den richtigen Tonklumpen zu wählen, war ihm sehr wichtig; jeder einzelne fühlt sich anders an und inspiriert den Künstler auf besondere Weise. Der sorgfältige Umgang mit den Details unterscheidet Gewöhnliches von Außergewöhnlichem, und Sokei war entschlossen, ein einzigartiges, außergewöhnliches Stück zu schaffen.

Mit vor der Brust gefalteten Händen verneigte er sich vor dem ausgewählten Tonklumpen. Dann nahm er ihn behutsam vom Tisch und genoss die mit diesem so einzigartigen Moment verbundenen Empfindungen. Er spürte die Feuchtigkeit und leichte Kühle des Tons. Seine Seele verband sich mit der Seele des Tons, mit dessen Geschichte und dessen Reise bis hierher, in seine Hände.

Tagelang hatte Sokei nach dem passenden Ton gesucht. Seine Suche hatte ihn in Wälder, an Flussufer und bis an den Biwa-See geführt. Mit geschlossenen Augen hatte er die Hände in die Tonerde versenkt, um tiefer mit ihrem Wesen in Berührung zu kommen. Als er nun hier in der Werkstatt die Augen schloss, erinnerte er sich an die Hoffnungen und Träume, die seine Wahl geweckt hatte, und fühlte sich glücklich und dankbar.

Er setzte sich in einer Ecke der Werkstatt ans Fenster, an den Platz, an dem er so viele Stunden gelernt hatte. Der Jugend geht die Ausbildung nicht schnell genug. Dauert sie zu lange, sind sie enttäuscht, verlieren die Motivation und hören auf zu lernen. Sie machen sich nicht klar, dass man zum Lernen, und damit das Erlernte sich setzen kann, Zeit, Aufmerksamkeit und Neugier braucht. Aber Sokei war kein Jugendlicher wie die anderen, Sokei war geduldig wie ein alter Mann und lernbegierig wie ein Kind. In Sokeis Kopf sprudelten die Ideen, seine Augen strahlten vor Begeisterung und sein Herz schlug im frenetischen Rhythmus der Ungeduld. Er wusste, dass dies ein ganz besonderer Augenblick war, aber er wusste auch, dass sein Körper, sein Geist und seine Seele zur Ruhe kommen mussten.

Von einem anderen Teil der Werkstatt aus betrachtete Chojiro ihn aufmerksam. »Junge Menschen sind so lebhaft«, dachte er. Aber Sokei war anders. Er besaß große Empfindsamkeit und eine ungewöhnliche emotionale Stärke. Chojiro wusste, in ihm hatte er seinen Nachfolger vor sich: einen jungen Menschen mit dem Gleichmut dessen, der bereits ein ganzes Leben hinter sich hat, und der Energie dessen, der noch das ganze Leben vor sich hat.

Sokei schloss die Augen und befühlte den Ton. Bedachtsam knetete er den Klumpen, spürte, wie seine Finger eins wurden mit Ton, Erde, Natur und Kunst. Mit dem Tonklumpen in den Händen spürte er, dass alles möglich war, dass eine der unendlich vielen Formen, die in diesem Ton schlummerten, darauf wartete, mit den Händen des Keramikers zu verschmelzen. Sokei nahm Verbindung zu all diesen möglichen Formen auf, stellte sie sich vor, erspürte sie. Bedächtig begann er, die Ränder einer Schale zu formen, und dachte dabei an nichts anderes, richtete seinen Geist allein auf das Hier und Jetzt, denn zwei Dinge gleichzeitig zu tun, würde zu keinem gelungenen Ergebnis führen. Er wusste, wenn er etwas Außergewöhnliches vollbringen wollte, musste er dieser einen Schale all seine Aufmerksamkeit widmen. Er war so konzentriert bei der Arbeit, dass er das Gefühl für Zeit und Raum verlor. Sein Universum lag jetzt ganz in seinen Händen. In diesem Augenblick gab es nichts außer ihm und seiner Schale.

Er wusste, dass Schönheit in der Einfachheit liegt, dass Außergewöhnliches keiner Verzierungen oder Verschnörkelungen bedarf, dass es ganz einfach schön und harmonisch ist, und in diesem Bewusstsein emaillierte er nun die fertig geformte Schale mit Bedacht und Feingefühl. Das Ergebnis war ein schlichtes Gefäß. Das Wesentliche ist schön. Das Rohe inspiriert. Das Echte ist stark. Für Sokei war diese Schale ein Abbild seiner Seele, seines Lebens, seiner schöpferischen Kraft und seines freien Geistes. Ihre Beschaffenheit zeichnete die Geschichte seiner Hände nach, ließ seine Spiritualität und seine Liebe zur Natur erkennen.

Chojiro bereitete den Ofen für die entscheidende Phase des schöpferischen Prozesses vor, die komplexeste, aber auch schönste. Sokei stellte die Schale in den Ofen, und in der großen Hitze veränderte sich nach und nach ihre Farbe. Als die Schale weiß wurde, ergriff er sie mit einer Eisenzange und stellte sie in ein mit Holzspänen gefülltes Gefäß. Rauch und Flammen umhüllten Sokeis Schale, vereinten sich mit ihr, schufen ein neues Ganzes. Das Email wollte an diesem Tanz der Verwandlung teilhaben und prägte der Schale in eigenwilligen Formen und changierenden Tönen seine zarten Farben auf. Sokei betrachtete das Geschehen mit der gebannten Vorfreude dessen, der die Entstehung von etwas Schönem und Einzigartigem verfolgt. Nur mit Mühe konnte er seine Erregung beherrschen.

Dann war es so weit, er nahm das Stück aus dem Ofen. Feuer, Erde und Luft hatten seine Schale mit verspielten Formen versehen, hatten ihr Licht und Schatten verliehen. Nach so langer Zeit, so tiefer Hingabe, so großer Geduld hatte Sokei nun endlich das Ergebnis seiner Arbeit und Liebe vor sich. Es war so schön, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Er spürte, wie ihm der kalte Hauch von Buruburu, dem Geist der Furcht, durch den Körper fuhr, und als der Schauer seine Hände erreichte, geschah es: Die wunderschöne Schale fiel zu Boden und zerbrach in sechs Teile. Sokei ließ die Eisenzange fallen, kniete neben den Bruchstücken nieder und erstarrte, fassungslos. Seine Hände zitterten, Tränen stiegen ihm in die Augen. Wie flüchtig war das Leben seiner Schöpfung gewesen! Er spürte, wie eine Hand sich sanft auf seine Schulter legte.

»Weine nicht, Sokei«, sagte Chojiro.

»Aber das hier ist mein Leben. Wie sollte ich da nicht weinen!«, antwortete Sokei.

»Es ist richtig, dass du dein Leben und deine Leidenschaft mit diesem Stück verbindest, doch Keramik ist genauso schön und zerbrechlich wie das Leben. So wie eine Tonschale kann auch ein Leben in tausend Stücke zerbrechen, und dennoch dürfen wir nicht aufhören, intensiv zu leben, unser Leben intensiv zu gestalten und es mit unseren Hoffnungen und Freuden zu füllen. Wir dürfen nicht aufhören zu leben. Nach einem Unglück müssen wir lernen, auch uns selbst wieder zusammenzufügen. Sammle die Bruchstücke auf, Sokei, und füge auch deine zerbrochene Begeisterung wieder zusammen. Zerbrochenes lässt sich reparieren, doch dabei solltest du nicht versuchen, seine Zerbrechlichkeit zu verbergen, denn sie ist nun zu sichtbarer Stärke geworden. Lieber Sokei, dies ist der richtige Moment, um dich in eine neue Technik einzuführen, in die uralte Kunst des Kintsugi, die dir helfen wird, dein Leben, deine Begeisterung und deine Werke wiederherzustellen. Hol das Gold, das ich in der Schachtel im hintersten Regal verwahre.

