Kirche am Ende - Tilmann Haberer - E-Book

Kirche am Ende E-Book

Tilmann Haberer

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Beschreibung

Die Kirche ist tot - es lebe das Christsein

2022 sind zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik die Bürger*innen, die keiner der christlichen Kirchen angehören, in der Mehrheit. Es kann keinen Zweifel geben: Die Kirche, wie man sie bisher kannte, ist eine sterbende Institution. Sie ist am Ende und das ist eine Chance!

Denn wenn ein alter Baum stürzt, fällt das Licht wieder auf den Boden, den seine Krone bisher beschattet hat und dort können neue Sprösslinge wachsen. So ist es auch hier: Mag die Institution auch schwächer werden, die Botschaft des Evangeliums bleibt. Und sie wird weitergetragen: Von neuen Initiativen, kleinen Gemeinschaften und in innovativen Projekten.

Tilman Haberer hat sich diese Orte des Aufbruchs angesehen. Er versucht zu begreifen, welche Lebensprinzipien ihnen zugrunde liegen und entdeckt 16 Anfänge für das Christentum von morgen.

  • Der überfällige Abschied von einer verbrauchten Institution
  • Kirche aufgeben, und das Christentum neu finden
  • Ein mutiges und zukunftweisendes Buch

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Seitenzahl: 359

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Es kann keinen Zweifel geben: Trotz aller Reformbemühungen der letzten Jahrzehnte ist die Kirche, wie man sie bisher kannte, eine sterbende Institution. Sie ist am Ende und das ist eine Chance!

Denn wenn ein alter Baum stürzt, fällt das Licht wieder auf den Boden, den seine Krone bisher beschattet hat, und dort können neue Sprösslinge wachsen. So ist es auch hier: Mag die Institution auch schwächer werden, die Botschaft des Evangeliums bleibt. Und sie wird weitergetragen: von neuen Initiativen, kleinen Gemeinschaften und in innovativen Projekten.

Tilmann Haberer hat sich diese Orte des Aufbruchs angesehen. Er versucht zu begreifen, welche Lebensprinzipien ihnen zugrunde liegen und entdeckt 16 Anfänge für das Christentum von morgen.

Tilmann Haberer, geboren 1955, evangelischer Pfarrer, Gestaltseelsorger und systemischer Berater. Nach langjähriger Tätigkeit als Gemeindepfarrer in einer Münchner Citykirche sieben Jahre lang freiberuflicher Seelsorger, Journalist, Übersetzer und Autor. Von 2006 bis 2021 evangelischer Leiter der ökumenischen Krisen- und Lebensberatungsstelle »Münchner Insel«.

Tilmann Haberer

Kirche am Ende

16 Anfänge für das Christsein von morgen

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Copyright © 2023 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © Vibe Images – Adobe Stock.com

ISBN 978-3-641-30959-6V002

www.gtvh.de

Inhalt

Einführung

Worum es in diesem Buch nicht geht

Worum es stattdessen geht: Die Chance des Weizenkorns

FreshX, Erprobungsräume, MUT

Vor den Mauern

Kirche von morgen?

Zu diesem Buch und seinen 16 Kapiteln

1. Das Christentum von morgen zieht keine Steuer ein

Segen und Fluch

Projekte, Projekte

Die Freiburger Studie

Lästiges Abonnement

Niedergang und Chance

Karsamstag der Kirche

Alternativen

Ein Traum von Auferstehung

2. Das Christentum von morgen hat kein verbeamtetes Personal

Die Pfarrperson als Flaschenhals

Die Fülle der Gaben

Die künftige Rolle von Theologinnen und Theologen

Leitung – Leadership – Teamkultur

3. Das Christentum von morgen ist nicht »Volkskirche«, sondern das Familientreffen der Kinder Gottes

Die Parochie

Grenzen des Parochialprinzips

Koinonia

Essen und Trinken, Leib und Seele

4. Das Christentum von morgen setzt nicht auf Versorgung, sondern auf Beteiligung

Konsum statt Beteiligung

Das allgemeine Priestertum aller Gläubigen

Charismatische Gemeinde?

Beteiligung statt Versorgung

5. Das Christentum von morgen lebt in einer bunten Vielfalt an Formen, die sich auch immer wieder ändern können

De Nieuwe Poort, Amsterdam

FreiRaum Prenzlauer Berg

Polylux – Mach was Schönes

Cornerstone Church Cranbrook

Hossa-Talk und Konsorten

Fröhliches Chaos oder Businessplan

Ein Leib, viele Zellen

6. Das Christentum von morgen besitzt keine Immobilien

Vom Sinn der Gebäude – ein historischer Rückblick

Gott und der Kaiser

Priester und Prophet

Ein Haus Gottes?

Ein wanderndes Gottesvolk braucht keine Immobilien

Beispiele

Cyberspace

Kleingruppen

Die Alternative zum Eigentum: Mieten

Christen werden weniger sichtbar

7. Das Christentum von morgen kennt Verbindlichkeit (nur) auf Zeit

»Start again«

Konzentrische Kreise

8. Das Christentum von morgen ist theologisch klar, offen und weit

Die Attraktivität des Eindeutigen

Starke und schwache Bindungskräfte

Mystik des Alltags

Dekonstruktion

Klar, offen und weit

9. Dem Christentum von morgen ist nichts heilig – dem Christentum von morgen ist alles heilig

»Heilige« Gefühle

Und was ist mit den Sakramenten?

Desakralisierung

Hoffnungszeichen

Jenseits des Heiligen

Beziehungsgeschehen

Und die Taufe?

Rituale

10. Die Christen von morgen leben mit den Armen ihrer Gesellschaft

Die Kirche und die Suppe

Vom Helfen und vom Teilen

»Verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen!«

Hingehen

11. Das Christentum von morgen ist m/w/d, es ist schwarz, weiß und bunt

Biblische Botschaft und die Macht des Patriarchats

Sprengstoff LGBTQI*

Woher dieser Eifer?

Schwarz und weiß

… und bunt

12. Das Christentum von morgen ist demütig – Es tut Buße

Macht und Machtmissbrauch

Macht und Sex

Schuldbekenntnisse

Das Versagen der Behördenkirche

Demut und Buße

13. Das Christentum von morgen hat keine missionarische Agenda – Aber es lebt einen glaubwürdigen Lebensstil

Mission

Missio Dei

Lebensstil

Gastfreundschaft

Hilfsbereitschaft

Wertschätzung

Zuhören

Liebevolle Gemeinschaft

Ökologische Verantwortung

Fehlerfreundlichkeit

Neue monastische Ansätze

Vorreiter eines nachhaltigen Lebensstils?

Komm und sieh!

