Kirchenreform und betriebswirtschaftliches Denken - Christoph Meyns - E-Book

Kirchenreform und betriebswirtschaftliches Denken E-Book

Christoph Meyns

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Beschreibung

Kirche leiten in Zeiten leerer Kassen

Kirchenreform – unter diesem Stichwort werden seit rund zwei Jahrzehnten umfangreiche Rückbau-, Reorganisations- und Neuorientierungsprozesse verhandelt, zu denen sich die evangelische Kirche unter dem Vorzeichen leerer Kassen gezwungen sieht. Häufig sind es am betriebswirtschaftlichen Denken orientierte Analysen und Instrumente, mit deren Hilfe die Herausforderungen bewältigt werden sollen. Aber: Immer wieder führt dies in große Konflikte oder zu unbefriedigenden Ergebnissen. Warum ist das so?
Christoph Meyns untersucht, was sich kirchliche Leitungsinstanzen im Bemühen um eine sinnvolle Anpassung der kirchlichen Arbeit an sinkende Ressourcen vom Einsatz betriebswirtschaftlicher Denkansätze und Methoden erhoffen dürfen und was nicht. Er macht sichtbar, wo ihr Einsatz begrenzt Sinn ergibt und wo er in Aporien führt. Und er zeigt, worin mögliche Alternativen bestehen.

  • Warum die evangelische Kirche bei der Bewältigung von Rückbauprozessen kaum von betriebswirtschaftlichen Analyseansätze und Methoden profitieren kann und welche Alternativen es gibt
  • Eine fundierte, erfahrungssatte und eingängige Studie

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Diese Arbeit wurde als Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Ruhr-Universität Bochum mit dem Titel »Management als Mittel der Kirchenreform. Betriebswirtschaftliche Ansätze zur Bewältigung kirchlicher Rückbau-, Reorganisations- und Neuorientierungsprozesse« im Wintersemester 2012/2013 angenommen.
Copyright © 2013 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Covermotiv: © beermedia–Fotolia.comSatz: Satzlzeichen, Landesbergen
ISBN 978-3-641-12045-0V002
www.gtvh.dewww.penguinrandomhouse.de

meinen Eltern

Inhaltsverzeichnis

WidmungVorwortThema, Fragestellung und VorgehenA. Sinkende Einnahmen als Herausforderung für das kirchliche Leitungshandeln
I. Rückbau- und ReorganisationsmaßnahmenII. Neuorientierungsprozesse
B. Betriebswirtschaftliche Bewältigungsstrategien – ein exemplarischer Überblick
I. Effektivität und Effizienz als Grundthema der BetriebswirtschaftslehreII. Marketing
1. Grundzüge des Marketingdenkens2. Marketing in der Kirche3. Verbreitung und praktische Wirksamkeit
III. Management
1. Planung
a. Strategisches Managementb. Anwendung im kirchlichen Kontext
2. Organisation3. Personalführung
a. Personalwirtschaftliche Ansätzeb. Übertragung auf kirchliche Verhältnisse
4. Rechnungswesen und Controlling5. Verbreitung und Umsetzbarkeit
IV. New Public Management
1. Das Neue Steuerungsmodell2. Anwendung auf landeskirchlicher Ebene3. Praktische Erfahrungen
V. Zusammenfassung: Nur begrenzt wirksam
C. Die Wirtschaftstheorie als Paradigma kirchlicher Selbstwahrnehmung
I. Problembezug, erkenntnisleitendes Interesse und MethodikII. Das Ökonomische Verhaltensmodell
1. Grundannahmen, Hypothesen und Anwendungen2. Die Theorie rationaler Entscheidungen3. Grenzen der Erklärungskraft4. Empirische und wirtschaftsethische Einwände5. Zwischenbilanz: Eine problematische Theorie6. Das Marktmodell in der Religionssoziologie
III. Anwendung auf aktuelle kirchliche Herausforderungen
1. Steigerung der Wirtschaftlichkeit des kirchlichen Handelns2. Steigerung der Wirksamkeit des kirchlichen Handelns
a. Beteiligung am kirchlichen Lebenb. Kirchenaustrittec. Kirchensteuerd. Missionarische Wirksamkeit
IV. Zusammenfassung: Blinde Flecke von einiger Dramatik
D. Zum Verhältnis religiöser und ökonomischer Rationalität
I. Unterordnung der ökonomischen unter die religiöse Rationalität
1. Gott und Geld in Bibel und Urchristentum2. Botschaft und Ordnung in der Reformation
II. Trennung religiöser und organisatorisch-ökonomischer Aspekte
1. Glaubenskirche und Rechtskirche2. Inhalte, Prozesse und Strukturen
III. Einordnung der religiösen in die betriebswirtschaftliche Rationalität
1. Aktivismus statt Vertrauen2. Tausch statt Geschenk3. Nutzen statt Wahrheit4. Hierarchie statt Netzwerk5. Illustration statt theologischer Reflexion
IV. Der interdisziplinäre Dialog als alternative Form der ZuordnungV. Zusammenfassung: Abstand ist geboten
E. Die Systemtheorie als alternatives Paradigma kirchlichen Leitungshandelns
I. Grundzüge der Systemtheorie
1. Problembezug2. Grundansatz3. Soziale Systeme4. Religion, Interaktion und Organisation
II. Praktisch-theologische Perspektiven
1. Synergetisch sensibles gemeindeleitendes Handeln2. Interaktion und Organisation im Dienst des Evangeliums3. Schlussfolgerungen für die kirchliche Praxis
III. Systemtheoretisch orientierte Managementansätze
1. Zielsteuerungsinstrumente2. Das St. Galler Management-Modell3. Nonprofit-Management4. Der biokybernetische Ansatz
IV. Zusammenfassung: Vielfältige Anregungen
F. Fazit: Abschied von überzogenen ErwartungenAnmerkungenLiteraturCopyright

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Herbst 2012 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Sie verdankt sich der mehrjährigen Auseinandersetzung mit betriebswirtschaftlichen Themen, wirtschaftstheoretischen Fragen sowie eigenen Erfahrungen mit Rückbau- und Reorganisationsmaßnahmen als Vorsitzender eines Kirchenvorstands und Kirchenkreissynodaler, als Gemeindeberater bei der Begleitung von Kirchengemeinden und übergemeindlichen Einrichtungen, als Beauftragter der Kirchenleitung der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche für die Evaluation des Nordelbischen Reformprozesses und als Mitglied eines Projektteams zur Einführung zielorientierter Planungsverfahren für die nordelbischen Dienste und Werke.

Mein Dank gilt in besondere Weise Frau Prof. Dr. Isolde Karle für die Betreuung meines Dissertationsprojekts. Sie hat mich in den vergangenen fünf Jahren mit einer gelungenen Mischung aus Ermutigung und kritischer Rückmeldung in Verbindung mit vielfältigen Anregungen ganz wunderbar begleitet. Darüber hinaus danke ich Herrn Prof. Dr. Traugott Jähnichen für das Zweitgutachten.

Vielfältige Anregungen verdanke ich den intensiven Diskussionsrunden über die Dynamik kirchlicher Veränderungsprozesse mit Ulrike Brand-Seiß, Susanne Habicht, Jürgen Jessen-Thiesen und Käthe Stäcker von der Arbeitsstelle Reformumsetzung der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche, Redlef Neubert-Stegemann, Anne Reichmann und Peter Wesenberg von der Arbeitsstelle Institutionsberatung und Dette Alfert als freiberuflich tätiger Organisationsberaterin.

Last, but not least bedanke ich mich bei meiner Frau Dorothea und unseren Kindern Friederike und Jonathan für ihre Unterstützung und ihre unendliche Geduld während meiner Zeit als Bücherwurm.

Husum im April 2013

Christoph Meyns

Thema, Fragestellung und Vorgehen

Evangelische Kirchengemeinden, Kirchenkreise, Landeskirchen, gesamtdeutsche Zusammenschlüsse, Einrichtungen und Verwaltungsämter stehen aufgrund sinkender Kirchensteuereinnahmen unter finanziellem Druck. Ließen sich erste Einnahmeausfälle Mitte der neunziger Jahre noch durch Einzelmaßnahmen kompensieren, lösten weitere Rückgänge zu Beginn des vorigen Jahrzehnts auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens Rückbauprozesse von zum Teil erheblichem Umfang aus: Personalstellen wurden gestrichen, Arbeitszweige eingeschränkt, Standorte geschlossen und Gebäude aufgegeben, eine Entwicklung, die andauert.

Mit dem Abbau verbindet sich in der Regel ein Umbau der Strukturen, meist in Form der Zusammenlegung von Organisationseinheiten und der Neuordnung von Abläufen. Bei hohen Einnahmeverlusten bedarf es darüber hinausgehend einer inhaltlichen Neuorientierung: Bisher wahrgenommene Aufgaben und die mit ihnen verbundenen Anliegen und Ziele müssen überprüft und gegebenenfalls priorisiert werden, etwa im Rahmen der Erarbeitung von Leitbild- und Strategiepapieren.

Mit den sachlichen Themen verbinden sich emotionale Dynamiken. Rückbauprozesse führen in Erfahrungen von Überforderung, Ohnmacht und Bedeutungsverlust. Sie lösen bei den davon Betroffenen Angst, Trauer und Wut aus. Die mit Leitungsverantwortung betrauten Gremien und Personen geraten in Identitätskonflikte, wenn sie die Ausgaben für Arbeitsfelder senken sollen, mit denen sie sich identifizieren oder entgegen dem Gebot der Nächstenliebe mit Kürzungsentscheidungen die ökonomische Lebensgrundlage ihnen anvertrauter Menschen beeinträchtigen. Daneben bestimmen kirchenpolitische Fragen der Durchsetzbarkeit und Verteilungsgerechtigkeit sowie die Zufälligkeiten gruppendynamischer Prozesse in Leitungsgremien den Gang der Ereignisse.

Als zusammenfassende Bezeichnung für diese Rückbau-, Reorganisations- und Neuorientierungsprozesse hat sich im binnenkirchlichen Sprachgebrauch der auch im Titel dieser Studie verwendete Begriff der Kirchenreform eingebürgert. Er ist allerdings insofern irreführend, als es in der evangelischen Kirche derzeit nicht um einen religiösen Aufbruch oder fachliche Impulse zur Weiterentwicklung von Arbeitszweigen geht, sondern um eine Restrukturierung unter dem Vorzeichen leerer Kassen im Konflikt zwischen konkurrierenden Bestandsinteressen.