Kintsugi ist eine traditionelle japanische Kunst der Keramikreparatur. Die Kintsugi-Meister kitten zerbrochene Teile so, dass die Bruchstellen, mit Gold hervorgehoben, sichtbar bleiben. In ihren Augen symbolisiert reparierte Keramik Zerbrechlichkeit, Stärke und Schönheit.

Keramik ist stark und schön und zerbrechlich, genau wie der Mensch. Und genau wie Keramik kann auch unser Leben zerbrechen. Aber es lässt sich auch wieder zusammenfügen, wenn man weiß wie. In dem vorliegenden Buch möchte ich Ihnen zeigen, wie sich das Leben nach einem Bruch wieder zusammensetzen lässt, wie emotionale Verletzungen geheilt werden können. Zunächst müssen wir jedoch verstehen, welche Rolle Unglück in unserem Leben spielt, wie wir auf Schicksalsschläge reagieren und welche Folgen diese für unser Leben und unsere Gesundheit haben. Der zweite Teil des Buchs befasst sich mit der Kunst, das eigene Leben auf einfache und wirkungsvolle Weise wiederaufzubauen. Dabei stütze ich mich sowohl auf fundierte und bewährte psychologische Methoden als auch auf meine eigene zwanzigjährige Erfahrung in der Arbeit mit Menschen, die ihr Leben rekonstruieren, ihre emotionalen Verletzungen heilen und ihre Narben verschönern mussten. Im dritten und letzten Teil berichte ich von Fällen aus dem wirklichen Leben. Pro Kapitel schildere ich dort einen Fall, den ich bei meiner Arbeit als Psychologe erlebt habe, und erläutere anschließend, in welchen Etappen und mit welchen Schritten und Hilfsmitteln sich entsprechende Situationen bewältigen lassen. Dabei erläutere ich in anschaulicher Weise die von mir angewandten Methoden, damit Sie, liebe Leserinnen und Leser, diese bei Bedarf auf sich selbst anwenden können.

Es handelt sich stets um reale Begebenheiten, und leider ereignen sich ähnliche Dinge in unserem Alltag nicht selten. Ich habe beschlossen, meine Erfahrungen mit Ihnen zu teilen, um Ihnen für den Fall, dass Sie sich einmal in einer vergleichbaren Lage befinden oder jemandem helfen wollen, nach einem Unglück wieder auf die Beine zu kommen, eine nützliche, inspirierende Anleitung zur Hand haben.

Dabei kommt es mir besonders auf das Wie an. Wir Fachleute scheuen uns oftmals, unser Wissen, das ja zugleich unser Instrument ist, mit anderen zu teilen. Auf mich trifft das nicht zu. Ich war immer der Meinung, die Psychologie sollte Praxen und Hörsäle verlassen und sich in den Dienst der Menschen stellen.

Das Ziel der Psychologie ist es, Menschen stark und glücklich zu machen und ihnen Instrumente an die Hand zu geben, mit denen sie Schwierigkeiten und Schicksalsschläge überwinden können. Manchmal brauchen wir tatsächlich einfach nur zu wissen, wie so etwas geht. Da nicht jeder Mensch in jeder Lebenslage einen Psychologen in Anspruch nehmen kann, soll dieses Buch als Hilfsmittel im Umgang mit Schicksalsschlägen dienen, als Anleitung dazu, wie man sein Leben selbstständig und mit der nötigen Konsequenz und Effizienz neu aufbauen kann.

In Kintsugi möchte ich Ihnen bei der Überwindung bestimmter Situationen helfen, und zwar mit einem dreifachen Ziel. Erstens möchte ich Ihnen zeigen, dass Sie nichts Ungewöhnliches oder Seltenes erleben. Allzu oft stigmatisieren wir uns oder werden von anderen stigmatisiert, kommen uns vor wie Sonderlinge, geben uns die Schuld für das, was wir erleben, und meinen, nie darüber hinwegkommen zu können. Das muss nicht so sein. In meinem beruflichen Alltag bin ich immer wieder ähnlichen Problemen begegnet. Ich habe ihre Gemeinsamkeiten herausgearbeitet, sie geschildert, analysiert und erklärt. Was man versteht, kann man auch überwinden. Möglicherweise erkennen Sie bei der Lektüre dieses Buchs auch den Fall eines Bekannten oder Freundes wieder. Dann rufen Sie ihn an und sagen Sie ihm, dass Sie ihn nun besser verstehen. Sprechen Sie über Ihren Schmerz, nehmen Sie Anteil an seinem Schmerz und erzählen Sie von Ihrer eigenen Heilung, damit geben Sie ihm das beste Beispiel.

Zweitens liegt mir daran, dass Sie fähig werden, den Menschen in Ihrer Umgebung zu vermitteln, was mit Ihnen los ist und was Sie empfinden. Nicht selten werden wir von anderen oberflächlich beurteilt und fühlen uns unfähig, uns zu verteidigen oder zumindest zu erklären, was mit uns los ist. Doch gerade wenn es uns schlecht geht, brauchen wir Empathie, Verständnis, Unterstützung und auch Mitleid. Ich habe sehr viele Menschen besucht. Ich habe mit ihnen gelitten. Und ich habe mich über ihre Fortschritte gefreut. In diesem Buch erkläre ich sachlich und empathisch Dinge, die womöglich auch Sie gerade empfinden oder erleben.

Mein drittes Ziel ist es schließlich, Ihnen Instrumente an die Hand zu geben, mit denen Sie Unglück überwinden und Ihr Leben wie ein wahrer Kintsugi-Meisterreparieren können. Nach der Lektüre dieses Buchs werden Sie sich stärker und schöner fühlen, fähiger, Unglück zu überwinden und aus ihm zu lernen, und kräftig genug, um sich den Dingen zu stellen, die das Leben für Sie bereithält, den Herausforderungen, Problemen und Schicksalsschlägen.

Heutzutage ist viel die Rede von Resilienz, ich aber möchte einen Schritt weitergehen und Ihnen eine Methode zum Wiederaufbau Ihres Lebens mitgeben. Lesen Sie Kintsugi langsam, ohne Hast, befassen Sie sich in aller Ruhe mit den einzelnen Konzepten, Geschichten und Hilfsmitteln. Vergessen Sie das Querlesen oder Speed Reading, sprechen Sie lieber mit mir. Ich meinerseits versuche mir vorzustellen, wer Sie sind, mit Ihnen zu sprechen und Ihnen zuzuhören. Treten Sie in einen Dialog mit diesem Buch, in einen Dialog mit mir; tun Sie es Schritt für Schritt, durchdenken und genießen Sie das Gespräch. Kommunizieren Sie mit Kintsugi, mit mir. Praktizieren Sie das bewusste Lesen, das Slow Reading.

Dieses Buch habe ich in Etappen geschrieben, viele Passagen entstanden bei Ausflügen ins Gebirge, wo ich von Murmeltieren und Gämsen umgeben war. Ich möchte Ihnen daher vorschlagen, es ebenfalls in Etappen zu lesen. Natürlich können Sie es auch in der U-Bahn oder am Flughafen lesen, doch ich empfehle Ihnen eher eine Umgebung, in der Sie sich wohlfühlen, um die Lektüre in allen Einzelheiten genießen zu können. Gehen Sie in einen Park, an den Strand oder suchen Sie sich die Stille, die Sie brauchen, um mit mir und mit sich selbst zu sprechen.

