Regeln des lächerlichen Benehmens - Emil Hakl - E-Book

Regeln des lächerlichen Benehmens E-Book

Emil Hakl

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Beschreibung

Mit 50 Jahren ist natürlich noch nicht alles vorbei, aber für manches ist es einfach schon zu spät. Paragleiten zum Beispiel, wenn man es zum ersten Mal macht und eigentlich nur, weil man Murgy und Rulpo, zwei durchgeknallten jüngeren Männern, etwas beweisen will. Und so segelt unser Held, mäßig erfolgreicher Schriftsteller aus Prag, plötzlich dem Wind ausgeliefert über Berg und Tal und sieht sein Leben vorüberziehen, in dem er noch keinen Fuß auf den Boden gekriegt hat. Bis sein Vater an Krebs erkrankt. Bis Vater und Sohn endlich miteinander zu reden beginnen - am Telefon zwar und über Sachen wie Militärflugzeuge, aber immerhin. Er erfährt vom letzten Wunsch des Vaters, der noch einmal ans Meer möchte. Also begibt er sich gemeinsam mit Rulpo, Murgy und der Urne auf eine Reise, einen verrückten Trip, auf dem bald alles aus dem Ruder läuft, aber doch alle an ihr Ziel kommen: nicht jünger, aber reifer und jedenfalls anders.

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Seitenzahl: 179

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Emil Hakl

Regeln des lächerlichen Benehmens

Roman

Emil Hakl

REGELN des

LÄCHERLICHENBENEHMENS

Roman

Aus dem Tschechischenvon Mirko Kraetsch

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Pravidla směšného chování“ bei Argo, Prag 2010.

Übersetzung aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2013

© 2013 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: casarsa / istockphoto

ISBN der Printausgabe: 978-3-99200-083-8

ISBN E-BOOK: 978-3-99200-084-5

Wer sagt, ihm sei alles egal, dem ist das nicht egal … denn wem das egal ist, der sagt es nicht.

Henri de Toulouse-Lautrec

I. GEHHÖHER!

1DER WEG DER SYMBOLE IST GEFÄHRLICH, DENN ER IST EINFACH UND VERFÜHRERISCH. Von wem der Satz stammt, daran kann ich mich gerade beim besten Willen nicht erinnern. Einer aus diesem Haufen Autoren, durch deren Schriften ich mich dieses Jahr wühle. Ich sitze auf der Rückbank eines Mégane, wir rasen Richtung Louny. Am Steuer Murgy, neben ihm der grinsende Rulpo. So hat er sich mir vorgestellt – Rulpo. Der untere Teil seines scharf geschnittenen Gesichts ist ein einziges breites Lächeln, das a priori allem und jedem gilt, und dahinter verbirgt sich ein seltsam unbestimmter Mensch.

„Also?“, spitzt er seinen Mund.

„Ja, ja“, sage ich.

„Spürst du, wie’s näherkommt?“ Er saugt die Zischlaute ein. „Ist dir das bewusst? Spürst du’s? Dieses Sss-aaa?“ Er versucht, mir eine von seinen adrenalinschwangeren Erfahrungen oder so zu vermitteln.

„Hm, da is was“, räume ich ein.

„Und was?“

„Dass es wahrscheinlich zu spät ist, wenn ich jetzt lieber aus der Sache aussteigen würde.“

„Solche Fälle gibt’s auch“, bleckt er die Zähne. „Aber wenn du’s sein lässt, wirst du dir vorkommen wie ’n Stück Scheiße, und das willst du doch nicht, oder?“

„Hhh“, mache ich.

Er sieht, dass er mehr nicht aus mir rauskriegt, also dreht er sich wieder um, setzt seine Kopfhörer auf, richtet den Strahl seines Lächelns auf die Fahrbahn und versenkt sich in das regelmäßige Ticken.