14. Das Christentum von morgen übt sich in der Arkandisziplin: Es betet und tut das Gerechte

Arkandisziplin

Im Zentrum: der Dienst an den Menschen

Wieder Sprache finden

Befreiung

Vergebung

»Fürchte dich nicht!«

15. Das Christentum von morgen schert sich nicht um Konfessionsgrenzen

Identität

Konkret in der Praxis

Unter einem Dach

16. Das Christentum von übermorgen wird möglicherweise wieder ganz anders aussehen als das Christentum von morgen

Zersplitterung

Nachwort

Eine letzte offene Frage

Danksagung

Anmerkungen

Einführung

Kirche am Ende – ein harter Satz. Aber eine notwendige Einsicht. Mittlerweile wird diese von immer mehr Menschen geteilt, auch von Menschen in leitender Funktion in der Kirche. Einer sagt: »Ich gebe der katholischen Kirche in ihrer jetzigen Form noch fünf Jahre, … maximal zehn Jahre, dann kollabiert dieses System.«1 Ein anderer konstatiert: »Wir hatten ja lange die Rolle der alten Erbtante inne, die zwar keiner mehr so recht ernst nimmt, die aber bei bestimmten familiären Anlässen immer noch dabei sein darf und dann halb höflich, halb widerwillig respektiert wird. Selbst das ist mittlerweile vorbei.«2 Nicht nur die immer mehr zunehmende Zahl der Kirchenaustritte spricht eine deutliche Sprache, es gibt auch kaum noch theologischen Nachwuchs. Selbst wenn es viele noch nicht glauben können oder es nicht hören wollen: Die Kirche ist am Ende.

Worum es in diesem Buch nicht geht

Ich möchte mich hier nicht mit Kirchenkritik aufhalten, und ich habe nicht vor, die Gründe für den Untergang des Systems Volkskirche darzulegen. Das haben andere zur Genüge getan. Wenn Sie sich dafür interessieren, weshalb die Kirche am Ende ist, lesen Sie etwa die scharfsinnigen Analysen von Markus Beile3 oder Heinzpeter Hempelmann4. Ich gehe davon aus: Die Diagnose ist gestellt.

Ich lege auch kein Programm zur Rettung der Kirche vor. Kein: »Die Kirche müsste …«, »die Kirche sollte …« Keine Reanimationsversuche. »Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!« (Lukas 9,60)

Worum es stattdessen geht: Die Chance des Weizenkorns

Zugegeben: Es ist ein schmerzhafter Verlust, wenn die Kirche aus dem Dorf und aus den Städten verschwindet. Eine anderthalbtausend Jahre währende Kultur kommt damit an ein Ende. Das ist zum Weinen, einerseits. Doch andererseits liegt in diesem Sterben die Chance des Weizenkorns. »Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht«, sagt der Herr der Kirche (Johannes 12,24). Das sterbende Korn gibt dem Keimling, der das Neue bringt, Kraft und Nahrung.5 Und wie bei manchem umgestürzten Baum, so scheint es mir auch bei der Kirche zu sein: Sobald die alte Krone gefallen ist und das Licht wieder den Boden erreicht, können junge Sprösslinge wachsen, gedeihen und Früchte bringen. Auf diese neuen Ideen, Initiativen und Projekte richte ich mein Augenmerk. Denn mag die Kirche, wie wir sie kennen, auch untergehen, die Botschaft des Evangeliums bleibt. Um diese Botschaft geht es, um das Reich Gottes, und nicht um eine bestimmte, tradierte Gestalt und Sozialform.

FreshX, Erprobungsräume, MUT

Ich habe viel von Initiativen wie Fresh Expressions of Church (FreshX)6, von den Erprobungsräumen7 und MUT-Projekten8 gelernt. Diese Initiativen und die Prinzipien, nach denen sie aufgestellt werden, finde ich sehr hilfreich und wegweisend. Ihre Arbeit beruht auf sehr sympathischen Grundsätzen, allen voran auf Kontextualität: Sie denken und handeln von den Menschen, nicht von der Kirche her, auch wenn all diese Initiativen von der Kirche ausgehen und zum guten Teil auch von ihr finanziert werden. Aber so ist es mit den jungen Schösslingen: Sie gewinnen ihre Lebenskraft aus der Stärke des alten Baumes, mag dieser auch an das Ende seiner Zeit gekommen sein.

So gibt es viele Initiativen, die gewissermaßen auf der Grenze existieren. Die Erprobungsräume in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland haben das sogar in ihre DNA eingeschrieben. Sie sollen »die volkskirchliche Logik an mindestens einer der folgenden Stellen [überschreiten]: Parochie, Hauptamt, Kirchengebäude«, und sie »erschließen alternative Finanzquellen«9. Die Konsequenz ist: »Die Erprobungsräume erhalten nur eine Teilförderung.«10

Vor den Mauern

Das ist schon ein wichtiger Schritt auf dem Weg, den ich in diesem Buch beschreibe: der Weg einer Christenheit, die den schützenden, aber auch einengenden Mantel verfasster Kirchlichkeit und damit die Finanzierung aus Kirchensteuermitteln ablegt und das Christentum weiterträgt, ohne gleich eine bestimmte Form von Kirche mitzumeinen.

Ich berichte von Gemeinschaften und Projekten, die aus der Initiative Einzelner oder kleiner Gruppen entstehen, oft an unauffälligen Orten, getragen von Menschen, die auf die eine oder andere Weise von der heiligen Geistkraft bewegt sind. Und ich versuche zu begreifen, welche Lebensprinzipien solchen Aufbrüchen zugrunde liegen. Denn diese Christinnen und Christen kehren zurück zu den Anfängen, sie sind Teil einer Bewegung ohne den Schutz und ohne die Fesseln, die die große Institution bereithält.

Die FreshX-Bewegung verwendet ein schönes Bild, um das Verhältnis der innovativen Gemeinschaften und Projekte zur verfassten Kirche zu beschreiben. Die Kirchen, sagen sie, sind wie große Seen, die jede Menge Wasser speichern und so den Landschaften, in denen sie liegen, Fruchtbarkeit und Leben spenden. Doch ein stehendes Wasser kann auch versumpfen und faul werden, wenn es nicht durch Zu- und Abflüsse lebendig gehalten wird. Bäche und Flüsse spenden den Seen frisches Wasser und werden ihrerseits von den Seen gespeist. So werden die Ortsgemeinden, die »stehenden Gewässer«, von den FreshX, den frischen Ausdrucksformen von Kirche mit lebenswichtigem Sauerstoff versorgt und geben diesen wiederum ihr Wasser, ihre Ressourcen mit auf den weiteren Weg. So gelangt das »Wasser« auch in Gegenden, die von den Seen nicht versorgt und belebt werden können. Kontinuität und Beweglichkeit werden ins Gleichgewicht gebracht.11

Ein schönes Bild. Ich möchte es ergänzen: Ich sehe Quellen, die abseits der vertrauten Seen- und Flusslandschaften sprudeln. Aus ihnen fließen Bäche, die sich ihr eigenes Bett graben, gespeist aus dem großen, unerschöpflichen Reservoir, aus dem sämtliche Gewässer, stehend oder fließend, ihre Lebendigkeit beziehen.

Das Christentum von morgen, wie es mir hier vorschwebt, entsteht aus all diesen Initiativen. In unterschiedlicher Nähe zur Kirche, wie wir sie kennen, leben sie an jeweils ihrem Ort, inspiriert allein vom Evangelium und von dem Wunsch der Beteiligten, gemeinsam »was Schönes« zu machen (um das Motto von Polylux, einer der unabhängigen Gründungen, zu zitieren).

Kirche von morgen?