In diesem Buch möchte ich Sie dazu anregen und Ihnen dabei helfen, intensiv zu leben und sich selbst und Ihr Leben zu rekonstruieren. Und um mit Chojiros Worten zu sprechen: Vergessen Sie nicht, dass das Leben genau wie eine Tonschale in tausend Scherben zerbrechen kann, wir aber dennoch nicht aufhören dürfen, intensiv zu leben und unser Leben mit Freude und Hoffnung zu gestalten. Statt dem Leben aus dem Weg zu gehen, müssen wir lernen, uns nach einem Unglück wieder neu zusammenzufügen.

ERSTER TEIL

RAKU-YAKI, DIE KUNST DES WESENTLICHEN

»Lieber Sokei, das Wesentliche in diesem Leben ist, zu leben.« Wieder und wieder hallten Chojiros Worte in Sokeis Gedanken nach. »Sokei, lebe intensiv, gestalte jedes Stück mit unendlicher Liebe, und denke stets daran: Wenn das Leben oder eines der Stücke zerbricht, kannst du es reparieren.«

Das Wesentliche im Leben ist, zu leben. Und Leben ist nicht das Gleiche wie Überleben. Zwischen Leben und Überleben besteht ein deutlicher Unterschied. Wenn wir leben, ist alles intensiver, die Farben leuchten kräftiger, die Küsse sind leidenschaftlicher, starke Gefühle lassen unseren Körper erschauern. Leben ist nur etwas für Mutige, da es bedeutet, Entscheidungen zu treffen, die eigene Bequemlichkeit zu besiegen und sich aktiv um Entwicklung und Wachstum zu bemühen. Intensiv zu leben, bedeutet auch, mehr Risiken einzugehen und fragiler zu werden.

Leben verlangt eine große Portion emotionaler Stärke, denn Leben bedeutet, eine feste Haltung einzunehmen, um äußerem Druck standzuhalten. Aber wir sollten nicht vergessen, dass wir uns häufig unbewusst selbst unter Druck setzen. Oftmals sind wir selbst unser härtester Richter. Wir verinnerlichen Sichtweisen anderer und erzeugen damit einen Druck, der auf unserer Seele und unserem Leben lastet. Und dieser Druck quält uns. Wir laufen fiktiven Zielen hinterher, verfolgen Träume, von denen irgendwann einmal jemand wollte, dass wir sie träumen, Hirngespinste, die mit dem Leben unvereinbar sind, selbsterfundene Geschichten.

Um intensiv zu leben, muss man mit sich im Einklang sein, damit man eigene Entscheidungen treffen kann, unabhängig von den Erwartungen, die andere einem eingeimpft haben. Diese Stimmigkeit verträgt sich nicht mit Fassaden, mit Show, mit einem aus Wünschen anderer Menschen zusammengesetzten Bild.

Ein intensives Leben ist ein authentisches Leben. Anders zu sein, ist das Beste, was einem passieren kann. Versuchen Sie nicht, der Masse zu ähneln. Geben Sie Ihre Eigenart nicht auf und verbergen Sie sie nicht, um das gleiche Leben zu führen wie alle anderen. Wir sind nicht hier, um Rechnungen zu bezahlen und das Leben nur einen Monat pro Jahr zu genießen. Der Mensch ist die Summe vieler Fähigkeiten, die darauf warten, sich entfalten zu können.

Intensiv zu leben, ist wesentlich und notwendig, denn es geht um unser Glück und das der Menschen, die wir lieben. Aber manchmal ist Leben auch gefährlich, denn wer intensiv lebt, riskiert Verletzungen. Ohne Wagnis kein Leid, aber auch kein Gewinn. Gehen Sie den Dingen nicht deshalb aus dem Weg, weil Sie Angst haben, verletzt zu werden! Unser Körper und auch unser Geist und unsere Gefühle sind so beschaffen, dass sie Schäden reparieren können. Körper, Geist und Gefühle besitzen einen sogenannten Reparaturimpuls, der die Schmerzlinderung und die Heilung in Gang setzt. Wenn Sie nicht leiden wollen, wenn Sie nicht zerbrechen wollen, dann überleben Sie einfach nur und verlassen Sie Ihre Wohnung nicht, den Ort, an dem Sie alles unter Kontrolle haben, an dem Sie Sicherheit und Komfort genießen. Aber Sie müssen wissen, dass Ihr Körper darauf vorbereitet ist, Verletzungen und Schmerzen zu beheben.

Versuchen Sie nicht, ein friedliches, schmerzfreies Leben zu führen, denn so begnügen Sie sich mit dem reinen Überleben. Im Gegenteil, führen Sie ein aktives, bereicherndes Leben, in der Gewissheit, dass Sie stärker sind als die Widrigkeiten, die Ihnen begegnen mögen, dass Sie Ihr Leben jederzeit wieder aufbauen können. Die Wahl liegt bei Ihnen: Sie können sich darauf beschränken, zu überleben, im Routinemodus zu funktionieren, sich keine Fragen zu stellen. Sie können entscheiden, nicht zu lieben, aus Angst, verletzt zu werden, nicht zu laufen, aus Angst zu ermüden, nicht zu springen, aus Angst zu stürzen, sich nie die Zeit zu nehmen, um auf einer Wiese in der Sonne zu liegen und nachzudenken, den geliebten Menschen nicht zu küssen, immer auf eine intakte Frisur zu achten, nie die Haltung zu verlieren … kurzum, auf die Vitalität und Leidenschaft, die Sie bereichern könnten, zu verzichten.

Gehen Sie dem Leben nicht aus Angst aus dem Weg. Hören Sie nicht auf zu leben, weil Sie fürchten, ein Unglück zu erleiden. Ein Unglück ist nichts anderes als eine Herausforderung. Üben Sie sich darin, Widrigkeiten zu bewältigen. Bereiten Sie sich vor auf Schwierigkeiten und Unglück, und vergessen Sie nie: Wesentlich ist, dass Sie leben. Springen Sie, rennen Sie, egal, ob es Ihrer Frisur schadet … Leben Sie intensiv!

Zunächst möchte ich Ihnen einen wichtigen Begriff erklären. Den Begriff der Perspektive oder Sichtweise. Das Leben ist, wie es ist, aber je nachdem, aus welcher Perspektive wir es betrachten, sehen wir es so oder so.

Diesen Gedanken will ich an einem Beispiel veranschaulichen. Vor vielen Jahren habe ich einmal einen Ausflug in die Dolomiten unternommen. Als ich morgens ins Auto stieg, hatte ich vor, ohne Pause durchzufahren, da ich mein Ziel vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollte. Unterwegs aber beschloss ich, in Nizza einen Zwischenstopp einzulegen, um im Meer zu baden. Und wegen dieses Umwegs erreichte ich die Dolomiten erst mitten in der Nacht. Ich schlug mein Zelt im Dunkeln auf und sah weiter nichts als das, was der Lichtkegel meiner Autoscheinwerfer erfasste. So legte ich mich mit der Vorstellung schlafen, dass es hier ähnlich aussehen müsse wie in jedem beliebigen Pyrenäental. Als ich jedoch am Morgen aufwachte und aus dem Zelt kroch, bot sich mir ein unvergessliches Bild. Die Dolomiten, rötlich gefärbt vom Licht der ersten Sonnenstrahlen, beherrschten das Tal, das noch ganz im Schatten lag. Das Sonnenlicht hatte das Bild, das ich mir von der Umgebung gemacht hatte, völlig verändert. Diese Aussicht hatte es hier schon immer gegeben, aber ohne Licht hatte sie schlicht und einfach nicht existiert. Dass ich die Dolomiten nicht hatte sehen können, bedeutete nicht, dass sie nicht da waren. Genauso ist es mit unseren Fähigkeiten. Dass wir uns ihrer nicht gewahr sind, bedeutet nicht, dass nicht etliche Fähigkeiten und Stärken in uns schlummern. Die Frage ist also: Sind Sie bereit, Ihr Leben in einem neuen Licht zu sehen, Ihre Perspektive zu wechseln und einen anderen Standpunkt gegenüber Unannehmlichkeiten und Ihren eigenen Bewältigungsfähigkeiten einzunehmen?

