Kirche ohne Moral? - Prof. Dr. Peter Schallenberg - E-Book

Kirche ohne Moral? E-Book

Prof. Dr. Peter Schallenberg

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Beschreibung

Was kann Kirche noch sein? Die katholische Kirche hat angesichts des Missbrauchsskandals ihre moralische Glaubwürdigkeit eingebüßt. Doch schon viel länger verlieren Religion und Glaube in unserer Gesellschaft an Bedeutung. In einer Zeit materiellen Wohlstands ist der Mensch schwer zu erreichen. Die Kirche ist nur eines von vielen Angeboten der Sinngebung. Was aber wären wir ohne die Kirche? Geraten nicht ohne sie moralische Grundwerte unseres Lebens in Vergessenheit? Was kann sie trotz allem dem Menschen heute bieten? Peter Schallenberg hinterfragt eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche: Welchen Werten will sie künftig Ausdruck verleihen? Kenntnisreich und offen erklärt er, was die Kirche dem Menschen bieten kann, und worauf es beim Glauben an Christus wirklich ankommt.

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Peter Schallenberg

Kirche ohne Moral?

Was die Kirche trotzdem zu bieten hat

Peter Schallenberg

KIRCHEOHNEMORAL?

Was die Kirche trotzdem zu bieten hat

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Klimaneutrale Produktion.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier.

© 2023 Bonifatius GmbH Druck | Buch | Verlag, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden, denn es ist urheberrechtlich geschützt.

Bibelzitate wurden, wenn nicht anderweitig gekennzeichnet, folgender Bibelausgabe entnommen:

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe © 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart.

Umschlaggestaltung: Melanie Schmidt, Bonifatius GmbH

Umschlagabbbildung: AdobeStock

Satz: Bonifatius GmbH, Paderborn

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

eISBN 978-3-98790-909-2

Weitere Informationen zum Verlag:

www.bonifatius-verlag.de

INHALT

1. Was die Kirche nicht ist: Moralanstalt

2. Was das Paradies bedeutet: Urvertrauen zum Leben

3. Was der Staat sein soll: Ordnung im Chaos

4. Was die Kirche sein kann: Raum der Liebe Gottes

5. Was die Ewigkeit sein wird: Genuss ohne Reue

6. Was heute zu tun ist: Der erste Schritt zum Frieden – nicht zum Friedhof!

Literatur

1. WAS DIE KIRCHE NICHT IST: MORALANSTALT

Der Titel des Buches könnte Bitterkeit und Spott hervorrufen: Ist nicht allen seit Jahren deutlich, dass die Kirche längst ohne Moral lebt, bestenfalls eingerichtet in einer zweckdienlichen Doppelmoral? Haben nicht seit 2010 die Fälle von sexuellem Missbrauch im Raum der Kirche überdeutlich gezeigt, dass die Kirche jede moralische Glaubwürdigkeit verloren hat? Und zeigen nicht weiterhin die erschreckend hohen Austrittszahlen aus beiden christlichen Kirchen, dass sehr viele Menschen jedes Vertrauen in die Kirchen verloren haben?

Das alles soll in diesem Buch weder geleugnet noch widerlegt werden. Es soll vielmehr einmal um einen anderen Blick auf die Kirche, hier speziell die katholische Kirche, gehen: Was würde fehlen ohne die Kirche? Was bedeutet die Kirche eigentlich? Was will sie überbringen und was ist das Ziel der Kirche? Und nicht zuletzt: Gibt es moralische Grundwerte des menschlichen Lebens, die ohne die Kirche in Vergessenheit gerieten? Grundwerte, die zu tun haben mit Paradies und Staat und Ewigkeit? Grundwerte, die uns Menschen daran erinnern, dass wir keinesfalls einfach nur einigermaßen erzogene und in Menschenkleider gestopfte Menschenaffen sind, wie das der schwäbische Schriftsteller Wilhelm Hauff (1802–1827) in seinem sehr amüsanten Märchen „Der Affe als Mensch“ anschaulich ins Bild bringt:

