Kiss me in Paris - Catherine Rider - E-Book

Kiss me in Paris E-Book

Catherine Rider

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Je t’aime« klingt schöner in Paris!

New Yorkerin Serena Fuentes hatte es sich alles so schön vorgestellt: Paris, die Stadt der Liebe, 21. Dezember, auf den Spuren der Hochzeitsreise ihrer Eltern, gemeinsam mit der Schwester – Romantik pur! Doch die Schwester düst mit ihrer neuesten Flamme nach Madrid ab, während Serena bei einem komplett Fremden unterkommen muss. Quelle horreur! Jean-Luc Thayer ist nur mäßig begeistert von der Aussicht, eine amerikanische Touristin babysitten zu müssen. Umso irritierter ist er, als Serena ihn auf eine von A bis Z durchgeplante Tour durch die Stadt mitzerrt. Jean-Luc improvisiert lieber, vorzugsweise mit der Kamera. Aber irgendwann auf dem langen Spaziergang durch Paris merken Serena und Jean-Luc, dass Gegensätze sich anziehen …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 283

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Catherine Rider

A Winter Romance

Aus dem Englischen von Franka Reinhart

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage 2017

© 2017 by Working Partners Ltd

With special thanks to James Noble.

© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Franka Reinhart

Lektorat: Catherine Beck

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München,

unter Verwendung mehrerer Motive von

© Shutterstock (Ilona Ignatova, Bucchi Francesco,

Kichigin, Elena Elisseeva, Elena Dijour, aprilante,

Hein Nouwens, Oxy_gen)

he · Herstellung: eS

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-20146-3V001

www.cbt-buecher.de

1

Serena

Freitag, 21. Dezember

09:15 Uhr

So muss es sich anfühlen, wenn man tot ist!

Obwohl ich auf meinem Nachtflug aus New York ein bisschen schlafen konnte, kommt mir die Straße (oder auch Rue) im 7. Pariser Arrondissement, in der meine große Schwester Lara wohnt, wie eine verblasste Kopie ihrer selbst vor. Aber das kann auch an meinem Jetlag liegen. Oder am Dezembernebel, der so dicht ist, dass ich keine von den ganzen Sehenswürdigkeiten erkennen konnte, die mir Google Maps im Taxi angezeigt hat – nicht mal den Eiffelturm, nach dem ich mir nun wirklich den Kopf verrenkt habe!

Ich stolpere aus dem Taxi und muss aufpassen, dass ich nicht der Länge nach hinfalle. Das wäre natürlich ein ziemlich peinlicher Auftakt dieser Reise, zu der auch das Projekt Romantik gehören sollte, ein zweitägiges Familienevent. Leider musste Mom in letzter Minute einen Rückzieher machen, und Lara ignorierte – verpeilt wie immer – sämtliche Mailanfragen von mir, ob sie mich vom Flughafen abholen kann. Somit fühlte sich unser »Familienausflug« für den Anfang eher wie das genaue Gegenteil an.

Ich schaue nach links und rechts (mein steifer Nacken protestiert gegen die schnellen Bewegungen) und versuche so viel wie möglich von der Straße zu erkennen. Oder zumindest so viel, wie der Nebel zulässt. Eine Straße mit Kopfsteinpflaster schlängelt sich dahin. Die schwarze Markise eines Cafés hängt über dem Nebel wie ein Schmutzfleck.

Dann betrachte ich das Haus. Über die gesamte Fassade ziehen sich die Kabel der Weihnachtsbeleuchtung. Eingeschaltet ist das bestimmt wunderschön, aber bei Tageslicht wirkt es wie abgestorbener Efeu. Alles sieht hier irgendwie anders aus. Das Ziegelmauerwerk macht einen altertümlichen Eindruck, ist aber mit den Reihenhäusern in Brooklyn nicht zu vergleichen.

Die in den Nebel emporstrebenden schmiedeeisernen Gitter der Balkone kommen mir so … fremd vor. Mir wird klar, dass ich wirklich sehr weit weg von zu Hause bin. Die Haustür ist schwarz und mit einem silbernen Kranz geschmückt – was mich beunruhigt, denn Lara hatte gesagt, sie sei rot mit einem Stechpalmen-Kranz. Hoffentlich habe ich das Taxi nicht versehentlich zur falschen Adresse geschickt. Instinktiv greife ich nach meinem Handy, um sie noch einmal auf Google Maps zu kontrollieren (natürlich habe ich Daten-Roaming extra dazugebucht), doch das Telefon steckt in meiner linken Jackentasche, die gerade durch meinen Shopper verdeckt ist. Um an das Handy heranzukommen, müsste ich extra mein Gepäck absetzen – aber dazu bin ich gerade viel zu geschafft.

Tolle Idee, einen Nachtflug zu nehmen, