Kiras Version - Emil Hakl - E-Book

Kiras Version E-Book

Emil Hakl

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Beschreibung

Der etwas misanthropisch veranlagte Einzelgänger Eff lässt sich eher motivationsfrei durch sein Leben treiben. Und ausgerechnet er wird auserwählt, den Prototyp einer künstlichen Frau zu testen. Sie hat ein perfektes Gedächtnis und versteht sehr schnell die Abläufe in der Gesellschaft, die sie umgibt. Die Mischung aus Fremdheit und Intimität, die sie ausstrahlt, wirkt auf Eff anziehend. Und schon bald erleben die beiden eine intensive Beziehung, die sich in eine Sucht nach konspirativer Freundschaft und Sex verwandelt. "Emil Hakl ist ein literarisches Talent, das es hierzulande zu entdecken gilt." Jörg Plath, NZZ

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Seitenzahl: 245

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EMIL HAKL

KIRAS VERSION

ROMAN

Aus dem Tschechischenvon Mirko Kraetsch

Der Verlag dankt dem Ministerium für Kultur der Tschechischen Republik für die Förderung dieser Übersetzung.

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Umina verze bei Argo, Prag. Übersetzung aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2019

© 2019 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Lektorat: Lisa Kärcher

Coverfotomontage: © shutterstock/beeboys, © shutterstock/jivacore

ISBN 978-3-99200-236-8

eISBN 978-3-99200-237-5

Die Lage des modernen Menschen ist nicht bloß beklagenswert, sie ist gewissermaßen gegenstandslos, denn dieser Mensch ist so gut wie nicht vorhanden.

Viktor Pelewin

Inhalt

1. SUBVERSION

2. KONVERSION

3. KIRAS VERSION

4. DIVERSION

5. REVERSION

1. SUBVERSION

NOCH BEVOR DAS SCHLOSS EINRASTET, weiß ich, was passiert ist, was ich schon seit längerer Zeit hatte kommen sehen. Ich habe mich ausgesperrt. Trotzdem geh ich erst mal runter zu den Mülltonnen, die Abfalltüte in der Hand, mach den Deckel auf, schmeiß sie rein. Aus der Tonne kommt mir ein Schwarm Essigfliegen entgegen, der Mief von Rettich und altem Fleisch.

Ich greife zur Haustürklinke, gehe raus auf die Straße. Kaum knallt die Tür zu, wird mir klar, dass das der nächste Fehler war. Ich hätte alle Mietparteien durchklingeln sollen, in Türspione grinsen, mich zu Leutseligkeit aufraffen. Jemanden fragen, ob ich von seinem Festnetz aus den Schlüsseldienst anrufen kann.

Die Frage ist, ob so ein Jemand im Haus ist. Wir haben Freitag, Juli, außerdem irgendeinen Feiertag. Alle sind auf ihren Datschen, machen Ausflüge, schwitzen am Meer, bei Verwandten, in Spaßbädern. Den Rest bilden ein paar Nutrias, verbarrikadiert in ihren Küchen mit der Flasche in der Hand, die niemals auf irgendwas reagieren.

Ich setze mich vor dem Haus auf das Rohrstangengeländer unterm Ahornbaum. Schaue auf das Klingelbrett, das neulich von irgendwem mit einem stumpfen Gegenstand massakriert worden ist. Warte, dass jemand rauskommt oder reingeht.

Die Baumkronen pegeln die harte Sonneneinstrahlung auf ein goldgelbes Flimmern runter. Ein schlaffer Wind raschelt in den Ästen.

EIN, ZWEI STÜNDCHEN PASSIERT GAR NICHTS. Einmal taucht hinter der Gardine die alte Horká auf, mit der ich Verpflegungskommunismus betreibe. Von Zeit zu Zeit klingelt sie und steckt mir ein lauwarmes Schnitzel in Alufolie zu. Manchmal klingle ich und bring ihr eine Schale aufgebackenes Kartoffelgratin. Solange ihr Mann noch gelebt hat, hat sie immer wieder langwierige Nachbarschaftsstreitigkeiten initiiert, Kompensation für angebliche Wasserschäden gefordert, jeden grimmig angeguckt wie eine alte Hexe, nie gegrüßt. Seit seinem Tod ist sie wie ausgewechselt. Gerne redet sie ziemlich vernünftig über Themen wie die Ukraine, den Nahen Osten, schlesischen Bigos, Krampfadern und wie das mit uns weitergehen soll.

EHE ICH WINKEN KANN, IST SIE SCHON WIEDER WEG. Muttchen, schieb die Gardine zur Seite! Ich sitze da, in Hausklamotten, löchriges T-Shirt, verwaschene Cargohose, Sandalen.