2IN MEINER JACKENTASCHE ERTASTE ICH DIE BLANK GESCHEUERTE BRIEFTASCHE VON MEINEM ONKEL. Der ist sein Leben lang ein Haudegen gewesen. Als Künstler Autodidakt, war die Welt für ihn ein Stillleben mit den Resten eines üppigen Frühstücks. Besonders gern hat er Schlachtfeste gemalt, präzise festgehaltene Schweinehälften, ausgeweidete Bäuche, Platten mit dampfenden Blutwürsten. Ab und zu auch einen Metzger, aber von dem nur Mütze, Nacken und Rücken, Menschen konnte er nicht. Er schwitzte dabei, drückte aus den Tuben farbige Würste auf die Palette und vermischte sie mit einem Spachtel, paffte kubanische Zigarren und schnaufte. In der Zwischenzeit schleppte meine Tante die Kinder die Kolonnaden rauf und runter und stopfte sie mit Oblaten voll, damit sie nicht mit ansehen musste, wie ihr mein Onkel die Wohnung zum Saustall machte. Das Erbe, das er seinen Nächsten hinterlassen hat, zählte achtundneunzig Ölgemälde, eine Schar von Gläubigern und zwei bis drei uneheliche Kinder. Mir dient sein Portemonnaie als Letzte-Hilfe-Tasche, Papiere, Geldscheine, Rasierklingen, eine Schnur, eine Packung Tafil 1,0 mg für den Fall unerwarteter psychischer Belastung und ein Blister Stilnox. Falls mich das Schicksal zwingen sollte in der Kanalisation zu schlafen. Für die ersten paar Tage.

Ich friemle eine Tafil heraus und schlucke sie. Hm, ein popeliges Milligramm – ich schieb mir lieber noch eine halbe unter die Zunge.

3WIR PASSIEREN DIE STADT LOUNY. Hinter den letzten Häusern öffnet sich das Land der Vulkankegel. Berge und Hügel, Berge und Hügel. Wir fahren zum nächstgelegenen. Der Berg kommt näher. Das Blau seiner Flanken geht in ein grünliches Grau über, das dann in ein angegrautes Grün. Er ragt kahl über uns auf wie Golgatha mit den drei Buckeln.

Über die Hänge hinweg jagen silbrige Wellen, der Wind kämmt durchs Gras. Wir biegen ab, kommen durch einen Ort, kurven herum, verfranzen uns, setzen zurück, kehren um, fahren ein Stück weiter, parken und stellen den Motor ab.

Die Jungs holen einen voluminösen Rucksack aus dem Kofferraum. Wir schnappen ihn uns von zwei Seiten und gehen einen Wanderweg rauf. Steigen in Richtung Sattel. Der Schweiß brennt mir in den Augen. Auf einen blühenden Löwenzahn kommt Pi mal Daumen eine Pusteblume.

Murgy macht noch am steilsten Abhang Kraulbewegungen, hier einen Purzelbaum, da geht er ein paar Meter auf Händen. Rulpo mit seinen Kopf hörern sondert ein hohes Sirren ab, er singt im Kastratenfalsett und bringt den Sack zum Schwingen.

In einem unbeobachteten Moment schiebe ich mir die restliche halbe Tafil unter die Zunge. Mit wem hab ich mich da um Himmels willen nur eingelassen?

4WIR SIND OBEN. Hier springt eine Unmenge rot-blau-grün-orange gekleidete Männchen rum. Dann schnallen sie mich auch schon in die Gurte. Auf dem Rücken zurren sie mir eine raschelnde, steife Halbschale fest, dann wühlen sie drin herum. Sie zupfen und zerren. Legen Leinen aus. In die Hände drücken sie mir Lenkseile. Murgy nennt sie Bremsen. Auf den Kopf kriege ich einen absurd aussehenden Helm. Sie bitten mich um mein Handy, nehmen es mir weg, legen es mir ans Ohr. Rulpo macht mir das Gerät mit Hilfe von Leukoplast an meinem Hamsterbäckchen fest. Ordentlich drücken, zeigt Murgy. Über Kreuz, jawohl. Damit’s hält. Genau so. Darüber setzen sie mir noch eine große gelbe Brille.

Alles in allem ist mir das egal. Von dem, was sie mir im Rahmen der Instruktionen erklärt haben, ist kein Müh mehr in meinem Kopf. Mein Gedächtnis hat das alles eingeschmolzen. Es gebärdet sich dieses Jahr wie ein Mixer. Ich bin voll mit fein moussierendem Informationsbrei. Offenbar eine natürliche Reaktion auf den Haufen Romane, Geschichten, Monografien, Enzyklopädien, Essays, Biografien und anderer Wortschätze, auf die ununterbrochene Flut von Lektüre, mit der ich etwa seit Weihnachten versuche, jede freie Minute vollzustopfen.