MIT UNGLÜCK UND SCHMERZ LEBEN

Sokei wusste, dies war nicht sein erstes zerbrochenes Stück Keramik und würde sicher auch nicht sein letztes sein. Aber für ihn war dieses Keramikobjekt wertvoller als alle anderen, es war das, was ihm am besten gefiel, was er am meisten liebte. Würde er die nächsten Objekte genauso lieben können? Sokei hatte Angst, ein weiteres Missgeschick, eine weitere Enttäuschung, ein weiteres Unglück nicht ertragen zu können.

»Ich glaube, die Leute machen sich nicht klar, worum es im Leben geht«, sagte mein Gesprächspartner, ein intelligenter, skeptischer Wissenschaftler, der mich im Gästeraum eines Fernsehstudios zu einer tiefgründigen Unterhaltung herausforderte plötzlich und unvermittelt.

Ich muss zugeben, dass ich diese Minuten eigentlich dazu nutzen wollte, mich auf das Interview vorzubereiten, das ich in Kürze geben würde, aber ich ließ mein Vorhaben bereitwillig fallen, um mich mit ihm zu unterhalten. Wenn ich einem brillanten Geist begegne, habe ich Lust, ihn zu erforschen, mit ihm zu spielen und zu disputieren, daher konnte ich mir diese Gelegenheit, etwas dazuzulernen, nicht entgehen lassen.

»Die Leute haben unrealistische Erwartungen. Sie glauben, das Leben müsse wundervoll sein. Und diese unrealistischen Erwartungen werden von der Selbsthilfe- und Ratgeberliteratur auf unverantwortliche Weise gefördert«, fuhr er fort.

Die Sache fing an, interessant zu werden. Ich fand, er hatte recht. In der Tat versucht man uns immer wieder weiszumachen, wir müssten glücklich leben bis ans Ende unserer Tage, dabei müssen wir im Grunde nur eines: stark sein, denn das Leben stellt uns laufend vor Herausforderungen, mit denen wir wohl oder übel fertigwerden müssen. Im Übrigen ist Glück ein vergänglicher Zustand, also etwas, was nicht ewig anhält. Wir empfinden uns als unvollständig. Wir bilden uns ein, etwas zu brauchen, um glücklich zu sein. Wir jagen dem Nirwana hinterher im Glauben, dort das ersehnte Glück zu finden, und ahnen nicht, dass das Glück, wenn es denn zu verorten ist, in der Reise selbst liegt. Jeder Berg, den wir erklimmen, jeder Fluss, den wir durchwaten, jede Wüste, die wir durchqueren – jede Herausforderung, der wir uns stellen –, macht uns stärker, und wenn unsere Stärke uns bewusst wird, fühlen wir uns sicherer, besser gewappnet und für kurze Zeit auch glücklicher.

Oft haben wir gar keine andere Wahl, als stark zu sein. Jeder Mensch auf unserem Planeten Erde muss irgendwann mit Unglück, Schmerz, Leiden, Traurigkeit oder irgendeiner Herausforderung in Form eines großen Problems oder einer Katastrophe fertigwerden. Das ist unvermeidlich. Da wir Schicksalsschlägen also nicht ausweichen können, sollten wir darauf vorbereitet sein. Unglück ist eine Begleiterscheinung des Lebens, und statt zu versuchen, es zu leugnen oder vor ihm zu fliehen, müssen wir ihm in die Augen schauen und uns mit ihm befassen, es bewältigen und überwinden. Deshalb werde ich Ihnen nicht beibringen, glücklich zu sein, sondern stark zu sein, mit Widrigkeiten zu leben und mit den Herausforderungen und Problemen des Alltags und dessen Folgen klarzukommen.

Kürzlich saß ich mit einer Freundin zusammen, deren Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Sie war völlig niedergeschmettert, buchstäblich zerstört. Sie starrte vor sich hin, unfähig, ein normales Gespräch zu führen. Ihre Augen waren gerötet vom vielen Weinen und ihre Hände zitterten. Es ging ihr schlecht, sehr schlecht. Sie fühlte sich allein und verloren, wusste nicht, was sie tun sollte, seit Tagen lief sie ziellos durch ihre Wohnung, ohne sich mit etwas Konkretem zu beschäftigen. Meine Freundin erlebte das Schlimmste, was sie sich je hätte vorstellen können, das Schlimmste, was ihr je zugestoßen war, und dazu noch mit einem großen Handikap: In den neunundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie niemals irgendein Unglück bewältigen müssen. Ihre Mutter und ihr Vater hatten stets versucht, ihr alle Steine aus dem Weg zu räumen, ihr eine strahlende Sonne ins Leben zu malen, jede nahende Unwetterwolke fortzuschieben und ihr ein ruhiges, bequemes, behütetes Leben zu bereiten. Die Eltern hatten in ihrer großen Liebe geglaubt, das Beste für ihre Tochter zu tun, und sich dabei nicht klargemacht, dass sie ihr im Grunde schadeten; denn da sie ihr keine Gelegenheit gaben, zu lernen, mit Widrigkeiten oder Unglück umzugehen, konnte sie nicht die notwendigen Fähigkeiten zu deren Überwindung erlangen.

Das Leben ist in ständiger Bewegung, ein Auf und Ab. Veränderung gehört zur Welt, zur Existenz. Was gestern galt, gilt heute nicht mehr. Das Zukunftsszenario, das uns in Kindertagen vorgegaukelt wird, hat nichts mit dem zu tun, was uns später, im Lauf unseres Heranwachsens, begegnet. Das Leben lässt sich weder kontrollieren noch vorhersagen, und wenn wir es dennoch versuchen, gelingt es uns nur mittels Selbsttäuschung und der Schaffung imaginärer Realitäten, die irgendwann in sich zusammenfallen und große Existenzkrisen auslösen.

Im Lauf unseres Lebens werden wir zwangsläufig Probleme und Krisen meistern müssen. Die gute Nachricht aber ist, dass wir lernen können, mit ihnen umzugehen und sie zu bewältigen. Eine vermasselte Prüfung, ein gebrochener Arm oder eine enttäuschte Liebe sind Erfahrungen, über die man sich Gedanken machen und aus denen man lernen sollte. Eine Krise, ein Problem oder ein Unglück sind nichts anderes als Schwierigkeiten, die es zu meistern gilt. Das müssen wir uns klarmachen, und das müssen wir unseren Kindern beibringen.

Widrigkeiten gehören zu unserem täglichen Leben. So wie wir Laufen und Springen lernen, Lesen und Schreiben, so sollten wir lernen, Unglück zu analysieren und zu bewältigen, denn die Art, wie wir uns ihm stellen, bestimmt darüber, wie erfolgreich wir es überwinden. Mehr noch, die Fähigkeit der Krisenbewältigung ist eine so wichtige emotionale Stärke, dass man sie meiner Meinung nach schon Kindern systematisch in der Schule beibringen sollte, genau wie die übrigen emotionalen Fähigkeiten. Doch man lehrt uns nicht, dass das Leben uns vermutlich vor Herausforderungen und Probleme stellen wird, dass unser Glück und unsere seelische und körperliche Gesundheit davon abhängen werden, wie gut wir mit ihnen zurechtkommen, sondern man redet uns ein, das Leben müsse ein Rosengarten sein, eine vollkommen unrealistische und einseitige Vorstellung.

