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Der Verfasser ist emeritierter Rechtsprofessor der Universität Köln. Er ist ein überzeugter Vertreter religiöser Glaubensfreiheit (die auch die Freiheit einschließt, nicht zu glauben) und ein hartnäckiger Opponent von Intoleranz. Dem religiösen Glauben misst der Verfasser weit weniger Bedeutung bei als die Kirchen. Dem 'Lasset uns glauben und beten' zieht er ein 'Lasset uns fragen' vor, um in Frage zu stellen. Viele Sätze seiner Schrift enden mit einem Fragezeichen. Der Verfasser gibt aber auch aufklärerische Antworten, insbesondere auf die Frage 'Kirchenflucht – Warum?' Auch die Kirchen haben in Glaubenssachen Verantwortung gegenüber den Gläubigen, auch sie dürfen nicht wider besseres Wissen im Sinne des achten Gebots 'falsch Zeugnis reden' wider ihre Gläubigen als ihre Nächsten. Von starren religiösen Dogmen, von Ewigkeitsdogmen zumal, hält der Verfasser nichts. Der Verfasser wird Kritik jeder Art gern überdenken. Mit Dialogverweigerung und Totschweigen werden die Kirchen aus keinem Dilemma herauskommen.
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Seitenzahl: 449
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Die Unglaubwürdigkeit des christlichen Glaubens
als Hauptgrund der Kirchenflucht
Aufklärende Untersuchung
durch einen Juristen
Für meine Urenkel
Ben und Elijah Harel
geboren in Tel Aviv
Wissenschaftliches Forschen zur Ermittlung der Wahrheit ist sicherer als „Glaubenswahrheit“ auf der Grundlage von „Glauberei“. Der Glaube ist kein ethischer Wert. Der Unglaube ist kein Unwert. Wissen muss dem Glauben vorgehen.
Toleranz den Toleranten, Intoleranz den Intoleranten.
Ein religiöses Jüngstes Gericht wird es nicht geben.
Die Bibelhölle existiert nicht. Sie wäre mit der Glaubensfreiheit nicht vereinbar.
Verhütungsmittel zu nehmen, ist keine Sünde.
Rechtschaffene tolerante Gläubige und rechtschaffene tolerante Nichtgläubige müssen gleich behandelt werden. Was tolerante Menschen glauben oder nicht glauben, muss unerheblich sein.
Der Verfasser ist emeritierter Rechtsprofessor der Universität zu Köln.
Er sieht Zuschriften, auch sehr kritischen, dankbar entgegen. Fehler, auf die Leser zutreffend hinweisen, werden baldmöglichst korrigiert werden.
Kontakt-Möglichkeit: E-Mail tipke.balke(et)gmx.de
Ich glaube nicht, was Christen glauben sollen, trete aber nachdrücklich dafür ein, dass Christen ihrem Glauben anhängen und ihn frei bekennen dürfen.
Ich erwarte nicht, dass Christen meinen Unglauben akzeptieren, erwarte aber, dass Christen nachdrücklich dafür eintreten, dass auch Ungläubige ihren Unglauben bekennen dürfen.
Im Interesse der Glaubens- und Unglaubensfreiheit sowie der Informationsfreiheit sollten Verleger neutral sowohl über den Glauben als auch über den Unglauben informieren.
Vorwort
Erster Abschnitt: Grundlegung
Über den Verfasser, insbesondere über seine christliche Indoktrination in Kindheit und Jugend
Über die Kirchenflucht und ihre Gründe
2.1 Die Situation in Deutschland
2.2 Kirchenflucht in Zahlen in einigen Ländern
2.3 Gründe der Kirchenflucht
2.3 1 Meinungen über Kirchenfluchtgründe
2.3 2 Gründe junger Menschen, die den Gottesdienst nicht mehr besuchen:
Vom Verfasser angewandte Aufklärungsmethoden zur Ermittlung des Glaubensmankos und unvernünftiger Sündenregeln als Kirchenfluchtgründe
3.1 Über die Gottesbeweislage
3.2 Methoden, die Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens und ethischer Regeln zu testen
3.2 1 Infragestellen durch Fragen
3.2 2 Berücksichtigung von Indizien
3.2 3 Berufung auf Naturgesetze und Denkgesetze – Gott greift erfahrungsgemäß in diese Gesetze nicht ein
3.2 4 Berufung auf Erfahrungsgesetze – Gott tut nichts
3.2 5 Die Methode, biblische Sachverhalte in die Gegenwart zu verlegen, damit sie von Gegenwärtigen beurteilt werden können (Gegenwartstest)
3.2 6 Vergleich der biblischen Ethik mit der säkularen Ethik der Gegenwart
Zweiter Abschnitt: Die Kirchen im Dilemma zwischen Bibel und Aufklärung, zwischen Glauben und Wissen
Der Glaubenspluralismus; Glaubenszweifel
Kurzer Rückblick auf das militante intolerante Wirken des Christentums
Sieg der Aufklärung über die mächtige Kirche auf der Grundlage der Glaubensfreiheit – Abwertung des Glaubens – Aufklärung geht vor Kirchenglaube – Aufklärung als Entkirchlichungsgrund
Wodurch unterscheiden sich religiöser Glaube und Wissen?
Über die Bibel als Glaubensgrundlage der christlichen Kirchen unter dem Aspekt der Kirchenflucht
5.1 Über Bedeutung und Mängel der Bibel
5.2 Gründe gegen die Bibel als Gottes Wort
5.3 Ist die Bibel erneuerungsbedürftig, ist sie erneuerbar?
5.3 1 Hindernisse einer Erneuerung
5.3 2 Persiflage einer Bibel
5.4 Das umfängliche Glaubensinventar der christlichen Kirchen und sein zu Unrecht exzessiv hoher kirchlicher Stellenwert
5.4 1 An wen und (an) was sollen Christen glauben? – Im Glaubens-Irrgarten des Glaubensreichtums
5.4 2 Über den zu Unrecht exzessiven Stellenwert des christlichen Glaubens
5.4 3 Kritik der christlichen Glaubensnotwendigkeit
5.4 4 Über vorhandenes und nicht vorhandenes Glaubensbedürfnis
Exkurs: Religiös grundierter politischer Glaube, dargestellt am Beispiel des Nationalsozialismus
Dritter Abschnitt: Die Entstehung des Weltalls und der Menschheit als Gegenstand des Glaubens und des Wissens – Ein Beispiel für das Dilemma zwischen Glauben und Wissen
Der Glaube an die Schöpfungsgeschichte – er bröckelt in Europa
1.1 Die Erschaffung von „Himmel und Erde“ durch den Schöpfergott des Alten Testaments aus dem Nichts – das Bibelverständnis von „Himmel und Erde“
1.2 Zur Erschaffung der Tiere
1.3 Die Erschaffung der ersten Menschen
1.4 Die Katastrophe des Sündenfalls
1.5 Wann hat Gott seine sechstägige Schöpfung vollzogen? − Weiß das jemand?
1.6 Warum hat der Schöpfergott Himmel und Erde mit Lebewesen geschaffen? – Weiß das jemand?
Über den Anfang des Weltalls und des Lebens aus der Sicht der Wissenschaften
2.1 Über die Entstehung des Weltalls und unseres Sonnensystems
2.2 Über die Entstehung des Lebens auf der Erde und die Evolution zum Menschen
Ist der Mensch ein erschaffenes oder ein durch Evolution entstandenes Wesen? Welche Folgen hat das? Die unglaubwürdige Schöpfungsgeschichte als Kirchenaustrittsgrund
Vierter Abschnitt: Der Glaube an Gott und seine Engel, an den Heiligen Geist und an Jesus Christus im Glaubwürdigkeitstest
Ist das, was man über Gott glauben soll, glaubwürdig?
1.1 Der Schöpfergott und der Christengott als kirchliche Phantasie und Vorstellung
1.1 1 Dem unbekannten Gott zugeordnete Eigenschaften
1.1 2 Das Erfahrungswissen lehrt: Gott verhält sich passiv, er kümmert sich um nichts
1.2 Prominente über Gott
1.3 Der instrumentalisierte, aber nicht notwendig existierende Gott
1.4 Der Glaube an Gottes Engel – ein Aberglaube?
1.5 Der Glaube an den sogenannten Heiligen Geist – ein Aberglaube, eine Absurdität?
Ist das, was über Jesus Christus geglaubt werden soll, glaubwürdig?
2.1 Ist es glaubwürdig, dass Jesus Christus Gottes Sohn und Sündenvergeber ist?
2.2 Ist es glaubwürdig, dass Jesus als Gottes Sohn in den Himmel aufgefahren ist?
Was Mitglieder der christlichen Kirchen wirklich glauben
Wie steht es um den Glauben des Klerus
Fünfter Abschnitt: Das Ende der Menschheit und des Weltalls aus der Sicht des Glaubens und des Wissens – Beeinflusst die Lehre vom Jüngsten Gericht die Entkirchlichung?
Alle Menschen müssen sterben
Der Glaube an das Jüngste Gericht – ein Angstmacher?