Zur Bewältigung der damit verbundenen Herausforderungen setzen kirchliche Körperschaften in verstärktem Maße betriebswirtschaftliche Methoden ein: Unternehmensberatungen konzipieren Kürzungs- und Reorganisationsvorschläge in Anlehnung an betriebliche Organisationsvorstellungen; Kirchengemeinden und übergemeindliche Einrichtungen definieren in Anlehnung an das Marketingdenken produktähnlich gedachte Leistungen, die sich als Angebote an den zu Zielgruppen aggregierten Bedürfnissen einzelner Menschen orientieren; Leitungsinstanzen verwenden Planungs-, Personalführungs- und Kontrollinstrumente aus dem Bereich der Managementlehre; Verwaltungsämter ersetzen die kamerale durch die kaufmännische Form des Rechnungswesens. Ein Teil dieser Maßnahmen zielt auf eine Erhöhung der Wirtschaftlichkeit des kirchlichen Handelns, um trotz sinkender Einnahmen den gewachsenen Aufgabenumfang so weit wie möglich erhalten zu können. Andere Vorhaben streben darüber hinausgehend eine höhere Wirksamkeit im Sinne einer Steigerung von Beteiligungs- und Mitgliederzahlen an.

Anlass für eine Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung bieten zwei Beobachtungen. Zum einen fällt die Erfolgsbilanz betriebswirtschaftlich orientierter Projekte im Raum der verfassten Kirche ambivalent aus. Teilweise profitierten Landeskirchen von Unternehmensberatungen, teilweise erwiesen sich teuer eingekaufte Expertisen dagegen als nicht umsetzbar oder sogar kontraproduktiv.1 Einerseits lassen sich mithilfe von Marketing- und Managementmethoden Beteiligungszahlen steigern, andererseits erreicht man auf diese Weise offenbar nur der Kirche überdurchschnittlich verbundene Mitglieder.2 Das Evangelische Münchenprogramm ist mit seinem Ansinnen, das Dekanat zu einer zentralen Planungsebene auszubauen, am Widerstand der Kirchengemeinden gescheitert.3 Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren zwar entsprechende Strukturreformen umgesetzt, ob dadurch Effizienz- und Effektivitätsgewinne erzielt wurden, ist jedoch umstritten.4

Aber warum ist das so? Sind betriebswirtschaftliche Handlungsempfehlungen bisher nur schlecht umgesetzt worden? Müssten sie besser an den kirchlichen Kontext angepasst werden? Können sie also im Prinzip dazu beitragen, auch mit geringeren Einnahmen den Umfang und die Qualität von Leistungen aufrechtzuerhalten? Lässt sich mit ihrer Hilfe erreichen, dass mehr Menschen an Veranstaltungen teilnehmen, mehr (wieder) eintreten und weniger austreten? Oder zeigen sich hier Schwierigkeiten grundsätzlicher Art? Können Marketing und Management für Körperschaften, Einrichtungen und Verwaltungsämter nicht das leisten, was sie für Unternehmen bewirken, nämlich die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit betrieblicher Abläufe zu erhöhen?

Zum anderen bestehen theologische Bedenken gegen eine Überfremdung der kirchlichen Arbeit durch ökonomische Denk- und Sprachmuster. Regelmäßig verlieren biblische Bezüge und ekklesiologische Gesichtspunkte im Rahmen betriebswirtschaftlich ausgerichteter Projekte ihre steuernde Funktion und geraten in die Rolle eines Legitimations- und Illustrationsmittels. Aber woran liegt das? Müssen Marketing- und Managementmethoden nur »spirituell« gebraucht oder kirchentheoretisch reflektiert werden, damit sie am Evangelium orientierte Handlungsformen nicht beeinträchtigen? Oder geht von ihnen eine so ausgeprägte Eigendynamik aus, dass die evangelische Kirche besser auf sie verzichtet?

Mit diesen praktischen und theologischen Fragen setzt sich die vorliegende Untersuchung auseinander. Dabei teilt sie das erkenntnisleitende Interesse der mit Leitungsverantwortung betrauten Gremien und Personen in Körperschaften, Diensten und Werken und Verwaltungsämtern, die nach Kriterien und Verfahren suchen, die sie bei der Bewältigung von Kürzungs- und Umbaumaßnahmen unterstützen. Denn darum geht es trotz des von der EKD formulierten Programms für ein »Wachsen gegen den Trend«5 und manch erfolgreicher Fundraising-Projekte de facto für viele von ihnen: um eine sinnvolle Anpassung des Umfangs der Arbeit an sinkende finanzielle Spielräume.

Das Ziel besteht darin herauszuarbeiten, was sich kirchliche Leitungsinstanzen im Rahmen von Rückbau-, Reorganisations- und Neubauprozessen vom Einsatz betriebswirtschaftlicher Methoden erhoffen dürfen, was nicht, und worin mögliche Alternativen bestehen. Dabei liegt der Fokus der Aufmerksamkeit auf den überwiegend kirchensteuerfinanzierten Aktivitäten innerhalb der verfassten Kirche. Die Steuerungsprobleme der häufig organisatorisch ausgegliederten drittmittelfinanzierten Arbeitszweige bilden einen eigenen Themenkreis. Sie finden nur dort Berücksichtigung, wo sie vom Kirchensteueraufkommen getragene Bereiche beeinflussen.

Mit ihrer Fragestellung bewegt sich diese Untersuchung zum Teil auf wenig erschlossenem Terrain. Themen der Organisationsgestaltung waren bis in die jüngste Zeit hinein selten Gegenstand praktisch-theologischen Interesses. Infolge des landesherrlichen Kirchenregiments werden Probleme der äußeren Ordnung traditionellerweise als rechtliche Sachverhalte behandelt. Überlegungen zu Organisationsstrukturen, Entscheidungsabläufen, Handlungsketten, Arbeitsprogrammen und den damit verfolgten Zielen und Strategien sowie zu organisatorischen Veränderungsprozessen bleiben daher in der Regel auf die vom Kirchenrecht erfassten Bereiche beschränkt.6 Die Praktische Theologie wiederum konzentriert sich darauf, die Inhalte und Methoden kirchlicher Handlungsfelder zu reflektieren. Kybernetische Fragen finden dagegen nur in Einzelfällen Aufmerksamkeit.7

Religionssoziologische Forschungsbemühungen galten in den vergangenen Jahrzehnten schwerpunktmäßig der Makroebene gesellschaftlicher Trends und der Mikroebene individueller religiöser Haltungen. Organisationssoziologische Analysen von Kirchengemeinden, Kirchenkreisen, Landeskirchen oder gesamtdeutschen Zusammenschlüssen sind bis in die jüngste Zeit hinein daher kaum durchgeführt worden.8 Erst 2011 startete ein Forschungsprojekt unter Leitung von Karl Gabriel, Isolde Karle und Detlef Pollack, das Kirchenreformprozesse in Landeskirchen, Diözesen und Freikirchen konfessionsvergleichend untersucht.9 Auf die Resultate darf man gespannt sein.

Die Anfänge der Auseinandersetzung mit betriebswirtschaftlichen Themen gehen auf die 1960er und 1970er Jahre zurück.10 Ein ausgeprägter Diskurs ist seit Beginn der 1990er Jahre zu beobachten. Dabei lässt sich die Debatte in zwei Phasen unterteilen mit dem Erscheinen des Impulspapiers der EKD »Kirche der Freiheit« 2006 als Wendepunkt. Die meisten davor erschienenen Publikationen standen Marketing und Management positiv gegenüber. Sie beschreiben die Erfolge, die sich damit erzielen lassen, legitimieren ihre Verwendung mithilfe biblischer Texte und theologischer Argumente, passen sie sprachlich und konzeptionell an den Kontext der verfassten Kirche an oder geben Ratschläge zur praktischen Umsetzung.11 Nur wenige Autorinnen und Autoren äußerten sich ablehnend.12

Das änderte sich jedoch, als das Impulspapier die betriebswirtschaftliche Professionalisierung der kirchlichen Arbeit in den Rang eines EKD-weiten Konsenses zu erheben schien. Seine durchgehende Orientierung an Konzepten des Dienstleistungsmarketings und der strategischen Managementlehre rief bei Theologen und Religionssoziologen überwiegend kritische Reaktionen hervor.13 Daran schließt in jüngster Zeit ein neues Bemühen um eine theologisch angemessene Wahrnehmung organisatorischer Gestaltungsfragen an, das sich allerdings in deutlicher Distanz zu einer unternehmensanalytischen Beschreibung der Kirche bewegt.14

In Anknüpfung an die durch das Impulspapier ausgelöste Diskussion setzen die folgenden Ausführungen an drei Punkten einen eigenen Akzent. Erstens wird nach der Umsetzbarkeit und Wirksamkeit betriebswirtschaftlicher Handlungsempfehlungen gefragt. Dieser Gesichtspunkt knüpft an Erkenntnisse an, die sich aus der Evaluation der Nordelbischen Reform zwischen 2010 und 2012 ergaben. Bei der Analyse der Auswirkungen von Strukturveränderungsprozessen in landeskirchlichen Diensten und Werke zeigten sich Schwierigkeiten bei der Implementation von Managementinstrumenten,15 die zu der Frage führten, inwieweit sich die Erfahrungen in Nordelbien verallgemeinern lassen.

Zweitens setzt sich die vorliegende Untersuchung ausführlich mit einigen der grundlegenden ökonomischen Theorien auseinander. Denn der Einfluss der Betriebswirtschaftslehre auf die kirchliche Praxis beginnt nicht erst bei der Verwendung betrieblicher Verfahren, sondern bereits auf der Ebene der Wahrnehmung, und zwar dort, wo die Situation, in der sich die evangelische Kirche befindet, als die eines am Markt tätigen Unternehmens interpretiert wird. Entsprechende Analysen knüpfen dabei – meist implizit – an den derzeitigen Mainstream des wirtschaftstheoretischen Denkens in seiner neoklassischen Ausprägung auf Grundlage des Ökonomischen Verhaltensmodells an.

Drittens werden systemtheoretisch orientierte Ansätze der Non-Profit-Managementlehre aufgenommen, die bisher in der Praktischen Theologie noch nicht rezipiert wurden. Sie eignen sich besonders gut für die Reflexion kirchlicher Steuerungs- und Leitungsprobleme, weil sie sich vom Nutzen- und Erfolgsdenken der Betriebswirtschaftslehre lösen und den Eigenwert gemeinnütziger Organisationen jenseits von Staat und Markt zur Geltung bringen.

Die Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Trend zum Einsatz betriebswirtschaftlicher Instrumente im Raum der verfassten Kirche erfolgt in fünf Schritten. Das Eingangskapitel schildert die Herausforderungen, vor denen Synoden, die aus ihnen heraus gebildeten Leitungsausschüsse, Kirchenvorstände und ihre geschäftsführenden Vorsitzenden sowie die Leitungskräfte übergemeindlicher Einrichtungen und Verwaltungsämter aktuell stehen.