Die Initiativen, Gemeinschaften und Aktivitäten, die ich in diesem Buch vorstelle (und viele, die ich nicht kennengelernt habe, die aber auf ähnlichen Bahnen unterwegs sind), sind natürlich Kirche Jesu Christi, denn es geht ihnen darum, das Evangelium zu leben und das Reich Gottes mit Wort und Tat – meistens mehr mit Taten als mit Worten – zu verkünden. Aus Gründen der sprachlichen und sachlichen Klarheit bezeichne ich die Gruppen, die unabhängig von der Institution Kirche leben, nicht als Kirche, sondern als Christentum, Christenheit oder einfach Christinnen und Christen von morgen.

Damit will ich nicht das eine gegen das andere ausspielen. Aber ich möchte in diesem Buch zeigen, dass das Christentum eine Zukunft hat, auch wenn wir aufhören, die Kirche, wie man sie kennt, retten zu wollen.

Zu diesem Buch und seinen 16 Kapiteln

Immer wieder wurde mir beim Schreiben bewusst, wie sehr die Themen der einzelnen Kapitel miteinander zusammenhängen. Sie alle sind Elemente eines Gesamtraums. Die 16 Anfänge, die ich hier vorstelle, sind allesamt Aspekte eines einzigen Anfangs. Der Übersichtlichkeit halber und um eine gewisse Systematik herzustellen, habe ich diese einzelnen Aspekte aber jeweils einzeln ins Zentrum gestellt. Das hat zur Folge, dass ich an vielen Stellen auf andere Kapitel vor- oder rückverweise. Auch eine gewisse Redundanz in der Darstellung ist auf diesem Hintergrund unvermeidlich: Gedanken, die in einem Kapitel ausführlicher behandelt werden, werden in einem früheren Kapitel schon angerissen oder später noch einmal aufgegriffen. Ich hoffe aber, dass dies die Lesbarkeit des Buches nicht mindert, sondern im Gegenteil eher erhöht.

München, im Sommer 2023

Tilmann Haberer

1. Das Christentum von morgen zieht keine Steuer ein

Die Kirchensteuer ist ein Unikum. Dass der Staat für die großen Kirchen die Mitgliedsbeiträge einzieht, gibt es, weltweit gesehen, fast nur in Deutschland. Einigermaßen vergleichbare Arrangements gibt es noch in einigen anderen europäischen Ländern wie Österreich oder Schweden – in Gegenden also, in denen das Christentum eine jahrhundertealte Tradition hat. In diesen Ländern galt lange Zeit das Staatskirchenrecht, das in seinem Kern schon beim römischen Kaiser Theodosius im 4. Jahrhundert n. Chr. angelegt ist. Der Landesherr – Fürst oder König – war gleichzeitig Oberhaupt der Kirche und finanzierte diese aus dem Staatshaushalt, entweder direkt durch Bezahlung oder indem er der Kirche ein Stück Land zur Verfügung stellte, die sogenannte Pfründe. Der Ertrag dieser Pfründe finanzierte den Lebensunterhalt des Pfarrers und die Sachkosten des kirchlichen Lebens. Dafür hatte die Kirche staatstragende Funktion zu erfüllen sowie für Sitte, Anstand und eine ordentliche patriotische Gesinnung in der Bevölkerung zu sorgen. Mit dem Ende dieses Systems in der Weimarer Republik wurde die direkte staatliche Finanzierung der Kirchen abgeschafft und durch die Kirchensteuer ersetzt. Durch diese Steuer nahmen die Kirchen in Deutschland im Jahr 2021 insgesamt mehr als zwölf Milliarden Euro ein: Die katholische Kirche kam auf rund 6,7 Milliarden, die evangelische auf knapp 6 Milliarden.1

Nur wer einkommensteuerpflichtig ist, wird von der Kirche direkt veranlagt, dazu unterhalten die großen Kirchen eigene Kirchensteuerämter. Bei den meisten Mitgliedern wird die Kirchensteuer jedoch mit der Lohnsteuer vom Finanzamt eingezogen, wie man auf der Lohnsteuerkarte sehen kann. Diese staatliche Dienstleistung ist allerdings nicht umsonst, zwischen zwei und vier Prozent des Kirchensteueraufkommens behalten die Finanzämter als Vergütung für ihren Aufwand ein.2

Einige wenige Länder, etwa Griechenland, kennen noch das Staatskirchentum, die überwiegende Mehrheit der Kirchen weltweit finanziert sich aber durch Beiträge und Spenden ihrer Mitglieder. Dasselbe gilt für Freikirchen in Deutschland, die nicht den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft haben und stattdessen ihre Mitglieder um den »Zehnten« bitten (oder ihn einfordern), offiziell also ein Zehntel des Nettoeinkommens.

Segen und Fluch

Die Kirchensteuer gewährt eine große Freiheit. Pfarrpersonen müssen nicht auf die Zahlen schauen. Während Gemeindeleitungen in anderen Ländern einen Teil ihrer Arbeitskraft, Phantasie und Initiative dafür einsetzen müssen, die notwendigen Mittel zu akquirieren, können sich die Kirchen in Deutschland auf ein berechenbares, planbares Budget verlassen. Und damit tun sie, unbestritten, auch viel Gutes. »Keines der anderen in Europa eingeführten Systeme der Kirchenfinanzierung ist in der Lage, den Dienst der Kirchen auf dem in Deutschland gewohnten und weiterhin sinnvollen Niveau zu garantieren«, schreibt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) stolz.3

Pfarrerinnen und Pfarrer ziehen einen weiteren Vorteil unmittelbar aus diesem System: Sie werden nicht erfolgsabhängig besoldet. Sie brauchen sich also nicht am Applaus der Mitglieder zu orientieren und kommen nicht in die Verlegenheit, den großzügigsten Spendern nach dem Mund reden zu müssen. Sie könnten beispielsweise prophetisch reden, das heißt theologische oder gesellschaftspolitische Kritik an ihrer Gemeinde oder an der Gesellschaft anbringen, ohne von der Gemeinde dafür finanziell sanktioniert zu werden.

Aber die leistungsunabhängige Besoldung und die pauschale Finanzierung des Gemeindelebens durch »Schlüsselzuweisungen« aus Kirchensteuermitteln hat auch eine Kehrseite. Denn egal, ob die Gemeindewebsite platzt vor attraktiven Veranstaltungen, ob Kirche und Gemeindehaus die Interessierten und Engagierten nicht mehr fassen können – oder ob im Gottesdienst drei Personen sitzen und das Gemeindeleben mehr tot als lebendig vor sich hindümpelt: Das Geld fließt, gespeist von der Kirchensteuer. Es gibt also keinerlei Druck, irgendetwas zu verändern. Im Gegenteil, in vielen Gemeinden scheint eher Angst vor jeglichem Wandel zu herrschen. Wenn wir etwas an den Gottesdienstzeiten, der Liturgie, der vertrauten Sprache ändern, wenn wir die Orgel schweigen und den Seniorenkreis sterben lassen, dann bleiben auch noch die Wenigen weg, die uns bisher die Treue gehalten haben. Also werden die Ressourcen in die Pflege dieser letzten Getreuen gesteckt, in diesen »heiligen Rest«, wie der Politikberater und Autor Erik Flügge sie nennt.4 Wohl wird ein bisschen mit neuen Formen experimentiert, nur sind die auch schon lange nicht mehr neu. Jugend- und Familiengottesdienste entstanden in den 1960er-, das Feierabendmahl in den 70er-Jahren. Das »Neue geistliche Liedgut« stammt überwiegend aus den 1970er- und 1980er-Jahren. Und zeitgemäße Worship-Musik habe ich in einer volkskirchlichen Gemeinde noch so gut wie nie gehört. Aber wenn wir Rap und R’n’B oder aber Musik im Stil von Helene Fischer oder Andreas Gabalier – also das, was junge und nicht mehr ganz junge Menschen heute hören – in die Kirche ließen, würden wir den »heiligen Rest« damit nur verschrecken. Es bleibt bei einzelnen Experimenten und Projekten. Im Großen und Ganzen ändert sich nichts an den kirchlichen Formen und an der Sprache, an der die Kirche »verreckt«, um noch einmal Erik Flügge zu zitieren.5