Vor dem Zeitungsladen an der Ecke sehe ich zwei Mandarins aus der Hölle rumliegen, die kapuzenverdeckten Köpfe gegen die Fassade gelehnt. Die Augen in den geschwollenen Gesichtern blicken in die Sonne, die ihnen nichts mehr anhaben kann. Aus den Hosenbeinen rinnt eine dunkle Flüssigkeit und läuft auf dem Gehweg breit. Durch die Ladentür ruft der vietnamesische Herr mit Brille hilflos in ihre Richtung: „Nich pissen!“, und wedelt mit einem Finger. „Nich mir hier hinpissen!“

Eins der Scheusale röchelt: „Zeit zum Ankerlichten, du Berserker …“, allerdings lichten sie gar nix.

Aber ich. Um mir die Beine zu vertreten. Ich überquere die Hauptstraße, komme an den hohen Maschendrahtzaun, der den Sportplatz hinter den Mauern der ehemaligen Brauerei umgibt. Die riesigen Blätter in dem dichten Gebüsch sind völlig reglos. Ich setze mich auf eine Bank, spucke auf den Boden, seufze und gehe zurück vors Haus.

Als ich die Runde zum dritten Mal drehe, macht mir das keinen Spaß mehr und ich gehe weiter. Die Jana Masaryka trödle ich runter bis zum Žlutá pumpa, dann durch das Gassengewirr von Vršovice rauf in die Krymská. Ich bin im Land der Kaffeesiedereien. Jede Ecke, jeder Stuhl ist hier überschüttet mit dem Fußvolk der Chat- und Skypereligion. Kein Ohr ohne Kopfhörer.

Unterwegs unterziehe ich meine Kleidung einer eingehenden Untersuchung. Aus der Hosentasche am rechten Oberschenkel hole ich ein abgegriffenes Paperback mit Erzählungen von Robert Perišić. Aus der anderen ein kleines Schweizermesser und die Visitenkarte des Verlegers Daniel Podhradský, so weit, so gut.

Ich habe weder Kreditkarte noch Papiere, Brille oder Handy.

ANS GELÄNDER OBERHALB DES WEINBERGS IM GRÉBOVKA-PARK GELEHNT schaue ich aufs Eisenbahnviertel tief unter mir. In der Schmuddelgegend zwischen den Gleisen laufen orange Rangierer-Zwerge rum.

Ein einsamer Eichelhäher steigt mit zähem Eifer in die rauchgeschwängerte Luft auf. Hoch über ihm kreist ein Bussard. Die Mietshäuser aus der Zwischen- und Nachkriegszeit trotzen der Gluthitze. Die Toten vermachen den Lebenden ihre eingesauten Kämmerchen, und die räumen sie umgehend leer, bohren alles auf, tauschen Fußböden aus, Fenster, Bäder, reißen Zwischenwände ein, bauen neue. Dann wird veredelt, angestrichen, übermalt.

Der Náměstí Bratří Synků. Auf dem Platz geschieht gerade irgendeine Unbill. Das Heulen der Polizeisirenen breitet sich kilometerweit aus.

Ich steige die Stufen Richtung Bahnhof Vršovice runter, ein Bekannter wohnt genau gegenüber. Falls er da sein sollte, könnte er mich telefonieren lassen, vielleicht sogar Kaffee kochen.

Ich drücke auf die Klingel neben der Haustür.

„Was is?“, kräht aus der Knisterkiste eine Frauenstimme.

„Ist Zbyněk zu Hause?“, frage ich.

„Wer is’n daaa?“

„František.“

„Zbyněk ist nicht da.“

„Und kommt er heute noch?“

„Ich bewach ihn nicht, aber eher nicht. Ich lass dich gar nicht erst rein, bei mir sieht’s aus wie Sau, ciao.“

DER NÄCHSTE, BEI DEM ICH EINE CHANCE HÄTTE, IHN ANZUTREFFEN, wohnt am entgegengesetzten Ende der Stadt. Hinter einem Hügel, hinter noch einem Hügel und hinter noch einem weiteren Hügel. Kaum bin ich in der Metro, kollidiere ich mit einem Kordon aus Kontrolleuren samt Polizeiverstärkung.

Ich suche mir einen untersetzten Schnauzbartträger aus, setze mein Nullgesicht auf, mittleres Schritttempo, und versuche, knapp an ihm vorbeizukommen. Etwas zu knapp, er hält mich an.

„Bitte nicht“, sage ich ihm ins Gesicht, „meine Frau ist heute gestorben, lassen Sie mich doch.“

„Abmarsch“, knurrt er.

Ich hoffe, dass ich, weil ich keine Frau habe, mit diesem Mantra niemandem schaden kann. Sollte ich ein zweites Mal erwischt werden, wäre ich allerdings unfähig, das zu wiederholen, also fahre ich lieber zurück an die Oberfläche und gehe zu Fuß weiter.

In meiner Arschtasche entdecke ich vier zerknautschte Hunderter. Sie könnten für ein Taxi reichen, gehen aber für Hörnchen, Tomaten, Käse, zwei Flaschen Fronsac und eine große Flasche Wasser drauf.