„Wer beschreibt das Erstaunen der Grünwieseler, als sie dies hörten! ‚Was, ein Affe? ein Orang-Utan in unserer Gesellschaft? Der junge Fremde ein ganz gewöhnlicher Affe?‘ riefen sie, und sahen einander ganz dumm vor Verwunderung an. Man wollte nicht glauben, man traute seinen Ohren nicht, die Männer untersuchten das Tier genauer, aber es war und blieb ein ganz natürlicher Affe. ‚Aber wie ist dies möglich!‘ rief die Frau Bürgermeisterin, ‚hat er mir nicht oft seine Gedichte vorgelesen? Hat er nicht, wie ein anderer Mensch, bei mir zu Mittag gespeist?‘ / ‚Was?‘ eiferte die Frau Doktorin; ‚wie? Hat er nicht oft und viel den Kaffee bei mir getrunken, und mit meinem Mann gelehrt gesprochen und geraucht?‘ / ‚Wie! Ist es möglich!‘ riefen die Männer, ‚hat er nicht mit uns am Felsenkeller Kugeln geschoben und über Politik gestritten, wie unsereiner?‘ / ‚Und wie?‘ klagten sie alle, ‚hat er nicht sogar vorgetanzt auf unsern Bällen? Ein Affe! Ein Affe? Es ist ein Wunder, es ist Zauberei!‘“ (W. Hauff, Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 2, München 1970, 167f.)

Ebenso groß und gerechtfertigt wäre die Verwunderung der Grünwieseler Stadtgemeinschaft wohl, wenn sie Menschen begegneten, die sich einfach nur wie Rührei in der Pfanne empfinden würden. Sollten wir uns nicht viel eher wie Menschen empfinden, die durch die Rede von Gott und über Gott auf die Idee kommen könnten, sich als Ebenbilder eines solchen guten Gottes zu betrachten? Um solche fundamentalen Grundwerte von Menschen soll es gehen: Grundwerte, die durch die Kirche lebendig erhalten werden sollen.