Das Problem dabei: Die Kirchen bedienen mit ihrem Programm noch maximal zwei bis drei der zehn gesellschaftlichen Milieus und davon hauptsächlich das traditionelle. Gerade dieses traditionelle Milieu jedoch schrumpft dramatisch. »Vor etwa zehn Jahren war es noch das stärkste Milieu in unserer Gesellschaft mit über 20 Prozent, und die Voraussagen kündigen an, dass wir in etwa fünf Jahren bei vier oder fünf Prozent der Bevölkerung liegen«, so der Theologe und Religionssoziologe Heinzpeter Hempelmann im Jahr 20216. Wer weiter ungebrochen und nahezu ausschließlich auf dieses Milieu setzt, »der verurteilt Kirche wirklich zum Untergang«.

Es ist nicht nur ein gängiges Vorurteil, sondern traurige Realität: In vielen Kirchengemeinden nehmen nur noch Angehörige der Generation 60 plus am »Gemeindeleben« teil; Ausnahmen bestätigen die Regel. Die meisten Gemeinden sind aber mit dem Problem konfrontiert, dass für die sterbenden Alten keine »jungen Alten« mehr nachkommen. Wenn die Generation, die jetzt noch in den Gottesdienst geht, ausgestorben ist, ist das kirchliche Leben perdu.

Aber das macht nichts, meint man, die Kirchensteuer fließt ja immer noch. Die 95 Prozent der Kirchenmitglieder, die das kirchliche Angebot nicht wahrnehmen (abgesehen vielleicht von Hochzeit, Taufe, Beerdigung und dem Gottesdienst an Heiligabend)7, zahlen immer noch für die fünf Prozent, für die das Programm gemacht wird. So ist es für nicht wenige Hauptamtliche einfach bequemer, im alten Trott zu bleiben. Dabei ist mir wichtig, zwischen Bequemlichkeit und Faulheit zu unterscheiden. Ich kenne keine Pfarrerin und keinen Pfarrer, die faul wären. Viele arbeiten sich regelrecht auf – aber eben im alten Trott. Auch die Versorgung von dreißig Getreuen kann einen Pfarrer, eine Pfarrerin rund um die Uhr in Anspruch nehmen. Und es kostet viel mehr Mühe, sich von bestehenden Ansprüchen abzugrenzen, um Kopf und Terminkalender freizubekommen für neue, innovative Ansätze, als sich im Altbekannten totzuarbeiten.

Es lässt sich scheinbar auch trefflich rechtfertigen, wenn nur wenige erreicht werden. »Uns ist nicht die große Zahl verheißen«, heißt es dann gerne. Ich kann diesen Satz nicht mehr hören. Ja, in einer Verfolgungssituation, bei Untergrundkirchen in autoritären, religionsfeindlichen Systemen, da mag eine solche Aussage gerechtfertigt sein. In unserer freiheitlichen Gesellschaft aber, in der Religionsausübung vielleicht belächelt, aber ganz gewiss nicht verfolgt wird, zählt diese Ausrede nicht. Pfarrpersonen bekommen ein stattliches Gehalt von Menschen, die sie mit ihrem Angebot größtenteils gar nicht erreichen. Da klingt ein solcher Satz, mit Verlaub, viel eher nach Arbeitsverweigerung als nach prophetischer Ansage. Da sollten wir doch eher auf Jesus hören, der sich im Gleichnis vom großen Abendmahl wünscht, »dass mein Haus voll werde« (Lukas 14,23).

Projekte, Projekte

Allmählich aber scheint es sich herumzusprechen, dass neue Zielgruppen angesprochen werden müssen, damit die Kirche eben nicht ausstirbt. Gänzlich neue Ansätze müssen her. So entstehen innovative Projekte, die seit einiger Zeit an vielen Stellen aus dem Boden sprießen und die darauf abzielen, neue und alternative Formen von Kirche zu entwickeln. Etliches darunter ist durchaus originell und zukunftsweisend. Das FreshX-Netzwerk etwa, ein übergemeindlicher Zusammenschluss von entsprechenden Initiativen und neuen Gemeindeformen, bietet eine Fundgrube von nachhaltigen und weiterführenden Anfängen.8

Das Problem dabei: Diese Projekte funktionieren in der Regel nur, wenn sich Hauptamtliche dafür einsetzen. Häufig heißt das: Es werden eigene Projektstellen geschaffen. Das wirft aber wieder neue Probleme auf. Denn entweder ist das Projekt befristet, die Stelle läuft nach drei oder fünf Jahren aus und das Ganze sackt in sich zusammen. Oder es läuft so gut, dass es verstetigt wird. Das heißt, es wird in die Regelförderung überführt, die Stelle wird im Landesstellenplan abgesichert und das Ganze bekommt so eine langfristige Perspektive. Damit konkurriert aber dieses Projekt mit den bestehenden Strukturen, namentlich den Kirchengemeinden. Eine neue Stelle bedeutet in Zeiten schwindender Ressourcen ja zwingend, dass anderswo eine Stelle eingespart werden muss. Und die Ressourcen schwinden, wie ich gleich zeigen werde.

Wenn Projekte aus Bereichen wie FreshX, MUT (Bayern) oder Erprobungsräume (Mitteldeutschland, Rheinland) nachhaltig die Zukunft des Christentums sichern sollen, müssen sie von vornherein so angelegt werden, dass sie sich mittelfristig, also etwa innerhalb von fünf Jahren selbst finanziell tragen können.9 Ein realistischer Fundraising-Plan ist da mindestens ebenso wichtig wie ein inhaltlicher Projektplan. Und wir dürfen uns nichts vormachen: Einfach wird das nicht.

Die Freiburger Studie

Es wird sogar eher noch schwieriger. Das Forschungszentrum Generationenverträge an der Uni Freiburg hat im Auftrag der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz im Jahr 2019 eine Prognose angefertigt zur Entwicklung der Mitgliederzahlen und des Kirchensteueraufkommens für die nächsten vierzig Jahre. Diese sogenannte Freiburger Studie liefert niederschmetternde Ergebnisse. Bis 2060, so haben die Forschenden berechnet, wird sich die Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland um die Hälfte verringern. Und Anfang 2023 stellt der Bertelsmann-Religionsmonitor fest, dass die Mitgliederzahlen eher noch rascher abnehmen, als die Studie von 2019 prognostiziert. Das liegt nicht nur daran, dass die Mehrzahl der Kirchenmitglieder den älteren Generationen angehört, die bis dahin voraussichtlich gestorben sein werden. Es wird auch die Zahl der Austritte weiterhin die der Neuaufnahmen übersteigen, und nicht alle Eltern, die (noch) der Kirche angehören, lassen ihre Kinder taufen.