DER PRAGER STADTPLAN UNTER MEINEN FÜSSEN. Radlická, Klímova, Na Farkáně, Peroutkova. Ich steige über Gleise, gehe durch ein Wäldchen, klettere bis aufs Hochplateau. Oben am Hang seh ich das Dach des Reihenhauses, in dem mein Freund mit Frau, Hund, Kindern und Trampolin wohnt. Ich stehe vor der Tür, die Nase in den Klingelknöpfen, und suche nach dem Namen. Meine Brille habe ich nicht dabei.

Noch ein letztes Mal halte ich die Klingel gedrückt, ehe ich mich losreiße und die glühende Asphaltstraße zurückgehe. Ich setze mich auf eine Bank, deren Rückseite von einer hohen Hecke geschützt ist, kaue Hörnchen, Cheddar, mache den Wein auf, atme ein, atme aus.

Vor mir liegt eine unkrautüberwucherte Senke.

Darüber das scharfe Brummen und Rotieren eines angeleinten Modells. Ein blutfarben gestrichenes, sichtlich keineswegs leichtes Flugzeug. Der Benzinmotor spuckt gelblichen Rauch, die Servos zucken mit den Rudern. Ruckartig kippt das Ding kerzengerade in die Senkrechte, geht nach unten, über dem Boden kriegt es die Kurve, schießt himmelwärts, schlägt über auf den Rücken, brüllt dicht am Boden auf, wendet und frrr, wieder in die Luft.

DIE SONNE BRINGT DEN ASPHALT ZUM SCHMELZEN, Elstern durchsuchen das Innenleben eines Mülleimers. Sie fördern zerknülltes Papier zutage, Plastikbecher, Taschentücher.

Die Stadt zappelt und zuckt, sie klimpert, hechelt flatterig. Auf der Moldau wimmelt es von Ausflugsdampfern voll mit gepanschtem Fraß, Deutschen und Musik aus der Konserve.

Ich trinke den Wein aus und spüle ihn mit Wasser runter.

In Richtung der neuen Wohnblocks geht leicht gebeugt ein Typ Mitte vierzig die Straße lang, das Modell auf dem Rücken. Den schaumstoffumwickelten Flieger trägt er in einer Art Kraxe. Der Glückliche. Existenzieller Galopp, weniger Geld für mehr Arbeit, Frau, Kinder, Unsicherheit, ein Griff ins Klo nach dem anderen, den wirtschaftlichen Bankrott an der Hintertür – und doch wird sein Gesicht von überirdischer Ruhe dominiert. Schnipp, ist alles vergessen, kaum dass der Motor anspringt und der knallrote Wüterich mit Gebrüll zum Himmel aufsteigt.

Das durchsichtige Cockpit beherrscht eine großnasige, in optimistischem Rosa angestrichene Kartoffel mit Fliegermütze: eine schnauzbärtige Pilotenpuppe.

DAS INNERE DER HECKE ATMET mir kühle Luft gegen den Rücken, der Horizont flammt auf im nuklearen Strahlen der Abenddämmerung. Die nächsten Bekannten, die in Frage kämen, wohnen in den Weiten von Smíchov, Barrandov, Měcholupy und noch weiter weg. Andere wieder in den Nachkriegsbacksteinblocks von Libeň, Karlín oder Žižkov. Auch zu denen sind es von hier aus Stunden über Stunden zu Fuß.

Hat es Sinn, jemanden zu wecken, zu nerven, anzukotzen? Ist es nicht besser, irgendwo abseits zu übernachten und das morgen früh zu klären? Einen stillen Winkel mit einer Bank zu suchen?

Ich verlasse die Asphaltstraße, gehe einen Fußweg bergab. Steige Treppen runter, die ins Nirgendwo führen. Zu einem Bach, umgeben von Ziegelmauern, die dermaßen geneigt sind, dass es ein Wunder ist, dass sie noch stehen. Zu kreisrunden, durchs Hinpinkeln entstandenen Löchern im Gras vor einer Bruchbude, zu schiefen Hintertürchen.

An einem verlassenen Zaun steht angebunden eine Ziege, die den Eindruck macht, als würde sie sich gern mit wem unterhalten.

Ich befinde mich im grasigen Niemandsland. Jinonice, Řeporyje, da irgendwo. Ich gehe durch buschige Winkel, passiere kollabierte Hütten im Klettengestrüpp, verwilderte Obstgärten, Berge von ausgedientem Metall und Pappe.

In der Luft hängt der Spermageruch der Ahornbäume und der Gestank nach Verbranntem. Es ist dunkel. Außer dem schmalen Pfad, den ich entlanggehe, ist alles mit Büscheln aus grauem Gras, Holunder, Weidenruten und Distelgestrüpp überwuchert.

LINKS UNTEN taucht so was wie ein Gebäude auf. Eine von Gebüsch überwucherte eingestürzte Kate, eine zerfallene Hütte. Ein flacher Holzbau mit gemauertem Fundament. Vorsichtig nähere ich mich. Die Bude sieht verlassen aus. Das mit gewelltem PVC gedeckte Dach ist stellenweise eingesunken.

Ich habe Ameisenkribbeln in den Füßen, Sodbrennen, die Nase voll. Eine Weile lausche ich, dann geh ich rein. Die Bretterwände sind aufgewärmt von der ganztägigen Sonneneinstrahlung. In einer Art Anbau finde ich ein Stück Schaumstoff. Es riecht nach Katzenpisse und Räude. Überall auf dem Boden Konservenbüchsen, leere Pillenblister. Allem Anschein nach parken hier gelegentlich Landstreicher.

Ich setze mich auf den Schaumstoff, trinke den Rest aus der zweiten Flasche Fronsac. Staune selbst über die Einfachheit – ich leg mich hin und liege. Und komme mir vor wie der pfiffigste Survival-Man. Morgen kümmere ich mich um alles. Der Schlosser kommt, knackt die Tür, und ich renne los den Bankautomaten melken, um für das Schloss mit Sicherheitsbeschlag zu blechen; das hab ich zwar nicht bestellt, aber sie installieren’s mir ja trotzdem.

Ich versuche einzuschlafen. Am Anfang stört mich jedes kleinste Geräusch, aber die Strapazen des Tages obsiegen dann doch.

Schon während der flacheren Schlafphasen registriere ich, dass sich was verändert hat. Mich umgibt ein dichter Aspik aus Geröchel, Geräusper, Gewimmer, Darm- und Lungengequietsche. Schlaf ist gleich Sicherheit, sag ich mir. Solange geschlafen wird, wird geschlafen. Heftige Beunruhigung meldet auch die Nasenschleimhaut. Ich rieche das Plumpsklo bei Oma, das Kaninchen voller Würmer, in dem ich als Kind bei einer Keilerei auf der Müllhalde mit der Fresse voran gelandet bin. Ein Schwein im fortgeschrittenen Stadium der Zersetzung, das ich mit dreizehn bei einer Soloexpedition durch die Kanalisation von Hrdlořezy gefunden habe.

Ich mache das Fenster ein Stück auf. Eineinhalb Meter von mir entfernt liegt zusammengerollt auf den Brettern ein typischer Berber in einer speckigen Windjacke. Er grunzt ganz leise, zuckt mit dem Fuß, auf dem Kopf zwei mit einem Tuch festgebundene Käppis.

EINE ZEIT LANG lieg ich reglos da und überlege, wie ich hier rauskomme. Draußen ist es schon hell. Auf dem löchrigen Linoleum, das aus dem Nachbarstübchen zu mir hin abfällt, rollt sich irgendwer ganz langsam in meine Richtung. Jedes Mal, wenn er eine Drehung vollführt, zeigt er eine schmerzerfüllte Miene. Statt des Gesichts eine rotgraue Schwellung.

Scheint voll zu sein hier. Das Odeur von Eiter, Gärprozessen. Aceton, Urin. Ein Bienenstock des Todes.

Ich spüre meine nackten Füße. Irgendwer hat mir offensichtlich die Sandalen abgenommen.

Ich heuchle ein Gähnen, kratze mich, dreh mich auf die Seite. Sehr langsam setze ich mich auf.

Das Wesen in der eingesauten Windjacke schießt in die Senkrechte, blitzt mich mit rabenschwarzem Auge an und geht eilig davon.

Ich stelle mich hin, durchquere barfuß vorsichtig ein paar Räume. Eine Collage aus herumliegenden, herumsitzenden Körpern. Sie wirken nicht gefährlich, allerdings kann jede beliebige Kleinigkeit einen Anlass bieten. Der dort ist so stoned, dass er nicht mal mehr sich selber kennt. Er schwankt mitten in dem Stübchen herum, vollführt irgendwelche Freiübungen.

Langsam gehe ich um ihn herum, schlendere hinaus vor die Abrisshütte. Die trockene Wiese, versifft mit Plastikmüll, Drähten, Blechteilen, abgenagten Skeletten, Kunststoffbechern und Folie, ist belegt mit schlummernden Vogelscheuchen. Sie halten Maulaffen feil, wärmen sich auf. Zwischen ihnen läuft die bis auf die Knochen abgemagerte Ziege frei herum.

Ich setze mich auf eine Holzkiste, grabe meine Zehen in den feinen, fast strandartigen Sand voller Ruß, Scherben, Kippen.

Auf einem verbogenen, nach Chemie stinkenden Plastikfass sitzt eine arme Sau mit einem stümperhaft rasierten Pferdekopf voller Narben. Gleichgültig betrachtet der Typ seine riesigen, vom Wundbrand schwarzen Hände.

Ein paar Individuen verspüren den Drang, mit mir zu reden.

Der Erste ist ein finster dreinschauender Jüngling mit zerknautschtem Schädel. Er setzt sich und spricht in Richtung Boden. In Zruč sei er geboren, hätte Frau und Kinder gehabt. Ein Hobby auch – er habe was gesammelt, hätte einen Haufen, einen Haufen Sachen gehabt. Was das war, wisse er nicht. Dann hätten sie ihn bei seinem Job rausgekantet, da habe er sich mal super ausgeschlafen, das schon. Wahnsinnig lange geschlafen habe er. Dann sei irgendein Krieg gekommen. Was er gesammelt habe, daran könne er sich nicht erinnern. Das waaar … Scheiß drauf, okay? Aber er habe eine Frage: Was ich hier mache.