Das Leben ist ein beständiges Werden und Vergehen, ein permanenter Szenenwechsel, eine fortwährende Herausforderung, der wir nicht ausweichen können noch sollten. Eine Berg- und Talfahrt. Es ist fordernd, ungewiss und bisweilen launisch und konfrontiert uns mit Schönem und Schmerzhaftem, mit Erfolg und Frust, mit Liebe und Enttäuschung. Das Leben ist so schön wie herausfordernd, es belohnt uns und stellt uns auf die Probe. Und Unglück ist nichts anderes als eine Enttäuschung, ein Problem oder eine Schwierigkeit besonderen Ausmaßes, die es zu meistern gilt. Sind Sie auf den Umgang mit Unglück vorbereitet?

Warum empfinden wir Schmerz?

Um am Leben zu bleiben. Schmerz ist lebensnotwendig, denn er hat eine eindeutige Anpassungsfunktion. Jedes Lebewesen muss fähig sein, auf einen schädlichen Reiz, eine Gefahr oder eine Bedrohung zu reagieren. Schmerz ist ein wichtiger Anpassungsmechanimus, der uns rechtzeitig vor etwas warnt, das uns, körperlich oder emotional, angreifen, verletzen oder schädigen könnte.

Wenn wir also den emotionalen Schmerz ignorieren, den beispielsweise eine zerstörerische Beziehung hervorruft, missachten wir die Warnsignale unseres Körpers. Schmerzen darf man nicht ignorieren, vor allem nicht seelische Schmerzen, denn sie weisen uns darauf hin, dass wir etwas verändern, Entscheidungen treffen und aktiv werden müssen.

Wir leiden nicht alle gleich

Am Abend des 26. Dezember 2015 kamen meine Familie und ich nach Hause zurück, nachdem wir den ersten und zweiten Weihnachtstag auswärts verbracht hatten. Wir öffneten das Gartentor und stellten den Wagen ab. Da tauchte meine dreizehnjährige BoxerhündinDuna auf. Als Nächstes kam Vilu angelaufen, der zweijährige Border Collie meiner Tochter, aber Idefix, der vierjährige Westie meiner Frau, war nirgends zu sehen. Wir holten unsere Sachen aus dem Auto und gingen ins Haus.

»Liebling, machst du Idefix die Tür auf, er ist bestimmt auf der Veranda«, sagte ich zu meiner Frau.

»Ist er nicht hereingekommen?«, fragte sie.

Idefix war nicht hereingekommen. Er lag leblos in der Ecke, in der er sich normalerweise sonnte. Offenbar war er an plötzlichem Herzversagen gestorben. Von diesem Moment an erinnere ich mich nur noch an große Traurigkeit und viele Tränen. Aber hat Idefix’ Tod jedes Mitglied der Familie gleichermaßen getroffen? Hat er meiner Frau mehr wehgetan als meiner Tochter? Lässt sich Schmerz überhaupt quantifizieren? Kann man sagen, wer am stärksten gelitten hat? Der, der am heftigsten, oder der, der am längsten geweint hat? Zweifellos hat Idefix’ Tod uns alle erschüttert, wir haben alle drei gelitten, aber nicht jeder gleich. Es ist schwierig, genau zu erfassen, wie heftig ein Unglück einen Menschen trifft, oder seine Betroffenheit mit der eines anderen zu vergleichen, da unsere Bewertung eines Unglücks und die Vermutung, wie sehr es unser Leben erschüttern wird, subjektiv gefärbt sind. Vielleicht ist das Entscheidende gerade diese Vermutung.

Und nun frage ich mich: Wird Dunas Tod mir mehr wehtun? Oder werde ich jetzt unter Umständen besser auf die Bewältigung des Schmerzes vorbereitet sein? Duna ist eine sehr alte Hündin, die praktisch ein Hundejahrhundert auf dem Buckel hat. Mit Duna sind wir durch halb Europa gereist. Es gibt Fotos von ihr vor der Kleinen Meerjungfrau in Kopenhagen, beim Atomium in Brüssel und vor dem Eiffelturm. Sie ist durch die Pyrenäen, die Alpen und unzählige andere europäische Gebirge gelaufen und hat in den norwegischen Fjorden gebadet und in sämtlichen Seen, an denen wir zwischen Bergen und Cádiz vorbeigekommen sind. Sie ist mit dem Schiff, dem Zug und dem Bus gereist … und sogar mit der Seilbahn. Sie hat überall auf der Welt Freunde gefunden und mit ihrem naiven Unfug das Herz vieler Menschen erobert. Fest steht, dass Duna intensiv gelebt hat und um einiges länger, als man es bei einem Boxer erwarten würde. Bis heute genießt sie es, durchs Cadí-Gebirge zu laufen, Fährten nachzuspüren und im erstbesten Fluss oder See zu baden, an dem sie vorbeikommt. Duna läuft dicht neben mir, praktisch auf Tuchfühlung. Sie ist blind und taub, lässt aber keine Gelegenheit aus, mich in die Berge zu begleiten, um zu rennen und zu toben.

Wird Dunas Tod, mit dem in Kürze zu rechnen ist, mich schmerzlicher treffen als der unerwartete Tod von Idefix? Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht voraussehen, kann es mir nicht vorstellen. Und tut meiner Frau Idefix’ Tod mehr weh, als es Dunas Tod tun wird? Was bedeutet überhaupt »mehr wehtun«? Gibt es eine »Messlatte« für Schmerz? Schmerz ist etwas Subjektives, dessen Bewertung beträchtlich variieren kann. Ein Mensch kann in vergleichbaren Situationen unterschiedlich starke Schmerzen empfinden. Überlegen Sie, wie es bei Ihnen ist. Denken Sie zurück an Zahn-, Bauch-, Kopf- oder Menstruationsschmerzen. Und überlegen Sie, ob Ihre Kopfschmerzen oder die Unterleibsschmerzen vor Ihrer Regel immer gleich stark sind, ob jeder Bauch- oder Zahnschmerz sich genauso anfühlt wie der vorherige. Sie werden merken, dass die Schmerzintensität schwankt, wobei mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Wenn sich also bei ein und derselben Person der gleiche Schmerz in verschiedenen Momenten anders anfühlt, wie sehr variiert er dann erst bei unterschiedlichen Personen. Derzeit verfügen wir über kein verlässliches universelles Maß zur Quantifizierung von Schmerz und können uns daher bislang nur an der subjektiven Schmerzbewertung orientieren, müssen dabei aber bedenken, dass diese vom seelischen Befinden des Betreffenden, seinem Maß an Erschöpfung oder seiner Fähigkeit, mit Schmerzen umzugehen, beeinflusst sein kann.

Physiologie des Schmerzes

Schmerz setzt ein, wenn ein spezieller Rezeptortyp aktiviert wird, der sogenannte »Nozizeptor«, der auf Schmerzreize reagiert. Nozizeptoren sind über den ganzen Körper verteilt und können zwischen harmlosen und schädlichen Reizen unterscheiden. Sobald sie aktiviert werden, schicken sie über das Rückenmark Signale an unser Gehirn und lösen einen Vermeidungsreflex aus: Der betroffene Körperteil entfernt sich von der Schmerzquelle. Hat das Signal das Gehirn erreicht, kommt die Schmerzerfahrung ins Spiel, eine subjektive und schwer zu bemessende Sinneserfahrung, die meist von seelischen Zuständen wie Traurigkeit oder Angst begleitet wird.

