Kirche, Schuld und Synodaler Weg - David Ranan - E-Book

Kirche, Schuld und Synodaler Weg E-Book

David Ranan

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Beschreibung

Die allgemeine Wut über die Vertuschung des sexuellen Missbrauchs hat den lang existierenden Reformforderungen innerhalb der Kirche Auftrieb gegeben. Jetzt scheint alles auf dem Tisch des Synodalen Wegs zu liegen: Anerkennung der Homo-Ehe, priesterlicher Zölibat, Frauen in der Hierarchie – doch ist das Ganze mehr als ein aussichtsloses Unterfangen? In den letzten 60 Jahren hat die Katholische Kirche drei wichtige Versuche unternommen, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen – bei Galilei, der Judenverfolgung und dem tausendfachen sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener. Doch all diese Fälle lassen zweifeln: Ist die Kirche überhaupt fähig, Verantwortung für ihre Taten und ihr Versagen zu übernehmen? Die wohl älteste Institution der Welt hat ihre Langlebigkeit nicht durch Zaghaftigkeit erreicht, ist eher unnachgiebig als flexibel gewesen. Anhand der drei genannten Fälle legt der streitbare Sozialwissenschaftler David Ranan dar, wieso die Erfolgschancen einer Läuterung gering sind.

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Seitenzahl: 150

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FÜR ALLE MEINE KATHOLISCHEN FREUNDE, DIE SICH MIT EINER SO TIEFGREIFENDEN ENTTÄUSCHUNG IN IHRER KIRCHE AUSEINANDERSETZEN

DAVID RANAN

KIRCHE, SCHULD UND SYNODALER WEG

WAS GALILEO, DIE JUDENVERFOLGUNG UND DEN MISSBRAUCHSSKANDAL VERBINDET

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-0652-9 [Printausgabe]

ISBN 978-3-8012-7051-3 [E-Book]

Copyright © 2023 by

Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Hermann Brandner, Köln

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2023

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

INHALT

EINLEITUNG

DREI HISTORISCHE ANLÄUFE, KEIN MEA CULPA

DER FALL GALILEO UND SEIN KONTEXT

WISSENSCHAFT UND LEHRE – EINE FALLSTUDIE

DIE KIRCHE UND JUDEN

CHRISTLICHER ANTIJUDAISMUS – DIE GESCHICHTE

HOLOCAUST – DIE KIRCHE UND DIE TÄTER

DIE ERKLÄRUNG »NOSTRA AETATE«

WEITERE ERKLÄRUNGEN – NATIONALE KONFERENZEN

»WIR ERINNERN«

SEXUELLE GEWALT

SYSTEMATISCHER MISSBRAUCH

DAS SYSTEM HINTER DEM MISSBRAUCH

JURISTISCHES GERANGEL

REAKTION DER US-BISCHOFSKONFERENZ

REAKTION DES VATIKANS

MEA CULPA?

UND WIE SOLL ES WEITER GEHEN?

KONKLUSION

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

EINLEITUNG

Die Katholische Kirche ist in Aufruhr, vor allem wegen der verheerenden Berichte über sexuellen Missbrauch durch katholische Geistliche, wie sie seit vielen Jahrzehnten an die Öffentlichkeit gelangen, und, noch mehr, wegen der ungeheuerlichen Vertuschungen durch die Kirchenhierarchie.

In diesem Buch werden drei kirchliche Exkulpationsversuche beschrieben. Die Sachverhalte, um die es jeweils geht, sind sehr verschieden. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass die Katholische Kirche ihre Schuld nicht anerkennt und ihre Verantwortung abstreitet.

Die schiere Flut an Missbrauchsfällen und die oft kriminellen Verschleierungstaktiken haben eine große Desillusionierung bei den Gläubigen weltweit zur Folge gehabt und zu einer nie gekannten Zahl von Kirchenaustritten geführt. Auch in Deutschland verlassen Katholiken ihre Kirche in Scharen, und viele von denen, die nicht austreten, drängen auf Veränderung.