„Ich hab hier geschlafen“, antworte ich.

„Und deine Schwester – was ist mit der?“, fragt er. „Warum kommt die nicht mal vorbei?“

„Ist doch ihre Sache“, sag ich aufs Geratewohl.

„Wie – ihre Sache?“

„Na ihre Sache halt.“

„Du, ich sag dir – du gehörst nicht hierher. Du darfst hierbleiben, aaaber … Es ist hier nicht gerade … Rück wenigstens einen Zwanziger raus.“

Der zweite Intervent erschüttert mich leicht. Allem Anschein nach ist das Karásek – mein Kumpel aus der Oberstufe, vor zwanzig Jahren eindeutig ein Kunsttalent, naturnaher Charakter, freudiger, gutmütiger Typ, das Herz auf der Zunge, später ein kauziger Schreihals, ein Wahnsinniger. Aufgedunsen, dass man ihn nicht wiedererkennt. Die Augen zugeschwollen. Er muss sie mit den Fingern aufziehen, damit er was sieht.

Zu meinem Entsetzen erkennt er mich, reicht mir die verkrümmte Hand – er habe keine Wohnung, seine Frau habe die Kinder und seine ganzen Skulpturen abtransportiert, tja … „Die Skulpturen sind irgendwo, Mann!“

Er kratzt sich in seinem Kopfgestrüpp: „Ich kann mich noch an den Namen vom Direktor vom Gymnasium erinnern, Jaromír Flikrt, ähm … Jetzt isses mit dem Gedächtnis schlechter, tja. Es war mal besser, aber jetzt isses wieder schlechter.“

Ich nicke zum Zeichen der Zustimmung.

„Kannst du dich an den Brčák erinnern?“, fragt er. „Weißt du, was mit dem Brčák ist? Der Brčák, wie der … Das war im Suff, nä? Wie der Brčák im Dezember bei minus zwanzig Grad mit den Skiern losgefahren ist, bloß im Hemd, nä? Am nächsten Morgen haben sie ihn gefunden, dem ging’s gut, der hatte sich nicht mal erkältet.“

Direkt danach vergisst er, wer ich bin. Er geht, ohne abzuwarten, was ich zu Brčák zu sagen habe.

Der Dritte ist ein Jurodiwy mit Kapuze, den interessiere nicht etwa ich, sondern wir alle. Er klappert die Anwesenden ab und schreit: „Wo hoh? Wo lebst du? Im Staate Hakujoor! Hokujaar! Im Staate Sch-pu-pu! Im Staate Tiger Wassili! Du lebst im Staat Ich schlag dich, bis du krepierst! Du stinkst, puh! Der Arsch hat Flügel gekriegt!“

Auch in meine Richtung schickt er ein paar Floskeln. Nicht unähnlich einem Vogel Strauß will er mir was mitteilen, schließlich reibt er sich die lachsroten Hände und geht weiter.

ICH MUSS HIER WEG, das ist sicher. Aber nicht zu schnell. Beschleunigung ist fehl am Platz.

Im Umfeld der von zwei Seiten durch dichte Spontanvegetation geschützten Ruine herrscht Ruhe. Im Haus bleiben, wie es scheint, diejenigen, die sich nicht mehr rühren. Die das Abendmahl des Endes empfangen haben. Vielleicht, weil keine Illusion mehr in sie hineinpasst, keine Erinnerung, oder eben doch, aber genau die bringt sie um. Herausgefaulte Zähne, verschimmelte Haxen, zerknautschte Klamotten, Koliken, Phlegmonen, Entzündungen. Sie sind hier vor Anker gegangen – halb schon im Jenseits. Aus dem Schlaf kommen sie zu sich, sehen den Boden, eine Weile murmeln und maulen sie, verfluchen die Namen von Städten, Menschen, Erscheinungen, nehmen einen Schluck Gift, rollen sich in eine Pränatalposition und schlafen wieder ein.

Ein Jüngling, den es ins Gras geschmissen hat, pisst sich mit gewissem Erstaunen ein. Vielleicht zum ersten Mal. Echte Krieger halten sich nicht erst damit auf, sich die Hose runterzuziehen. Sie humpeln in verschorften, verschissenen Camouflageklamotten herum und Ausscheidung passiert, wann’s dem Körper beliebt.

Andauernd kriecht einer von ihnen ein Stück zur Seite, will noch was ganz Kleines, was trinken, was hinzufügen, aber schließlich verstummt er und bleibt dann auch dabei. Ein anderer schwillt einem direkt vor den Augen an, verwandelt sich in eine warzige, aufgeblasene Kröte. Der Druck der Körperflüssigkeiten ist kollabiert, es bleiben noch ein paar Stunden.