Die vorhandenen Kirchensteuermittel, die davon bezahlten Personalstellen, Gebäude und Sachmittel, Arbeitsabläufe und Organisationsstrukturen, die darauf bezogenen Leitungs- und Verwaltungsaufgaben, die damit verbundenen inhaltlichen Anliegen, Ziele und Prioritäten bilden einen Gesamtzusammenhang. Mit dem Rückgang der Finanzen geraten alle diese Dimensionen der kirchlichen Arbeit nacheinander ins Rutschen. Ab einem gewissen Ausmaß an Personalstellenstreichungen verlieren Arbeitsabläufe und Aufgabenverteilung ihre Sinnhaftigkeit und müssen im Rahmen von Reorganisationsprozessen neu geordnet werden. Gehen Einnahmen in noch höherem Maße verloren, steht eine Überprüfung von Aufgaben, Zielen und Prioritäten an. Bei der dafür notwendigen Situationsanalyse kommen wiederum Schwierigkeiten wie die niedrige Beteiligung am Gottesdienst, die sinkenden Mitgliederzahlen oder die abnehmende gesellschaftliche Relevanz der evangelischen Kirche in den Fokus der Aufmerksamkeit und verstärken das Krisengefühl.

Das zweite Kapitel beschreibt anhand einiger exemplarischer Beispiele, welche betriebswirtschaftlichen Werkzeuge kirchliche Körperschaften in Reaktion auf diese Herausforderungen verwenden. Dazu bedarf es in begrenztem Umfang des Transfers von Wissensbeständen aus der Betriebswirtschaftslehre. Denn erst wenn man versteht, vor dem Hintergrund welcher betrieblicher Probleme bestimmte Methoden mit welcher Intention entwickelt wurden, lässt sich nachvollziehen, inwieweit sie verglichen damit ihre Funktionalität im Kontext der verfassten Kirche entfalten.

Im Wesentlichen setzen Kirchengemeinden, Kirchenkreise, Landeskirchen, gesamtdeutsche Zusammenschlüsse, übergemeindliche Einrichtungen und Verwaltungsämter bei Rückbau-, Reorganisations- und Neuorientierungsprozessen Verfahren aus drei Teildisziplinen der Betriebswirtschaftslehre ein: absatzpolitische Instrumente aus dem Bereich der Marketinglehre, Planungs-, Kontroll-, Organisations- und Personalführungsansätze aus der Managementlehre und Teile des betrieblichen Rechnungswesens. Themen wie Rechtsformen, Produktion, Investition, Finanzierung und Bilanzierung finden dagegen aufgrund mangelnder Anwendungsmöglichkeiten keine Berücksichtigung. Daneben greifen einige Landeskirchen auf Konzepte des New Public Management zurück. Jedem dieser Themenkreise gilt ein eigener Abschnitt, der in die Frage nach der Umsetzbarkeit und Wirksamkeit betriebswirtschaftlicher Handlungsempfehlungen im kirchlichen Kontext mündet.

Untersuchungen mit auswertendem Charakter, die sich dafür aufnehmen ließen, sind allerdings selten. Die meisten Veröffentlichungen zum Thema erklären, empfehlen, propagieren, adaptieren, begründen, legitimieren oder kritisieren betriebswirtschaftliche Ansätze. Nur wenige beschäftigen sich mit der naheliegenden Frage, ob sie in der Praxis halten, was sie versprechen. Best-Practice-Beispiele sind in diesem Zusammenhang ohne Wert. Zum einen erlaubt eine resultatsabhängige Stichprobenauswahl keinerlei Einsicht in die den Erfolgen zugrunde liegenden Faktoren. Dazu müsste man erfolgreiche und nicht erfolgreiche Organisationen miteinander vergleichen. Zum anderen sagen Einzelerfolge nichts über eine gesamtkirchliche Wirksamkeit aus.16

Aussagekräftiger sind religionssoziologische Publikationen, die sich mit marktorientierten Erklärungsmodellen auseinandersetzen. Daneben lassen sich die Erfahrungen von Kommunalverwaltungen mit betriebswirtschaftlich orientierten Reformen aufnehmen. Denn Kirchengemeinden, Kirchenkreise, Landeskirchen und gesamtdeutsche Zusammenschlüsse ähneln auch fast hundert Jahre nach der Trennung von Staat und Kirche in vielerlei Hinsicht staatlichen Körperschaften.

Lässt man sich von Einzelerfolgen nicht blenden und trägt die übrigen Quellen zusammen, ergibt sich ein konsistentes Bild: Die Effektivität und Effizienz des kirchlichen Handelns ließ sich durch den Einsatz betriebswirtschaftlicher Methoden bisher kaum steigern. Manche Vorhaben scheiterten bereits in der Phase ihrer Einführung. In anderen Fällen verloren betriebliche Verfahren im Laufe der Implementation ihre Funktionalität. Teilweise entwickelten sie die erwünschten Wirkungen, allerdings nur in geringem Umfang.

Damit stellt sich die Frage nach den Ursachen. Theoretisch könnten Umsetzungsschwierigkeiten vorliegen. Daraus würde sich die Forderung ergeben, Mitarbeitende besser aus- und fortzubilden. Meiner Auffassung nach aber ist der Grund für die begrenzte Wirksamkeit von Marketing- und Managementmethoden in der mangelnden Eignung der dabei im Hintergrund verwendeten Theorien zu suchen. Diese These wird im dritten Kapitel entfaltet und begründet.

Um deutlich zu machen, wo genau die Probleme liegen, ist ein längerer Anlauf notwendig. Zunächst wird das erkenntnisleitende Interesse, die wissenschaftsmethodische Konstruktion, der besondere Fokus, die damit gegebenen blinden Flecke und die begrenzte Erklärungskraft des Ökonomischen Verhaltensmodells sowie die Kritik, die ihm innerhalb und außerhalb der Wirtschaftswissenschaften entgegenschlägt, erläutert. Darauf aufbauend lässt sich unter Aufnahme der aktuellen religionssoziologischen Debatte um eine marktorientierte Interpretation der Dynamik religiöser Überzeugungen, Praktiken und Gemeinschaften zeigen, warum eine Perspektive in Anlehnung an die Wirtschaftstheorie neoklassischer Ausprägung der Situation der evangelischen Kirche nicht gerecht wird.

Ein dabei herausgearbeiteter Zug der Ökonomik macht im vierten Kapitel eine theologische Auseinandersetzung nötig, nämlich die Tendenz ökonomischer Denk- und Sprachmuster, andere Lebensbereiche zu kolonisieren. Wer sich als Theologe in die neoklassissche Gedankenwelt einarbeitet, stellt überrascht fest, dass ihm darin – entgegen dem ersten Anschein  – keine wertfreie Beschreibung ökonomischer Zusammenhänge, sondern eine normative Ethik im szientistischen Gewand mathematischer Formeln und Graphen begegnet. Sie hat nur deshalb Anhalt an der Realität, weil die Wirtschaftspolitik seit Jahrhunderten die rechtlichen, institutionellen und kulturellen Rahmenbedingungen des Marktgeschehens entsprechend gestaltet. Dadurch ist ein sich selbst verifizierender Zirkel aus ökonomischer Theorie und ökonomischer Praxis entstanden, der sich argumentativ nur schwer irritieren lässt.

Es ist der normative Charakter neoklassischer Modelltheorien mit seinem Zug ins Ideologische, seiner Unempfindlichkeit gegenüber Fakten und seiner imperialistischen Übergriffigkeit, der das größte Problem einer Verwendung darauf aufbauender Analysen und Handlungsempfehlungen im Kontext der verfassten Kirche darstellt. Das vierte Kapitel zeigt, wo genau die Konfliktlinien zwischen einer theologisch reflektierten und einer am ökonomischen Denken orientierten Gestaltung der kirchlichen Praxis liegen.

In einem letzten Schritt werden dann im fünften Kapitel systemtheoretisch fundierte Handlungsempfehlungen als Alternative zu einem wirtschaftstheoretisch begründeten Vorgehen vorgestellt. Der relationale Grundcharakter der Systemtheorie ist am ehesten dazu geeignet, die auf die Relation zum Wort Gottes hin angelegten Kommunikationsprozesse und ihre Bezüge zu diversen internen und externen Umwelten angemessen zu erfassen. Er erlaubt zudem, nicht nur religiöse und organisatorische, sondern auch interaktionale Aspekte mit zu berücksichtigen. Die Fruchtbarkeit einer systemtheoretischen Betrachtungsweise lässt sich exemplarisch an den Überlegungen von Anna Stöber und Isolde Karle zeigen. Darüber hinaus bieten das St. Galler Managementmodell, der Non-Profit-Managementansatz der Wirtschaftsuniversität Wien und der biokybernetische Ansatz von Frederic Vester wertvolle Anregungen.

Das abschließende Kapitel gilt der Zusammenfassung der Ergebnisse. Es hält als Ertrag fest, dass sich kirchliche Körperschaften bei der Bewältigung von Rückbau-, Reorganisations- und Neuorientierungsprozessen nicht zu viel von betriebswirtschaftlichen Handlungsempfehlungen versprechen dürfen. Zum einen sind die Spielräume für Effizienzgewinne aufgrund der hohen Ausgaben für unbefristete Personalstellen und Gebäude begrenzt. Zum anderen trägt eine auf dem Ökonomischen Verhaltensmodell aufbauende anreizorientierte Perspektive nichts zur Erhellung der für die Vitalität und Stabilität religiöser Überzeugungen, Praktiken und Gemeinschaften verantwortlichen Faktoren bei, sondern verstellt im Gegenteil den Blick auf die tatsächlichen Zusammenhänge. Informationsökonomische, gemeinwirtschaftliche, verhaltenspsychologische und systemtheoretische Ansätze sind besser für den Kontext der verfassten Kirche geeignet, wurden bisher jedoch kaum rezipiert. Das wiederum hängt damit zusammen, dass die evangelische Kirche sich seit Jahrhunderten als defizitär wahrnimmt, deshalb an Entwürfe anschließt, die diese defizitorientierte Selbstwahrnehmung bestätigen und Konzepte ignoriert, die ihrem Wesen, ihrem Auftrag und ihren gewachsenen Strukturen eher entsprechen würden.