Murgy gibt mir Ratschläge. „Weißt du, wovon ich rede“, versichert er sich, „kannst du mich hören?“

„Ju, lugisch“, sage ich, das Gesicht vom Klebeband zusammengezogen.

In der Zwischenzeit schüttelt er jemandem die Hand, dem nächsten reicht er beide, einem anderen winkt er zu. Er macht Ausfallschritte nach hier und da. Damit bringt er zum Ausdruck, dass er ein echter Kerl ist. Er blinzelt mit besessenem Blick in die Sonne. Er ist voll dabei.

„Hörst du mich?“, krächzt er.

„Jep“, antworte ich.

„Also! Du spürst die Strömung auf, wie ich’s dir gesagt hab, zentrierst sie, hältst dich drin, klar. Du gibst, was geht, und dann raus, wie ich’s dir gesagt hab. Is klar, oder? Du suchst dir ’n Landeplatz, gehst runter.“

5ICH NICKE UND SEHE MICH UM. Pickelgesichtige, zappelige Moskitos, rebellische Karrieristinnen, viehisch fertige Vierfachmütter, dröge Doktorandinnen, Muskelbullen jeder Art, Gutmenschen, Bescheidwisser, Military-Typen, Rōnins, Kapuziner, Wu-Tang-Clan-Fans, Blödis wie aus rotem Gummi gegossen, quicksilbrige Adoranten ewiger Jugend mit blondierten Haaren. Alle wollen in die Luft. Einer sogar in einem voluminösen Marienkäferkostüm.

Ich glotze sie an und lächle. Ich sehe aus wie einer von ihnen. Der Wille geschehe! Die Telefonrechnung gehört wahrscheinlich nicht zum Geschenk, das kann mir aber wurscht sein. Mein Schicksal steht offenbar an einem Wendepunkt.

Sie legen den Fallschirm rosettenförmig auf dem Boden aus. Schubsen mich mit dem Gesicht in Richtung des tiefen, langgestreckten Hangs.

„Dreh dich mal rum“, verlangt das Telefon.

Ich drehe mich um. Rulpo kichert wie verrückt, Murgy macht seine Ausfallschritte. Ich sehe, wie das Ding über mir aufsteigt, sich bläht und füllt. Wie es sich zu einer riesigen leeren Umarmung öffnet.

„Geh zurück!“, befiehlt mir das Sprechgerät. „Jetzt rumdrehen. Und los!“

Zuerst schliddert es mit mir nur unentschlossen dahin, dann reißt es mich vom Boden weg und zerrt mich nach oben. Basta.

„Gleich mit liinks! Zu dir! Mit liinks! Ziieh!“

Das war klar und deutlich, muss man sagen. Ich ziehe links und drehe nach links ab. Wie in einem Panzer, haben sie mir gesagt.

„Ähäh, ähähäh“, sage ich.

„Nach links! Ziieh!“

„Hoho“, sage ich, „da bin ich!“

„Du bist an der Kante! Krr-che“, empfiehlt mir das Knisterteil. „Hummihemse, Alter! Ziieh!“

Ich ziehe die linke Bremse zu mir. Es klappt, der Horizont sortiert sich, die Bäume sortieren sich, das geparkte Auto richtet sich auf.

6ICH HÄNGE UNTER EINER HAUCHDÜNNEN PELLE, AN DIE ICH DURCH EIN GEWIRR AUS SCHNÜREN GEFESSELT BIN. Für den Notfall habe ich was in der Hinterhand. Man zieht an etwas, ein Fallschirm oder so kommt raus, und gut is’.

„Merween, an! Lang-sa-mer!“, ruft mir einer der zwei Bären aus dem Puppentrickfilm Sie trafen sich bei Kolín zu.

„Wie denn?“, sage ich.

„Beide zu dir ranziehen!“

Ich versuche es. Ein Schaukler, noch einer.

„Weniger Kraft!“, kreischt er.

Ich ziehe noch mal, ganz leicht.

„Nau, hiehn!“, freut er sich. „Enau so! Eh!“

Das zähe, nasse Huhn im Käfig meines Brustkorbs, das mir mit seinem Gackern den Weg in diese Welt eröffnet hat, beruhigt sich allmählich. Die Lokomobile wird langsamer. Der Puls geht wieder auf Normalmaß zurück. Offenbar hat das Tafil endlich angeschlagen. Das Stilnox hätte ich nicht auch noch nehmen sollen, das war mir schon in dem Moment klar, als ich es aus Angst, das Tafil könnte nicht wirken, geschluckt habe.