2.1 Biblische Grundlagen
2.2 Der Jurist stellt fest: Es gibt ungelöste Kompetenzfragen Jüngster Gerichte
2.3 Der Jurist fragt: Wann soll das Jüngste Gericht tagen?
2.4 Der Jurist fragt: Wo soll das Jüngste Gericht tagen?
2.5 Das Auferwecken der Menschheit von den Toten mit der Gottesposaune – aber reicht die Posaune?
2.6 Die Auferstehung des Fleisches
2.7 Der Jurist fragt: Wird es eine Prozessordnung geben?
2.8 Der Jurist fragt: Welche Rechtsgrundlagen werden dem Jüngsten Gericht als Maßstab dienen?
2.9 Der Glaube an das Jüngste Gericht als Aberglaube
Zum Ende der Erde und der Menschheit aus Sicht der Wissenschaft
Sechster Abschnitt: Himmel und Hölle als kirchliche Phantasie und Vorstellung – Beeinflussen sie die Entkirchlichung?
Allgemeine Gedanken über Himmel und Hölle
Der Schlaraffenland-Himmel ist passé
Der sich enthüllt habende Gott als Zentralfigur des Himmels
Der Ratzinger-Himmel „ohne Ort“ als Phantasie und Vorstellung
Trotz Entwertung des Himmels noch Hoffnung auf das ewige Leben im Himmel?
War der Glaube an die alte Feuerhölle auch nur ein Aberglaube? Keine Angst, die Hölle gibt es nicht!
Kann der Teufel weiterexistieren, wenn die Feuerhölle ausgebrannt ist? Am abergläubischen Teufelsexorzismus scheint die katholische Kirche festhalten zu wollen.
Siebter Abschnitt: Kritik der christlichen Sündenlehre – Die unvernünftige christliche Sündenlehre als Kirchenaustrittsgrund
Der Heilsplan Gottes als heilsgeschichtliche Klitterung der Katholischen Kirche
Insbesondere: Über die Absurdität der Erbsünde
Über Sünderpflege und Sündenvergebung
3.1 Der Glaube ist als Sündenmaßstab untauglich
3.2 Was sollen wir tun? Die Zehn Gebote und die Bergpredigt allein tun es als Antwort nicht
3.3 Wie hält die Katholische Kirche es mit der Ethik der Menschenrechte?
Schlussabschnitt: Zukunftsaussichten der Kirchen
Kirche, was nun? Kirche, was tun?
1.1 Die Kirchen könnten sich annähern
1.2 Könnte die Kirche Bestandsschutz durch die Heilige Dreifaltigkeit erbitten und erlangen?
1.3 Die letzte Hoffnung der Kirche
1.4 Wie hilfreich ist der Katechismus als Stütze der Glaubens- und Sündenlehre?
1.5 Ist die Vermittlung des Glaubens durch die Sprache der Kirche zum Weglaufen?
1.6 Die Verursacher der Kirchenflucht ausmachen und kennenlernen
1.7 Die Berufung auf populäre Glaubenszeugen – das Totschweigen berühmter Atheisten
1.8 In Deutschland missionieren?
Die Kirchen haben starke Stützen und werden in absehbarer Zeit nicht untergehen
2.1 Das ungelöste Glauben-Wissen-Dilemma als Ausgangsbasis für die Zukunftsaussichten
2.2 Der Staat als Stütze
2.3 Parteien, Politiker und Verleger als Stützen
Gedanken über die Zukunft der christlichen Kirchen
3.1 Es werden sich vermutlich zwei Blöcke bilden
3.2 Über Glaubensschwindel und Glaubens-Placebo
3.3 Wohin verschwinden die Kirchenflüchtlinge? Über die Lage der weltlichen (säkularen) Humanisten
Blick nach vorn: Christen und Nichtgläubige müssen keine Feinde sein. Ein Brückenschlag zwischen Christen (kirchlichen Humanisten) und weltlichen Humanisten sollte möglich sein
Zusammenfassung
Abkürzungen
1. Schon seit meiner Jugend habe ich mich auch mit religionskritischer Literatur befasst. Nach 2010 habe ich die Lektüre intensiviert. Noch vor Weihnachten 2015 konnte ich mit der Niederschrift dieses Buches beginnen. Auch als 2016 der Heilige Abend gefeiert wurde, ließ ich mich nicht davon abhalten, die Niederschrift fortzusetzen. Dabei wurde ich inspiriert durch die Kirchenglocken, die mehrfach zu Gottesdienst-Schichten einluden.
Die meisten Menschen, die am Heiligen Abend in die Kirchen strömen, haben während des ganzen Jahres keine Kirche betreten. Man fragt sich: Warum tun sie das? Die zur dritten Schicht eilen, haben ihre Weihnachtsgans vielleicht schon verzehrt. Möglicherweise wollen sie für wenige Stunden die Vernunft ausschalten und etwas für das Gefühl oder für das Gemüt tun, sich wegtragen lassen durch Feierlichkeit, durch Orgel und Kirchenchor, durch die Weihnachtsgeschichte, nach der das kleine Jesuskind in einem Stall in Bethlehem geboren worden sein soll. Mit so viel frommer Feierlichkeit können die Ungläubigen und Gottlosen nicht konkurrieren.
Der gestresste Pastor oder Priester könnte an diesem Abend in die Kirche hineinrufen: „Woher kommt ihr, ihr Verirrten? Wo ward ihr während des ganzen Jahres? Die Glocken haben nach euch gerufen, aber ihr habt nicht auf sie gehört. Glaubt bitte nicht, dass ihr bereits wegen eines einzigen Gottesdienstbesuches am Heiligen Abend in den Himmel kommt.“ Aber so etwas sagt kein Pastor, kein Priester. Die Stimmung soll nicht verdorben werden. Man will doch zusammen singen: „Vom Himmel hoch da komm‘ ich her, ich bring euch gute neue Mär“, „Oh du fröhliche, oh du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“, und schließlich auch noch „Stille Nacht, heilige Nacht“. Mehr Rührseligkeit geht nicht. Vor einigen Jahrzehnten habe ich an einer Weihnachtsfeier in der Universität Berkeley/Kalifornien teilgenommen. Zum Finale sang ein Universitätschor in deutscher Sprache „Stille Nacht, heilige Nacht“. Und ich muss gestehen, dass ich selbst fast zu Tränen gerührt war.
Aber wieder an der frischen Luft und bei Verstand fragen sich dann viele Gottesdienstbesucher: „Warum ließ Gott seinen Sohn ohne jede Herrlichkeit in einem Stall mit Heu und Stroh zur Welt kommen?“ Am Weihnachtsgottesdienst, so denke ich, nehmen auch solche Besucher teil, die aus der Kirche längst ausgetreten sind und keine Kirchensteuer zahlen. Es mögen sogar solche unter ihnen sein, die wissen, dass Jesus gar nicht in Bethlehem, sondern in Nazareth geboren wurde, dass es Apostel waren, die aus religiöser Opportunität den Geburtsort von Nazareth nach Bethlehem verlegt haben, dass es in Nazareth auch keinen Engel gab, der die gute neue Mär von der Geburt Jesu verkündete, dass die gute neue Mär tatsächlich ein Märchen war.
Die vollen Kirchen am Heiligen Abend geben ein ganz falsches Bild von der Situation der christlichen Kirchen ab. Die einschlägigen Zahlen über Kindtaufen und die Kirchenaustritte liefern den Kirchenoberen ein ganz anderes Bild, ein Bild, das man sich vor 100 Jahren noch überhaupt nicht hätte vorstellen können. Wenn die Kirchen ihre Situation verbessern wollen, müssen sie zunächst die Ursachen ihrer Misere kennen. Das immer noch hohe Kirchensteueraufkommen, das die Folge einer sehr guten wirtschaftlichen Konjunktur ist, fördert einstweilen die Verdrängung. Dass viele Mitglieder ihre Kirchen wegen der Kirchensteuer verlassen, ist nur ein äußerlicher Grund. In Wahrheit ist das, was die Kirche bietet, ihnen die Kirchensteuer nicht wert. Wer aus der katholischen Kirche austritt, weil er sich an der katholischen Sexualmoral stört, zeigt auch, dass ihm der geschützte Geschlechtsverkehr mehr wert ist als die katholische Lehre. Nimmt man noch die stark geschrumpfte Zahl der Gottesdienstbesucher hinzu, so erlaubt das wohl die widerlegbare Annahme, dass etwas faul ist mit der auf die Bibel gegründeten Glaubens- und Sittenlehre der christlichen Kirchen. Meinen nicht viele auch, mit der Bibel sei etwas faul am Beginn des 21. Jahrhunderts? Der Verfasser will darüber kein Vorurteil pflegen. Aber die Vermutung, dass die Kirchen sich im Dilemma zwischen Bibel und Aufklärung, zwischen Glauben und Wissen befinden, darf man wohl auch eingangs schon äußern.
Viele Menschen möchten wissen, woher die Welt und die Menschen kommen, wofür die Menschen leben und wohin sie gehen? Diese Fragen beantwortete in Europa über Jahrhunderte fast allein die Kirche – bis ihr durch die Aufklärung ein Wettbewerber erwuchs.
Der Aufklärung geht es um die Vermehrung von Wissen und die Durchleuchtung des Glaubensobskurantismus.