Werte sind ganz wörtlich genommen persönliche Bewertungen von Fakten, also von vorgegebenen Tatsachen, zum Beispiel von Ehe oder Familie oder Demokratie oder Rechtsstaat. Gemeinschaftliche Grundwerte sind gemeinsame Bewertungen von Fakten aus der Sicht höchst unterschiedlicher Menschen. Wenn wir von moralischen Grundwerten sprechen, dann ist damit gemeint: Vorgegebene Gewohnheiten, also Moralitäten – vom lateinischen Wort mos für Gewohnheit oder Sitte herkommend – werden von unterschiedlichen Menschen gemeinsam bejaht und als verpflichtend für ein Zusammenleben bewertet. Moralische Grundwerte zeichnen sich gegenüber naturwissenschaftlichen Tatsachen dadurch aus, dass sie nicht feststehen, unabhängig vom Betrachter oder Bewerter, sondern eben abhängig sind vom bewertenden Betrachter. Ob jemand das Gesetz der Schwerkraft als wichtig oder unwichtig bewertet, spielt keine Rolle für die Gültigkeit dieses Naturgesetzes: Es gilt, auch wenn kein Mensch auf dieser Welt es als wichtig bewerten würde. Hier, im Raum der Naturwissenschaft, sprechen wir nicht von Werten, sondern von Fakten. Anders im Raum der Ethik: Hier sprechen wir ausdrücklich von Bewertungen, die erst aus vergebenen Gewohnheiten eine bestimmte Moralität entstehen lassen. Dies muss übrigens noch nicht in bestimmter Weise mit einem Inhalt einhergehen; gemeint ist mit Ethik zunächst nur eine Form des Nachdenkens über Gewohnheiten. Ist es also beispielsweise gut und richtig, Kriegsgefangene zu töten, oder wäre es besser, sie am Leben zu lassen, da sie im Unterschied zu Sachgegenständen (oder Sachgütern) einen eigenen Wert, unabhängig von der Bewertung des benutzenden Betrachters besitzen, der Würde genannt wird und sich als Person verkörpert? Und dies im Unterschied eben zum Tisch oder Schrank, dem allenfalls eine bestimmte Würde, weit über dem Gebrauchswert liegend, zukäme, weil er ein altes Erbstück der Großeltern ist. Moralische Grundwerte entstehen aus dem Bewusstsein gemeinsamer vorgegebener Traditionen und der damit einhergehenden Frage: Wie ist ein gutes und sogar besseres Leben von Menschen möglich? Helfen gemeinsame grundlegende Bewertungen von Gewohnheiten des Lebens bei der Bewältigung des menschlichen Lebens? Solche Fragen der Ethik können dann auch noch schärfer aus Sicht der theologischen Ethik formuliert werden: Welche Grundwerte verbinden wir mit Gott? Darauf antwortet aus katholischer Sicht die Kirche mit der Heiligen Schrift und der Tradition, vor allem mit den Sakramenten der geschenkten Liebe Gottes. Liebe ist bei Licht besehen der einzige große Grundwert, der von der Kirche verkündet werden soll. Liebe aber nicht verstanden als Lob eines Verhaltens, sondern als unbedingtes Ja zur Existenz und zur Person. Wie wird dieser Grundwert von der Kirche gelebt und verkündet? Ist die Kirche moralische Anstalt? Und kann die Kirche in modernisierter Gestalt einfach ein moralisches Vorbild sein? Diese Fragen stellen sich in der Moderne und in der westlichen Welt vermutlich sehr viel verschärfter, als je zuvor in der Geschichte des Christentums. Allerdings sind die Antworten auf diese Fragen sehr komplex und insgesamt die Diskussion um diese Fragen aus meiner Sicht zum Teil geradezu gespenstisch.

Ein Gespenst geht um in der katholischen Kirche, spätestens seit dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils, also seit 1965. Im deutschsprachigen Raum und seit der Würzburger Synode (1971–1975) ist dieses Gespenst besonders sichtbar und lebendig: das Gespenst der Strukturreformen, oder auch: der äußeren Reformen. Dazu zähle ich die seit Jahrzehnten immer wieder heiß und heftig diskutierten Themen der Abschaffung oder Beibehaltung des fälschlich so bezeichneten „Pflichtzölibates“, der ja bei genauem Hinsehen so wenig wie die sakramentale und lebenslang gültige Ehe als Pflicht von der Kirche auferlegt, sondern freiwillig aus Liebe zu Christus und seiner sichtbaren Kirche versprochen wird. Zu solchen äußeren Reformen zähle ich auch die diskutierte Zulassung von Frauen zur Priesterweihe, die offizielle liturgische Segnung von homosexuellen Partnerschaften oder eine ökumenische Feier des Abendmahles.