Auf der sandigen Wiese herrscht mehr Betrieb. Eifrig debattieren dort Grüppchen aus ewig Jungen. Einige sind zurechtgemacht wie Alternativpenner, Aktivisten, Hipster mit Brille, jung und ruhelos. Sie gehen mit der Zeit. Hin und wieder hüpfen sie irgendwohin, mit ihrem Rucksack, der Tasche, den Kopfhörern, den unvermeidlichen Hunden. Die lustigen Klamotten hängen an ihnen wie an Leichen.

Wohin der Blick fällt, ist alles mit grauvioletten Scheißhäufchen übersät. Der allerbilligste Wein, Blut im Stuhl, grimmige Wolken aus Fliegen.

Ganz langsam gehe ich über die Wiese. Im Dickicht aus Himbeerbüschen, verkrüppelten Nadelgehölzen, üppigen Gräsern, hochgewachsenen verholzten Kräutern und allem möglichen Unrat sind Zweige ausgebrochen, Tunnel ausgelatscht. In einen schlüpfe ich hinein, Aug in Aug mit dem Risiko von Hepatitis C verrichte ich mein Geschäft, wische mich mit Laub ab, gehe wieder raus.

Gleich neben dem Gebüsch steht eine halb zerdroschene Parkbank. Auf die setze ich mich.

NEBEN MIR HOCKT AUF EINER ÄHNLICHEN Bank ein Geront mit einem strahlend weißen Ziegenbart. Einem kahlen, fleckigen Schädel auf einem dünnen Hals. Er sieht aus wie eine Reinkarnation von Ezra Pound. Ein taoistischer Greis, der sich schon vierhundert Jahre durch die Welt schleppt. In der Hitze trägt er Kunstledersakko, beige Hose, Wildlederschuhe.

Nach einiger Zeit wendet er seinen bleichen Blick mit den abstehenden blutroten Lidern in meine Richtung. Eine Weile schaut er mich an, dann winkt er mich mit knöchrigem Handgelenk zu sich.

Ich erhebe mich, gehe zu ihm hinüber, setze mich. Er riecht nach Weichspüler mit einem leichten Nachklang von Urin. An der Bank lehnen zwei ergonomische Alukrücken.

Die ergreift er und zeigt auf einzelne Spukgestalten, die ziellos über den Schuttplatz da schlurfen. „Sehen Sie … mit fünfundvierzig hat er angefangen, immer zu seiner Freundin nach Jihlava zu fahren. Wegen ihr hat er seine Wohnung verkauft. Das erste Mal übel geworden ist ihm im Kreißsaal. Tja – dort ist er einem Arzt aufgefallen, der hat ein EKG gemacht, festgestellt, dass er sechs Infarkte hinter sich hat, arbeiten gehen konnte er nicht mehr, Jihlava hat abgelehnt, ihn in so einem Zustand für die Vaterrolle zu übernehmen, also ist er jetzt hier. Mit dem kann man immerhin reden.“

Er spricht mit leiser, knirschender Stimme, ich kann ihn kaum verstehen.

„Den da haben sie geschnappt, als er gerade … Hm, ist ja wurscht. Er hat fünf Jahre gekriegt und seit der Zeit … Ähm, aber Olinka da drüben, die dicke, lustige Madam. Die landet ungefähr dreimal im Jahr hier, wenn die Kinder sie aus der Wohnung schmeißen, aber über den Winter holen sie sie immer wieder zurück … Der dort, der gerade auf seinen schlafenden Kumpel pinkelt, das ist der Ex-Chef von der Uniklinik Motol … Der hatte seine Schäfchen im Trockenen, dann hat er alles verloren, also ist er jetzt hier, der Herr Doktor … Weiß nicht mal, wie man sich umbringt. Dabei braucht man nur drei normal erhältliche Medikamente zu kombinieren, das kennt jeder Hausarzt.“

„Welche denn?“, kann ich meine Neugier nicht unterdrücken.

Der Alte lässt es unbeantwortet.

Aus dem Dickicht taucht ein Typ mit blutigem Hintern auf – er hat lediglich ein Kapuzenshirt an und einen Schuh. „Du musst!“, schreit er in unsere Richtung. „Das ausschalten! Aber wie? Dauernd klirrt das! Tut weh!“

Aus einer anderen Öffnung kommt eine Frau mit einem Elefantengesicht, das ihr bis auf die Brust hängt. Sämtliche Züge sind auf das Dreifache gedehnt. In dem grauweißen Fleisch parasitieren Tausende große schwarze Mitesser. Mit ihrem Drei-Kilo-Mund sagt sie zur eigenen Hand: „Papa, ahoj! Wir sind schon lange da – auf der Datsche … Kommst du?“

„Haben Sie nicht Lust auf Alkohol, wenn Sie sehen, was Sie sehen?“, röchelt der Greis in meine Richtung.

„Doch“, muss ich zugeben.

Er greift in seinen Leinenbeutel und zieht eine Flasche mir unbekannten Whisky heraus. „Sie brauchen sich nicht zu ekeln“, sagt er.