Der Verfasser ist weder Theologe oder Geistlicher noch Naturwissenschaftler. Er ist Rechtswissenschaftler, war zuvor zehn Jahre Richter. Als Richter musste er Urteile liefern. Aber bevor er sie lieferte, hat er zum Zwecke der Sachaufklärung gefragt, gefragt und gefragt. Die Vorliebe für das Fragen, um infrage zu stellen, führt dazu, dass mehr als 200 Sätze dieser Schrift mit einem Fragezeichen enden. Durch Fragen und andere Methoden soll herausgefunden werden, warum so viele Menschen die Kirche verlassen. Jeder ist eingeladen, diese Fragen nach seiner Fasson zu beantworten. Auf der Grundlage (rechts-) wissenschaftlichen Denkens mische ich mich in die christliche Glaubens- und Sittenlehre ein und frage mich, warum so viele Kirchenbesucher sich am Heiligen Abend sagen: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“.
Da es nicht möglich ist, aufzuklären, welche Motive die einzelnen Menschen zur Entkirchlichung bewogen haben, habe ich alle möglichen Gründe untersucht. Man kann auch sagen, ich habe die Kirchenflucht auf ihre Rechtfertigung, auf Rechtfertigungsgründe untersucht. Was dazu erörtert worden ist, kann auch für eine Bibel des weltlichen Humanismus, d. h. für eine Bibel der Aufklärung verwendet werden.
Richter – das möchte ich versuchen zu zeigen – haben in mancherlei Hinsicht doch einige Vorteile bei der möglichst objektiven Suche nach der Antwort auf die Warum-Frage. Richter müssen sich um Unparteilichkeit bemühen. Sie müssen zur Vermeidung von Befangenheitsrügen lernen, Vorurteile und Wunschdenken zu vermeiden und beide Parteien anzuhören. Die „christliche Partei“ habe ich durch die Katechismen angehört.
Kirchenvertreter mögen mir vorhalten, ich habe nicht die richtigen Fragen gestellt oder die Fragen falsch formuliert. Aber ich weiß wohl um die Bedeutung der richtigen Fragestellung. Der Einwand der falschen Fragestellung wird auch im kirchlichen Bereich nur zu gern benutzt, um sich vor der Antwort zu drücken. Der Verfasser wird nicht nur Fragen stellen, sondern sich auch selbst um Antworten bemühen. Mit sehr ausführlicher Begründung hat der Verfasser die Frage verneint, ob ein Jüngstes Gericht zu erwarten sei, ebenso die Frage, ob es die Hölle gibt.
Um Antworten zu finden, wird der Verfasser den Glaubensinhalt der christlichen Kirchen, die den Glauben für notwendig halten, infrage stellen, indem er die Wichtigkeit des religiösen Glaubens in der christlichen Lehre vergleicht mit der Irrelevanz des Glaubens in der säkularen Ethik, wie sie konkretisiert wird in den Grundrechten der Verfassung, in den Menschenrechten und in der Ethik, die den Strafgesetzen zugrunde liegt. Er wird die Ethik der christlichen Sündenlehre mit der säkularen Ethik vergleichen und fragen, ob ein Verhalten, das niemanden schädigt, sündhaftes Verhalten sein kann? Und er wird biblische Sachverhalte in die Gegenwart transferieren und festzustellen versuchen, wie die Gegenwärtigen solche Sachverhalte heute beurteilen.
Könnte es sein, dass die einschlägigen vergleichbaren Vorschriften der säkularen Verfassungen und Gesetze der christlichen Glaubens- und Sittenlehre erheblich überlegen sind?
Da der Verfasser zu Ironie und Satire neigt, hat er dieses Stilmittel auch in dieser Schrift des Öfteren angewendet. Er hat sich aber bemüht, die „Glauberei“ nicht lächerlich zu machen, obwohl gewisse Glaubenserfindungen von Menschen vor der Vernunft durchaus lächerlich erscheinen können. Ich habe nicht Gott gelästert und Gläubige ironisiert, sondern weltliche und kirchliche Potentaten kritisiert, die den Namen Gottes missbrauchen. Auch auf Heiligkeit kann Satire nur begrenzt Rücksicht nehmen. Ja, ein Zuviel an Heiligkeit – wie die Selbstheiligung der Katholischen Kirche – fordert zur Satire geradezu heraus.
Zurzeit leben in Deutschland etwa 34 Prozent Konfessionslose. In den Niederlanden und Großbritannien sind es gar mehr als 50 Prozent. Auch in Deutschland werden sich in absehbarer Zeit Gläubige und Nichtgläubige wahrscheinlich die Waage halten. Das wird durchaus akzeptabel sein, wenn Gläubige und Nichtgläubige sich tolerieren und respektieren. Wenn sie gelernt haben, dass das, was man glaubt oder nicht glaubt, viel unwichtiger ist, als viele Menschen heute noch annehmen. Ob das Christentum etwa die Hälfte der Bevölkerung halten kann, ist durchaus ungewiss. Es wird nicht genügen, dass die christlichen Kirchen auf die dogmatische Glaubens- und Sittenlehre der Katechismen verweisen, auf Dogmen, die unaufgebbar und unverrückbar seien. Auch die Kirchen werden argumentieren müssen, den Nichtgläubigen mit Gegenargumenten begegnen müssen. Es wird nicht mehr genügen, auf Apostel und Kirchenväter als Glaubenszeugen zu verweisen. Sie sind als Beweismittel ungeeignet. Das wird auf die Frage zulaufen: Ist der Glaube überhaupt geeignet, die Wahrheit zu finden?
Allerdings können die Vereinigungen der Nichtgläubigen auch nicht zufrieden sein: Nur ein Bruchteil der Kirchenflüchtlinge findet sich bei den organisierten Nichtgläubigen ein. Unser Staat, unsere Politiker, unsere renommierten Verleger sind nicht religions- und weltanschauungsneutral. Sie stehen durchweg auf der Seite der christlichen Kirchen. Auffällig viele Naturwissenschaftler sind Atheisten, bei weitem nicht alle bekennen sich dazu. Eine bei wikipedia veröffentlichte Liste von bekennenden Atheisten aus dem Bereich der Naturwissenschaften (list of atheists, science) erfasst 255 Namen, darunter 50 Nobelpreisträger, aber auch weitere wissenschaftliche Preisträger. Eine solche Liste in deutscher Sprache gibt es nicht.
Als ich vor Jahren mit dem Studium religiöser Literatur begann, war ich zunächst besorgt, ich könnte Theologen oder Katechismen missverstehen. Von Juristen sagt man: Es braucht nur zweier Juristen, um drei verschiedene Meinungen zu vertreten. Dann stellte ich fest, dass es in Fragen des Glaubens noch schlimmer ist: Zu jedem Problem gibt es ein Bündel von Meinungen. Bei dem kritischen Theologen Gerd Lüdemann1 fand ich dann den Satz: „Wer heute in der Evangelischen Kirche wissen will, was christlich ist, erhält ebenso viele verschiedene Antworten, wie er Theologen befragt.“ Man kann also gar nicht ganz daneben greifen. Man kann damit rechnen, dass man immer irgendwen an seiner Seite hat. Viele Stellen aus den Katechismen habe ich deshalb wörtlich zitiert, um meine kritische Argumentation verständlicher zu machen. Ich habe nämlich festgestellt, dass auch viele Kirchenmitglieder keinen Katechismus besitzen.
Es geht um viele Detailfragen und -antworten, insbesondere aber um eine Antwort auf diese grundlegenden Glaubens- und Wissensfragen:
Hat ein Gott die Menschen erschaffen oder haben die Menschen sich einen Gott erschaffen, der ihrem Weltbild entspricht?
Halten die christlichen Kirchen durch eine veraltete Bibel die Menschen des 21. Jahrhunderts an einem biblischen Weltbild und an einem Glauben fest, der vom wissenschaftlichen Weltbild des 21. Jahrhunderts weit entfernt ist und aufgeklärte Menschen veranlasst, die Kirchen zu verlassen? Die Kirchen stecken in einem
Dilemma
zwischen Bibel und Aufklärung, zwischen Glauben und Wissen. Dieses Dilemma muss analysiert werden.
Ist die Erschaffung eines Gottessohnes mit Hilfe des Heiligen Geistes und einer Jungfrau glaubwürdig?
Hängt die Qualität, der Wert eines Menschen davon ab, was der Mensch glaubt oder nicht glaubt?
Ist das, was Menschen glauben oder nicht glauben, ein geeigneter Sündenmaßstab?
Vertreibt die Katholische Kirche mit ihrer Sündenlehre Menschen aus der Kirche, und ist die säkulare Ethik der kirchlichen Sündenlehre überlegen?
Bringt christlicher Glaube mehr Heil oder mehr Unheil?
Ist die Vorstellung eines Jüngsten Gerichts mehr als Aberglaube oder eine Utopie?
Was verstehen die christlichen Kirchen heute unter Himmel und Hölle?
Grenzen die christlichen Kirchen ihre Glaubensgüter zutreffend vom Aberglauben ab? Kann christliches Glaubensgut auch Aberglaube sein?