A. Sinkende Einnahmen als Herausforderung für das kirchliche Leitungshandeln

Jahrzehntelang profitierte die evangelische Kirche von steigenden Kirchensteuereinnahmen. Allein zwischen 1975 und 1992 stieg das Aufkommen aus dem acht- bis neunprozentigen Zuschlag zur Einkommensteuer – bereinigt um den Anstieg der Verbraucherpreise (!)–um 38,1%.1 Seit Anfang der neunziger Jahre hat sich dieser Trend jedoch umgekehrt. Bis 2005 sank das Kirchensteueraufkommen im Durchschnitt aller Gliedkirchen der EKD real um 32,1 % und lag nach zwischenzeitlicher Erholung 2011 26,4 % unter dem von 1992.2 Dabei sind die Landeskirchen im Süden der Bundesrepublik weniger betroffen als die im Norden und Westen Deutschlands.3 Am schwierigsten stellt sich die finanzielle Situation der Landeskirchen in den ostdeutschen Bundesländern dar.4

Die Ursachen für diese Entwicklung sind neben der schlechten Beschäftigungslage der 1990er Jahre vor allem in der staatlichen Steuerpolitik zu suchen. Die größten Einzelfaktoren bilden die Absenkung des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer zwischen 1999 und 2005 und die nicht genau bezifferbaren Folgen der durch die Einführung des Solidaritätszuschlags ausgelösten Kirchenaustrittswellen. Hinzu kommen die kumulativen Auswirkungen früherer Kirchenaustritte.5 Ließen sich erste Einnahmeausfälle noch mithilfe von Einzelmaßnahmen kompensieren, lösten weitere Rückgänge zu Beginn des letzten Jahrzehnts auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens Rückbau- Reorganisierungs- und Neuorientierungsprozesse von zum Teil erheblichem Umfang aus, wie die folgenden Beispiele zeigen.

I. Rückbau- und Reorganisationsmaßnahmen

Auf Ebene der gesamtdeutschen Zusammenschlüsse führten die sinkenden Einnahmen unter anderem zur Umwandlung des traditionsreichen »Allgemeinen Deutschen Sonntagsblatts« in das monatlich den wichtigsten überregionalen Zeitungen beiliegende Magazin »Chrismon« und zur Zusammenlegung der Verwaltungsämter von EKD, VELKD und UEK. Die Auswirkungen auf die kirchengemeindliche Arbeit, übergemeindliche Einrichtungen und kirchliche Verwaltungsämter seien hier exemplarisch an Beispielen aus der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche (NEK) beschrieben.6

Die NEK ist verglichen mit anderen Landeskirchen überdurchschnittlich von Einnahmeausfällen betroffen. Das Kirchensteuernettoaufkommen kletterte von 1990 bis 1992 zunächst von 308.870.000 € auf 380.180.000 € und schrumpfte dann bis 2004 auf 273.400.000 €. Das bedeutet preisbereinigt einen Rückgang gegenüber 1990 um 32,7%, gegenüber 1992 um 41 %. Bis 2008 stieg es wieder auf fast 380.000.000, um bis 2010 wieder auf 346.800.000 € zu sinken. Damit lagen die Kirchensteuereinnahmen der NEK real noch etwa 21,7 % unter denen von 1990 und 31,4 % unter denen von 1992.7

Diese Einnahmerückgänge hatten umfangreiche Kürzungsmaßnahmen zur Folge. So gingen zwischen 1993 und 2007 rund 10 % der Pfarrstellen und 32 % der hauptamtlichen Kirchenmusikerstellen verloren.8 Die Personalstellen anderer, im Wesentlichen durch Kirchensteuern finanzierter kirchlicher Berufsgruppen, wie Mitarbeitende im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit, Küsterinnen und Küster, Sekretärinnen, Reinigungskräfte, Hausmeister oder Landschaftsgärtner, werden statistisch nicht erfasst, dürften aber zu mehr als 50 % weggefallen sein.

Die von Personalstellenkürzungen betroffenen Arbeitsfelder sind in vielen Fällen mit den übrig gebliebenen Stellenanteilen in die regionale Verantwortung mehrerer Kirchengemeinden übergegangen. Darüber hinaus zwangen die sinkenden Finanzen sehr kleine ländliche und großstädtische Kirchengemeinden zur Aufgabe ihrer Selbstständigkeit. Dadurch sank die Gesamtzahl der Kirchengemeinden in Nordelbien zwischen 1990 und 2009 von 676 auf 594.9 Die Anzahl der Kirchenkreise und mit ihnen die der Verwaltungsämter reduzierte sich 2009 durch Zusammenschlüsse von siebenundzwanzig auf elf, die der pröpstlichen Stellen von dreißig auf achtundzwanzig.10

Was die abnehmenden Kirchensteuereinnahmen für die kirchengemeindliche Arbeit bedeutet, sei im Folgenden an zwei Fälle verdeutlicht.11 Einer kleinen Kirchengemeinde im ländlichen Schleswig-Holstein wurde bis 2001 vom Kirchenkreis eine ganze Pfarrstelle zugewiesen. 2001 kürzte die Kirchenkreissynode im Rahmen der Anpassung des Pfarrstellenplans an das gesunkene Kirchensteueraufkommen die Pfarrstelle zunächst auf 75 %, 2010 auf 50 %. Mit den übrigen Stellenanteilen nimmt der Pfarrstelleninhaber Aufgaben in den ebenfalls von Pfarrstellenkürzungen betroffenen Nachbargemeinden wahr. Gleichzeitig nahm die Kirchensteuerzuweisung des Kirchenkreises an die Kirchengemeinden ab dem Haushaltsjahr 2003 um 25 % ab. Die Sachkosten machen einen so geringen Anteil des Haushalts aus, dass in diesem Bereich kaum Effizienzgewinne zu erzielen sind. Deshalb sah sich der Kirchenvorstand auch im Blick auf das eigene Budget zu Personalstundenkürzungen gezwungen, da sonstige Einnahmen wie Mieten, Pachten, Kirchgeld, Spenden und Kollekten die Ausgaben nur zu etwa 15 % abdecken. Die Küster- und die Kirchenmusikerstelle wurden um je ein Drittel gekürzt, die Stelle des Landschaftsgärtners ganz gestrichen, die nötige Pflege der Grundstücke auf ein Minimum reduziert und auf Honorarbasis vergeben, Friedhof und Kindertagesstätte zur Entlastung des Pfarrstelleninhabers in Kirchengemeindeverbände eingebracht. Die Anzahl der Gottesdienste musste in regionaler Abstimmung mit den Gottesdienstzeiten der umliegenden Gemeinden zunächst auf drei, später auf zwei Sonntage im Monat reduziert werden. Die in der Kirchengemeinde anfallenden Verwaltungsarbeiten werden inzwischen ehrenamtlich erledigt.

Ein zweites Beispiel: Zwischen 1978 und 1998 sank die Zahl der Gemeindeglieder von vier Gemeinden eines großstädtischen Stadtteils durch Kirchenaustritte und demographische Veränderungen von 38.000 auf 17.000. Aufgrund abnehmender Einnahmen beschlossen die Kirchenvorstände 1998, sich zu einer Kirchengemeinde zusammenzuschließen. Um Personalstellen nicht stärker als nötig kürzen zu müssen, entschied der Kirchenvorstand 2005, zwei der vier Kirchen zu verkaufen. Die eine befindet sich heute in Privatbesitz und dient als Event-Location und Café, das Grundstück der anderen wurde zur Hälfte von einem privaten Investor erworben und neu mit Eigentumswohnungen bebaut. Die durch den Verkauf erzielten Einnahmen flossen in die Bauerhaltung von zwei der im Besitz der Gemeinde verbliebenen Kirchen, den Umbau der dritten in eine Kindertagesstätte sowie in den Abbruch eines nicht mehr sinnvoll zu erhaltenden Pastorats und seinen Neubau. Dort sind neben der Wohnung für die Pastorin auch Gewerbeflächen und Mietwohnungen vorgesehen. Um zusätzliche Einnahmen zu erzielen, vermietet die Kirchengemeinde ihre Kirchen- und Gemeinderäume. Von den acht Pfarrstellen im Jahr 2003 sind acht Jahre später noch sechs übrig geblieben, eine weitere halbe Pfarrstelle wird in den kommenden Jahren wegfallen. Von den drei Kirchenmusikerstellen des Jahres 2003 existieren noch eineinhalb. Die Sekretärinnen- und Küsterstellen wurden halbiert. Nur die überwiegend drittmittelfinanzierten Personalstellen im sozialdiakonischen Bereich konnten erhalten werden. Die Kirchengemeinde arbeitet derzeit mit Unterstützung des Kirchenkreises daran, zur Finanzierung von Personalstellen Stiftungen aufzubauen, um sich unabhängiger von der Kirchensteuerzuweisung zu machen.

Typisch an diesen beiden Beispielen ist der hohe Anteil an Personal- und Gebäudekosten, die institutionelle Einbettung in das landeskirchliche und kirchenbezirkliche Gefüge der Finanzverteilung und die damit gegebene Abhängigkeit von Entscheidungen übergemeindlicher Ebenen über Personal-, Kirchensteuerzuweisungen und Bedarfszuschüsse. Eigene Einnahmen aus Pachten, Mieten, Stiftungen, lokalen Kirchensteuern oder Spenden sind vorhanden, decken in der Regel aber nur einen kleinen Teil der Ausgaben. Die Entscheidungsspielräume für Effizienzgewinne sind also von vornherein begrenzt. Sinkende Kirchensteuereinnahmen können überwiegend nur durch den Rückbau von Personalstellen und den Verkauf von Gebäuden bewältigt werden.

Auch die Kirchenkreise und die landeskirchliche Ebene blieben von Rückbaumaßnahmen nicht verschont. Die nordelbischen Dienste und Werke mussten Ausgabenkürzungen von bis zu einem Drittel verkraften.12 Der nach den Kürzungswellen übrig gebliebene Bestand an Einrichtungen wurde in sieben Fachabteilungen zusammengefasst, auf wenige Standorte konzentriert, die anderen Gebäude einschließlich des Predigerseminars und der evangelischen Akademie (!) verkauft. Die Landeskirche verlegte die Vikarsausbildung in die Räume des Pastoralkollegs, reduzierte die Vikariatsplätze von jährlich rund neunzig auf unter zwanzig und beschränkte die Ausbildung für Diakoninnen und Diakone auf die Evangelische Hochschule am Rauhen Haus. Ähnlich verfuhren die Kirchenkreise mit ihren überwiegend kirchensteuerfinanzierten Einrichtungen. Im Bereich der kirchlichen Verwaltungsarbeit sollen durch die Zusammenlegung von Kirchenkreisverwaltungsämtern, die Standardisierung von Verwaltungsaufgaben und die Vereinheitlichung der EDV Kosten gesenkt werden. Ende Mai 2012 schlossen sich die Nordelbische Ev.-Luth. Kirche gemeinsam mit der Ev.-Luth. Landeskirche Mecklenburgs und der Pommerschen Evangelischen Kirche, die als selbstständige Körperschaften mittelfristig nicht mehr überlebensfähig sind, zur Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland zusammen.13

II. Neuorientierungsprozesse

Mit dem Rückbau und der Reorganisation von Arbeitsfeldern verbindet sich in vielen Fällen die Notwendigkeit einer inhaltlichen Neuorientierung. Denn mit dem geringeren Umfang an Personalstellen, der sinkenden Anzahl von Gebäuden und der Zusammenlegung von Organisationseinheiten verlieren auch die bisherigen Arbeitsabläufe teilweise oder ganz ihre Sinnhaftigkeit. Die Verteilung von Aufgaben im Zusammenwirken der verschiedenen Ebenen, die damit verbundenen inhaltlichen Anliegen und Ziele sowie die darauf bezogenen Rollenanforderungen an haupt-, neben- und ehrenamtlich Mitarbeitende müssen überprüft und gegebenenfalls den veränderten ökonomischen und organisatorischen Rahmenbedingungen angepasst werden. Sichtbar wird dies an der großen Zahl der in den letzten fünfzehn Jahren von kirchlichen Körperschaften veröffentlichten Leitbild- und Strategiepapiere,14 von denen das Impulspapier der EKD »Kirche der Freiheit« am bekanntesten sein dürfte.15 Bei der Frage nach künftigen Prioritäten geraten eine Reihe von Themen in den Fokus der Aufmerksamkeit, die über die nicht zu vermeidenden Rückbau- und Reorganisationsmaßnahmen hinaus zusätzlichen Handlungsdruck auslösen.