„Huh, puh“, johle ich zurück. „Es gab Zeiten, da hab ich ’ne halbe Flasche pro Tag getrunken.“

„Ein schönes Ferkel sind Sie da gewesen. Was haben Sie denn getrunken?“

„Bushmills und andere, die bei den Vietnamesen gemischt werden.“

„Was machen Sie denn hier? Haben Sie hier geschlafen?“

„Ja, ich hab keinen Wohnungsschlüssel dabei.“

„Eine Wohnung haben Sie aber?“

„Ja, aber ohne Schlüssel.“

„Und wo ist der?“

„Vermutlich auf dem Schuhregal.“

„Warum haben Sie nicht den Schlüsseldienst gerufen?“

„Mein Handy liegt zu Hause auf dem Tisch.“

„Wo wohnen Sie denn?“

„Ach, ein Stück oberhalb von Vršovice.“

„Und wie sind Sie hier gelandet?“

„Ich wollte zu Freunden, wo ich dachte, dass sie zu Hause sein könnten. Waren sie aber nicht, dann ist es dunkel geworden, also hab ich hier übernachtet.“

„Interessiert Sie, warum ich hier bin?“

„Warum?“

„Sehen Sie gut hin, damit Sie sich das merken: Abschaum, was sonst … Aber da sind auch welche dabei, die waren zu ihrer Zeit Fachleute in vielen Bereichen. Es fängt nicht hier an – es fängt unten in der Stadt an, und hier endet es … Stropecký, dort schläft er, pisst sich ein, aber ein Sakko hat er an. Rouček und Mejzlík, die hat’s auch erwischt, die kennen Sie nicht, dafür kenne ich sie. Das hier ist auf seine Weise ein außerordentlicher Ort, die Polizei kommt nur her, wenn sie muss. Ein sicherer Ort – überall sonst fressen sie sich gegenseitig bei lebendigem Leib.“

„Das kann ich mir vorstellen“, sag ich.

„Wohl kaum.“

„Ja, stimmt“, räume ich ein und genieße es, wie mich der Whisky auf nüchternen Magen innerlich wärmt.

MIT EINEM MAL ERHEBT SICH DER ALTE, stützt seine Krücken gegen die Hüften, holt keuchend Luft, klatscht in die Hände.

„Saubande, aufwachen!“, johlt er mit unerwartet klarer Stimme. Er wedelt mit einer Krücke. „Ein Job für einen oder zwei! Abfahrt in einer halben Stunde, Bedingung: anständiges Äußeres, nicht stinken, kein Alk, keine Drogen!“

Drei, vier rappeln sich auf, starren auf die Erde, schwanken wie schwächliche Herbstinsekten, heucheln einen Rest von Interesse an der Gegenwart, dann gehen sie wieder zu Boden.

Ein Stück weiter ein Häufchen Punks mit sichtbaren Erfrierungen, sie kommentieren das Angebot des Alten mit einem grimmigen „Fuck you“. Auch ihre Hunde sind völlig außer sich. Ein großer Typ um die vierzig mit grauem Iro löst sich aus der Gruppe und kommt uns was verkünden. Barfuß läuft er durch den Rasen voller Scherben. Die Füße mit den schwarzen Nägeln sind riesig. Auf halber Strecke vergisst er, was er wollte, dreht sich um, geht zu seinen Leuten zurück. Aufgebracht sagt er zu ihnen in ihrer Sprache, was er eigentlich uns sagen wollte.

„Ich hätte eher kommen sollen“, seufzt der Greis. „Da kann man nichts machen, komm ich morgen früh wieder. Haben Sie vor zu bleiben?“

„Definitiv nicht.“

„Soll ich Sie irgendwohin mitnehmen? Ich hab oben meinen Wagen.“

„Sie haben oben Ihren Wagen?“

„Ich hab oben meinen Wagen.“

„Gerne, danke.“

Wir verlassen den Ort über einen von Unrat aller Art gesäumten Pfad.

Der Alte lässt mich vorgehen. Vorsichtig steigen wir den Hang hoch, ich barfuß, er auf Krücken. Er röchelt hinter mir, schnappt nach Luft, zeigt mit einer Krücke und murmelt: „Schau an, der Publikumsliebling! Der trinkt Inländer-Rum, macht sich in die Hosen und sieht aus wie siebzig. Wo sind die Zeiten, als sich wenigstens diese Schichten noch um sich selbst kümmern konnten … Ich seh gerade, dass Sie keine Schuhe anhaben.“

„Stimmt, hab ich nicht.“

„Die haben sie Ihnen bestimmt in der Nacht weggenommen, richtig?“

„Falls ich Ihnen verdächtig vorkomme, dann lassen Sie mich, ich kann mich schon um mich selber kümmern.“

„Wenn Sie mir verdächtig vorkommen würden, hätte ich mit Ihnen kein Wort gewechselt.“

Unter meinem Fuß knackt ein trockener Zweig.

Nach einer Weile knackt hinter mir derselbe noch mal.