Indes darf man nicht vergessen, dass unser Gehirn eine Art Zentrum der greifbaren, aber auch der virtuellen Realität ist, weshalb wir mitunter Schmerzen empfinden, obwohl nichts im Körper unsere Schmerzwächter, die Nozizeptoren, aktiviert hat. Schmerz ist ein hochkomplexer physiologischer Anpassungsprozess, von der Natur und der Evolution erfunden und perfektioniert, um uns am Leben zu erhalten. Doch trotz dieser gelungenen Erfindung geschieht es zuweilen, dass wir unter Dingen leiden, die nie passiert sind noch je passieren werden.

Eine Sache ist der Schmerz, eine andere der Leidensausdruck

Manchmal verwechseln wir beides. Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang ein Beispiel aus meiner Zeit als junger Dozent geben. Während eines meiner Kommunikationsseminare passierte mir etwas sehr Interessantes. Mitten in der Stunde stand plötzlich einer der Teilnehmer auf, begann unruhig hin und her zu laufen und laut den Unterricht zu stören, indem er verkündete, er sei wahnsinnig erkältet und es gehe ihm miserabel. Die ganze Stunde über klagte er immer wieder über Kopfschmerzen, Schnupfen, Halsschmerzen, schwere Augenlider. Wie schlecht er sich wirklich fühlte, weiß ich nicht, doch keiner der Anwesenden bezweifelte im geringsten, dass er gerade die schlimmste Erkältung seines Lebens durchmachte.

Ein paar Stühle weiter rechts saß jemand, der ganz offensichtlich phasenweise unter starken Schmerzen litt. Er wirkte plötzlich abwesend, legte sich eine Hand an die Wange und schloss die Augen. Vermutlich tat ihm ein Backenzahn weh. Aber ich werde es nie wissen, da er nicht ein einziges Mal klagte. Er teilte seinen Schmerz nicht mit. Er erklärte ihn niemandem. Nachdem ich über sein Verhalten und seinen Gesichtsausdruck nachgedacht hatte, war ich mir sicher, dass er sehr unter Schmerzen litt. Wer nun hatte in den Augen der Anwesenden stärkere Schmerzen? Der, der klagte, oder der, der seinen Schmerz schweigend zu ertragen versuchte?

Häufig sind wir unfähig, Schmerz zu kontrollieren, aber was wir kontrollieren können, ist der Leidensausdruck. Je nachdem, ob und wie wir Leiden äußern, kommunizieren wir unseren Schmerz, lassen die Personen um uns herum daran teilhaben und beziehen sie in unser Leiden ein. Dass wir das tun, ist normal und sogar gut, denn das Äußern von Schmerz löst Empathie bei denen aus, die uns möglicherweise helfen oder unseren Schmerz lindern können. Versucht man aber, aus der Art, wie jemand sein Leiden ausdrückt, auf dessen Intensität zu schließen, kann man sich durchaus täuschen. Mitgeteilter Schmerz tut nicht unbedingt weniger weh. Und verschwiegener Schmerz muss nicht stärker sein. Klar ist nur, dass wir wenig, zu wenig darüber wissen, wie ein Mensch in seinem Leben leidet.

Wenn Schmerz pervers wird

Manche Menschen brauchen es, stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Hierbei zögern sie nicht, eine der ältesten und einfachsten Strategien anzuwenden, die es gibt: das Simulieren von Schmerz. Allenthalben lässt sich dies beobachten. Beim Bettler in der U-Bahn, beim Fußballspieler, der sich zu Boden wirft und vor vermeintlichen Schmerzen windet, beim Partner, der keine Lust auf Sex hat und es nicht zugeben will, und in etlichen anderen Alltagssituationen.

Mit dem Äußern von - oftmals vorgetäuschtem – Schmerz ist eine Opferhaltung verbunden und es erzeugt Aufmerksamkeit. Das Opfer bittet seine Mitmenschen um eine Gegenleistung, die es für sein Leiden entschädigen soll. Dieses Verhalten ist zweifellos weitverbreitet, aber deshalb nicht weniger schädlich oder grausam, denn genau genommen spielt der Betreffende mit den Gefühlen und der Besorgnis der anderen.

Wenn ein geliebter Mensch Schmerzen empfindet, leiden auch wir, weinen unter Umständen mit ihm. Ohne dass wir uns dessen bewusst sind, lösen unsere Spiegelneuronen und unsere Empathiefähigkeit Schmerzen in uns aus. Ganz konkrete Schmerzen. Vermutlich sind sie weniger intensiv als die des tatsächlich Betroffenen, und gewiss sind es andere, unter Umständen nur partiell empfundene Schmerzen, doch man sollte sie auf keinen Fall unterschätzen.

Vergessen Sie nicht …

•Kümmern Sie sich nicht darum, glücklich zu sein, sondern stark.

•Akzeptieren Sie, dass man mit Unglück leben muss; meiden, ignorieren und verleugnen Sie es nicht.

•Wir sollten uns darin üben, unsere Fähigkeiten zur Bewältigung von Widrigkeiten auszubauen.

•Wenn Sie Unglück als Herausforderung betrachten, können Sie es leichter annehmen und besser damit umgehen.

•Wir leiden nicht alle gleich.

•Nicht immer leidet der am meisten, der am heftigsten weint; Schmerz und Leidensausdruck sind zwei verschiedene Dinge.

WAS TUT UNS WEH?

Sokei wusste nicht, was ihm mehr wehtat, die unerfüllte Hoffnung, die Traurigkeit oder die Enttäuschung. Er spürte, wie Schuldgefühle an ihm nagten. Warum nur hatte er die Zange geöffnet, die die Schale hielt?

In allen Berufen, auch den psychologischen, trifft man zwei unterschiedliche Menschentypen an, die man leicht an der Art ihres Umgangs mit Problemen (oder, bei Psychologen, mit Fällen) unterscheiden kann.

Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Reifenpanne und lassen einen Mechaniker kommen. Der »Profi vom Typ 1« (diesen neutralen, schmeichelhaften Euphemismus verwende ich lieber, als vom »unmotivierten, verantwortungslosen Menschen« zu sprechen), wird Ihnen lediglich das Rad wechseln. Diesem Typ-1-Profi begegnet man überall: Es ist der Arzt, der Ihnen bei Bauchschmerzen einfach ein Mittel gegen Sodbrennen verschreibt, der Ernährungsberater, der Ihnen lediglich ein paar Informationen zur gerade angesagten Diät fotokopiert, der Verkäufer, der Ihnen das Kleidungsstück zeigt, das er am schnellsten zur Hand hat, und der Psychologe, der Ihnen klarmachen will, dass Ihr Problem gar nicht so schlimm sei und es Menschen gebe, denen es schlechter gehe als Ihnen. Aber glücklicherweise gibt es auch die »Profis vom Typ 2«, die ihre Arbeit gerne machen, sich weiterbilden, neugierig und rastlos sind und ihre Kunden oder Klienten so respektvoll, professionell und liebevoll behandeln, wie diese es verdienen.