Das führt natürlich auch dazu, dass die Einnahmen aus der Kirchensteuer rapide zurückgehen. Den Kirchen wird im Jahr 2060 nur noch die Hälfte der benötigten Finanzen zur Verfügung stehen, wobei die anzunehmende Veränderung der Kaufkraft schon einberechnet ist.

Diese Entwicklung hat auch etwas mit der Lebenseinstellung, mit dem Mindset der postmodernen Gesellschaft zu tun. Betrachten wir das Phänomen Kirchensteuer einmal aus dieser Perspektive.

Lästiges Abonnement

Die Kirchensteuer ist ein Unikum. Und für viele ist sie ein Ärgernis. Unter den Gründen, die für einen Kirchenaustritt genannt werden, nimmt die Kirchensteuer einen prominenten Platz ein. Auch bei Menschen, die sich der Kirche verbunden fühlen, findet sie zunehmend weniger Akzeptanz. Lange Zeit wurde die Kirche als etwas betrachtet wie die Krankenkasse oder die Feuerwehr: Es ist gut, dass es sie gibt – aber hoffentlich brauche ich sie nie! Deswegen finanziert man sie, auch wenn man ihr Angebot nur äußerst selten in Anspruch nimmt. Dieses Bild ist im Schwinden. Aus »Nutzersicht« entspricht die Kirchensteuer heute eher einem Abo-Modell, für das man lebenslang zahlen muss, um im Lauf des Lebens ein paar Leistungen in Anspruch nehmen zu können.

Im Winter 2021 erschien auf dem Streaming-Portal Disney Plus die Dokumentation »Get Back« über die Arbeit der Beatles im Studio an ihrem Album »Let It Be« und das berühmte »Rooftop Concert«. Als eingefleischter Beatles-Fan musste ich diese achtstündige Doku natürlich sehen. Also löste ich ein Monatsabo für den Kanal und schaute den Beatles acht Stunden lang beim Komponieren, Musizieren, Blödeln und Streiten zu. Danach kündigte ich das Abonnement umgehend. Natürlich hätte ich mir noch Tausende anderer Filme anschauen können, etwa sämtliche Episoden von »Star Wars« und jede Menge Marvel-Actionfilme. Aber wollte ich das? Mich interessierte einzig und allein diese Dokumentation. Und ich hätte mich ganz schön geärgert, wenn ich allein für diese Doku, sagen wir mal, ein ganzes Jahr Disney Plus hätte abonnieren müssen – geschweige denn lebenslänglich! Ich hätte wohl seufzend und zähneknirschend darauf verzichtet, mit den Beatles im Studio zu sitzen.

Ähnlich ticken zunehmend mehr Menschen im Blick auf das Abo-Modell Kirchensteuer. Den stimmungsvollen Weihnachtsgottesdienst kann ich ja auch erleben, ohne Mitglied zu sein. Und für die Rituale an den Wendepunkten des Lebens werden zunehmend Alternativen angeboten, von freien Rednerinnen und Ritualgestaltern. Wozu also noch jeden Monat einer Institution ziemlich viel Geld überlassen, von der ich nichts mitbekomme außer Skandalmeldungen in den Nachrichten? Und damit auch noch Dinge finanzieren, die ich für überflüssig halte – je nach Geschmack könnte man Religionsunterricht oder Militärseelsorge nennen, die Pflege von Orgeln und Messgewändern, vielleicht auch »zu viel« Flüchtlings- oder Umweltarbeit oder aber ausufernde Bürokratie in aufwändigen Landeskirchenämtern. Wer keinen Sinn in diesen Aktivitäten und Institutionen erkennt, sieht bald auch keinen Grund mehr, sich ein paar hundert Euro jährlich dafür abbuchen zu lassen. Und wenn es gar nicht anders geht, trete ich eben vor der Trauung in die Kirche ein und gleich anschließend wieder aus.

In der postmodernen Gesellschaft, vor allem in den jungen Generationen Y und Z, steht langfristige Bindung nicht mehr hoch im Kurs. Arbeitsverhältnisse, Wohnorte, Mobilfunkverträge oder Mitgliedschaften im Fitnessstudio werden häufig gewechselt. Die lebenslange Bindung an eine bestimmte Organisation ergibt für junge – und nicht nur junge – Menschen keinen Sinn mehr (mehr dazu in Kapitel 7).

Dies alles zusammengenommen erhärtet die Diagnose, dass die Kirche in Deutschland in ihrer bisherigen Form an ein Ende gelangt. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob diese Perspektive den Verantwortlichen in den Großkirchen bewusst ist. Immer noch scheinen viele von ihnen daran zu glauben, dass sich die Krise mit herkömmlichen Mitteln bewältigen lässt. Die Lösung wird in der Subtraktion gesucht: hier eine Stelle streichen, dort eine Einrichtung schließen und da zwei oder drei Gemeinden oder Kirchenkreise zusammenlegen, um so ein paar Hunderttausend Euro im Jahr einzusparen. So lässt sich der gegenwärtige Betrieb auf Dauer aber nicht aufrechterhalten, die wenigen verbleibenden Hauptamtlichen werden reihenweise in den Burnout stürzen, wenn die Strukturen nicht grundlegend transformiert werden. Ausgebrannte Hauptamtliche und ein stark ausgedünnter Service lassen auch die Menschen im Regen stehen, die bisher treu zur Kirche gehalten haben.

Niedergang und Chance

Das alles hört sich möglicherweise sehr bedrohlich an. Und ja, für die bestehenden kirchlichen Strukturen wird es ungemütlich werden. Nicht nur die Zahl der Mitglieder, nicht nur die Kirchensteuereinnahmen, nicht nur die Menge der Ehrenamtlichen gehen zurück, auch die Planstellen für Pfarrerinnen und Pastoren werden sich um die Hälfte reduzieren. Trotzdem werden nicht Massen von arbeitslosen Theologen ihr Bürgergeld beantragen müssen. Denn die Zahl der jungen Menschen, die heute Theologie studieren, reicht nicht einmal aus, um die verbleibenden 50 Prozent der Stellen zu besetzen. Die Kirche, wie wir sie heute kennen, ist am Ende, so oder so.

Und das ist keine Katastrophe. Es ist sogar ein Grund zur Hoffnung.

Es ist ja nicht so, dass sich nur zwischen Kirchenmauern Christen fänden. Im Gegenteil, auch wenn es unwahrscheinlich klingt: Die spannendsten Aufbrüche und Neuansätze in der weiten christlichen Landschaft kommen oft ohne Kirchensteuermittel aus. Die interessantesten Pflänzchen wachsen irgendwo außerhalb der Mauern des Gartens Kirche und bekommen nichts ab aus der Gießkanne der kirchlichen Finanzen. Sie brauchen das auch nicht. Oft verstehen sie sich selbst nicht einmal als Kirche, und doch sind es nach meiner Überzeugung gerade diese Bewegungen, Initiativen oder unorganisierten Zusammenschlüsse, die einen Ausweg aus der Krise weisen, in der die Christenheit hierzulande steckt.