„Siehst du, und die Fresse haste dir nicht gewaschen“, sagt Murgy, sehr wahrscheinlich aber nicht zu mir, denn gleich im Anschluss muntert er mich auf: „Jaa! Weiter, Seppel! Höher! Du bist jetzt gefordert.“

Vor mir flattern meine Fußspitzen. Vor ihnen oder eher hinter ihnen und um sie herum leuchtet das Land des Teufels in Ocker und Siena-Braun, eine sich in der Ferne verlaufende Anhäufung von Hügeln. Schütter-zottelige angegraute Wäldchen. Kleine Dörfer, die wie Wanzennester an den Füßen dunkler Felsen kleben.

„Pedro Kramenec, red kein’ Scheiß!“, knistert es in der Sprechmuschel, bis mich die Eustachische Röhre juckt. „Komma her, du Held, was hast’n da für ’n Modell?“

Meine Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die durchsichtige Raupe, die sich mein Knie hinauf bewegt. Ein unerbittlich einfaches, kriechendes Spielzeug, ein einziger Verdauungstrakt, durch einen kleinen Kanal mit dem Arsch verbunden. Der Fleisch gewordene Hunger.

Langsam kapier ich es. Am besten überhaupt nichts anfassen. Bei Bedarf leicht ziehen. Eigentlich ist gar nichts dabei. Ich fliege.

7ICH FLIEGE, WEIL ICH MURGY GETROFFEN HABE. Also eigentlich eher umgekehrt. Auf dem Letná-Platz richtete er seinen Zinken auf mich und sagte: „Dich kenn ich.“ „Ich dich nicht“, entgegnete ich. „Wie auch, ich kenn dich schließlich von ’nem Foto“, antwortete er. Ehrlich gesagt, es hat mich nicht sonderlich interessiert, von was für einem Foto mich ein Schlaks Anfang dreißig, das Basecap selbstverständlich schräg auf dem Kopf, kennen könnte. Er hatte allerdings nicht vor, sich die Chance ent gehen zu lassen. „Na ja, doch!“, er schlug sich auf die Schenkel. „Na ja! Doch! Hh! Hah!“, rief er und seine Wolfsaugen leuchteten. Es musste wohl was mit meinen literarischen Ambitionen zu tun haben, sagte ich mir. Stipendien überall in Europa, Buchmessen abklappern, um Fördergelder betteln, dazu hatte ich keinen Nerv, aber wenn jemand mit einem Fotoapparat anrückt, halte ich hin, und zwar gerne. Nur wenn ich mir in den Medien von Zeit zu Zeit einen runterhole, gibt es eine Chance, dass noch gut hundert andere lesen, was ich hier tippe. Was das bringt? Die Antwort auf diese Frage kenne ich nicht.

„Der Sep-pel!“, kreischte Murgy wie bekloppt, haute mir auf den Rücken, und alle drehten sich nach uns um. Inzwischen waren wir nämlich in einer Bar namens Fraktál. Auf hohen Stühlen an hohen Tischen rauchten hoch aufgeschossene Mädchen in frappierenden Farben. Paradiesvögel mit hennaroten Pferdeschwänzen, die nur entsprechend aufgetakelte Männchen an sich ranlassen. „Das ist er, der Seppel!“, zeigte er auf mich. Sie drehten ihre Köpfe in meine Richtung. Man sah, dass ich für sie unsichtbar war. Ihn nahmen sie wahr, aber er war keiner von ihnen, dazu war er ein allzu beschriebenes Blatt. Sie bliesen Rauch aus und drehten sich wieder weg.