Der Profi vom Typ 1 geht zur Arbeit und hofft, dass die Stunden vergehen, ohne ihm allzu viele Probleme zu bescheren, während der vom Typ 2 sich gern seinen Kunden oder Klienten widmet, weil sein Beruf zugleich seine Leidenschaft ist. Der Profi vom Typ 2 wird sich fragen, warum etwas passiert ist. Der Mechaniker wird sich im Fall der Reifenpanne die Aufhängung des Wagens anschauen und möglicherweise etwas entdecken, das nicht richtig funktioniert und zum verfrühten Verschleiß des Reifens geführt hat. Ein Arzt wird die Ursache für Ihre Bauchschmerzen analysieren und vielleicht eine Zöliakie diagnostizieren. Ein Ernährungsberater wird nach dem Grund für Ihr Übergewicht forschen und sich Ihre Ernährungsgewohnheiten, Ihren Stoffwechsel und Ihren Hormonhaushalt anschauen. Ein Kleidungsverkäufer wird Ihnen vorteilhafte, zu Ihrer Figur und Ihrem Typ passende Teile heraussuchen. Und ein Psychologe wird sich eingehend mit der Ursache Ihres Leidens befassen.

Eins steht fest: Leiden kann die verschiedensten Ursachen haben, und je nach Ursache gehen wir anders damit um. Doch lassen Sie uns Schritt für Schritt vorgehen und als Erstes die verschiedenen Leidensquellen betrachten.

Unglück tut weh

Emotionaler Schmerz entsteht durch eine Widrigkeit, ein Ärgernis oder Unglück. Wir haben es täglich mit etlichen Widrigkeiten zu tun. Eine Widrigkeit oder ein Ärgernis ist etwas, was sich schlecht oder gar nicht mit unseren Interessen verträgt, ein Missgeschick, eine Panne oder, im schlimmsten Fall, ein Unglück. Der Mensch strebt für gewöhnlich ein ruhiges, friedliches Leben an und macht sich nicht klar, dass Widrigkeiten nicht nur etwas ganz Gewöhnliches sind, sondern sogar notwendig für eine funktionierende psychosoziale Entwicklung.

Schmerz, richtig behandelt, ermöglicht uns, zu lernen und im wahrsten Sinne des Wortes zu wachsen. Häufig versuchen wir, Schmerz mithilfe von Medikamenten oder Selbsttäuschung zu unterdrücken, doch das Verdecken des Schmerzes hindert uns daran, das eigentliche Problem gezielt anzugehen, es zu lösen und durch die Erfahrung von Stärke und Sicherheit zu wachsen. Versuchen Sie also nicht länger, sich selbst einzureden, dass das, was Ihnen widerfährt, gar nicht so schlimm sei, dass es anderen noch schlechter gehe als Ihnen, und Ähnliches mehr, sondern beginnen Sie zu akzeptieren, dass Widrigkeiten ein fester Bestandteil des Lebens sind und zugleich eine Gelegenheit, zu wachsen und an Sicherheit zu gewinnen. Widrigkeiten müssen nichts Schlechtes sein, wenn wir sie als Herausforderungen betrachten, die es zu meistern gilt.

Frustration tut weh

Emotionaler Schmerz kann durch Frustration entstehen, wenn sich unsere Erwartungen nicht erfüllen. Welche Erwartungen aber haben wir an das Leben? Wie stellen wir uns unser Leben vor? Unsere Erwartungen sind oft fragwürdig und unangebracht. Bisweilen setzen wir uns wirklichkeitsferne Ziele und sorgen damit selbst dafür, dass wir leiden.

Eine unrealistische Erwartung kann sich nicht erfüllen. Ich will Ihnen diese Hoffnung, dass jemand eines Tages etwas Bestimmtes für Sie tun wird, keinesfalls nehmen, aber ich schlage Ihnen vor, solange das von Ihnen Erwartete nicht eintritt, etwas für sich selbst zu tun und Ihre Erwartungen an die Zukunft, die Menschen und die Welt zu überprüfen.

Auch andere haben Erwartungen an uns, die wir verinnerlichen, uns zu eigen machen. Sie sagen uns, wie wir zu sein haben, was wir erwarten können und wann wir erfolgreich sein müssen, und wir glauben es ihnen. Anhand von Realitätsfetzen, Werbung, von irgendeinem weisen Menschen formulierten Sätzen, von Maximen, die wir in den sozialen Netzwerken gelesen haben, immer wieder nachgebeteten Litaneien, von Illusionen, Ängsten und Wünschen machen wir uns ein Bild von der Welt und vom Leben. Und dieses Bild, dieses Konstrukt halten wir für selbstverständlich, verwechseln dabei jedoch Wunsch und Wirklichkeit, und natürlich geht unser Wunsch nie in Erfüllung. Und da er sich nicht erfüllt, leiden wir. Dieses Leiden ist unnötig, wir hätten es uns ersparen können.

Im dritten Teil dieses Buchs werde ich Ihnen anhand verschiedener Beispiele zeigen, wie man Zerbrochenes wieder zusammenfügen kann. Doch schon an dieser Stelle möchte ich Ihnen den Rat geben, zu lernen, realistische Erwartungen zu entwickeln und Ihre derzeitigen Erwartungen zu prüfen, zu überdenken und der Realität anzupassen.

Wie sehen Ihre Erwartungen aus?

In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen von einem persönlichen Erlebnis erzählen. Im November 2015 lud man mich ein, am Ultramarathon »Transvulcania« teilzunehmen, einem renommierten Berglauf auf der Kanareninsel La Palma, der von Süden nach Norden über all ihre Vulkangipfel führt. Auf der 78 Kilometer langen Laufstrecke sind insgesamt über 8.400 Meter Höhenunterschiede zu überwinden.

Bei meiner Ankunft auf der Insel stieg ich in dem Hotel ab, in dem die Topläufer untergebracht waren. Unsere Gespräche drehten sich um die Zeiten, die jeder für seinen Lauf ansetzte. Zwanzig Jahre zuvor hätte ich für diese Strecke vermutlich zehn Stunden gebraucht. Aber da ich diesmal kaum für den Lauf trainiert hatte, hätte ich die Strecke mit viel Mühe in circa zwölf Stunden bewältigen können, falls nicht irgendein körperliches Problem auftauchte. Letztendlich brauchte ich fünfzehn Stunden; die Zeit, die ich auch all denen genannt hatte, die mich nach meiner Einschätzung gefragt hatten. Worauf basierte meine Erwartung? Auf der Realität. Tatsache war, dass ich aus Zeitmangel nicht genügend trainiert hatte. Tatsache war auch, dass ich inzwischen ein paar Kilo mehr wog als zwanzig Jahre zuvor, dass mein Körper altersbedingte Abnutzungserscheinungen aufwies und auch meine Motivation sich ziemlich verändert hatte. Inzwischen lag mir mehr daran, zu genießen als zu leiden. Deshalb hatte ich mir nach Einschätzung der realen Bedingungen gesagt, dass fünf Kilometer pro Stunde ein akzeptables Tempo wären, das ich über viele Kilometer würde halten können. Ich legte eine bestimmte Zeit pro Abschnitt zwischen zwei Kontrollposten fest, um einen Anhaltspunkt zu haben, und lief los.

Tatsächlich war ich sehr gut in Form und mein Laufrhythmus lag leicht über meinen Erwartungen, vor allem an den Steigungen. Ich kalkulierte, dass ich bei gleichbleibendem Tempo etwa dreizehn Stunden für den Lauf benötigen würde, ohne mich zu quälen. Doch dann trat plötzlich ein kleines körperliches Problem auf, etwas, was ja immer passieren kann. Später begannen sich dann die vielen Kilometer und der Trainingsmangel in den Gelenken bemerkbar zu machen. Ich schaffte es zwar, meinen Rhythmus einigermaßen zu halten, zumal meine Muskeln in guter Verfassung waren, aber immer wenn es bergab ging, konnte ich nicht weiterlaufen. In der Endphase des Rennens spielte sich mein Rhythmus auf fünf Kilometer pro Stunde ein. Was geschah? War ich frustriert, als ich das Tempo verlangsamen musste? Überhaupt nicht. Meine realistischen Erwartungen hatten gestimmt, es war das passiert, womit ich gerechnet hatte. Ich verspürte keinen Frust, keinen Schmerz, ich litt nicht. Es kam, wie es kommen musste. Ohne dass ich verbittert oder enttäuscht gewesen wäre.