Die kaum mehr zu verhehlende Angst innerhalb der Kirche ist: Ohne solche grundlegenden Veränderungen – zumindest in Deutschland – wird sie bald nur noch einen kleinen Rest an Mitgliedern haben. Auslöser dieser Entwicklung sind – neben einem allgemeinen Trend zur Säkularität im Lebensstil – zwar der Missbrauch Schutzbefohlener und seine Vertuschung gewesen, aber die Reformforderungen umfassen doch viel mehr, so die Öffnung der kirchlichen Hierarchie für Frauen, die Abschaffung des Zölibats für Priester, die Anerkennung von Scheidungen und die Anerkennung und Billigung homosexueller Verbindungen, ehelicher und partnerschaftlicher.

»Umbruch« und »Neuanfang« sind die meistwiederholten Worte in Zeitungsberichten, die sich der Lage der Katholischen Kirche widmen.

Hunderte Jahre war sie es gewöhnt, ihren Mitgliedern vorzuschreiben, was sie zu denken haben, wie sie leben und sich verhalten sollen und auch, was sie sich wünschen sollten. Das funktionierte besonders gut in unaufgeklärten Gesellschaften. Die Epoche der Aufklärung hat es der Kirche im Laufe der Zeit immer schwerer gemacht, diesen totalen Anspruch aufrechtzuerhalten. Viele Kirchenmitglieder genießen den Geist der Tradition und Kontinuität, die einem die Gemeinde bieten kann, wie auch die Möglichkeit, an kirchlichen Ritualen zu partizipieren. Viele Menschen suchen das Metaphysische, fühlen sich im Transzendentalen wohl, ohne auf die Lehren der Religion als buchstäbliche Wahrheit einzugehen.

Die Kirche leidet an der Dissonanz zwischen ihren autoritären, nicht-transparenten Strukturen, die sich in einer nicht demokratischen Welt bildeten, und einer Welt, die solche Strukturen heute nicht mehr dulden will. Eine Zeitlang konnte die Kirche – begünstigt durch einen gewissen Respekt vor dem Alten und Bewährten – weitermachen, ohne sich selbst wirklich zu verändern. Vor der Moderne steckte sie den Kopf vielleicht nicht ganz in den Sand, betrieb aber doch eine Art Vogel-Strauß-Politik und hoffte, dass ihre Mitglieder schon folgen und ihre Autorität weiter achten würden, auch ohne substanzielle Anpassungen der Organisation an die neue Zeit. Es hat sich gezeigt: Das funktioniert nicht.

Um mit dem zunehmenden Veränderungsdruck umzugehen und die Austrittswelle einzudämmen, hat die Deutsche Bischofskonferenz Ende 2019 zusammen mit dem Zentralkommittee der deutschen Katholiken den »Synodalen Weg« eingerichtet, in dem Bemühen, die Lage zu untersuchen und zu prüfen, was getan werden kann und muss. In diesem Rahmen sollen die anstehenden Fragen diskutiert und verhandelt werden, um nach Abschluss der Beratungen dem Vatikan – wo noch immer die Macht zur Umsetzung von Veränderungen liegt – mitzuteilen, welche Veränderungen die deutsche Kirche erwartet. Doch die wahrscheinlich älteste noch bestehende Institution der Welt hat ihre Langlebigkeit nicht durch Zaghaftigkeit erreicht. Sie ist stets mehr unnachgiebig als flexibel gewesen. Deshalb sei die Frage erlaubt, die den Anlass zu dieser Schrift bildete: Ist die Kirche überhaupt zu Veränderungen fähig? Ist es realistisch, einen Wandel zu erwarten, einen wirklichen Wandel, nicht nur hohe, aber letztlich bedeutungslose Worte über Transparenz?

Der Synodale Weg, der 2019 seine Arbeit aufnahm, hat vier Themenschwerpunkte definiert, die in vier Foren bearbeitet und vorbereitet werden. Das erste befasst sich mit der Frage: Wie wird mit der Macht der Kirche umgegangen? Und was muss getan werden, um Machtabbau und eine Verteilung von Macht zu erreichen? Das zweite Forum stellt die Frage: Wie werden die priesterliche Existenz und das Amt des Priesters in Zukunft aussehen, im Lichte der Tradition der Kirche, aber unter veränderten Rahmenbedingungen. Das Ziel des dritten Forums ist, die Rolle der Frau in der Kirche zu beleuchten. Das vierte Forum »behandelt Fragen der Sexualmoral der Kirche, die immer weniger Zuspruch und Akzeptanz finden«.1 Dass der Synodale Weg am Ende eine neue Kirche initiieren wird, ist sehr unwahrscheinlich. Warum – das versucht dieses Buch zu erhellen.