Karsamstag der Kirche

»Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht«, sagt der Herr der Kirche (Johannes 12,24). Wir könnten diesen Satz ja probehalber auf die Kirche anwenden. Dazu müssen wir uns erst einmal auf den Gedanken einlassen, die Kirche könnte tatsächlich sterben. Damit befinden wir uns im Gedankenspiel in der Situation des Karsamstags. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu hatten keine Ahnung, was nun geschehen würde, nachdem ihr Meister und Freund tot war. Vor allem hatten sie keinerlei Hoffnung. Und dann wurden sie vom Osterereignis überrumpelt, völlig überraschend.

Wenn eine Raupe ans Ende ihres Raupenlebens gekommen ist, spinnt sie sich in einen Kokon ein. Wir wissen natürlich: Sie wird zum Schmetterling. Nun ist es jedoch nicht so, dass der Raupe einfach Beine und Flügel wachsen, und schon ist sie verwandelt. Vielmehr löst sich ihre Gestalt im Kokon völlig auf und setzt sich ganz neu zusammen. Auch wenn der Rumpf des Schmetterlings Ähnlichkeit mit dem der Raupe aufweist, führt kein direkter Weg vom Kriech- zum Flatterwesen.

Ähnlich sehe ich den Vorgang, wenn die Kirche stirbt. Vielleicht verpuppt sie sich – doch was im Inneren der Puppe vorgeht, lässt sich nicht im Voraus planen. Die Gestalt löst sich auf, etwas völlig Neues, bislang vielleicht sogar Unvorstellbares wächst heran.

Alternativen

Trotzdem gibt es schon Ansätze des Neuen, erkennbare Anfänge eines Christentums von morgen. Darum geht es in diesem Buch. In diesem Kapitel bewege ich zunächst die Frage: Wie können sich Christen organisieren, wenn das System Kirchensteuer wegfällt und die Institution, die von der Kirchensteuer gelebt hat, stirbt? Die Antwort liegt auf der Hand: Die meisten Kirchen weltweit und auch die Freikirchen hierzulande leben ohne Kirchensteuer, und manche leben sehr gut. Vielleicht sogar besser als mit dem verkrusteten Steuersystem, von dem ich behaupte, dass es Transformation und Neuanfang eher verhindert.

Ich mache die Beobachtung, dass in (manchen) Freikirchen oder freikirchlichen Gemeinden viel modernere Formen gepflegt werden. Natürlich gibt es auch sehr konservative und regelrecht verkrustete Freikirchen. Aber wenn es irgendwo einen Kirchenraum gibt, in dem eine moderne Soundanlage und vielleicht sogar professionelles Bühnenlicht installiert sind und teilweise mehrere Bands die Gottesdienste musikalisch gestalten, dann ist das eine Freikirche, oft auch eine Neugründung. Als einzige Ausnahme können die etablierten Großkirchen vereinzelte Jugendkirchen vorweisen, die ähnlich ausgestattet sind. Das sind nur scheinbar Äußerlichkeiten. Es ist ein Hinweis auf eine innere Einstellung, eine einladende Haltung, von der sich so manche volkskirchliche Gemeinde eine gute Scheibe abschneiden könnte.

Selbst auf theologischem Gebiet scheint mir bei freikirchlichen Pastorinnen und Pastoren nicht selten mehr an moderner, postmoderner oder integraler Einstellung vorhanden zu sein als bei den meisten volkskirchlichen Kolleginnen und Kollegen. In den integral-christlichen Kreisen, soweit ich sie überblicke, sind beispielsweise Baptisten zu einem deutlich höheren Prozentsatz vertreten, als dem prozentualen Anteil von Baptisten an der Bevölkerung entspräche. Ich versuche, mir das so zu erklären, dass Freikirchen sich selbst finanzieren müssen, durch Beiträge und Spenden wie den »Zehnten«. Das Prinzip einer leistungsorientierten Vergütung liegt ihnen dadurch wesentlich näher als den abgesicherten Volkskirchen. Sie müssen sich mehr nach der Decke strecken und das heißt: mehr nach den tatsächlichen Wünschen und Bedürfnissen der Menschen fragen, die sie bezahlen. Da können dann auch leichter mal alte Zöpfe abgeschnitten werden.

Natürlich hat auch dieses System seine Schattenseiten. Finanzstarke Mitglieder, die große Beiträge zahlen, können inhaltlich Einfluss nehmen. Sie können ihre Spenden zurückhalten, wenn die Pastorin oder der Pastor etwas sagt oder tut, was ihnen missfällt. Dann gibt es mehrere Möglichkeiten: Der Pastor, die Pastorin fügt sich und ändert seine oder ihre Haltung, um die Finanzierung der Gemeinde (und das eigene Einkommen) nicht zu gefährden. Oder die Mehrheit der Gemeinde ermutigt und bestärkt ihre theologische Leitung in ihrer Haltung, dann muss die Finanzierung anders sichergestellt werden. Die dritte Möglichkeit: Der Pastor, die Pastorin verlässt die Gemeinde, manchmal gründet er oder sie mit einigen Mitgliedern, die mit ihnen austreten, eine neue Gemeinde. Gerade in den USA ist auf diese Weise eine Unzahl von Kirchen und Gemeinden entstanden, die teilweise sehr selbstständig und (finanziell wie religiös) autark sind.

In der transformierten Christenheit von morgen spielt dieses Problem allerdings keine große Rolle, weil es in ihr keine verbeamteten, fest angestellten Pfarrpersonen gibt (siehe nächstes Kapitel). Wer nicht aus dem Gemeindehaushalt finanziert wird, ist auch finanziell nicht erpressbar.

Es geht ja auch gar nicht darum, einfach die Freikirchen zu kopieren. Es geht darum, neue Formen für die alten Inhalte zu finden, neue Schläuche für den alten Wein, nachdem die alten Schläuche mürbe und rissig geworden sind. Experimente sind angesagt, und sie werden gewagt. Schon jetzt lässt sich ein buntes Sammelsurium von Bottom-up-Initiativen beobachten, Zusammenschlüsse von Menschen, bewegt von einem gemeinsamen Ziel oder einer geteilten Vision. Sie werden nicht »von oben« eingesetzt, per Synodenbeschluss oder auf Initiative der Diözese, sondern sie wachsen »von unten«. Statt der Großinstitution gibt es zunehmend kleine, unabhängige, unterschiedliche, teils miteinander vernetzte, teils ganz unabhängig agierende Zellen (siehe Kapitel 5). Die meisten dieser Zellen haben mit einer gängigen Ortskirchengemeinde nicht mehr viel Ähnlichkeit, weder in Bezug auf die Mitgliederstruktur noch auf das Profil ihrer Aktivitäten. Ortsfeste »Gemeinden« werden eher die Minderheit sein.

Ein Traum von Auferstehung

Trotzdem wird es auch mehr oder weniger stabile Zellen vor Ort geben, schon existierende Beispiele sind etwa die Polylux-Initiative in Neubrandenburg10 oder das Pixel-Sozialwerk in Erfurt11. Daneben möchte ich einen Traum stellen, wie eine solche Zelle aussehen könnte; ich habe ihn schon am Schluss meines Buches »Von der Anmut der Welt« skizziert. Es handelt sich um einen Traum, eine Vision, vielleicht aber sogar um ein Modell, wie ein auferstandenes Christentum (auch) aussehen könnte.