Was aber wäre passiert, wenn ich von mir selbst erwartet hätte, den Lauf in zwölf Stunden zu schaffen? Dann hätten sich Frustration und Schmerz eingestellt, und sehr wahrscheinlich hätte ich aufgegeben. Bei der Transvulcania entscheidet, genau wie im Leben, die eigene Erwartung darüber, ob man weitermacht oder aufgibt, ob man genießt oder leidet, ob man etwas aufbaut oder zerstört. Richten Sie Ihre Erwartungen an der Realität statt an Ihren Wünschen aus, so werden Sie sich viel Leid und Schmerz ersparen.

Enttäuschung tut weh

Emotionaler Schmerz kann die Folge einer Enttäuschung sein. Häufig sehen wir die Wirklichkeit nicht, wie sie ist, sondern wie wir sie uns wünschen. Aber, Menschen sind, wie sie sind, nicht wie wir sie gerne hätten. Das Leben ist, wie es ist, nicht wie wir es uns ausmalen. Die Dinge sind, wie sie sind, aber häufig wollen wir das nicht sehen und machen uns ein völlig verzerrtes Bild von der Wirklichkeit.

Mitunter täuschen wir uns im Hinblick auf unsere Beziehung, unsere Ehe, unsere Arbeit, unsere Entscheidungen, unsere Wünsche, unsere Kinder, unsere Zukunft. Wir wollen glauben, dass alles gut läuft und die Probleme sich wie durch ein Wunder von alleine lösen werden. Wir setzen unser Leben für ein scheinbares Glück aufs Spiel, wollen Schwierigkeiten nicht sehen, machen uns etwas vor. Wenn Beklemmungen, Unruhe oder Traurigkeit uns auf reale Probleme hinweisen, suchen wir nach Ablenkung, statt zu überlegen, was mit uns los ist.

Aber die Wirklichkeit lässt nicht locker und zeigt uns immer wieder ihr wahres Gesicht. Unwillkürlich machen wir uns etwas vor, wollen das Offensichtliche nicht anerkennen. Abermals müssen die Lügen herhalten, müssen wir sie weiter aufblähen, die Fassade verstärken. Das Bühnenbild, in dem wir leben, bekommt Risse, wir unternehmen alles Erdenkliche, um uns noch wirkungsvoller zu täuschen und noch tiefer in der Lüge zu verstricken. Und so schlagen wir uns weiter durch, bis die Lüge eines Tages platzt wie ein Luftballon, bis das Bühnenbild unseres Lebens in sich zusammenfällt und die Geschichte endet, die wir uns zusammengereimt haben. Und das verursacht in der Regel viel Schmerz und Leid.

Warum betrügen wir uns selbst?

Manchmal leben wir in einem von uns selbst erdachten Märchen, dessen Handlung auf nichts anderem beruht als auf einer mehr oder weniger willkürlichen oder bewussten Selbsttäuschung. Wenn uns die Dinge nicht gefallen, wie sie sind, können wir dreierlei tun: sie akzeptieren, sie ändern oder uns etwas vormachen. Die Wirklichkeit zu akzeptieren oder Dinge zu verändern, verlangt eine Menge Willenskraft und ein hohes Maß an Reife und Verantwortung. Es ist wesentlich einfacher, ein Szenario zu erfinden und sich selbst zu täuschen. Deshalb leben viele Menschen mit einer Lüge, in einer Art Märchen, einer erdachten Geschichte ohne Happy End. Doch jede Einbildung, jede Lüge, jedes Märchen hat ein Ende, so sehr wir auch versuchen, es hinauszuzögern, und dieses Ende hinterlässt stets eine Spur des Schmerzes und des Leidens.

Enttäuschung bedeutet das Erkennen der Wahrheit, die einen Irrtum aufdeckt oder eine Illusion zerstört. Und obwohl dieses Erkennen befreit, schmerzt es, weil man einsehen muss, dass man sich etwas vorgemacht hat. Die Konfrontation mit der Realität tut weh, aber sie ist die beste Basis, um mit der Errichtung eines soliden, stabilen Bauwerks zu beginnen, in dem man glücklich leben kann, deutlich glücklicher als mit der Lüge.

Denken Sie daran, dass Selbsttäuschung Sie nur scheinbar und kurzfristig glücklich macht. Mit Selbsttäuschung zu leben, ist keine gute Wahl.

Veränderung tut weh

Dinge zu verändern, fällt uns schwer. Aber nur, weil wir von einer falschen Grundannahme ausgehen. Wir suchen nach Stabilität, im Glauben, diese werde uns Sicherheit und Glück bescheren. Doch das Leben ist eine instabile, veränderliche Sache. Wir versuchen, das Unkontrollierbare zu kontrollieren, wollen den schwindelerregenden Wandel bremsen, versuchen, Schutzwälle zu errichten, und zahlen dafür einen hohen Preis: Energieverlust und ein Gefühl von Unsicherheit und Schwäche. Solange wir nicht akzeptieren, dass das Einzige, was sich nicht verändert, das Einzige, worauf wir ein gesundes Leben aufbauen können, der stete Wandel ist, werden wir uns nicht sicher und stark fühlen.

Das Leben ist Veränderung, und am glücklichsten ist mit Sicherheit der Mensch, der diese Tatsache akzeptiert und sein Leben danach ausrichtet. Die Veränderlichkeit des Lebens ist letztlich eine gute Nachricht, da sie bedeutet, dass auch das schlimmste Unglück ein Ende haben kann, wenn wir nur in die richtige Richtung arbeiten.

Im Grunde ist es gar nicht so schwer zu lernen, mit Veränderungen zurechtzukommen. Oft machen wir den Fehler, schon vor einer Veränderung zu glauben, sie werde zum Schlechteren führen, obwohl wir im Grunde gar nicht wissen, wie die Dinge sich entwickeln werden. In solchen Fällen ziehen wir voreilige Schlüsse, beharren stur auf unserer Meinung und nehmen uns die Möglichkeit, die positiven Folgen der Veränderung zu genießen.

Verschiedene Arten von Veränderung

Es gibt drei verschiedene Arten von Veränderung: Veränderung zum Besseren, zum Schlechteren oder mit ungewissen Folgen. Tauschen wir einen alten Wagen gegen einen neuen ein, erleben wir zweifellos eine Veränderung zum Besseren. Ziehen wir aus einem neuen Haus in ein altes, heruntergekommenes ein, ist dies vermutlich eine Veränderung zum Schlechten. Aber es gibt viele Veränderungen mit ungewissen Folgen, die, je nachdem, wie wir damit umgehen, eine positive oder negative Entwicklung bedeuten. Die Arbeitsstelle, den Partner oder den Wohnort zu wechseln, muss nicht unbedingt negative Konsequenzen haben. Erleben wir Veränderung aber als etwas Negatives, sorgen wir selbst dafür, dass unsere schlimmsten Albträume wahr werden.

Unverhoffte Veränderungen machen uns meistens zu schaffen. Oftmals leiden wir verfrüht, aber deshalb nicht weniger stark. Schon im Voraus leiden wir unter der zu erwartenden oder vorhersehbaren Veränderung. Manchmal leiden wir also überflüssigerweise unter Dingen, von denen wir glauben, sie würden nach einer Veränderung eintreten, die sich dann aber ganz anders entwickeln.

Wir leiden aufgrund eigener Bewertungen und Gedanken