Es stimmt, mein Gesicht grinst von Plakaten am Bahnhof und von Werbetafeln an der Autobahn. Als Schwejk, als Franz Josef I. und, aller guten Dinge sind drei, als grenzdebiler mährischer Trachtenseppel. Murgy wollte wissen, wie man dazu kommt, dass man überall ist. Ob das über eine Agentur läuft oder so. Ich berichtete, wie die Mädels aus der Anzeigenabteilung – „Die Mädels aus der Anzeigenabteilung, super Bandname“, bemerkte Murgy –, wie die damals einen dieser alternden Schauspieler engagieren wollten, die sich anbieten wie Nutten unterm Brückenbogen. Sie baten ihn, ihnen sein Gesicht für Fotos zu verkaufen, nannten eine Summe, er wollte eine Null mehr, sie wurden unsicher, er legte auf. „Für das Geld verkauf ich meine Fresse vom Fleck weg!“, brüllte ich in einem Anflug von sozialer Empörung, wie man dann eben so schreit. „Echt?“ Sie drehten sich um. „Meinet wegen zehnmal!“, grölte ich. „Echt“, fragten sie wieder, „meinst du das ernst?“

„Tja, dumm gelaufen“, sagte ich zu Murgy. „Ich konnte mir’s aussuchen – vor den Mädels das Gesicht verlieren oder vor mir selber.“

Murgy nickte und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, beschrieb ich ihm das Fotografieren selbst. Ein geschniegelter Maskenbildner klebte mir eine devote Kartoffel an die Nase, kratzte mit einem stumpfen Rasierer an meinem Drei-Tage-Bart rum, lackte meinen Kopf komplett ein und puderte ihn rosa. Mit Pünktchen zauberte er mir einen neuen Drei-Tage-Bart. Ich saß da in der nesselgrünen Uniform, mit zwei Kissen ausgestopft. Ammoniakmief, der Gestank nach Schminke, völlig überheizt. Anschließend übernahm mich einer mit Kamera, Typ müder Rocker auf Lebenszeit, und brüllte mich an: „Richtig dämlich bist’e, richtig dä-hämlich! Dämlich bist du, total! Also guck auch so! Schwejk! Ein dämliches Lächeln! Noch dämlicher, genau so! Und wie du die Krücken hältst, halt sie normal! Der Daumen! So macht man doch wohl, wenn man was in der Hand hält, oder?“ Er wollte, dass ich die Opponierbarkeit meines Daumens nicht nutzte, dieses grundlegende Merkmal der Primaten. Woraufhin sie mich in einen mährischen Weinbauern verwandelten. „Holla-di-oh! Noch mehr, Holla-di-oh! Und feste auf die Schenkel klatschen! Huj-huj-huj!“ Dann in Franz Josef, den Monarchen. „Zieh den Wanst ein, du bist Aristokrat! Du frisst dich nicht voll! Du bist streng! Guck uns finster an! Wir haben Angst vor dir!“ Jede Bewegung wurde von der Kostümbildnerin verfolgt, sie zwickte mich durch die Hose in die Schenkel, wischte Staubkörnchen weg, andauernd raffte sie was zusammen und steckte es fest. Ich spürte den starken Wunsch zu gehen. Bloß, was sollte ich in Prag-Nusle mit einem Backenbart und einem faltigen Latexgesicht? Mit einem Säbel an der Hüfte? Also hielt ich durch. Erst am Abend war alles vorbei. Bis dahin haben wir uns schön besoffen. Der Fotograf trank direkt aus der Flasche, mir goss die Requisiteurin, ohne zu fragen, Jack Daniel’s in eine angebissene Tasse mit einem Strohhalm drin. Den steckte sie mir unterm Bart in den Mund. Sie hatten Übung damit. Ich saugte den Inhalt auf, als wäre es Nektar und ich ein Schwärmer. Die Requisiteurin goss teilnahmslos nach.

Murgy lachte, wie wenn man Glas schleift. Irgendwie abrasiv. Alles klar, kennen wir schon, diese flotte Fliegerstaffel. Was jemand mit dem Zeug intus redet, muss man nicht so ernst nehmen. Unten klappte der Kiefer auf und zu und darüber rotierte ein Ballon seliger Stille. Als er also damit anfing, dass er Paragliding-Fan ist und früher sogar mal Fluglehrer war, da nickte ich in aller Seelenruhe.

8„HALT DICH IN DER STRÖMUNG“, BEFIEHLT MIR DAS SPRECHGERÄT.

„Und wie finde ich die Strömung?“, frage ich.