Versuche, die Katholische Kirche zu verändern oder zu reformieren, sind kein neues Phänomen. Martin Luther (1483-1546) ist der bekannteste der gescheiterten Rebellen, aber nicht der einzige. Ein guter Indikator für die Fähigkeit der Kirche, sich zu ändern, und damit für die Wahrscheinlichkeit, dass Rom die von den Befürwortern des Wandels erhofften und geforderten Änderungen durchführt, sind ihre Versuche der Selbstprüfung. In den letzten fünfzig Jahren hat die Kirche drei bedeutende unternommen und sich dabei mit schwierigen Fragen ihrer Geschichte auseinandergesetzt. Diese Versuche liefern die Grundstruktur des vorliegenden Buchs: 1. Die Kirche und Galileo. 2. Die Kirche und die Juden. 3. Die Kirche und der sexuelle Missbrauch.

Auf der Plenartagung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften verkündete Papst Johannes Paul II. 1979, dass der Vatikan den Galileo-Prozess neu untersuchen werde – um nach zwölf Jahren der Beratungen ein blutleeres Dokument vorzulegen, das definitiv kein Mea culpa ist und die Verantwortung für die Verurteilung und Unterdrückung von Galileos Erkenntnissen und Person auf die Zeitumstände schob.

In dem Bemühen, ein neues Kapitel in ihren Beziehungen zum Judentum aufzuschlagen, hat die Kirche ab dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) eine Reihe von Dokumenten verfasst. Diese waren zweifelsohne ein großer Schritt nach vorn, doch eine wesentliche Komponente fehlte ihnen, nämlich das aufrichtige Bekenntnis zur eigenen Schuld. Statt die Verantwortung für die jahrhundertelange Verächtlichmachung und Verfolgung von Juden zu übernehmen, versuchte die Kirche, sie auf andere abzuwälzen.

Der dritte und jüngste Fall von verfehlter Selbstprüfung sind verschiedene päpstliche Erklärungen im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch unter kirchlicher Verantwortung. Der Synodale Weg wurde nach der Veröffentlichung 2018 der sogenannten MHG-Studie und den »damit verbundenen Erschütterungen« von den deutschen Bischöfen ins Leben gerufen. Diese Studie zu »Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz« wurde von einem Team der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erstellt. Doch Rom und die kirchliche Hierarchie waren schon lange vor der Veröffentlichung des MHG-Berichts über sexuellen Missbrauch durch ihre Geistlichen im Bilde, und zwar lange bevor Missbrauchsgeschichten in der Kirche in Deutschland in Umlauf kamen. Bereits 1985 gelangten Details über sexuellen Missbrauch durch katholische Geistliche in den Vereinigten Staaten an US-Gerichte und in die Medien. Es dauerte nicht lange, bis Informationen über ähnliche Missbrauchsfälle in Irland wie auch in anderen Ländern öffentlich wurden. Die Größenordnung der USA und die Besonderheit seines Rechtssystems haben dazu geführt, dass eine beträchtliche Menge an Unterlagen über den Missbrauch in den Vereinigten Staaten vorliegt. Diese wiederum sind nützlich für die Analyse der kirchlichen und päpstlichen Reaktionen beziehungsweise für ihr Ausbleiben.

DREI HISTORISCHE ANLÄUFE, KEIN MEA CULPA

In einem Brief an Papst Franziskus bat Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, im Mai 2021 um seinen Rücktritt und begründete dies unter anderem so: »Die Untersuchungen und Gutachten der letzten zehn Jahre zeigen für mich durchgängig, dass es viel persönliches Versagen und administrative Fehler gab, aber eben auch institutionelles oder ›systemisches‹ Versagen«.2 In seiner Antwort, mit der Franziskus die Bitte ablehnte, schrieb er: »Die gesamte Kirche ist in der Krise wegen des Missbrauchs, ja mehr noch, die Kirche kann jetzt keinen Schritt nach vorn tun, ohne diese Krise anzunehmen. […] Wir müssen für die Geschichte Verantwortung übernehmen, sowohl als einzelner als auch in Gemeinschaft«, und er fügt hinzu, »das ›Mea culpa‹ angesichts so vieler Fehler in der Vergangenheit haben wir schon mehr als einmal angesprochen, in vielen Situationen, auch wenn wir persönlich in dieser historischen Phase nicht beteiligt waren.«3