Das betrifft zum einen das Problem der Kirchenaustritte. In den westdeutschen Landeskirchen sank die Zahl der Kirchenmitglieder zwischen 1970 und 1989 von 28,4 Mio. um 11,6 % auf 25,1 Mio., zwischen 1991 und 2010 einschließlich der östlichen Gliedkirchen von 29,2 Mio. um 18,1 % auf 23,9 Mio.16 Grob geschätzt lassen sich etwa 70 % der Mitgliederverluste auf die Kirchenaustritte Erwachsener zurückführen, etwa 25 % auf gesunkene Taufzahlen als generationsübergreifende Folge früherer Kirchenaustritte und etwa 5 % auf den Rückgang der Geburtenrate.17

Dabei verläuft die Entwicklung – ähnlich wie die des Kirchensteueraufkommens  – regional unterschiedlich. Die Landeskirchen in Norddeutschland sind stärker von Mitgliederrückgängen betroffen als die in Süddeutschland, städtische Gebiete in höherem Ausmaß als ländliche.18 In der DDR sank die Zahl der Mitglieder der evangelischen Kirche infolge der Religionspolitik der SED zwischen 1946 und 1988 von 14 Mio. um rund 77 % auf 3,2 Mio.19 Zugleich kam es nach 1990 in den ostdeutschen Bundesländern nicht zu der erhofften Rückkehr der Menschen in die Kirchen. Inzwischen liegt die Zahl der Konfessionslosen im wiedervereinigten Deutschland über der jeweiligen Mitgliederzahl der evangelischen und der katholischen Kirche.20 Die finanziellen Rückwirkungen sind erheblich. Der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland zufolge hätte das Kirchensteueraufkommen der beiden großen Kirchen in 2004 bei gleich gebliebenem Mitgliederanteil bei rund 9,1 Mrd. € statt bei 7,7 Mrd. € gelegen.21 Nach einer weiteren Berechnung verliert die evangelische Kirche im Durchschnitt pro Kirchenaustritt jährlich 400 € bis 500 € an Einnahmen.22

Zum anderen gerät bei der Neubestimmung von Inhalten, Aufgaben und Zielen das traditionelle Problem der geringen Beteiligung evangelischer Christinnen und Christen am Sonntagsgottesdienst neu in den Blick, eine Entwicklung, die bereits Ende des 18. Jahrhunderts mit der allmählichen Aufhebung der landesherrlichen Edikte zur Einhaltung der Sonntagspflicht und der Sperrstunden am Stadttor zur Gottesdienstzeit begann.23 Sie hat sich mit Ausnahme der Zeiten um die beiden Weltkriege trotz aller Bemühungen um innere Mission und Gemeindeaufbau bisher nicht umkehren lassen. Entgegen dem Trend nahm lediglich die Zahl der Trauerfeiern zu.24 Heute besuchen an den vier Zählsonntagen der EKD durchschnittlich 4 % der Kirchenmitglieder den Gottesdienst, am Heiligabend sind es 37%.25 Bei der letzten Mitgliedschaftsuntersuchung gaben 10 % der Befragten im Westen und 16 % der im Osten an, fast jeden Sonntag den Gottesdienst zu besuchen, weitere 13 % bzw. 12 % nehmen nach eigenen Angaben einbis zweimal im Monat teil.26

Darüber hinaus leidet die evangelische Kirche seit 1990 unter der sinkenden Bereitschaft der Politik zur Rücksicht auf kirchliche Interessen, ablesbar etwa an der Erweiterung der Ladenöffnungszeiten, der Abschaffung des Sonntagsbackverbots, der Ausweitung der Bäderregelung, der Streichung des Buß- und Bettages oder dem Streit um den Religionsunterricht in Berlin. Zugleich gelingt es ihr nicht, politische Entscheidungen über eine Mobilisierung ihrer Mitglieder zu beeinflussen. So unternahmen überhaupt nur drei Landeskirchen den Versuch, den Buß- und Bettag durch einen Volksentscheid wieder als gesetzlichen Feiertag einzuführen. Der Volksentscheid in Schleswig-Holstein 1997 scheiterte an der Erreichung der notwendigen Wahlbeteiligung von 25 %, entsprechende Bemühungen in Hessen und Rheinland-Pfalz bereits an der Mindestanzahl der für ein Volksbegehren benötigten Unterschriften. Der von der Initiative »ProReli« angestrengte Volksentscheid 2009 in Berlin blieb nicht nur aufgrund der zu geringen Wahlbeteiligung erfolglos, sondern wurde auch von der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler abgelehnt .27 Hier wird die eher lose Bindung von Menschen in Deutschland an die Institution Kirche deutlich, ein Umstand, mit dem sich die beiden christlichen Konfessionen seit ihrer Entlassung in die Selbstständigkeit 1919 immer wieder konfrontiert sehen.28

Mit den sachlichen Herausforderungen verbinden sich solche emotionaler Natur.29 Rückbau- und Reorganisationsmaßnahmen entwerten den Status von Orten, Gebäuden, Arbeitsfeldern, Gruppen, Inhalten und beruflichen Karrieren. Verteilungskämpfe produzieren Gewinner und Verlierer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind häufig gezwungen, sich in neue Strukturen mit veränderten Rollenanforderungen einzufinden. Das alles löst sowohl bei den verantwortlichen Leitungspersonen als auch bei den von ihnen betroffenen Menschen Gefühle der Unsicherheit, Angst, Ohnmacht, Trauer und Wut aus. Krankenstand und Personalfluktuation steigen an.30

So fassten etwa kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche ihre Erfahrungen mit fünfzehn Jahren Strukturveränderungsprozessen unter dem Begriff des Bedeutungsverlustes zusammen.31 Damit war sowohl der Bedeutungsverlust der Institution Kirche für das persönliche Leben von Menschen und das gesellschaftliche Zusammenleben gemeint als auch der sich daraus ergebende binnenkirchliche Bedeutungsverlust von teilweise jahrhundertealten Gebäuden, Körperschaften, Arbeitsfeldern, Personalstellen und den damit verbundenen inhaltlichen Anliegen und Leitbildern kirchlicher Arbeit.

Die sachlichen und emotionalen Herausforderungen, vor denen die evangelische Kirche derzeit steht, lassen allerdings sehr verschiedene Schlussfolgerungen zu. Die Nordelbische Ev.-Luth. Kirche beschränkte sich auf die pragmatische Bewältigung der sinkenden Einnahmen mithilfe von Rückbaumaßnahmen und einer sich daran anschließenden Reorganisation der landeskirchlichen Dienste und Werke und der Kirchenkreise. Mitglieder-, Beteiligungs- und Relevanzprobleme bildeten den Hintergrund des Nordelbischen Reformprozesses, führten aber bisher nicht zu einer Neubestimmung von Aufgaben und Zielen.

Bischof Wolfgang Huber dagegen interpretierte 1998 die gegenwärtige Situation der evangelischen Kirche als Kombination aus Mitgliedschafts-, Finanz-, Wiedervereinigungs-, Organisations-, Leitungs- und Orientierungskrise,32 bei der es im Kern darum gehen müsse, danach zu fragen, wie der Auftrag der Kirche in zeitgemäßer Weise so wahrgenommen werden könne, dass ihre Botschaft die Menschen erreiche.33 Entsprechend zielen das Perspektivprogramm seiner Landeskirche und das Impulspapier der EKD »Kirche der Freiheit« auf eine inhaltliche Neupositionierung der kirchlichen Arbeit.34

Für Martin Greschat als Kirchengeschichtler hat die in den sechziger und siebziger Jahren entwickelte Konzeption der Kirche als einer sozial engagierten und aktiven Organisation mit den sinkenden Einnahmen an Plausibilität verloren, denn sie ist nicht mehr finanzierbar. »Umso brennender wird die Frage, worum es eigentlich inhaltlich in der Kirche geht: was sie also nicht preisgeben kann, ohne ihre Substanz aufs Spiel zu setzen, und woran sie unbedingt festhalten muss.«35

Religionssoziologen beschreiben die kirchliche Situation vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen. So führte Niklas Luhmann bereits zu Beginn der 1970er Jahre die Schwierigkeiten der evangelischen Kirche auf den Funktionsverlust religiöser Kommunikation bei gleichzeitig beschränkter Organisierbarkeit von Religion inmitten einer stark von Organisationen geprägten, funktional differenzierten Gesellschaft zurück.36 Detlef Pollack spricht von einer »unübersichtlichen Lage«, in der sich die Kirche gegenwärtig befinde. Es sei nicht klar, ob die überkommenen Strukturen Chancen verbaut oder Schlimmeres verhindert hätten.»37 Worin ihre Effekte bestehen, lässt sich nicht eindeutig bestimmen, und noch unklarer ist, wie viel man der Kirche in Zukunft zutrauen kann, ob man ihr eher ein riskantes oder ein strukturkonservatives Handeln anraten sollte.«38 Andere Soziologinnen und Soziologen interpretieren kirchliche Problemlagen vor dem Hintergrund der Individualisierungs- oder der Rational-Choice-Theorie und kommen dabei zu höchst unterschiedlichen Einschätzungen.39

Dieter Becker dagegen fragt als Pastor und Unternehmensberater provokativ: »Welche Krise?«40 Er führt die hohe Zahl an Konfessionslosen auf die Sonderentwicklung in der DDR zurück, interpretiert die Zahl verstorbener Kirchenmitglieder als natürliche Entwicklung, streicht sie aus der Rechnung, vergleicht die Zahl der Kirchenaustritte mit der von Taufen, Aufnahmen und Zuzügen und kommt so für den Zeitraum zwischen 1991 und 2008 auf ein Mitgliederwachstum von 2,6 Mio.41 Zudem gibt es aus seiner Sicht keinen linearen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Mitglieder und der Höhe des Kirchensteueraufkommens, da nur etwa 40 % der Mitglieder überhaupt Kirchensteuer zahlen, davon die überwiegende Mehrzahl in relativ geringer Höhe, während 15 % der Mitglieder 75 % des Kirchensteueraufkommens erwirtschaften.42 Die Krise sei vor allem eine der hauptamtlichen »Binnenkirchler«, die Angst um den Verlust von Geldern und Stellen hätten. Reformprogramme zur stärkeren Mitgliederbindung seien deshalb nicht nur sinnlos, sondern stellten auch eine Belästigung und Abwertung einfacher Kirchenmitglieder dar.43

Die empirischen Phänomene sind also das eine, der theoretische Bezugsrahmen, aus dem heraus sie interpretiert und kausal aufeinander bezogen werden, die Bedeutung, die ihnen zugesprochen wird, die Emotionen, die sich mit ihnen verbinden und die Konsequenzen, die Körperschaften daraus ziehen, das andere. Das betrifft weniger das Faktum sinkender Kirchensteuermittel, das kirchliche Leitungsebenen unmittelbar zu Rückbaumaßnahmen zwingt, will man nicht wie das Erzbistum Berlin 2003 in gefährliche Nähe zur Insolvenz geraten.44 Aber die Fragen, in welchem Zusammenhang dieses Problem mit anderen Herausforderungen steht, nach welchen Kriterien und entlang welcher Prioritäten Kürzungen vorgenommen werden sollen, wie sich der nach dem Rückbau übrig gebliebene Umfang an Körperschaften, Einrichtungen und Verwaltungsämtern neu ordnen lässt und auf welche Perspektiven hin Aufgaben und Ziele neu zu bestimmen sind, lassen viel Spielraum für unterschiedlichste Interpretationen und darauf aufbauende Handlungsempfehlungen. Eine mögliche Deutung neben den bereits genannten ergibt sich aus der Aufnahme betriebswirtschaftlicher Denkansätze und den dahinter stehenden ökonomischen Theorien. Wie kirchliche Körperschaften dabei an verschiedene Konzepte und Methoden anknüpfen, wie sie sich umsetzen lassen und welche Wirkungen sie entfalten, beschreibt das folgende Kapitel.

B. Betriebswirtschaftliche Bewältigungsstrategien – ein exemplarischer Überblick

Im Rahmen der durch die sinkenden Kirchensteuereinnahmen ausgelösten organisatorischen Veränderungsnotwendigkeiten setzen kirchliche Körperschaften, Einrichtungen und Verwaltungsämter seit etwa fünfzehn Jahren in verstärktem Maße betriebswirtschaftliche Ansätze ein. Wie dabei die verschiedenen Teildisziplinen der Betriebswirtschaftslehre mit welcher Intention aufgenommen werden, beschreibt dieses Kapitel nach einer Übersicht über das jeweilige Wissensgebiet anhand einiger exemplarischer Beispiele. Darüber hinaus fragt es nach dem Grad ihrer Verbreitung und den praktischen Wirkungen, die sie entfalten. Zunächst jedoch einige allgemeine Bemerkungen als Einführung in das betriebswirtschaftliche Denken.

I. Effektivität und Effizienz als Grundthema der Betriebswirtschaftslehre

Die Betriebswirtschaftslehre untersucht das Wirtschaftsgeschehen unter der Fragestellung, was ein Unternehmen tun muss, um langfristig seinen Bestand zu erhalten.1 Sie entstand Anfang des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die industrielle Massenfertigung und die dadurch aufgeworfenen Organisationsprobleme. Im Laufe der letzten hundert Jahre haben sich dazu – ausgehend von unterschiedlichen Theorien und daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen  – verschiedene Ansätze zur Gestaltung betrieblicher Strukturen und Prozesse entwickelt.

Grundsätzlich lässt sich zwischen eher auf Effizienz und Rentabilität ausgerichteten und eher sozialwissenschaftlich ausgerichteten betriebswirtschaftlichen Denkschulen unterscheiden.2 Im deutschsprachigen Raum dominierte lange Zeit eine monetär orientierte Betriebswirtschaftslehre mit Teilbereichen wie Rechnungswesen, Finanzierung und Investition. Die Erhebung und Auswertung der finanziellen Dimension der betrieblichen Wirklichkeit und ihre Verarbeitung dienten der komplexitätsreduzierende Aufbereitung von Informationen als Grundlage für unternehmerische Entscheidungen.3 Im angloamerikanischen Raum dagegen entwickelten sich Ansätze, die das Verhalten von Menschen in Organisationen aus arbeitstechnischer, psychologischer und soziologischer Sicht unter der Frage beleuchteten, wie diese im Sinne unternehmerischer Ziele beeinflusst werden können.4

Systemtheoretisch orientierte Ansätze der Unternehmensführung zweifeln an einer zielorientierten Steuerbarkeit von Menschen und Organisationen. Aus ihrer Sicht bewegt sich das Handeln der Unternehmensführung in einem komplexen Interaktionsgeflecht unterschiedlicher Interessen und ist angesichts der Eigensinnigkeit von Systemen kaum in der Lage, betriebliche Prozesse zielgerichtet zu verändern, sondern kann sie im besten Falle nur zur Selbststeuerung anregen.5

Ein betriebswirtschaftliches Denken in Anlehnung an die Institutionenökonomik nimmt neuere mikroökonomische Überlegungen wie den Property-Rights-Ansatz, den Transaktionskostenansatz und den Prinzipal-Agent-Ansatz aus der Volkswirtschaftslehre auf. Dabei werden die Beziehungen zwischen Unternehmen und Kunden und die zwischen Unternehmen und Mitarbeitenden als Verträge interpretiert. Die Aufgabe der Unternehmensleitung besteht aus dieser Sicht in der Berücksichtigung dafür relevanter Faktoren wie Informationsasymmetrien, Unsicherheiten, Transaktionskosten oder Interessenkonflikten.6

Bei aller Vielfalt der verschiedenen Ansätze existiert ein gemeinsamer Kern. Fehlende staatliche Umsatz- und Preisgarantien und die Konkurrenz durch andere Anbieter schaffen für Unternehmen eine Situation risikobehafteter Unsicherheit. Sie treten in Vorleistung, ohne gewiss sein zu können, die produzierten Güter zu einem kostendeckenden Preis absetzen zu können. Diese Situation zwingt sie, alles zu tun, um die für das eigene Überleben notwendigen Ziele im Blick auf Umsatz und Gewinn zu erreichen. Zugleich gilt es, dafür möglichst wenig Ressourcen einzusetzen, um Produktions- und Distributionskosten niedrig zu halten und auf diese Weise das Preis-Leistungs-Verhältnis für die eigenen Güter im Wettbewerb mit anderen Unternehmen attraktiv zu gestalten. Zusammenfassend formuliert bilden Effektivität und Effizienz, also die Wirksamkeit der eingesetzten Mittel im Blick auf die angestrebten Umsatz- und Gewinnziele und die Wirtschaftlichkeit ihres Einsatzes, nach betriebswirtschaftlicher Auffassung die beiden grundlegenden Ziele unternehmerischen Handelns.7

Die Betriebswirtschaftslehre entwickelt Konzepte und Methoden, die Unternehmen dabei unterstützen sollen, diese beiden Ziele zu erreichen. Dabei konzentrieren sich einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf die Herausforderungen bestimmter Branchen, etwa Banken, Medien, Landwirtschaft, Gesundheitswesens usw., andere auf branchenübergreifende Themen. Die Teildisziplin der Marketinglehre beschäftigt sich mit der Frage, wie es einem Betrieb gelingen kann, den Absatz der von ihm produzierten Güter positiv zu beeinflussen. Die Organisationslehre arbeitet an Konzepten zur Optimierung der betrieblichen Aufbau- und Ablauforganisation. Die Personalwirtschaftslehre widmet sich Themen im Bereich von Personaleinsatz und -führung. Die Bereiche Investition, Finanzierung und Rechnungswesen bearbeiten Probleme der Steuerung betrieblicher Finanzströme. Die Managementlehre schließlich behandelt Themen der Unternehmensführung und verbindet dabei die Teildisziplinen der funktionalen Betriebswirtschaftslehre zu einem Planungs- und Kontrollprozess.

Wenn kirchliche Körperschaften, Einrichtungen und Verwaltungsämter an ein solches Denken anknüpfen, verbindet sich damit die Hoffnung, angesichts sinkender Einnahmen die Effektivität und Effizienz des kirchlichen Handelns steigern zu können. Dabei werden vor allem Konzepte und Methoden aus den Teildisziplinen Absatz (Marketing), Unternehmensführung (Management mit den Teilbereichen Planung, Organisation, Personaleinsatz/-führung und Controlling) und dem betrieblichen Rechnungswesen aufgenommen. Die Themenkreise Rechtsformen, Produktion, Investition, Finanzierung und Bilanzierung finden dagegen aufgrund mangelnder Anwendungsmöglichkeiten keine Berücksichtigung. Neben einer direkten Aufnahme betriebswirtschaftlicher Handlungsempfehlungen greifen einige evangelische Landeskirchen auf Bausteine aus dem Bereich des New Public Management zurück, das betriebswirtschaftliche Analyseansätze, Konzepte und Methoden für den Einsatz im Bereich der Öffentlichen Verwaltung adaptiert.

II. Marketing

1. Grundzüge des Marketingdenkens

Bis zum Zweiten Weltkrieg standen Unternehmen in erster Linie vor Problemen der Ausdehnung und effizienten Gestaltung der Güterproduktion.8 Der Absatz stellte sie in der Regel vor keine Schwierigkeiten, weil die Märkte größtenteils ungesättigt waren. Auch heute liegen für manche Firmen betriebliche Engpässe eher in Bereichen wie Forschung und Entwicklung, Finanzen, Umweltschutz oder gesetzlichen Beschränkungen. Die meisten Güter werden allerdings in großer Vielfalt und überreichlichem Maße produziert. Ihr Absatz bildet deshalb den wichtigsten Engpass betriebswirtschaftlicher Prozesse und bedarf dementsprechend einer aufmerksamen Gestaltung.