Nicht, dass ich falsch verstanden werde: Über alle diese Themen und überhaupt über alle Themen außerhalb der exakten Naturwissenschaften und der präzisen Mathematik, außerhalb also, zugespitzt gesagt, des im Bannkreis der Erdschwerkraft ewig gültigen Gesetzes vom freien Fall, kann und soll man diskutieren und unterschiedlicher Meinung sein. Der Mensch lebt als Bürger zweier Welten: Er lebt in der Welt von theoretischer Vernunft der Physik und der Technik einerseits und der praktischen Vernunft der Metaphysik und der Ethik andererseits. Theorie und Praxis sind hier etwas anders verstanden als im normalen Sprachgebrauch: Theorie meint den Raum der bloßen Herstellung eines vor Augen stehenden Zieles, zum Beispiel die Herstellung eines Stuhles, der im Verstand des Stuhlmachers als Idee schon vorhanden ist, und nun mit Hilfe der Technik konkret hergestellt wird. Gleiches gilt für die Herstellung vieler anderer Dinge, harmloser und weniger harmloser: Ein Messer, eine Landmine, ein Panzer. Oder auch Giftgas, agent orange etwa, zunächst zur Vernichtung von Schädlingen in der Landwirtschaft, später im Vietnamkrieg zur Vernichtung von Menschen hergestellt. Alle diese Beispiele zeigen: Die Technik beantwortet nur die Frage nach dem „Was“, nicht die Fragen nach dem „Warum“. Anders gesagt: Wer ein Messer oder einen Panzer herstellt, korrekt und ohne technische Fehler, der handelt noch nicht moralisch, er handelt nur technisch, und antwortet auf die Frage „Was stellst du da her?“ korrekterweise: „Einen Panzer“. Er muss noch nicht antworten auf die Frage „Warum stellst du den Panzer her?“. Oder vielmehr: Erst als Bürger in der zweiten Welt, in der moralischen Welt der Praxis, ist der Mensch konfrontiert mit der Frage nach dem „Warum“, nach dem Ziel und der grundlegenden Idee, der Logik seines Menschseins und seines Lebens. Das deutsche Wort „Praxis“ kommt von einem altgriechischen Verb, das „ausdrücken, Ausdruck verleihen“ bedeutet. Dahinter steht die über 2000 Jahre alte Überzeugung: Der Mensch stellt nicht nur wie das Eichhörnchen im Herbst einen für den Winter ausreichenden Vorrat an Nüssen her, sondern er fragt zugleich: Warum mache ich das? Was ist das Ziel dieses herstellenden Handelns? Der Mensch kann fragen: Was will ich herstellen? Und darüber hinaus – oder besser: sofort danach – kann er fragen: Was will ich mit meinem Handeln und in meinem Leben zum Ausdruck bringen? Wiederum konkret im Beispiel: Der Herstellung des Panzers folgt auf dem Fuß die moralische Frage: Was ist das Ziel und der Sinn des Panzers? Die wahllose Vernichtung von Menschen im Angriff oder die Abschreckung und die Selbstverteidigung gegen einen ungerechten Angriff? Und, nochmals anders gewendet, fragt der Mensch zum Beispiel nicht einfach „Was stelle ich mit meinem Ja-Wort in der Ehe oder in der Freundschaft her?“ (Antwort: Sicherheit und Familie), sondern darüber hinaus: „Was möchte ich mit einem solchen Ja-Wort zum Ausdruck bringen?“ (Antwort: Liebe und Treue).

Der Mensch ist nicht nur das technisch hoch entwickelte Tier; er ist zugleich der Mensch der Frage nach dem Sinn der Technik, und damit ist er ein Mensch der Moral. Ein Mensch der beständigen Frage nach dem Ziel von Technik und Gegenständen, zuletzt: nach dem Sinn des Lebens überhaupt. Ein Mensch mithin, der sich nicht einfach begnügt mit der Rückfrage „Ist der Panzer (das Messer, das Giftgas) technisch korrekt hergestellt?“, sondern der darüber hinaus fragt: „Ist es gut, dass der Panzer (das Messer, das Giftgas) hergestellt wird?“ Denn: Gut und richtig sind keinesfalls identische Begriffe, austauschbar und dasselbe meinend. Richtig (und falsch) sind die beiden grundlegenden Kategorien und Unterscheidungen der Technik; gut (und böse) dagegen sind die Kategorien der Moral. Und erst, wenn der Mensch sich und anderen die Frage nach dem Guten, das er in seinem Handeln und Leben zum Ausdruck bringen will, stellt, wird er ganz zum Menschen und überschreitet die Welt der Technik. Früher sprach man von Tugenden, inneren Haltungen und Werten und Grundüberzeugungen also, die in äußeren Handlungen zum Ausdruck kommen. Ein tugendhaftes Leben ist also keineswegs ein miesepetriges oder sauertöpfisches und an der Freude haarscharf vorbeigehendes verkniffenes Leben, sondern ein Leben, das mehr im Sinn hat, als nur die Herstellung technisch korrekter Dinge, so wichtig die auch sein mögen, um von A nach B zu kommen. Die Frage ist nur: Warum will oder soll ich von A nach B kommen, was ist also das Ziel – und insbesondere das letzte Ziel, das hinter allen technischen Mühen und Arbeiten liegt?

Die christliche Theologie sagt dazu nicht einfach und ohne weitere Umschweife: Gott ist das letzte Ziel des Menschen, sondern zuerst und mit Umschweifen: Stell dir vor, es gäbe jemanden, der sich so sehr für dich interessiert, dass er dir beständig die Frage stellt: Wozu das Ganze? Wozu das Leben? Warum die Mühe des Überlebens mit Hilfe höchst ausgefeilter Technik? Das Hamsterrad des alltäglichen Lebens ist nämlich nur erträglich (und ertragreich), wenn man weiß, was vor dem Hamsterrad war, wer das Hamsterrad zu verantworten hat und was nach (oder hinter) dem Hamsterrad kommt. Nach und hinter heißt übrigens in altgriechischer Sprache der Philosophen vor 2500 Jahren metá. Und daher kommt das theologisch wichtige Wort „Metaphysik“, was soviel bedeutet wie „nach der Physik“, oder auch „hinter der Physik“. Wir würden das heute Sinn nennen: Gibt es einen Sinn hinter allem und was könnte das für ein Sinn sein? Gibt es einen Wert des Lebens und welche Werte will ich mit meinem Handeln befördern und ausdrücken? Diese Frage stellt sich natürlich in einer postmodernen und vom Wohlstand überaus verwöhnten Welt des Westens ganz anders als etwa in Afrika oder in Indien oder auch in der Welt der griechischen Philosophen.

Noch einmal von vorn und mit Blick auf die Kirche als Raum der Frage nach Gott: Erst kommt die Physik und dann die Metaphysik, erst die harten Fakten und dann die Deutung der Fakten, erst das Leben und dann die Frage nach dem Sinn (oder Unsinn) des Lebens. Und daher kann man außerhalb der Physik und Mathematik und im Raum der Metaphysik und der Ethik, und auch der Religion, über alles diskutieren und verschiedener Meinung sein. Freilich gehört es zur Tradition des Christentums, grundsätzlich von der jüdischen und dann der apostolischen Tradition auszugehen, sich dort zu verankern und dann weiterzudenken, also nicht, wie gewisse amerikanische Sektengründer, beim Punkt Null anzufangen, sondern im Einklang mit der lang dauernden eigenen Tradition zu denken und zu fragen. Anders gesagt: nicht bloß im Austausch und Dialog mit der lebenden, sondern ebenso mit der schon verstorbenen Tradition zu stehen.

Misstrauisch und auch etwas aufmüpfig werde ich oft, wenn es bisweilen und inzwischen recht oft heißt, solche Reformen und Neuerungen und Veränderungen, kurz: Modernisierungen, der römisch-katholischen Tradition seien geeignet, der im postmodernen Westen im Sinkflug befindlichen Kirche neues Leben einzuhauchen, sie attraktiv und modern oder sogar sexy zu machen, ihr den Weg in die scheinbare Sekte zu ersparen. Oder wenn die moralische Karte gespielt wird und es heißt, die Kirche müsse ihre moralische Glaubwürdigkeit wiedergewinnen oder wieder neu zum moralischen Vorbild werden. Dahinter steht immer die fast verzweifelte Angst vor der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit, vor der quantitativen Verzwergung, jedenfalls in diesem Westen. Das Wort Sekte ist dabei, nebenbei bemerkt,