Die Leser werden vor allem wissen wollen, ob sie noch auf das ewige Leben mit Gott im Himmel vertrauen oder hoffen können und ob es die Feuerhölle noch gibt. Darauf wollen sie eine Antwort. Viele Naturwissenschaftler, auch Kosmologen, stellen ihre Erkenntnisse dar, verhalten sich aber religiös abstinent. Das ist nicht aufklärungsförderlich. Und schließlich haben wir es mit der Frage zu tun: Wo bleiben die, die die Kirchen verlassen? Nur ein kleiner Teil tritt wohl Vereinigungen von Atheisten und Agnostikern bei. Solche Vereinigungen sind in der Öffentlichkeit wenig bekannt.
Der Verfasser ist engagierter Bekenner der Glaubens-, Unglaubens- und Informationsfreiheit (siehe auch die Maximen auf Seite →). Unsere Kirchen äußern sich zum Thema Kirchenflucht nicht öffentlich. Kritiker versucht sie durch Totschweigen auszuschalten. Dadurch lockt man aber niemanden in den Gottesdienst, und der Priester- und Pastorenberuf bleibt so unattraktiv wie er ist. Dass es auch andere Wege gibt, hat der niederländische Pfarrer Klaas Hendrikse gezeigt.
Ich plädiere nicht für die Abschaffung des Christentums. Tolerante Christen und tolerante Nichtgläubige könnten, jedenfalls im Bereich der Ethik sogar kooperieren. Nur im Bereich des Glaubens müssen sie konkurrieren. Das sollte argumentativ geschehen, mit überzeugenden Beweismitteln. Es geht mir nicht darum, mich mit vielen Fußnoten in Theologendispute einzumischen. Als Grundlagen kirchlichen Glaubens dienen mir Katechismen. Den Katechismen stelle ich meine eigene Meinung hauptsächlich mit eigenen Argumenten gegenüber.
2. Als ich die letzte Seite dieses Buches geschrieben hatte, hatte ich den Eindruck, den ich schon als Fachschriftsteller hatte: Während des Schreibens waren mir so viele neue Erkenntnisse gekommen, dass gleich ein weiteres Buch oder eine neue Auflage angeschlossen werden konnte. Aber man soll keine neue Auflage vorlegen, wenn die erste noch nicht veröffentlicht worden ist.
Nachdem das Buch fertig war, musste ich mich um einen Verlag bemühen. Damit hatte ich als steuerjuristischer Fachautor kein Problem; die Fachverleger bemühten sich um mich. Hinweise, dass es in Deutschland sehr schwierig sei, für Kirchenkritisches einen renommierten Verlag zu finden, schlug ich in den Wind. Aber die Hinweise erwiesen sich als richtig. Die Verleger wollen nur ein Exposé und einen Auszug aus dem Typoskript. Hört man vom Verlag in den nächsten sechs Monaten nichts, weiß man, das Werk ist längst entsorgt worden. Ich tröste mich damit, dass der junge Voltaire, hätte er heute in Deutschland gelebt, wohl auch keinen Verleger gefunden hätte.
Ein Verleger (kritischer Theologe) hat sich Sorgen gemacht, ich könnte als „Fachfremder“ kritische Rezessionen (von Theologen?) einfangen. Ich wundere mich insofern, als ich jahrelang religiöse und religions – oder kirchenkritische Bücher gelesen habe, ohne den Eindruck zu erhalten, dass die Beschäftigung mit Religion einen besonders hohen Intelligenzquotienten voraussetze. Das Selbststudium der Literatur über Religion und Religionskritik, das Theologengeschwurbel hat mich nicht überfordert.
Im letzten halben Jahr habe ich mich hauptsächlich mit englischer und amerikanischer Religionskritik befasst, auch mit Wissenschaftlern, Philosophen und Schriftstellern, die sich als Atheisten bekennen.
Über Rezensionen würde ich mich freuen. Gern sehe ich auch kritischen Einlassungen entgegen; es ist mir lieber als Totschweigen. Nur soviel dazu: Ich hatte nie die Absicht, mich in Dispute von Glaubens-Theologen über Gaubensquisquilien einzumischen. Da es den „richtigen Glauben“ nicht gibt, lohnt es sich nicht, über ihn zu streiten. Man sollte aufhören, zwischen richtigem Glauben und Glaubensirrtum oder Irrlehren Anders- oder Ungläubiger zu unterscheiden. Mir geht es darum, dem „Glauben als solchem“ seine Bedeutung zu nehmen. Wegen der unterschiedlichen „Glaubologien“ ist viel Unheil in die Welt gekommen, aber auf das verheißene Heil warten viele Menschen immer noch vergeblich. Der Glaube ist kein ethischer Wert, und der Unglaube ist kein ethischer Unwert.
Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Ein tolerantes Christentum ziehe ich einem fanatisch intoleranten Islam bei weitem vor. Christen wird empfohlen, zuerst den letzten Teil der Schrift zu lesen („Blick nach vorne“, S. 424 ff.)
3. Mein Dank gilt allen, die ihre Gedanken über mein Thema mit mir ausgetauscht haben, die nach Antworten auf meine vielen Fragen gesucht haben, die mir mitgeteilt haben, warum sie aus der Kirche ausgetreten sind, oder die mich darüber informiert haben, was sie am Verhalten der Kirche stört. Sie alle haben mein Wissen vermehrt, nicht zuletzt ein Tatsachenwissen, das man in Büchern nicht findet. Mein ganz besonderer Dank aber gebührt Dr. Michael Balke und Heidi Scheuner, ferner Dr. Jürgen Pelka und seiner Frau Dr. Brankica Pelka. Sie haben mich mit Rat und Tat ständig unterstützt.
Dem Verlag BoD in Norderstedt danke ich dafür, dass meine Schrift in Deutschland erscheinen kann und ich mich nicht an einen ausländischen Verlag wenden musste.
Köln, im Mai 2017
Klaus Johannes Tipke
1Gerd Lüdemann, Die Intoleranz des Evangeliums, 2004, S. 214.
Wer ein Buch lesen möchte, das sich mit Fragen der religiösen oder säkularen Weltanschauung befasst, hat Anspruch darauf, etwas vom Verfasser sowie darüber zu erfahren, was ihn zu dieser Schrift bewogen hat.
1925 wurde ich als Sohn eines Landwirts bei Stade (Nord-Niedersachsen) geboren. Meine Vorfahren waren anfangs auch Katholiken – bis sich in Norddeutschland die Reformation Martin Luthers durchsetzte. Hätte die Gegenreformation auch in Nordwestdeutschland Erfolg gehabt, wäre diese Gegend wohl auch heute noch katholisch – wie das Münsterland und das südliche Oldenburger Land. Aber während des Dreißigjährigen Krieges kamen die Schweden den norddeutschen Protestanten erfolgreich zur Hilfe. Schon 1555 war im Augsburger Religionsfrieden beschlossen worden, dass die weltliche oder kirchliche Herrschaft über die Religion der Untertanen bestimmen solle. Und so blieb durch Fremdbestimmung die Gegend zwischen Niederelbe und Niederweser evangelisch-lutherisch. Heute machen sich nur wenige Gläubige klar, von welchen Umständen und Zufällen es abhing, ob man katholisch oder evangelisch wurde. Der katholischen oder evangelischen Indoktrination gelang es im Allgemeinen, das Volk davon zu überzeugen, dass es im Besitz des „allein richtigen und wahren Glaubens“ sei. Nur wenige guckten über den Tellerrand ihrer Religion hinaus.
Die Gegend zwischen Niederelbe und Niederweser, die zeitweilig zu Schweden gehört hatte, wurde 1814 Teil des Königreichs Hannover, in dem das Bündnis zwischen Thron und Altar herrschte. Die Schulen unterstanden der Aufsicht der Kirche, und Religion war das Haupt-Schulfach, wichtiger als Lesen, Schreiben und Rechnen. Das änderte sich, als das Königreich Hannover 1866 von Preußen annektiert wurde. Gegen den Protest der Kirche und von Teilen der Bevölkerung beseitigte Preußen den Vorrang des Religionsunterrichts. Religion, Lesen, Schreiben und Rechnen wurden als gleichwertig behandelt. Es blieb aber bei der Herrschaft von Thron und Altar. Nur der Thron hatte gewechselt.
Als meine Mutter, die 1902 geboren wurde, in ihre Dorf-Volksschule ging, begann der Unterricht mit einem Gebet. Dem Gebet folgte ein Kirchenlied, das der Lehrer aus dem Hannöverschen Gesangbuch auswählte. Und schließlich wurde bei besonderen Anlässen die erste Strophe der Kaiserhymne gesungen:
„Heil dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands,
Heil, Kaiser, dir!
Fühl in des Thrones Glanz,
die hohe Wonne ganz,
Liebling des Volks zu sein!
Heil Kaiser, dir!“
Am so genannten Sedans-Tag kam dann noch folgender Vers hinzu:
„Heilige Flamme, glüh,
glüh und erlösche nie
fürs Vaterland!