Im Gegensatz zu Kardinal Marx, der auch institutionelles und systemisches Versagen sah, sprach der Papst zwar über die Verantwortung der Gemeinschaft, ging aber nicht bis zur Institution der Kirche selbst. Dieser scheinbar kleine, aber doch signifikante Unterschied könnte der Schlüssel zum Ausmaß der Reformen sein, die der Papst in Angriff nehmen müsste. Marx beklagte die Unwilligkeit mancher, »die Mitschuld der Institution wahrhaben zu wollen und deshalb jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüberzustehen«. In unmissverständlichen Worten verdeutlicht Marx seinen Standpunkt, einen Wendepunkt aus der Krise gebe es nur mittels einer Reform der Kirche, nicht bloß einer Reform in der Kirche, wie Papst Franziskus meint.

Indem Papst Franziskus betont, dass Jesus »sich niemals auf eine ›Reformation‹ eingelassen« hat, zieht er seine Grenze. Das Kind soll nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden.

DER FALL GALILEO UND SEIN KONTEXT

»Herr Präsident! Sie haben in Ihrer Ansprache sehr zu Recht gesagt, dass Galileo und Einstein eine Epoche geprägt haben. Die Größe von Galileo ist jedem bekannt, ebenso wie die von Einstein; aber im Gegensatz zu letzterem, den wir heute vor dem Kardinalskollegium im apostolischen Palast ehren, musste ersterer viel leiden – das können wir nicht verschweigen – durch die Hand von Männern und Organismen der Kirche.«4

Der Sprecher, Papst Johannes Paul II., nahm – so schien es – kein Blatt vor den Mund. Es war der offensichtliche Versuch des Pontifex, einen Anstoß für die Aufarbeitung der sogenannten Galileo-Affäre zu geben. Und so fügte er auf der Plenartagung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften anlässlich des 100. Geburtstags von Albert Einstein hinzu:

»Ich hoffe, dass Theologen, Gelehrte und Historiker, angetrieben von einem Geist aufrichtiger Zusammenarbeit, den Fall Galileo eingehender untersuchen und in loyaler Anerkennung des Unrechts, von welcher Seite es auch kommen mag, das Misstrauen ausräumen, das in vielen Köpfen noch immer einer fruchtbaren Übereinstimmung zwischen Wissenschaft und Glaube, zwischen Kirche und Welt entgegensteht.«5

Bevor man beurteilen kann, was diese päpstliche Aufforderung in der Praxis bewirkt hat, muss man sich zunächst den »Fall Galileo« und seinen Kontext ansehen. Die Kirche hatte und hat immer noch sehr klare Ansichten darüber, was Wahrheit ist. Viele Jahre lang besaß sie die Macht, ihre Ansichten der Bevölkerung nicht nur dort aufzuzwingen, wo sie souverän war, sondern auch dort, wo sie keine Hoheitsrechte hatte, aber ihren Einfluss nutzte, um ihre Ideen durchzusetzen. In diesen Fällen profitierte sie von der Kollaborationsbereitschaft der zuständigen weltlichen Behörden.

Die Geschichte des Christentums begann mit einer Abfolge von Ereignissen, die sich vor etwa zweitausend Jahren abgespielt haben sollen. Festgehalten wurden die teilweise gar nicht oder nur schwer zu belegenden Begebenheiten in den Evangelien. Ihr Wahrheits- oder Tatsachengehalt lässt sich bis heute nicht eindeutig klären. Aber was ist Wahrheit?

Der Philosoph Professor Richard Blackwell spricht von der »Logik der zentralisierten Autorität«. Diese ergebe sich nach katholischer Tradition aus der »auf der Heiligen Schrift basierenden Offenbarung, die als Quelle der Religion dient«.6 Die Verflechtung von Tradition und eigener Lehre mit der Heiligen Schrift dient dazu, all dem, was von früheren Päpsten und natürlich von bedeutenden Kirchenlehrern wie dem heiligen Augustinus oder Thomas von Aquin festgelegt wurde, großes Gewicht und enorme Bedeutung zu verleihen.