„Du bist dri-hin! Sei dri-hin!“

Überall Unmengen ausschwärmender Kreaturen, kleine, größere, schnelle, langsame, kreisende, zappelnde, gefiederte und kahle. Wolken aus Mücken und Libellen, Flaum und Fliegen, Hornissen, Schmetterlingen, stoffbespannten Sportfliegern, bunt bemalten Verkehrsmaschinen und, weit oben, brutal geformte Monster auf Patrouille mit taktischen Waffen. Unterhalb davon Massen kreisender Fallschirme und Gleitschirme und sonstiger Flatterteile mit menschlichen Egos im Anhang.

Als Individuum macht man sich hier oben besser klar, wie weit seine Möglichkeiten auf allen Achsen überschritten sind. Die erste Geige spielt wie immer das Selbstmitleid. Gerührt zu sein vom Wissen um die eigene Winzigkeit. Wie soll man auf diese eigene Winzigkeit nicht stolz sein? Wie soll man sich nicht ein bisschen damit brüsten? Wie soll man sich nicht an der blechernen Stimme der Medien berauschen, nicht im Chor mit ihnen herumbrüllen, die Gegenwart sei für uns absolut unannehmbar und wir wollen sie ummodeln? Hier irgendwo liegen die Wurzeln aller Hoffnung, aller Liebe, allen Glaubens und der Regimes, die mit den dreien unter einer Decke stecken, ihrer Methoden und Tricks, aller Sodoms und Gomorrhas, aller möglichen Ismen. Wie das dann heißt, was konkret mit uns geschieht, wissen wir nicht. Über Bezeichnungen denken die Kreativen erst am Tag darauf nach. Das Ziel aber bleibt immer dasselbe – den Menschen zu perfektionieren. Ihn auszubessern, fertigzustellen. Zu komplettieren. Ihm ein drittes Auge einzusetzen. Bis jetzt hat das niemand überlebt. Aber irgendwas wird schon dran sein. Was man alles schnattert, um es anderen rechtzumachen, was man heult, bettelt. Und die Zuhörer lachen, andere werden aus unbekannten Gründen vom Hass regelrecht gebeutelt. Keiner kann sich sicher sein, ob er nicht bloß noch den bumsordinären Spaßmacher gibt. Dazu Bewusstseinsblitze, was will man mehr. Schließ dich an, gib dich hin. Wehr dich nicht. Bässe und Höhen. Geh höher.

Ich fliege.

Hui. Ich passiere mit Plastikplanen geflickte Dächer. Schräg fliege ich über einen Kuhstall weg. Mähdrescher-Wracks, so eine Sauwirtschaft. Auf mich schiebt sich ein langgestreckter Hang zu, dort geschickt hinkrachen, vielleicht würde ich sogar überleben. Ich bin aber viel zu hoch. Keine Ahnung, wie ich runterkommen soll.

Dazu will mir der Kasper weismachen, dass es gerade erst losgeht: „Mach dich locker! Lass dich fallen! Genieß es!“

9„DER SCHWEJK WAR COOL“, STUPSTE MICH MURGY IM FRAKTÁL GEGEN DAS BRUSTBEIN, „ABER AUF DIE KNIE GEGANGEN BIN ICH VOR DEM SEPPEL MIT DER KORBFLASCHE: ISCH BIN NEMLISCH AUS VAL-MEZ! Obwohl – ich hätt’ ja bei so ’nem Dreck nicht mitgemacht“, fügte er hinzu, „ist doch peinlich, seine Visage überall zu sehen.“

Ich versuchte ihm klar zu machen, dass das nur als kleiner Joke für meine Freunde gedacht war. Ich hatte vermutet, dass es höchstens um eine Zeitschriftenanzeige geht. Keiner hatte mir verraten, dass die daraus eine landesweite Plakatkampagne machen, weil das für die Tschechischen Bahnen ist. Und deine Kumpels, kam da ’ne Reaktion?, wollte Murgy wissen. Nicht wirklich, musste ich zugeben, dafür haben sich alle gemeldet, denen ich irgendwas geschuldet habe. Der Sack hat sich saniert, haben die gedacht, du hast deine Fresse verkauft, geschieht dir recht, lass rüberwachsen! Sprich, ich hab am Ende dreimal mehr verteilt, als sie mir nach langem Hin und Her gezahlt haben.