WIR BLEIBEN STEHEN, DER ALTE RAMMT DIE KRÜCKEN IN DEN BODEN, holt rasselnd Luft. In ihm arbeitet ein antiquarischer Mechanismus, Herz, Lungen. Als er wieder zu Atem gekommen ist, schwenkt er mit der Krücke bergauf. Hinter einem Strauch fletscht ein hoher, mattschwarzer Jeep seine Metallzähne.

Der Greis sieht daneben aus wie der Gnom bei David Lynch. Er hat was Affenhaftes. Er schließt auf, verhakt den Griff einer Krücke am Lenkrad und zieht sich ganz langsam auf den Fahrersitz. Unter den Hintern stopft er sich zusammengelegte Decken; dann hat er wiederum zu tun, mit seinen Wildlederschuhen bis zu den Pedalen zu kommen.

Er greift nach hinten, schmeißt mir Sandalen vor die Füße. „Die sind neu, Sie brauchen sich nicht zu ekeln.“

Ich ziehe sie an – zwei Nummern zu groß. Warum der Alte, der selber Größe 41 trägt, wohl solche Riesenlatschen im Auto hat, denke ich.

„Hören Sie auf zu grübeln und steigen Sie ein“, kommandiert der Opi.

Daraufhin löst er die Handbremse. Wir fahren mit ausgeschaltetem Motor einen Weg entlang, unter den Reifen knirscht der Kies, hin und wieder schlägt ein Ast gegen den Unterboden. Ein paar Mal tritt der Alte auf die Bremse, macht einen Bogen um eine Gruppe herumstehende Vogelscheuchen. Sobald die Straße vor uns auftaucht, dreht er den Zündschlüssel. Das Motorgeräusch trägt uns hinüber in die gewohnte Realität.

„Den Wagen hab ich einem Emigranten abgekauft“, sagt er gegen die Frontscheibe. „Vorher hatte ich zweimal den gleichen, mit beiden hatte ich einen Unfall. Zum Glück hab ich eine anständige Rente, wenn der hier kaputt ist, kann ich mir also wieder einen kaufen. Angefangen hab ich mit einem russischen UAZ, dann hab ich mir einen Land Rover zurecht-getunt, mein Schlaues Füchslein, aber in den letzten Jahren kauf ich nur noch den hier. Ich weiß, den fahren heutzutage nur die schlimmsten Parasiten, aber ich mag das Auto nun mal. Warum ich Ihnen geholfen hab, fragen Sie?“

„Das interessiert mich.“

„Ich geh öfters dorthin, wenn ich jemanden zur Aushilfe brauche – die freuen sich, dass sie sich was dazuverdienen, und ein anderer würde zehnmal mehr von mir verlangen. Mit anderen Worten: Es geht darum, dass Sie mir helfen, in Tábor unten in Südböhmen was einzuladen und das Ganze an der Festung Chodov drüben in der Südstadt wieder auszuladen. Das Auto wird voll, aber wir schaffen’s in einem Rutsch. Wir transportieren Keramikfliesen, Becher – zerbrechliche Sachen, also Vorsicht. Dazu ein Mittagessen und ein paar Kronen extra. Wenn Sie’s so sehen, eigentlich eher ein Ausflug. Wollen Sie vorher vielleicht noch Ihren Schlüsseldienst anrufen?“

„Das hat Zeit.“

„Macht Spaß, dass was passiert, hm?“

„So isses.“

„Obwohl, so ein Unfug – Keramik transportieren.“

„Jedes Mal aus Prag raus ist für mich ein Festtag.“

„Also ab die Post … Falls wir’s im Hellen nicht schaffen, würde ich bei der Bekannten schlafen, für die der Transport ist. Sie hat dort eine Galerie, ansonsten wohnt sie in Prag. Sie schlafen im Auto oder im Haus, je nachdem. Früh laden wir die Keramik ein, verpackt ist sie schon, fahren sie nach Prag, laden aus und fertig.“

Kaum sind wir auf einer zweispurigen Straße, schießt der Alte auf die Gegenfahrbahn, mit dem abgelatschten Schuh auf dem Gaspedal drückt er sein Brikett an drei LKWs vorbei. Von der Stoßstange des uns entgegenkommenden zu Tode erschreckten Verkehrsteilnehmers trennen uns anderthalb Meter.

„Meine Reaktionen kommen neuerdings verzögert“, merkt der Fahrer in entschuldigendem Tonfall an. „In den letzten Jahren spüre ich, dass ich da ein paar Sekunden lang … wie einen Aussetzer hab … Früher war ich agiler, wissen Sie?“

Woraufhin wir nach und nach mehrere Kolonnen aus schnell fahrenden Nobelhobeln von hinten aufrollen. Unsere Blechbüchse schlägt zwischen ihnen Haken wie ein Raptor zwischen dumpfen Pflanzenfressern.

„Was is’n?“, dreht er seine blutunterlaufenen Augäpfel zu mir.

„So ganz sicher fühl ich mich mit Ihnen nicht.“