In seiner Enzyklika Pascendi (1907), konstatierte Papst Pius X. (1903-1914): »Wir, ehrwürdige Brüder, kennen nur die eine Wahrheit und halten an den heiligen Büchern fest, weil sie auf Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben wurden und Gott zum Urheber haben.«7 In dieser Enzyklika griff der Papst zudem all jene kritischen Geister (er nennt sie im Text »Modernisten«) an, die davor warnten, die Bibel als Grundlage von Wissenschaft und Geschichtsschreibung zu betrachten, anstatt sie als das zu sehen, was sie war: ein alter Text über Religion und Moral.8

Indem die Kirche sich nur als vertrauenswürdige Hüterin und nicht als Urheberin ihrer Lehre betrachtet, lässt sie sich selbst sehr wenig Handlungsspielraum. Anstatt eine Quelle von Werten zu sein, ist die Kirche eine Quelle der Interpretation eines festen Satzes von gottgegebenen, unveränderlichen Texten. Die Kirche begnügt sich nicht mit der Behauptung, dass das, was Jesus gesagt und getan haben soll, den Werten entspricht, die sie für maßgeblich hält. Sie definiert die Worte und Taten als wahr und eine Reihe von frühchristlichen Interpretationen als verbindlich. Papst Pius IX. (1846-1878) wies darauf hin: »In allem, was die Religion betrifft, hat die Philosophie nicht zu herrschen, sondern zu dienen. Sie hat nicht vorzuschreiben, was man glauben muss, sondern es in vernünftiger Unterwerfung anzunehmen.« Und das Erste Vatikanische Konzil von 1870 erklärte: »Die Glaubenslehre, wie sie Gott geoffenbart hat, ist nicht dem menschlichen Geist als eine Erfindung der Philosophie übergeben, die der Mensch mit seinem Verstand weiter ausbilden soll, sondern als göttlicher Schatz der Braut Christi anvertraut, zur treuen Bewahrung und unfehlbaren Erklärung. Deshalb ist auch für die heiligen Dogmen immer der Sinn festzuhalten, den die heilige Mutter, die Kirche, einmal erklärt hat. Niemals darf man unter dem Schein oder dem Vorwand eines tieferen Verständnisses davon abweichen.«9

Der Fall Galileo begann mit einem anderen Wissenschaftler, mit Nikolaus Kopernikus (1473-1543), der erkannte, dass die Sonne das Zentrum der Welt bildet, um das sich (auch) die Erde dreht, und nicht andersherum. Der Irrglaube, die Sonne würde sich um eine unbewegliche Erde drehen, welche zudem das Zentrum der Welt darstellt, ging damals zum einen auf Aristoteles (384-322 v. Chr.) zurück, zum anderen auf das ptolemäische Weltbild10 von der Erde als Mittelpunkt des Universums. Diese Theorie entsprach dem Verständnis der Kirche, die sich auf die Heilige Schrift stützte, in der zu lesen ist, dass die Erde feststeht und sich nicht bewegt.11 Wie kann man also etwas anderes behaupten?

Kopernikus hielt seine Erkenntnisse etwa dreißig Jahre lang geheim und veröffentlichte seine Schlussfolgerungen, die auf detaillierten Experimenten und Messungen beruhten, erst gegen Ende seines Lebens. Osiander, der Herausgeber des kopernikanischen Werks De revolutionibus orbium coelestium (welches Kopernikus Papst Paul III. gewidmet hatte und das 1543 veröffentlicht wurde), war so besorgt über die Konsequenzen, dass er Kopernikus’ Einleitung durch ein eigenes, irreführendes Vorwort ersetzte.12 In seiner Vorrede erklärte Osiander, dass Kopernikus sein Werk nur als mathematisches Hilfsmittel betrachtet habe.