Der grundlegende Ansatz zur Lösung dieses Problems besteht darin, nicht nach effektiven Methoden der Verkaufsförderung für bestimmte Produkte oder Dienstleistungen zu fragen, sondern ausgehend von den Bedürfnissen der Kundinnen und Kunden Güter zu entwickeln, zu produzieren und bereitzustellen. Die Grundthese der Marketinglehre lautet: »Erfolg hat nur derjenige, der die Wünsche und Vorlieben potenzieller Kunden kennt, ihre Interessen und Präferenzen bei der Erstellung eigener Angebote berücksichtigt und folglich alle Entscheidungen vom Markt her trifft.«9 Oder kürzer gesagt: » Versuche nicht zu verkaufen, was bereits produziert wurde, sondern produziere nur, was sich verkaufen lässt.«10

Waren zunächst nur einzelne Abteilungen in Unternehmen für die Entwicklung von Marketingkonzepten zuständig, veränderte sich das Verständnis von Marketing in einer zweiten Phase der Entwicklung hin zu der Vorstellung einer Marketingorientierung aller betrieblicher Prozesse.11 In einer dritten Phase erweiterten Relationship-Marketing-Ansätze die Idee der Kundenorientierung zu einem Konzept, das sich dem Aufbau und der Pflege langfristig angelegter »profitabler Austauschbeziehungen«12 mit Kundinnen und Kunden verpflichtet sah. Aktuelle Konzepte entwerfen das Marketing systemtheoretisch orientiert als Bemühung um die Berücksichtigung der Interessen aller von den Aktivitäten des Unternehmens berührten Anspruchsgruppen. Dazu gehört neben dem Kunden-Marketing das Investor Relations genannte Marketing in Bezug auf Rohstofflieferanten, Anlagenbauer und Banken, das interne Marketing im Blick auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie die Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen im Rahmen einer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung.13 Dabei gewinnen ethische Fragen zunehmend an Bedeutung.14 Durch diese Ausweitung des Marketingbegriffs verschwimmt allerdings die Grenze zu anderen betriebswirtschaftlichen Teildisziplinen wie der Management- oder der Personalwirtschaftslehre. Welchen Konzepten auch immer das Marketing folgt, das Ziel aller Bemühungen liegt in der Steigerung des Absatzes von Wirtschaftsgütern.

Unter Bedürfnissen versteht die Marketinglehre »das Gefühl eines Mangels und den damit verbundenen Wunsch, diesen Mangel zu beseitigen.«15 Unterschieden wird dabei zwischen lebensnotwendigen Bedürfnissen, wie etwa Nahrung, Kleidung und Wohnung und kulturellen Bedürfnissen wie Reisen, Musizieren usw.16 Neben individuellen spricht die Marketinglehre von kollektiven Bedürfnissen, etwa denen nach Geborgenheit, Frieden und Sicherheit. Bedürfnisse werden in einer durch den Einfluss des kulturellem und sozialen Umfeldes und der Erziehung geprägten Form als Wünsche konkret.17 Wünsche, die durch den Kauf von Produkten befriedigt werden können, werden als Bedarf bezeichnet. Wenn einem vorhandenen Bedarf die nötige Kaufkraft gegenübersteht, spricht man von Nachfrage.18Die gleichen menschlichen Bedürfnisse führen zu unterschiedlichen Wünschen. Nicht alle Wünsche lassen sich durch den Kauf von Wirtschaftsgütern befriedigen und nicht für jeden Bedarf existiert eine Nachfrage in Form ausreichender Kaufkraft.

Unternehmen gehen im Rahmen eines marketingorientierten Vorgehens zunächst analytisch vor. Sie betreiben Marktforschung, um die Wünsche und das Verhalten möglicher Abnehmer zu erheben und in homogene Gruppen gleichartiger Nutzenerwartungen einzuteilen, um sich dann gezielt auf einzelne davon konzentrieren zu können. »Denn ein detailliertes Verständnis für die Konsumentenbedürfnisse und -wünsche stellt die Voraussetzung für die Erarbeitung erfolgreicher Marketingstrategien dar.«19 Zugleich werden das Marktumfeld und die eigenen Stärken im Vergleich zur Konkurrenz analysiert.20 Aus all dem ergeben sich bestimmte absatzpolitische Instrumente, mit denen das Verhalten von Konsumenten und Konkurrenten beeinflusst werden soll. Dazu gehören eine nutzenorientierte Produkt- und Markengestaltung,21 die Preispolitik,22 die Distributionspolitik23 und die Werbung.24

Neben der Adaption an vorhandene Bedürfnisse entwickelt das Marketing Strategien zur aktiven Beeinflussung von Kundenwünschen. »Hinsichtlich der Bedürfnisse ist davon auszugehen, dass sie teils als unveränderlich und teils als veränderbar einzustufen sind. Dementsprechend versuchen Unternehmen, die Bedürfnisse in eine ihren Zwecken entsprechende Richtung zu verändern und nehmen gleichzeitig eine aktive Anpassung der unternehmenspolitischen Maßnahmen an die gegebenen Bedürfnisse der Nachfrager vor.«25 Grundlegende menschliche Bedürfnisse, die Form, in der sie kulturell überformt sind und die dahinter stehenden Werthaltungen und Einstellungen lassen sich dabei allerdings nicht verändern.»26 Die Wertvorstellungen (Einstellungen) der Nachfrager sind zumeist gewachsen und verfestigt und daher schwer zu bewegen.«27 Auch religiöse Überzeugungen, Praktiken und Zugehörigkeiten können also durch den Einsatz von Marketingtechniken nicht beeinflusst werden.

Die für das Marketing notwendige Erforschung des Verbraucherverhaltens baute ursprünglich auf dem Modell des rational entscheidenden, nutzenmaximierenden Individuums auf.28 Diese Theorie kann aber Phänomene wie Mitläufer-Effekte, die Bedeutung subjektiver Wahrnehmung objektiver Gegebenheiten und soziale Einflüsse auf das Kaufverhalten nicht erfassen und ist deshalb für die Entwicklung konkreter Marketingtechniken nur begrenzt von Nutzen.29 Marketingfachleute verwenden heute komplexe prozessorientierte Kaufentscheidungsmodelle, die Ansätze der kognitiven Psychologie und der Lernpsychologie, motivationstheoretische und sozialpsychologische Theorien miteinander verbinden.30

Das Verhalten von Kundinnen und Kunden lässt sich also durchaus durch diverse Techniken und Tricks aktiv beeinflussen, aber nicht, indem man neue Bedürfnisse schafft, sondern nur, indem man vorhandene Bedürfnisse verstärkt oder in Richtung auf den Kauf bestimmter Produkte lenkt.

Einen für die kirchliche Praxis bedeutsamen Sonderfall bildet das noch in den Kinderschuhen steckende Marketing von Vertrauensgütern.31 Vertrauensgüter sind im Verständnis der Informationsökonomik32 Produkte, Dienstleistungen oder Rechte, deren Qualität sich beim Kauf nicht ohne weiteres überprüfen lässt.33 Beim Gebrauchtwagenkauf etwa verfügt der Verkäufer über wesentlich mehr Informationen über ein Fahrzeug als der Käufer. Zugleich wird ein Käufer selbst nach dem Kauf nie genau wissen, ob er nicht einen günstigeren Gebrauchtwagen hätte kaufen können, der mit weniger Reparaturaufwand länger gelaufen wäre als der, den er erworben hat. Die Transaktion ist deshalb in hohem Maße auf Vertrauen angewiesen.

Ähnliches gilt für Versicherungs- und Finanzdienstleistungen. Firmen richten ihr Marketing danach aus, indem sie sich bemühen, langfristige, vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Kundinnen und Kunden aufzubauen, sich in Zweifelsfällen kulant zu zeigen, mit Garantien zu arbeiten usw., um sich auf diese Weise die Reputation eines verlässlichen Anbieters zu erwerben. Vertrauensgüter sind besonders häufig Gegenstand von Betrug, z. B. in Form von Manipulationen von Kilometerzählern bei Gebrauchtwagen, Versicherungsbetrug, verdeckten Provisionen oder als Fonds getarnten Schnellballsystemen. Das betrügerische Verhalten weniger kann dabei Vertrauensverluste produzieren, die eine ganze Branche diskreditieren.

Darüber hinaus existieren Güter, die teilweise oder ganz immaterieller Natur sind, sodass sie auch mit viel Aufwand und mit langem zeitlichen Abstand kaum eine objektive Beurteilung ihrer Qualität erlauben, z. B. Bildungsangebote, die Beratung durch Rechtsanwälte oder medizinische und psychotherapeutische Leistungen,34 auch weil hier als externer Effekt die Mitwirkung der Nachfrager als »Ko-Produzent« eine entscheidende Rolle für das Zustandekommen und die Qualität der Dienstleistung spielt. Kundinnen und Kunden verwenden deshalb sekundäre Merkmale als Hinweis auf die vermutete, aber nicht nachweisbare Primärqualität. Ein freundliches, sauber gekleidetes, verständnisvolles, verlässliches und professionelles Auftreten, die Ausstattung des Ladens/der Praxis, die Bücherwand im Sprechzimmer usw. dienen als vertrauensbildende Symbole, an denen Kundinnen und Kunden ablesen, ob sie sich auf die Qualität der Leistung verlassen können.

2. Marketing in der Kirche

Erste Marketingansätze hielten bereits in den 1960er Jahren mit dem Thema »Werbung in der Kirche« in die evangelische Kirche Einzug. Nach kontroversen Debatten fand das Arbeitsfeld unter dem Begriff »Öffentlichkeitsarbeit« breite Akzeptanz und hat sich seit der Gründung des Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Publizistik (GEP) Anfang der 1970er-Jahre fest etabliert.35 Seit den 1980er Jahren orientiert sich ein Teil der Gemeindeaufbaubemühungen an Ansätzen der Church Growth Movement aus den USA, die Erfahrungen aus der Missionsarbeit mit der Wachstums- und Erfolgsorientierung der freien Wirtschaft und einer konsequent bedürfnis- und zielgruppenorientierten Ausrichtung der Gemeindearbeit zu einem Programm verbinden.36 Seit den 1990er Jahren hat sich ein solches Vorgehen über den Bereich protestantischer Freikirchen und evangelikaler Profilgemeinden hinaus ausgebreitet.

Den Prototyp einer marketingorientierten Anwendung betriebswirtschaftlicher Methoden in der verfassten Kirche stellt das Evangelische Münchenprogramm dar. 1995 führte die Unternehmensberatung McKinsey eine Analyse der kirchlichen Arbeit im Dekanat München durch.37 Danach ist nicht die fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft das Problem. Das Evangelium sei ein tragfähiges Angebot. Aufgrund der anhaltenden Sehnsucht der Menschen nach Halt, Sinn und Erfahrung von Gemeinschaft müsste die Nachfrage danach eigentlich hoch sein. Dass Menschen trotzdem auf Distanz zur Kirche gingen, lasse deshalb auf Defizite bei den eingesetzten Produktionsfaktoren schließen. »Der Markt selbst ist riesig, gemessen an der Bedeutung auch anderer Glaubensgemeinschaften, gemessen an der Bedeutung von esoterischer Literatur und meditativen Angeboten, die außerhalb von Kirche stattfinden. Der ›Teufelskreis‹, in dem Kirche derzeit steckt, beginnt bei Defiziten in der Berücksichtigung von Mitgliedereinstellungen und -erwartungen. Das führt zu einer inneren Distanzierung der Mitglieder und letztlich zu Austritten und damit natürlich auch in eine Gefährdung der ökonomischen Basis.«38 Diese Entwicklung wiederum fördere binnenkirchliche Konflikte, die bei einem fehlenden Gesamtkonzept Kraft absorbiere, die eigentlich auf die Mitglieder gerichtet sein müsste. Es gebe kein System zur Steuerung des Angebots, um Marktnähe sicherzustellen. Man müsse doch fragen, ob der Gottesdienst ankomme. Und wenn nicht, wie man die Qualität verbessern könne, damit Predigten attraktiver würden.39 Entsprechend schlug McKinsey vor, eine nachfrage- bzw. mitgliederorientierte Angebotsplanung einzurichten. Es brauche mitgliederorientierte, zielkonforme und systematische Angebote. »Abrechenbares Ziel des eMp ist, dass sich das Verhältnis von Kirchenaustritten und Kircheneintritten im Zeitraum der nächsten zehn Jahre umgekehrt hat«, so der damalige Projektleiter Hans Löhr 1997.40 Darüber hinaus sah McKinsey Defizite im Bereich der Leitungsstrukturen und der Personalführung, die mithilfe von Managementmethoden angegangen werden müssten, um eine abgestimmte nachfrage-, nutzen-, und mitgliederorientierte Angebotsplanung zu ermöglichen.