Wir alle stehen dann
mutig für einen Mann,
kämpfen und bluten gern
für Thron und Reich.“
Nachdem ein lobsüchtiger Gott und ein ruhmsüchtiger Kaiser geehrt worden waren, begann dann der Unterricht. Der Spruch über der Eingangstür der Schule lautete: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn ihrer ist das Himmelreich“.
Meine Eltern waren praktizierende Lutheraner. Sie besuchten regelmäßig den Gottesdienst und andere kirchliche Veranstaltungen. In meiner Kindheit fand unter den Eichen des väterlichen Hofes in den dreißiger Jahren ein großes Missionsfest statt.
Was Mutter mit mir vor dem Schlafengehen betete, habe ich zum Teil bis heute im Kopf behalten. Zum Beispiel:
Lieber Gott, mach mich fromm,
dass ich in den Himmel komm.
Ich bin klein, mein Herz mach rein,
soll niemand drin wohnen als Jesus allein.
Müde bin ich, geh zur Ruh‘,
schließe beide Äuglein zu.
Vater lass die Augen Dein,
über meinem Bette sein.
Auch vor und nach den Mahlzeiten wurde gebetet. Vor und nach der Mittagsmahlzeit z. B.:
Komm Herr Jesus, sei unser Gast,
und segne, was Du uns bescheret hast.
Wir danken Dir, Herr Jesus Christ,
dass Du unser Gast gewesen bist,
bleib‘ Du bei uns, so hat’s nicht Not,
Du bist das rechte Lebensbrot.
In der Tür zum Garten hin stand, eingerahmt von buntem Glas, der Spruch:
Er sendet Tau und Regen
und Sonn- und Mondenschein.
Von ihm kommt aller Segen,
von unserm Gott allein.
Im langen Flur über der großen Kommode hing der Spruch:
Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln…
Wann ich angefangen habe, über den Inhalt der Gebete nachzudenken, weiß ich nicht mehr. Aber früh soll ich vor allem Mutter mit Fragen behelligt haben über Gott, über Gottvater und über Jesus. „Wo sitzt denn das Herz, und wie ist es möglich, dass Jesus in das Herz hineinkommt?“ Ich musste lernen, der Vater, der seine Augen über meinem Bett haben sollte, sei nicht der Vater, der die Tischgebete spricht, sondern der Gottvater, der durch die Wände hindurchgucken kann – bis hinein in unser Herz, in dem aber auch Jesus Platz haben sollte.
In jedem Jahr kam bei uns der Weihnachtsmann – mit großem weißem Bart, mit einem Sack und mit einer Rute. Ein ähnlicher Typ, so stellte ich mir vor, müsste auch Gott sein. Ich erkannte allerdings bald, dass der Weihnachtsmann ein Onkel war. Und mit Jesus hatte ich meine Probleme. Er wurde zum Essen eingeladen, ließ sich aber nie blicken. Er bescherte Mahlzeiten und sorgte für Brot. War er ein Koch, ein Bäcker? Aber ich sah doch, dass Mutter und das Gesinde kochten und Brot backten. Die Antworten, die Mutter mir auf meine Fragen gab, leuchteten mir schon damals wenig ein.
Als ich fünf Jahre alt war, nahmen die Eltern den Pastor auf unserem Pferde-Kutschwagen zu den Großeltern mütterlicherseits mit, ich durfte ebenfalls mitfahren. Als wir in der Dunkelheit zurückfuhren, erzählte Mutter dem Pastor, dass ich ein unbequemer Fragesteller sei, auch über Gott und Jesus habe ich gefragt. Ich tat so, als schliefe ich und hörte alles mit. Der Pastor meinte, man solle mich so früh wie möglich in seinen Kindergottesdienst schicken. Dann werde sich alles von selbst klären.
Als ich 1932 in die Schule gekommen war und lesen gelernt hatte, nahm mich die Großmutter mütterlicherseits mit zum Friedhof, wo sie die Gräber von Verwandten pflegen wollte. Ich ging nun auf dem Friedhof herum und las, was auf den Grabsteinen stand. Ich kam dann zu einem besonders großen Stein, der überragt wurde durch ein Kreuz mit einem Mann, dem man große Nägel durch Hände und Füße geschlagen hatte. Darunter stand: „Jesu Blut und Gerechtigkeit, ist mein Schmuck- und Ehrenkleid.“ Da war er wieder, der Herr Jesus, aber in welchem Zustand befand er sich! Ich holte nun die Großmutter herbei und fragte: „Oma, was haben sie mit dem Mann gemacht?“ Sie antwortete: „Das ist unser Herr Jesus Christus, der ist für uns am Kreuz gestorben und hat uns dadurch von unseren Sünden erlöst.“ Ich wollte nun wissen, was Sünde ist und ob der Mann am Kreuz derselbe sei, bei dem man sich für Mahlzeiten bedankt. Auch fragte ich die Großmutter, wie der Mann Jesus in die Herzen von Menschen hineinkommt. Aber die Großmutter wies mich ab mit den Worten: „Ach, dafür bist du noch zu klein. Das lernst du alles noch in der Schule, im Kindergottesdienst und im Konfirmandenunterricht.“ Von Mutter erfuhr ich, dass es Sünde ist, etwas Böses zu tun. Auch die Frage, wie die Kreuzigung eines Menschen bewirken kann, dass den Menschen ihre Sünden vergeben werden, hat mich früh beschäftigt.
Dass man konfirmiert wurde, war in meiner Jugend eine Selbstverständlichkeit. Dass man mit 14 Jahren religionsmündig werde und selbst über seinen Glauben entscheiden könne, erfuhr man nicht. Im Konfirmandenunterricht lernte man, dass man selig werde allein durch den Glauben, nicht aufgrund „guter Werke“, wobei zugestanden wurde, dass „gute Werke“ erlaubt seien; aber dafür gebe es keine Punkte. Und zum Glauben komme man nur durch die Gnade Gottes. Meinem Gerechtigkeitsempfinden entsprach das schon damals nicht.
Ich war schon Oberstufen-Gymnasiast, als ich zum ersten Mal ein religionskritisches Buch in die Hand bekam, „Das Leben Jesu“ von David Friedrich Strauß (1808–1874). Aus dem Buch erfuhr ich vieles, wovon ich im Konfirmandenunterricht nichts gehört hatte. Und das machte mich neugierig und skeptisch. Meine Mutter beharrte auf dem Standpunkt, das Glauben sei Willenssache, Sache des guten oder schlechten Willens, man müsse nur glauben wollen.
Im Frühjahr 1943 erhielt ich von einer Oberschule in Hamburg-Altona den Reifevermerk und wurde zum Arbeitsdienst nach Ostfriesland eingezogen. Einige Wochen lang musste ich abends die Telefonvermittlung bedienen. In die Baracke, in der sich die Vermittlung befand, kehrten abends gern junge Vorgesetzte ein, die vom Ausgang zurückkamen. Sie kamen alle aus der Gegend von Rheine in Westfalen. Eines Abends erzählte einer von ihnen, er habe jetzt ein liebes Mädchen kennengelernt. Sie habe leider nur einen Fehler, von dem seine Mutter nichts wissen dürfe, sie sei nämlich nicht katholisch. Ein Kamerad klärte ihn so auf: „Die Leute hier in Ostfriesland können auch nichts dafür, dass sie nicht katholisch sind, sie werden von vornherein anders geboren.“ „Anders geboren“, das war wohl die richtige Bezeichnung. Wer als Kind evangelischer Eltern geboren wird, wird nicht katholisch.
Im Herbst 1943 wurde ich zur Infanterie einberufen. An einem Wochenende entdeckte ich in der Lübecker Stadtbücherei ein Buch des Zoologen und Pantheisten Ernst Haeckel (1834–1919) über die Welträtsel. Der pantheistische Gott gefiel mir besser als der personenhafte Gott aus der Wolke über Israel.
Ende Oktober 1944 wurde ich im Kurlandkessel (Lettland) durch einen Granatsplitter am Kopf schwer verwundet und verlor das linke Auge. Als ich im Lazarett in Libau auf einer Pritsche lag, kam ein Feldgeistlicher zu mir und erkundigte sich danach, wo es mich denn erwischt habe. Als ich ihm vom Verlust des linken Auges erzählte, meinte er: „Da müssen wir unserem Herrgott aber dafür danken, dass Sie nicht beide Augen verloren haben, dass Sie nicht blind sind.“ Ziemlich unwirsch erwiderte ich ihm: „Wäre ich nun blind, hätten Sie wahrscheinlich zu mir gesagt, wir müssten Gott dafür danken, dass ich noch am Leben sei.“ Übrigens kämpften wir damals „mit Gott“. Auf unseren Koppelschlössern stand auch in der Hitlerzeit noch immer: „Gott mit uns“. Auf dem Schlachtfeld hatte ich den Eindruck, dass Gott sich um nichts kümmere, dass er allenfalls Zuschauer sei. Im Herbst 1944 war er dabei, den Atheisten Josef Stalin den Krieg gewinnen zu lassen.
Nachdem meine Verwundung ausgeheilt war, kam ich im Februar 1945 als Fahnenjunker-Unteroffizier zur Kriegsschule der Infanterie nach Randers in Dänemark. Die Kameraden, die ich dort traf, waren fast alle bayrische Katholiken. Einige von ihnen erzählten, sie nähmen bei unserem Hauptmann und Taktiklehrer Meyer-B. abends an einem katholischen Arbeitskreis teil. Ich konnte es nicht unterdrücken, zu ihren religiösen Bemerkungen einige kritische Anmerkungen zu machen. Das verschaffte mir die Ehre, von dem Hauptmann zu einem „Religionsgespräch“ eingeladen zu werden. Ich nahm die Einladung an in der Annahme, dass es zu einem Dialog auf Augenhöhe kommen werde, wurde darin aber enttäuscht. Als ich den Raum betrat, den der Hauptmann angegeben hatte, saßen dort bereits etwa 20 Fahnenjunker als Claque des Hauptmanns bereit. Schon nach kurzer Zeit hatte ich den Eindruck, der Hauptmann beabsichtige, mich vor den Fahnenjunkern vorzuführen. Er trug weitschweifig seine – aus meiner Sicht – religiösen Phrasen vor und empfand meine Einlassung als Provokation und vor allem als schlechtes Benehmen gegenüber einem Hauptmann. Ich erwiderte ihm: Herr Hauptmann, die Konvention cuius regio eius religio (der, dem das Land gehört, bestimmt die Religion seiner Untertanen) sei mir bekannt. Ich wisse aber nicht, dass ein Hauptmann die Religion seiner Untergebenen bestimmen dürfe. Wenn wir ein faires Religionsgespräch auf Augenhöhe führen wollten, dürfte ich doch nicht berücksichtigen müssen, dass er Hauptmann sei und ich Unteroffizier. Auch das war wieder eine Provokation. Der Hauptmann verlor nun vollends die Contenance. Er holte aus seiner Brusttasche ein Kruzifix hervor und warf es vor mir auf den Tisch mit der Prognose: „Auch Sie werden vor diesem Kreuz noch im Staube kriechen. Es ist nicht genug, dass Sie ein Auge verloren haben, Sie hätten den ganzen Körper verlieren müssen, um zur richtigen Gotterkenntnis zu kommen.“ Ich bat ihn darauf darum, mir zu erklären, wie man ohne Körper zu Gotterkenntnissen kommen kann. Aber er schrie: „Nein, ich habe genug von Ihnen, scheren Sie sich jetzt raus.“ Etwa eine Woche später entschuldigte sich der Hauptmann bei mir, er wusste genau, was er gesagt hatte, hatte es vielleicht auch von den bei dem Religionsgespräch anwesenden Fahnenjunkern erfahren. Die Entschuldigung nahm ich an, bat ihn aber, diese Entschuldigung vor den Fahnenjunkern zu wiederholen. Auch das tat er.
Nach Kriegsende, 1946, begann ich ein Studium in der Philosophischen Fakultät. Meiner Mutter hätte ich sicher eine große Freude bereitet, hätte ich ihr erzählt, ich wolle evangelische Theologie studieren und auf dem Lande Pastor werden. Nur hatte ich mich am Kriegsende schon recht weit vom christlichen Glauben entfernt und wollte nicht zu denen gehören, die etwas predigen, was sie selbst nicht glauben. So hörte ich Vorlesungen über Fichte, Schelling und Hegel, befasste mich mit der Ethik von Kant und dem Atheisten Schopenhauer, insbesondere mit dessen Stellungnahmen zur Religion. Aber nach drei Semestern gab ich das abstrakte Studium auf und wechselte zu den Juristen in der irrigen Annahme, dass sie angewandte Ethik betrieben.
Nach den beiden Staatsexamina bewarb ich mich u. a. bei der Finanzverwaltung in Hamburg. Nach wenigen Jahren wechselte ich aber zur Finanzgerichtsbarkeit. Als Richter erarbeitete ich zusammen mit dem Kollegen H. W. Kruse einen Kommentar zur Abgabenordnung und zur Finanzgerichtsordnung. Dieser bald viel zitierte Kommentar war es wohl vor allem, der mir einen Ruf auf den Lehrstuhl für Steuerrecht der Universität zu Köln einbrachte. Diesem Ruf bin ich gefolgt, weil ich den Steuerpositivismus überwinden wollte. Ich wollte zeigen, dass Steuerrecht Gerechtigkeitsrecht, dass Steuerrechtswissenschaft Gerechtigkeitswissenschaft sein muss. Ich schrieb einen systematischen Grundriss zum Steuerrecht, in dem ich zeigte, dass das Steuerrecht ein System brauche, dass ein chaotisches Konglomerat nicht genüge. Ich hatte tatsächlich ein juristisches Fach gefunden, in dem die Gerechtigkeit eine größere Rolle spielen konnte als in fast jedem anderen juristischen Bereich. Ich schrieb eine Monographie über Steuergerechtigkeit und erarbeitete ein dreibändiges Werk mit dem Titel „Die Steuerrechtsordnung“. Ich hätte auch den Titel wählen können „Die Steuergerechtigkeitsordnung“.
Richter sind unabhängig. Sie müssen lernen, unparteiisch zu sein. Sie müssen beide Seiten anhören. Auch Universitätsprofessoren sind unabhängig. Forschung und Lehre sind frei. Das sind m.E. gute Voraussetzungen, sich möglichst objektiv mit dem Thema dieser Schrift zu befassen.
Bis zum 80. Lebensjahr war ich mit meiner Einäugigkeit relativ gut zurechtgekommen. Danach sank meine Sehkraft infolge eines grünen Stars aber ziemlich schnell. Daher stellte ich die Arbeit am Steuerrecht ein und wandte mich mit Hilfe eines Lesegeräts der Lektüre religiöser und vor allem auch religionskritischer Literatur zu. Ein spanischer Kollege, Mitglied des Opus Dei, hatte mir den katholischen Katechismus in deutscher Sprache geschenkt. Diese Glaubenslehre habe ich zweimal durchgearbeitet. Das hat bei mir aber nicht zu dem Entschluss geführt, der katholischen Kirche beizutreten. Auch Knaurs großen Religionsführer mit 670 Religionen, Kirchen und Kulten habe ich fast zur Gänze durchgesehen und kann die Lektüre dieses Buches nur empfehlen, weil es zeigt, was Menschen alles glauben können. Das Buch enthält keine Religionskritik, macht aber bewusst, wie unentbehrlich Religions- und Glaubensfreiheit sind.
Ich gehe davon aus, dass die christlichen Kirchen sich in einem Dilemma befinden. Einerseits wollen sie an der Bibel festhalten, andererseits wollen sie aber auch nicht aufklärungsfeindlich erscheinen. Einerseits wollen die Kirchen an ihrem Glaubensbekenntnis festhalten, andererseits aber auch nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse übergehen. Die christlichen Glaubensbekenntnisse und die Erkenntnisse der Wissenschaft – geht das aber zusammen? Das soll in dieser Schrift möglichst geklärt werden. Am Beispiel des Christentums möchte ich zeigen, dass es den allein wahren und richtigen Glauben nicht gibt, dass auch religiöse Fanatiker die Religions- und Glaubensfreiheit anderer respektieren müssen.
Zu dieser Niederschrift habe ich mich aus folgendem Grund entschlossen: Das Grundgesetz betrachtet – ebenso wie auch andere rechtsstaatliche Verfassungen – den religiösen Glauben und die säkulare Weltanschauung als gleichwertig. Niemand ist deshalb minderwertig, weil er keinem religiösen Glauben anhängt. Sowohl von Religionsgemeinschaften und ihren Gläubigen als auch von Weltanschauungsgemeinschaften und den ihr Angehörenden wird verlangt, dass sie tolerant sind. Der deutsche Staat und seine Politiker sind aber nicht neutral. Sie bevorzugen die großen christlichen Kirchen. Es hat sich erfahrungsgemäß nicht bewährt, wenn Religionen lehren und ihre Mitglieder annehmen, ja davon überzeugt sind, dass der von ihrer Gemeinschaft vertretene Glaube „der einzig Wahre und Richtige“ ist. In Rechtsstaaten gilt die Meinungs- und Informationsfreiheit. Die Meinungsfreiheit besteht darin, dass jedermann seine Meinung in Wort, Schrift oder Bild ausdrücken darf. Was nützt aber das Recht auf Ausdruck in Schrift, wenn Verleger eine Zensur ausüben und bestimmte Meinungen übereinstimmend (etwa im Sinne der Kirche) unterdrücken, aufklärerische Schriften nicht annehmen?
Die Informationsfreiheit besteht darin, sich ungehindert informieren zu lassen und informieren zu dürfen. Was hilft es dem Leser aber, wenn der Staat nicht zensiert, die Verleger aber eine Zensur im Sinne des Staates oder der Kirche übernehmen. Jeder Jugendliche sollte mehr über Religion und Weltanschauung lernen als das Ererbte. Jeder Mensch muss das Recht haben, sich durch Bücher auch über ihm fremde Religionen und Weltanschauungen zu informieren. Solche Information ist nicht möglich, wenn Verleger sich weigern, etwas Religionskritisches zu veröffentlichen. Gegen eine solche Bevormundung wende und wehre ich mich.