Als Rulpo in der Bar eintraf, musste ich die Story noch mal erzählen. Sie lachten und lachten. Dann lachten sie darüber, wie sie lachten. Und dann brachten sie noch Bruchstücke von irgendwelchen anderen gedanklichen Ebenen zum Gackern. „Wann hast du Geburtstag?“, fragten sie mich. „Ende März, wieso?“ „Dann betrachte das als verspätetes Geburtstagsgeschenk“, sagten sie, „wir haben uns totgelacht über dich! Kennst du Paragleiten?“ Und sofort haben sie mich gebrieft. Auf die Rückseite eines Bierdeckels gemalt, wo’s langgeht. Als sie beschrieben haben, wie das so ist zu fliegen, klapperten ihnen die Arme. „Es kann nix passieren“, murmelten sie, „alles entspannt, im schlimmsten Fall hast du ’n Rettungsschirm.“ Und dann fanden sie mit ihren armreifbehängten, rasselnden Flossen nicht durch die Ärmel ihrer Jacken. Kaum war ihnen das gelungen, schlugen wir mit umfassten Daumen ein. Ich gab Murgy aus falscher Höflichkeit meine Festnetznummer, wo ich aber sowieso fast nie rangehe.

Als das Telefon klingelte, schlürfte ich gerade moldawischen Cognac, den ich mehr oder weniger zufällig in einem abseits gelegenen Spätkauf in der Sudoměřská-Gasse von einem verschlafenen Mädel mit russischem Akzent gekauft hatte. Dazu hörte ich Screamin’ Jay Hawkins. Und so ging ich aus biochemischem Überschuss an Entgegenkommen doch ran. Er sagte, er wolle gar nicht hören, dass ich es mir anders überlegt habe. Dass ich mir nicht ins Hemd machen soll. Dass ich fliegen soll. Dass er nichts Besseres kennt. Sich auf diesem Weg so genannte Träume zu erfüllen. Fallschirmspringen, Ballonfahren. Lasst mich mit dem Scheiß in Ruhe, das hätte ich ihm sagen sollen. Ich will mir keinen Traum erfüllen, nicht auf diese dämliche Art. Stattdessen bedankte ich mich herzlich bei ihm.

10WESHALB ICH JETZT BEOBACHTEN KANN, WIE TRENDY PEOPLE MIT BUNTEN FLÜGELN ZWISCHEN STEILEN BASALTKEGELN RUMSCHWIRREN. Einige haben einen Propeller in einem Drahtkorb auf dem Rücken, andere im Schoß fest geschnallte Kinder. Es erinnert an mittelalterliche Vorstellungen vom Paradies. Afrika, wie es der eingemauerte Ordensbruder aus seinen Halluzinationen kannte. Ein Hummelgewimmel. Ein Ball der Fakire. Eine Ladung Probepackungen aus dem Jenseits. Etwas Unwirk liches. Unwirklich Schönes. Schön, bis einem das Kotzen kommt.

„… das Kotzen kommt“, stoße ich aus Versehen laut hervor.

„Neiin!“, erschrickt der Bär an der Grenze der Hörbarkeit, er hat Angst um seinen Flugapparat. „Run-ter-schlu-cken! Nicht kot-zen, Seep-pel! Hast’n Kaugummi? Dann kau!“

„Keine A-angst, nein“, tröste ich das Handy, das schmerzhaft an meiner Wange pappt.

„Wo biist du?“, begehrt es zu wissen.

Unter mir fließt ein endlos langes Feldgehölz dahin, Zäune, Wohnwagen. Über die Wiese rennt ein Kind, unter dem T-Shirt sieht man kackebeschmierte weiße Stampferchen hervorblitzen. Und schon kommt mit ausladenden Bewegungen ein speckbepackter Zombie weiblichen Geschlechts auf das Kleine zugeeilt. Klatsch, eine Backpfeife. An eine Baumreihe schließt nahtlos ein Labyrinth aus stickigen Schuttplätzen an. Ein Bursche zerbricht trockene Äste. Bis hierher kommen die scharfen, hölzernen Schüsse geflogen. Ich sehe eine auf einem Fahrrad strampelnde Ameise, an der Lenkstange zwei vollgestopfte Plastiktüten. Unsicher rollt sie die Betonpiste zu den Wohnblocks am Fuß des Hügels hinab. Ich bin anscheinend irgendwie niedrig.

„Weiß nicht“, sage ich.

„Eh Alter, dem Mädel ist hundeelend, und du überlegst, ob die dir vielleicht nur was vorspielt?“, erklärt er wieder jemand anderem.