Ich stelle mir vor: Eine Gruppe von Menschen, die als Christen leben wollen, betreibt eine Einrichtung, die aus drei Teilen besteht. Das Zentrum ist ein offenes Ladencafé, im besten Fall so etwas wie ein Quartierswohnzimmer. Es wird professionell betrieben, das heißt, es gibt hervorragenden Kaffee und eine reiche Auswahl an Teesorten, kleine gesunde Snacks, Zeitungen und Magazine zum Lesen vor Ort, und es herrscht eine einladende, gemütliche Atmosphäre. Nebenan befindet sich ein Raum der Stille: schlicht eingerichtet, mit Teppichen ausgelegt; Meditationskissen, Schemel und einige Stühle sind darauf verteilt. Eine Kerze brennt, vielleicht gibt es eine Gebetswand, an die alle, die wollen, Zettel mit persönlichen Gebeten heften können. Der Raum ist interreligiös ausgestattet: Eine aufgeschlagene Bibel liegt vor einer Christusikone, eine Menora, der siebenarmige Leuchter der jüdischen Religion, steht neben einer Shiva-Statuette und einer Buddha-Figur; ein Gebetsteppich und eine Nische, die genau in Richtung Mekka weist, ein Traumfänger und eine Trommel gehören ebenfalls dazu – aber keine weiteren bildlichen Darstellungen etwa von biblischen Szenen. Dieser Raum ist untertags ständig zugänglich für alle, die einen Moment der Stille suchen, zu bestimmten Zeiten finden gemeinsame Gebete statt und regelmäßig werden Meditationskurse oder angeleitete Zeiten der Stille angeboten.

Und schließlich, als drittes Element, gibt es eine niederschwellige Beratungsstelle: einen Ort, den jedermann und jedefrau ohne Terminvereinbarung und ohne Anmeldung betreten kann. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die Hereinkommenden empfangen, sind exzellent ausgebildet in psychologischer Gesprächsführung und wissen Bescheid über alle möglichen Hilfs- und Unterstützungsangebote in der Stadt. Sie hören zu, halten aus, spenden Trost, suchen gemeinsam mit den Ratsuchenden nach Lösungen, können Hilfen vermitteln und an die jeweils geeignete Einrichtung oder Fachstelle weiterverweisen – ganz so, wie es in den Einrichtungen der Offenen Tür geschieht, von denen es im deutschsprachigen Raum etwa zwanzig bereits gibt.12

Das sind natürlich alles nicht meine eigenen Ideen. Die Beratungsstelle, die mir vorschwebt, ist nach der Münchner Insel gezeichnet, in der ich selbst 15 Jahre lang in der Krisen- und Lebensberatung tätig sein durfte. Die Kombination aus Krisenberatung und interreligiös ausgestattetem Raum der Stille gibt es etwa in der Bahnhofkirche Zürich, ähnlich im ka:punkt in Hannover. Ein Ensemble aus Kapelle und Café plus Beratungsmöglichkeit, getragen von einer ökumenischen Hausgemeinschaft, habe ich im Ökumenischen Forum HafenCity in Hamburg gefunden; auf einen offenen, mit Teppichen ausgelegten Kirchenraum, der zu Stille und Meditation einlädt, bin ich in Berlin-Neukölln in der Genezarethkirche gestoßen.

Und wie soll das Ganze finanziert werden? Mir schwebt eine Trägergruppe vor, eine Gemeinschaft von Menschen, die sich diese Arbeit zur Aufgabe gemacht haben, die also auf diese Weise ihr Christsein in der Gesellschaft leben wollen und dafür auch per Dauerauftrag regelmäßig spenden oder Beiträge zahlen. Aber natürlich kann eine solche Gemeinschaft, die vielleicht zwei oder drei Dutzend Menschen umfasst, eine solche Einrichtung nicht allein finanziell stemmen. Das muss sie auch nicht. Wer sich einmal von der Logik der Finanzierung durch die Kirchensteuer verabschiedet hat, dem fallen unterschiedlichste Möglichkeiten ein.

Das Café etwa ist ein professioneller Wirtschaftsbetrieb und trägt sich selbst. Für die Beratungsstelle kann ich mir ein Modell vorstellen, das unter anderem vom Beratungs- und Seelsorgezentrum St. Petri in Hamburg oder der Elthetokerk in Amsterdam-Ost inspiriert ist: Ein- bis zweimal im Jahr bietet die Einrichtung Kurse in Gesprächsführung an, die für alle interessierten Menschen offen sind und in denen die Grundlagen eines helfenden Gesprächs vermittelt werden. Wer danach Lust hat, dranzubleiben und das Gelernte anzuwenden, kann weitere Aufbaukurse belegen, bis er oder sie in der Beratungsstelle mitarbeiten kann. Die Kurse werden kostenlos oder gegen eine geringe Schutzgebühr angeboten, im Gegenzug verpflichten sich die Absolventen, zwei Jahre unentgeltlich in der Beratungsstelle mitzuarbeiten. Geleitet wird die Ausbildung von Mitgliedern der Trägergruppe, die entweder selbst ehrenamtlich arbeiten oder in Teilzeit von der Gruppe angestellt werden. Nachdem eine solche Beratungseinrichtung relevant für den Sozialraum ist, kommt eine Refinanzierung dieser Stellen durch die Kommune infrage. Auch die Miete für die Beratungsräume könnte auf diese Weise ganz oder teilweise refinanziert werden. Lediglich die Kosten für den Raum der Stille und das, was darin stattfindet, müsste die Gemeinschaft in diesem Fall selbst tragen. Daneben können Mäzene, Großspenderinnen und Sponsoren gesucht, Stiftungsanträge gestellt, Charity-Aktionen oder Spendenmarathons veranstaltet, EU-Fördergelder beantragt werden – eben das ganze moderne Fundraising-Repertoire.13

Während das System Kirchensteuer also dazu verleitet, allzu sehr das Bestehende zu pflegen und zu bewahren und dafür den Großteil der verfügbaren Ressourcen einzusetzen, kann der freiwillige oder erzwungene Verzicht auf wie selbstverständlich fließende Finanzmittel ganz neue, vielfältige und kreative Ideen freisetzen, die im alimentierten System zwar möglich sind, aber kaum realisiert werden – weil sie schlicht nicht notwendig sind.

2. Das Christentum von morgen hat kein verbeamtetes Personal

»Der Beamtenstatus der Pfarrer ist der Tod der Kirche.« Diesen Satz habe ich vor einem Vierteljahrhundert geschrieben, in einem Papier, in dem ich eine »Spirituelle Akademie« als Alternative zur Ortsgemeinde skizziert habe. Drei Jahre nach dieser kernigen Aussage zog ich persönlich die Konsequenz und ließ mich beurlauben. Für sieben Jahre ließ ich mein aktives Dienstverhältnis als Pfarrer ruhen und verdiente meinen Lebensunterhalt in der freien Wirtschaft. Als ich nach sieben Jahren dann doch wieder in den kirchlichen Dienst zurückkehrte, arbeitete ich nicht mehr in einer Kirchengemeinde, sondern in der Münchner Insel, einer niederschwelligen Krisen- und Lebensberatungsstelle.