Ich halte es für möglich, dass auch diese Schrift unterdrückt wird. Wären die christlichen Kirchen für Religions- und Glaubensfreiheit, wären sie fair, so würden sie sich gegen die Unterdrückung von Weltanschauungen wenden. Was ist das für eine Streitkultur, in der der Gegner totgeschwiegen wird, weil man ihm argumentativ nicht gewachsen ist?
Damit keine falschen Vorstellungen entstehen: Ich kritisiere das Christentum nicht, um den Islam zu empfehlen. Vor allem das evangelische Christentum ist bemüht, sich an die Aufklärung anzupassen, muss allerdings auch erkennen, dass es nicht möglich ist, Bibel und Aufklärung zusammenzuführen. Am Islam ist die Aufklärung weitgehend vorbeigegangen. Wegen meiner sehr schwachen Rest-Sehkraft konnte ich aber nicht den Islam auch noch durchgehend vergleichend berücksichtigen.
Wenn ich von den christlichen Kirchen spreche, so meine ich nur die katholische und die evangelische Kirche, nicht die orthodoxen Kirchen und auch nicht die anglikanische Kirche. Den Schwerpunkt habe ich auf die katholische Kirche gelegt.
Verwendet habe ich folgende Katechismen: Katechismus der Katholischen Kirche von 1993; Katholischer Katechismus, herausgegeben von der Deutschen Bischofskonferenz, 1. Band. (Das Glaubensbekenntnis der Kirche), 5. Auflage, 2013, 2. Band (Leben aus dem Glauben), 1995; Katechismus der Katholischen Kirche, Kompendium, 2005; Evangelischer Erwachsenenkatechismus, 2013.
Begriffliche Vorbemerkung: Im allgemeinen Sprachgebrauch wird zwischen Glaube und Unglaube, zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterschieden. In manchen Katechismen wird statt von Gläubigen auch von Glaubenden gesprochen, jedoch nicht von Unglaubenden. Statt von Ungläubigen kann man auch von Nichtglaubenden und Glaubensunfähigen sprechen. M. E. kann man bei Begriffen wie Unglaube und ungläubig bleiben. Nur muss man die Begriffe entsprechend der Glaubens- und Unglaubensfreiheit neutral gebrauchen, nicht abwertend – mit einem negativen Wertakzent wie die Begriffe gottlos und Heide.
Schon vor etlichen Jahren stellte der Theologe Heinz Zahrnt fest: „Wir sind Zeugen des größten und umfassendsten Säkularisierungsprozesses, der jemals in der Geschichte des Christentums, vielleicht sogar in der gesamten Religionsgeschichte, stattgefunden hat (F.A.Z. v. 17.2.1996). Von einem weltweiten Prozess kann allerdings nicht die Rede sein. Ein Leserbrief fügt hinzu: „Angesichts von inzwischen jährlich mehrere Hunderttausende zählenden Kirchenaustritten in Deutschland ist die Sorge kirchlicher Autoritäten vor einem lautlosen Ausrinnen des katholischen Glaubens zu verstehen“ (F.A.Z. v. 22.3.2017).
Dass die christlichen Kirchen in Europa sich in einer misslichen Lage befinden, ist allgemein bekannt. In Deutschland heben sich jedoch die Verhältnisse in den ostdeutschen Ländern extrem von denen in den westdeutschen Ländern ab. Die Kirchen hatten erwartet, dass sich die Situation in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung der Situation in Westdeutschland wieder annähern würde. Diese Erwartung erfüllte sich jedoch nicht. Die Kirchen haben in Ostdeutschland keinen Boden zurückgewonnen. Man darf die Lage der Kirchen in Ostdeutschland wohl hoffnungslos nennen. In Martin Luthers Geburtsstadt Eisleben sind nur noch 7% der Einwohner getauft.
Versuche, die frappierenden Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland zu erklären, sind durchweg in Vermutungen steckengeblieben. 1946 gehörten noch 93,8% der ostdeutschen Bevölkerung christlichen Kirchen an, 1989 waren es nur noch 23,9%. Die Zahl der Konfessionslosen war von 5,1% (1964) auf 74,8% (1989) gestiegen. Als die DDR 1950 damit begann, die christlichen Kirchen durch Unterdrückungsmaßnahmen zu behindern, war das auch für die ostdeutsche Bevölkerung noch gewöhnungsbedürftig. Danach muss es dem SED-Staat aber zunehmend gelungen sein, die Bevölkerung von den Vorteilen des Atheismus (nicht alle Konfessionslosen sind Atheisten) zu überzeugen. Atheisten müssen sich vor keinem Gott rechtfertigen. Sie sind nicht gehalten, den Bibelgott zugleich zu fürchten, zu loben und zu verehren. Sie brauchen sich weder vor dem Teufel noch vor dem Jüngsten Gericht noch vor der Feuerhölle zu fürchten. Sie können insoweit angstfrei leben. In den Zustand der christlichen Angstmache wollten sie wohl 1989 nicht zurück.
Hinzu kommt: Den Ostdeutschen war nach der staatlichen Wiedervereinigung das Grundgesetz und fast jede Gesetzesvorschrift der BRD „übergestülpt“ worden. Das verdross viele. Und so wollten sie neben der Wiedervereinigung nicht noch die „Wiederverchristlichung“. Die Kirchen hätten diese wohl gern erreicht, scheiterten aber an der in Art. 4 Grundgesetz garantierten Glaubensfreiheit. Das Verbleiben in der Konfessionsfreiheit mag auch einer Protesthaltung gegen die Übernahme westdeutscher Zustände entspringen. Soweit die Ostdeutschen die Kirchenflucht schon zu DDR-Zeiten hinter sich gebracht hatten, erübrigte sie sich nach der Wiedervereinigung. Die Ostdeutschen haben zweierlei Freiheit erreicht: mit Hilfe des SED-Staates die Freiheit von der Bevormundung der Kirche und durch die Wiedervereinigung die Freiheit vom SED-Staat DDR.
Die Kirchenflucht oder Entkirchlichung geht allerdings auch im Westen Deutschlands Jahr für Jahr weiter, wenn auch in den verschiedenen Bundesländern in unterschiedlichem Ausmaß. Insgesamt lässt sich die Situation der Kirchen in Deutschland unerfreulich nennen. In den Großstädten verlieren die Kirchen durchweg mehr Boden als in ländlichen Gebieten. In kirchlicher Hinsicht dürfte der Osten eher den Westen beeinflussen als der Westen den Osten. Überall in Deutschland geht die Zahl der Taufen und Firmungen oder Konfirmationen zurück. Den Kirchen fehlt es an Mitglieder-Nachwuchs; man spricht schon von Vergreisung der Gemeinden. Die Gottesdienste werden mehr oder weniger schlecht besucht, alte Menschen überwiegen im Gottesdienst. Kirchen müssen geschlossen werden, oder es wird nicht mehr allsonntäglich Gottesdienst oder Messe abgehalten. In der F.A.Z. vom 22.10.2016 berichtet Daniel Deckers über die Machtkämpfe der obersten Würdenträger der Katholischen Kirche in Deutschland. Über die Situation dieser Kirche äußert er: „Wegen eines noch nie dagewesenen Mangels an Priestern wird schon jetzt längst nicht mehr an jedem Sonntag in jeder katholischen Kirche eine Messe gefeiert. Gleichzeitig müssen in vielen Bistümern immer weniger Priester immer mehr Pfarrgemeinden leiten – oder Pfarrgemeinden werden so lange zusammengelegt, bis die Zahl der Pfarreien deckungsgleich ist mit der Zahl der Priester, mit denen in fünf oder zehn Jahren noch zu rechnen ist. Immer gleicht das Vorgehen einer Operation am offenen Herzen. Dass der Patient ‚Gemeinde‘ die ‚Strukturdebatten‘ überlebt, wird von Reform zu Reform unwahrscheinlicher. Auch auf diesem Feld geht jeder Bischof heute seine eigenen Wege – geschweige denn, dass es hinreichend belastbare Annahmen über Kosten und Nutzen, Risiken und Chancen solcher Anpassungsprozesse von oben gäbe. Im Bistum Münster etwa könnte bald die Hälfte der aktiven Priester aus Indien stammen, im Erzbistum Hamburg will man den Münsteraner Weg gerade nicht gehen, im Bistum Mainz sind die Strukturen fast noch genauso wie vor gut 30 Jahren, als Lehmann Bischof wurde. … Hinzu kommt eine mit Händen zu greifende Hilflosigkeit, wie dem Zusammenbruch der volkskirchlichen Strukturen und dem Abbruch religiöser Traditionen begegnet werden kann. Schon das unvermindert hohe Niveau der Zahl der Kirchenaustritte von zuletzt 182.000 (2015) spricht Bände. Die Quote der regelmässigen Gottesdienstbesucher in Deutschland ist seit Mitte der neunziger Jahre von durchschnittlich 18,6 Prozent auf 10,0 Prozent gesunken. In immer mehr Bistümern, etwa in Aachen und Freiburg, liegt sie inzwischen bei unter neun Prozent.“
Carsten Frerk resümiert: „Den Kirchen laufen die Mitglieder weg. Die verbleibenden Mitglieder kümmern sich immer weniger um die christlichen Angebote, und Priester wie Pastoren kämpfen mit dem Burn-out-Syndrom, weil nur noch wenige Ältere sowie ein paar Konfirmanden am Gottesdienst teilnehmen. Volkskirche war einmal …“2
Die Gründe für die Entkirchlichung verlässlich festzustellen, ist schwierig, wenn nicht unmöglich. Wer sich von der Kirche fernhält, auch wer aus der Kirche austritt, muss keine Gründe angeben. Umfragen bringen auch keine verlässlichen Ergebnisse. Sie zeigen aber, dass die Gründe von Schicht zu Schicht verschieden sein können.