Eine Zeitlang schien es, als wurden Kopernikus’ Erkenntnisse dem Vergessen anheimfallen. Dies änderte erst Galileo (fast hundert Jahre nachdem Kopernikus seine Beobachtungen gemacht hatte), der sich für ihn einsetzte. Vor Galileo hatte bereits Giordano Bruno (1548-1600), ein ehemaliger Dominikanermönch, in seinem Buch Cena de le Ceneri, eine Verteidigung der heliozentrischen Theorie von Kopernikus veröffentlicht. Da diese an zahlreichen Stellen von der herrschenden Kirchenlehre abwich, wurde die Inquisition auf Bruno aufmerksam. Er musste erst aus Neapel, später aus Rom fliehen. 1591 wurde er jedoch in Venedig gefasst und angeklagt. Als Bruno auch nach einem Jahr seine Erkenntnisse nicht widerrufen wollte, wurde er nach Rom zurückgeschickt und weitere acht Jahre eingekerkert. Noch immer weigerte er sich, zu widerrufen. Im Jahr 1600 wurde er schließlich als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Zehn Jahre später veröffentlichte Galileo sein Buch Sidereus Nuncius (Der Sternenbote), in dem er Ptolemäus widersprach und andeutete, dass Kopernikus Recht habe. 1616 erließ der Jesuitenkardinal Robert Bellarmine ein Dekret, das Kopernikus und zugleich Galileo widerlegen sollte. Auf Anweisung von Papst Paul V. (1605-1621) wurde Galileo von Bellarmine zu einem kirchlichen Verfahren vorgeladen, wo man ihn aufforderte, seine These, die Sonne sei der Mittelpunkt der Welt, zu widerrufen und nie wieder ein Wort darüber zu verlieren. Einer transkribierten Abschrift in der Inquisitionsakte zufolge (deren Wahrheitsgehalt nicht klar ist) soll Galileo diese Bedingungen akzeptiert haben.13

Galileo Galilei, einer der bedeutendsten Wissenschaftler und Denker der Menschheit, begann als Dozent in Florenz und wurde dann Professor für Mathematik an der Universität von Padua. Er war als Erfinder bekannt und wurde für seine Arbeit respektiert. Die zeitgenössischen Aristoteliker waren, wenig überraschend, unglücklich über diese bahnbrechende Interpretation der Welt. Obwohl Galileo ein freundschaftliches Verhältnis zu Papst Urban VIII. (1623-1644) pflegte, war der Heilige Vater nicht bereit, ihm völlige Freiheit zu gewähren. Er erhielt vom päpstlichen Hof die Erlaubnis, seine Ansichten (also das kopernikanische Konzept) nur dann zu veröffentlichen, wenn er ein ausgewogenes Argument sowohl für das heliozentrische als auch für das geozentrische System vorlegte. Im Jahr 1632 wurde Galileos Dialogo sopra due massimi sistemi del mondo (Dialog über die zwei wichtigsten Weltsysteme) veröffentlicht. Darin wurden tatsächlich sowohl die ptolemäische als auch die kopernikanische Sichtweise dargestellt. Die bevorzugte Sichtweise des Autors stand jedoch außer Frage.

Die Galileo-Affäre war seit seinem Prozess eine cause célèbre. Sie wurde zum Symbol für eine (vermeintlich) wissenschaftsfeindliche Haltung der Kirche. Dies ist jedoch eine zu grobe Vereinfachung. Die Kirche vertrat und vertritt keine wissenschaftsfeindliche Politik. Galileos Entdeckungen und Thesen über das Verhältnis von Erde und Sonne stellten die lange gepflegten und mit der Heiligen Schrift übereinstimmenden Überzeugungen der Kirche infrage. Mehr noch: Galileo lehnte die fundamentale Bedeutung der Heiligen Schrift für wissenschaftliche Fragen gänzlich ab. In einem Brief, geschrieben 1615, erklärte er:

»[D]er Heilige Geist wollte uns nicht lehren, ob der Himmel sich bewegt oder stillsteht, ob er kugelförmig ist oder wie ein Diskus oder sich in einer Ebene ausdehnt, ob die Erde sich in seinem Zentrum oder auf einer Seite befindet […]

Wenn aber der Heilige Geist es absichtlich vermieden hat, uns solche Behauptungen zu lehren, da sie für seine Absicht (d.h. für unser Heil) nicht von Bedeutung sind, wie kann man dann sagen, dass es so wichtig ist, diese und nicht jene These zu diesem Thema zu vertreten, dass die eine ein Glaubensgrundsatz und die andere ein Irrtum ist?

[…]