Heute würde ich meine Kritik am verbeamteten Pfarrertum vielleicht nicht mehr ganz so bilderstürmerisch radikal ausdrücken. Nach wie vor meine ich aber, dass das überkommene Rollenverständnis von Pfarrerinnen und Pfarrern, ihre Stellung innerhalb der Gemeinde und die Rollenerwartungen, die Gemeindemitglieder an sie haben, dem Lebensgefühl einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit nicht mehr angemessen sind und darum die notwendige, grundlegende Transformation der Kirche verhindern.

Die Pfarrperson als Flaschenhals

Was ich meine, macht schon die Berufsbezeichnung »Pfarrer« deutlich. Das Wort leitet sich ab von »Pfarr-Herr«. Der Pfarrer ist Herr über die Parochie, die Ortsgemeinde. Auch die in Norddeutschland eher übliche Bezeichnung »Pastor« trägt ein ähnliches Bild mit sich. »Pastor« heißt auf Deutsch »Hirte«, die Gemeindeglieder sind also die Schafe, die vom Hirten geführt und geleitet werden müssen.

In einer Gesellschaft, die eher autoritätsfixiert und hierarchisch organisiert ist, mögen solche Rollenzuschreibungen und Leitungsmodelle funktionieren. Aber in einer pluralen, demokratischen Gesellschaftsordnung, die dem Individuum die Deutungshoheit über das eigene Leben zuerkennt und in der jeder Mensch ein Recht auf seine je eigene Lebensgestaltung in Anspruch nehmen kann, wirken sie wie aus der Zeit gefallen. Und sie führen in die Dysfunktionalität der Institution. Heinzpeter Hempelmann beschreibt es so: »Mittelpunkt kirchlichen Lebens ist das Pfarramt, sprich das Gemeindepfarramt. Konsequenz: der eine Geistliche wird zum Bottleneck [Flaschenhals, Anm. d. Verf.], der über Wohl und Wehe einer Gemeinde entscheidet.«1 Was dem Pfarrer oder der Pfarrerin nicht passt, wozu er oder sie keine Begabung oder auch keine Lust hat, worin er oder sie keinen Sinn sieht, was also nicht durch den Flaschenhals passt, das findet nicht statt. In wie vielen Gemeinden fällt ein vormals buntes und vielfältiges Gemeindeleben in sich zusammen, wenn ein neuer Pfarrer, eine neue Pfarrerin kommt! Und umgekehrt: Eine neue Pfarrerin, ein neuer Pfarrer kann eine dreivierteltot vor sich hinvegetierende Gemeinde schlagartig zu neuem Leben erwecken – solange und soweit ihre Lust und Tatkraft eben reichen.

Lust und Tatkraft sind meist die entscheidenden Faktoren, wichtiger noch als Ausbildung und theologische Ausrichtung. Denn der konkrete Arbeitsalltag von Pfarrerinnen und Pfarrern hat oft recht wenig zu tun mit dem, wofür sie ausgebildet sind. Sie haben Theologie studiert, sind für wissenschaftliches Arbeiten qualifiziert. Was aber im Gemeindealltag von ihnen erwartet und gefordert wird, ist oft etwas ganz anderes. Zeremonienmeisterin bei Familienfeiern sollen sie sein, allerhand Lustbarkeiten wie Gemeindefeste oder Flohmärkte müssen sie organisieren, dazu (in etlichen Landeskirchen) Religionsunterricht an öffentlichen Schulen erteilen, einen oft umfangreichen Finanzhaushalt aufstellen und kontrollieren, nicht selten sind sie Bauherr bei Um- und Neubauten, häufig haben sie Mitarbeitende zu führen und obendrein noch den Friedhof zu verwalten. Zu dem, wozu sie als Seelsorger oder »Geistliche« eigentlich berufen sind, kommen sie viel zu wenig: nämlich Menschen zu begleiten auf ihrem Lebensweg, sie bei ihrer spirituellen Suche zu unterstützen und in den Krisenzeiten des Lebens für sie da zu sein. Und oftmals sind sie ja auch dafür nicht oder nur höchst unzureichend ausgebildet. Zu meiner Zeit gehörte zur praktischen Ausbildung ein dreiwöchiger (!) Seelsorgekurs – ein Nichts im Vergleich zu meiner wissenschaftlich-theologischen Ausbildung, die volle sechs Jahre dauerte. Und so etwas wie spirituelle Praxis kam im Vorlesungsverzeichnis überhaupt nicht vor.

Ein weiteres Problem mit dem Beruf der Pfarrerin, des Pfarrers: Er gehört zu den wirklich gut bezahlten und bestens abgesicherten Professionen. Die Besoldung ist der der staatlichen Beamten gleichgestellt, und dabei reden wir nicht vom Mittleren Dienst. Die sogenannte Beihilfe macht den Zugang zur Privaten Krankenversicherung leicht, und die Pensionszahlungen liegen deutlich über der durchschnittlichen Rente. Das macht es für die verbeamteten Pfarrpersonen nicht einfacher, sich in die Lebensweise, in die Sorgen und Nöte eines gering verdienenden oder gar eines armen Menschen hineinzuversetzen. Mir selbst wurde das erst so richtig bewusst, als ich während meiner siebenjährigen Beurlaubung die Erfahrung machte, wie es ist, wenn der Geldautomat am 25. des Monats kein Geld mehr ausgibt, weil das Konto hoffnungslos überzogen ist. Mühsam musste ich lernen, was für viele Menschen auch in unserem reichen Land alltägliche Realität ist: sich zu überlegen, was man sich leisten kann, die Preise im Supermarkt zu vergleichen und die billigste Milch zu kaufen. Und drei Jahre lang keine Urlaubsreise machen zu können – wobei mir klar ist, dass eine Urlaubsreise für viele Menschen ohnehin überhaupt nie infrage kommt. Pfarrpersonen leben sehr bequem in einer Wohlstandsblase, man kann es nicht anders sagen. Hinzu kommt: Sie stammen meist aus einem gehobenen, vergleichsweise wohlhabenden, aber postmateriellen Milieu, haben eine akademische Ausbildung genossen, verstehen etwas von klassischer Musik und lesen das Feuilleton in DIE ZEIT. Erst vor Kurzem habe ich aus dem Mund einer Kollegin, als es um Musikstile in der Kirche ging, den Satz gehört: »Na, Bach geht doch immer. Bach mögen alle.« Ja, vielleicht alle, die noch in die Kirche kommen, und selbst da bin ich mir nicht so sicher. Mit der Alltagsrealität sehr vieler Menschen hat das Leben der Pfarrer und Pfarrerinnen wenig bis gar nichts zu tun. Kein Wunder, dass die Gottesdienste schwach besucht und Gemeindehäuser leer sind; wir sprechen ja nicht mal die Sprache eines Großteils der Bevölkerung, wir verstehen ihre Kultur nicht, verachten sie eher. Oder ist ein Pastor vorstellbar, der für Helene Fischer schwärmt, und eine Pastorin, die alle CDs von Beyoncé und Rihanna im Regal hat? Dann doch eher Schostakowitsch.

Und trotzdem geht in der Gemeinde an der Pfarrerin, am Pfarrer kein Weg vorbei. Das Bild vom Flaschenhals finde ich sehr zutreffend, drastischer noch spricht Michael Herbst von der »pastoralen Gefangenschaft der Kirche«.2 Was aber wäre die Alternative?

Die Fülle der Gaben