Eine schon breite Schicht, zu der auch viele Jugendliche gehören, gibt an, sich für Religion, für Gott und Kirche nicht zu interessieren. Für sie ist die Kirche nicht attraktiv, sie ist nicht „in“. Nicht wenige Jugendliche halten sich von der Kirche nur fern, weil es so viele andere auch tun. In dieser Schicht fragt man sich nicht, ob ihre religiöse Gleichgültigkeit, ihre Kirchen- und Glaubensenthaltsamkeit nachteilige Folgen haben könnte. Die Hölle spielt in ihrem Bewusstsein keine Rolle. Die Kirchen haben wahrscheinlich keine Möglichkeit, diese Schicht mit ihren Mitteln zu gewinnen oder zurückzugewinnen.
Die Schicht der Nicht-Gleichgültigen und Nachdenklichen entfernt sich von der Kirche vermutlich überwiegend deshalb, weil sie das, was sie glauben soll, für unglaubwürdig oder unerheblich hält. Diese Schicht kann man nicht dadurch gewinnen, dass man über den Inhalt des christlichen Glaubens informiert, man müsste sie von der Glaubwürdigkeit dieses Inhalts überzeugen. Aber wie?
Früher blieben auch Nichtgläubige Mitglied der Kirche, weil der Kirchenaustritt von ihnen für inopportun gehalten wurde für die Reputation, insbesondere für das berufliche Fortkommen. Die von der Verfassung garantierte Glaubensfreiheit verhindert weitgehend eine Benachteiligung aus Glaubens- oder Unglaubensgründen. Die Zahl der Nichtgläubigen und Gleichgültigen ist inzwischen derartig angewachsen, dass auch Nichtgläubige kaum noch als Gottlose oder Heiden bezeichnet werden. Auch die Quantität der Konfessionslosen schützt diese vor Diskriminierung durch Gläubige.
Der Feiertag wird nur noch von einer kleinen Minderheit im Sinne des Katechismus geheiligt. Die Gottesdienstbesucher vergreisen mehr und mehr. Die große Mehrheit der Bevölkerung steigt am Wochenende in das Auto und begibt sich, wenn das Wetter es zulässt, in die Natur. Sie erfreut sich – ohne Gebet – am Picknick oder speist in Restaurants. Sie begibt sich auf Wanderungen oder besucht Kultur- oder Sportveranstaltungen. Die Religion, der Glaube, spielt im Leben auch vieler Katholiken keine Rolle mehr, im Arbeitsleben schon gar nicht. Unter Freizeitgestaltung versteht die große Mehrheit etwas anderes als die Heiligung von Sonntagen und kirchlichen Feiertagen. Die Angst vor der Hölle ist verschwunden. Politiker betreiben ihr politisches Geschäft auch an Sonntagen und kirchlichen Feiertagen. Das sind Fakten, die jeder beobachten kann, wenn er will. Und die weltliche Freizeitgestaltung ist für die große Mehrheit attraktiver als Kirchenbesuch, Bibellesung und Predigt sowie das Anhören „frommen Salbaderns“ es sind.
Die Entkirchlichung ist übrigens nicht allein auf Agnostiker, Atheisten, auf weltliche Humanisten zurückzuführen. Es gibt, wie bereits erwähnt, auch viele religiös Gleichgültige (Indifferente); sie werden sich noch vermehren, wenn allgemein bekannt wird, dass die christlichen Kirchen an der Vorstellung der Hölle als Feuerofen nicht mehr festhalten. Es gibt jugendliche Fans von Sportvereinen, die erklären, dass ihr Verein ihre Religion sei. Es gibt Rockerbanden und andere kriminelle Vereinigungen, die stolz erklären, dass sie gesetzlos leben. Sie sind aber nicht nur gesetzlos, sie kommen auch gänzlich ohne Gott aus. Der Rechtsstaat wird mit ihnen nicht fertig, aber die Kirche auch nicht.
Es empfiehlt sich jedenfalls, das christliche Glaubensinventar auf seine Glaubwürdigkeit und auf seine ethische Erheblichkeit zu prüfen.
In Westdeutschland gehörten 1951 noch 96,4 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Konfession an. Seit den 1970er Jahren zeigt sich jedoch eine ständig zunehmende Säkularisierung (Verweltlichung). Infolge der Wiedervereinigung änderte sich die konfessionelle Struktur Deutschlands beträchtlich. Seit 1990 sank die Zahl der Katholiken in Deutschland um 16,1 Prozent sowie die der Protestanten um 22,6 Prozent. In den Jahren 1990 bis 2013 traten 3,2 Millionen Menschen aus der katholischen Kirche aus. In derselben Zeit traten ca. 0,25 Millionen in diese Kirche ein. Die evangelischen Kirchen, die 1990 mit 29,4 Millionen Mitgliedern noch 36,9 Prozent der Bevölkerung repräsentiert hatten, waren noch etwas stärker rückläufig. Von 1990 bis 2013 traten 4,5 Millionen Menschen aus der evangelischen Kirche aus. Zur selben Zeit traten ca. 1 Million in diese Kirche ein. Die Austrittszahlen im Jahr 2014: Katholiken: 217.716, Angehörige der evangelischen Kirche: 270.003; die Zahlen für Kircheneintritte fallen demgegenüber nicht wesentlich ins Gewicht.
Eine kurze Rückblende bis in die Weimarer Republik mag zeigen, dass der Nationalsozialismus keine wesentlichen Spuren hinterlassen hat, was die Kirchenzugehörigkeit betrifft. Die Zahl der Kirchenaustritte betrug in Deutschland 1932, im letzten Jahr der Weimarer Republik, 77.000 Katholiken und Protestanten. 1934 fiel diese Zahl auf relativ geringe 56.000. Dieses Absinken erklärt sich so: Die Religiösen bezeichneten die Weimarer Verfassung als „gottlos“, weil sie keinen Gottesbezug enthielt. Die Weimarer Republik wurde von religiösen Kreisen sogar als gottloser Staat bezeichnet. Von den Nationalsozialisten erwarteten oder erhofften sich viele Gläubige, die Nationalsozialisten würden zur Allianz von Staat und Kirche zurückkehren.
Der evangelische Superintendent von Stade war 1933 gläubiger Nationalsozialist. Vor allem in den Jahren 1936 und 1937 wurde Hitler dann so hochgejubelt, dass er anfing, sich selbst für den Messias zu halten. Die Kirchen wurden nun mehr und mehr zu Konkurrenten des Nationalsozialismus. Die Nationalsozialisten fingen an, Kirchenaustritte zu begrüßen. So stieg die Zahl der Austritte in der Zeit von 1937 bis 1939 von 400.000 bis auf 500.000. Während des Krieges ging die Zahl der Kirchenaustritte dann merklich zurück. Sie betrug 1944 nur noch 23.000. Im Krieg hatte man andere Sorgen als aus der Kirche auszutreten.
Nach der Wiedervereinigung von 1989 hatten die Kirchen erwartet oder jedenfalls erhofft, dass die während der DDR-Episode aus der Kirche Ausgetretenen wieder in ihren Schoß zurückkehren würden. Diese Erwartung oder Hoffnung wurde aber enttäuscht. Die Verhältnisse in den neuen Ländern (früher DDR) weichen bis heute frappierend von den Verhältnissen in Westdeutschland ab. Das zeigt, dass die DDR-Machthaber nicht nur Druck auf die Kirchen ausgeübt haben, sondern auch erfolgreiche Überzeugungsarbeit gegen die Kirchen geleistet haben. Ein Beispiel aus der Gegenwart: In Sachsen beträgt die Zahl der Nicht-Christen (als Sonstige bezeichnet) 82,6 Prozent, im Saarland hingegen nur 18,6 Prozent. Allerdings brachte das nordwestdeutsche Hamburg es bereits 2009 auf 61,1 Prozent Konfessionslose.
Wie sehr der Glaube bröckelt, zeigt sich auch an den Zahlen der Taufen. Bis in die 1960er Jahre hinein entfielen auf 100 Geburten noch rund 45 katholische und 45 evangelische Taufen. Und wurden 1991 noch 299.504 katholische und 322.142 evangelische Taufen vollzogen, so sank diese Zahl 2011 auf 169.599 katholische Taufen und 178.801 evangelische Taufen. Das ist beinahe eine Halbierung. Heute werden nur noch rund 25 Prozent aller Kinder römisch-katholisch oder evangelisch getauft. Auch die Zahl der Firmungen/Konfirmationen sinkt entsprechend. Was das für die Zukunft der Kirchen bedeutet, kann man leicht ermessen.
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