In ähnlicher Weise wie das evangelische Münchenprogramm, aber mit einem Akzent auf der für das Marketing von Dienstleistungen wichtigen Sicherung der Qualität von Angeboten,41 argumentiert das Impulspapier der EKD. Aus ihrer Sicht besitzen Gottesdienste und Amtshandlungen für den Mitgliederbestand der evangelischen Kirche eine zentrale Bedeutung, weil von ihnen die Kraft ausgehe, »Menschen im christlichen Glauben zu beheimaten«.42 Diese geistliche Beheimatungskraft sei zwar nicht einfach berechen- und herstellbar, allerdings bestehe ein deutlicher Zusammenhang mit der Qualität des theologischen, liturgischen und seelsorgerlichen Handelns.43 Insgesamt lasse diese Qualität aber besonders bei den Kasualien zu wünschen übrig. Das habe mehrere Gründe. Zum einen sei die Schattenseite der inneren Pluralität der evangelischen Kirche »eine bedauerliche Neigung zum Separatismus«.44 Dieses Kirchturmdenken, »überzogene Autonomievorstellungen im Pfarramt«,45 eine mangelnde Verantwortungsbereitschaft für das Ganze der Kirche und die mangelnde Identifizierung der Mitarbeitenden und Pfarrerinnen mit der Kirche als Institution führten zu Vereinzelung, Milieuverengung, Überforderung und damit insgesamt zu Qualitätsverlusten in der kirchlichen Arbeit. Dazu gehöre auch, dass es keine Kultur des gegenseitigen kollegialen Feedbacks gäbe und die Dienstaufsicht in dieser Hinsicht zu wenig mit einer Fachaufsicht verbunden werde.46

Zudem sei die Amtshandlungspraxis zu sehr von »mangelnder Professionalität« und »mangelnder geistlicher Zuwendung«47 geprägt. Pfarrerinnen und Pfarrer würden unterschätzen, wie sehr gerade die Amtshandlungen den Zugang zum christlichen Glauben über eine lange Lebensspanne hinweg prägten. So sei z. B. im Zusammenhang mit Beerdigungen immer wieder die Klage über mangelnde Erreichbarkeit und schroffe Reaktionen zu hören. Es fehle eine »verlässlich niveauvolle Gestaltung«48 von Gottesdiensten und Kasualien.

Zugleich müsse sich die klassische Ortsgemeinde aus ihrer vereinsmäßigen »Ausrichtung mit deutlicher Milieuverengung«49 befreien und zu einer missionarischen Öffnung finden. Dazu gehöre die verstärkte Aufmerksamkeit für die Amtshandlungspraxis und die Schaffung von Anlässen, in denen Menschen punktuell mit dem »Geist und Glanz des Glaubens«50 in Berührung kämen. Für den Bereich der pfarramtlichen Tätigkeit fehlten vergleichbare Standards und Qualitätskontrollen.51 Eine Bewertung von Veranstaltungen aufgrund von Teilnehmerzahlen werde abgelehnt, gute kirchliche Arbeit sei zu wenig bekannt, eine Analyse von missglückten Aktivitäten werde unterlassen.52 Insgesamt müsse die Kirche mehr tun, um die Qualität ihrer Angebote zu steigern. Denn: »Nur Qualität setzt sich durch.«53

Als Konsequenz aus dieser Analyse schlägt das Impulspapier vor, vergleichbare Qualitätsstandards mit Blick auf die kirchlichen Kernangebote zu definieren. Es müsse ein Qualitätsmanagement aufgebaut werden, das die ständige Fort- und Weiterbildung stärke und eine faire Beurteilungskultur im Rahmen einer kollegialen Feedbackkultur etabliere. Wichtig sei darüber hinaus auch die Vermittlung eines Kernbestandes von wichtigen Texten, Liedern und Gesten im Rahmen des kirchlichen Bildungsauftrags. Ziel müsse es insgesamt sein, durch ein verlässlich hohes Qualitätsniveau der Kernangebote die Beteiligung zu stabilisieren und zu erhöhen.54

Mit seinen Vorschlägen orientiert sich das Impulspapier stringent an den Handlungsempfehlungen des Dienstleistungsmarketing. Die verlässlich gleich bleibende Qualität der Dienstleistung soll die Zufriedenheit der Kunden und damit die Bindung an das Unternehmen, hier als »Beheimatung« bezeichnet, sicherstellen.

Neben dem evangelischen Münchenprogramm und dem Impulspapier verbinden eine ganze Reihe landeskirchlicher Reformpapiere der letzten Jahre das Anliegen einer missionarischen Neuausrichtung des kirchlichen Handelns über den Begriff der Mitglieder- und Zielgruppenorientierung mit Ideen von Kundenbindung, Bedürfnis-, Qualitätsorientierung und Markenprofilierung55

Daneben ist in den letzten fünfzehn Jahren eine Fülle von Publikationen zum Thema erschienen.56 So schreibt Dieter Becker in einem Aufsatz im Deutschen Pfarrerblatt: »Die ev. Kirchen sind ein Anbieter in der Branche Religion«,57 der vor einer Reihe von Problemen steht. Seine Kunden seien unzufrieden, ablesbar an der sinkenden Zahl von Gottesdienstbesuchern und Mitgliedern, ihm fehle eine einheitliche Corporate Identity, das Marketing sei »eine Katastrophe«, Kundenwerbung »ein Fremdwort«.58 Angesichts vieler reizvollerer Angebote im Freizeitsegment müsse man prognostizieren: »Die Kirchen mit ihren bestehenden Strukturen sind ein sterbender Marktriese in der Branche Religion, der durch das Instrument der Kirchensteuer noch, aber stetig abnehmend, am Leben erhalten wird.«59

Steffen W. Hillebrecht spricht davon, dass die Kirchen in Deutschland sich »in einem diffusen Konkurrenzumfeld«, einem »Markt der Sinnstiftung« bewegen.»60 Die früher selbstverständliche Zugehörigkeit ist einem bewußten Entscheidungsprozess gewichen, in dem die Mitgliedschaft und die Teilnahme gleichsam unter ›Kosten-Nutzen-Erwägungen‹ bewertet werden.«61 Dies gelte es als Bedingung für die Vermittlung des Evangeliums zu akzeptieren und die kirchliche Arbeit entsprechend auszurichten.

Ähnlich wie Peter Barrenstein behauptet Cla Reto Famos: »Das Bedürfnis nach religiöser Orientierung ist aber nicht markant zurückgegangen, sondern wird nun von nachrückenden Anbietern beliefert.«62 Dabei sieht er zwei Sorten von Konkurrenten: zum einen religiöse Anbieter wie den Islam, den Buddhismus, eine Vielzahl religiöser Gemeinschaften und esoterische Angebote, zum anderen den Freizeit-, Sport-, Kunst- und Kulturbereich sowie die Subkulturen der Jugendszene, die in säkularer Form die Funktion der Sinnvermittlung übernähmen.»63 Kirchen stehen in Konkurrenz mit unterschiedlichsten Sinnanbietern. Der religiöse Markt ist weder abgeschlossen noch scharf konturiert. Er stößt seine Grenzen immer mehr in neue, unerschlossene Gebiete vor. Die Produktevielfalt erhöht sich, bisher nicht Gekanntes wird neu unter einer religiösen Konnotation angeboten. Gleichzeitig stößt der religiöse Markt auf andere Märkte wie den Freizeitmarkt, den Psychomarkt, den Musik- oder den Literaturmarkt. Dadurch weitet sich das Konkurrenzfeld noch einmal stark aus.«64

Bei der Gestaltung der kirchlichen Arbeit müsse beachtet werden, dass »nicht mehr die Kirche das Verhältnis zu ihren Mitgliedern definiert, sondern die Einzelnen aufgrund ihrer Bedürfnisse und Erwartungen ihr eigenes Maß an Nähe und Distanz festsetzen.«65 Die Menschen seien es gewohnt, konsumorientiert auszuwählen und hätten darüber hinaus steigende Ansprüche an die Qualität religiöser Angebote.»66 Nicht mehr Berufung und Bekehrung weisen den Weg zu einer religiösen Identität, sondern Entscheidung und Auswahl. «67 Zugleich habe die institutionelle Religion den Kontakt mit der gelebten Religion im Alltag der Menschen verloren.»68 Der starke Mitgliederschwund der letzten Jahrzehnte und der damit einhergehende Traditionsabbruch kann – neben anderen Deutungsversuchen – als Ausdruck einer fehlenden Mitgliederzufriedenheit interpretiert werden.«69

Zusammenfassend betrachtet zeichnet Marketingansätze für die evangelische Kirche – bei allen Unterschieden im Detail – eine gemeinsame Grundlinie aus. Sie zielen auf eine Neuorientierung der inhaltlichen Arbeit kirchlicher Körperschaften und Einrichtungen. Beabsichtigt ist eine Steigerung der missionarischen Wirksamkeit der kirchlichen Arbeit, operationalisiert in quantitativen Messgrößen wie der Anzahl von Gottesdienstbesuchern, Kasualien, Mitgliedern, Kirchenein- und -austritten oder der Auflage kirchlicher Publikationen.

Dabei wird die Situation der Kirche analog zu der eines am Markt tätigen Unternehmens gedeutet. Nicht der Markt religiöser Nachfrage sei kleiner geworden, die Kirche habe nur ihre Monopolstellung auf diesem Markt verloren. Sie konkurriere darauf mit anderen Sinnanbietern und müsse sich dabei in einem Wettbewerb um Zeit und Geld behaupten. Einige Ansätze differenzieren an dieser Stelle und sehen die Konkurrenz weniger im Bereich religiöser Güter als bei säkularen Angeboten der Freizeitgestaltung.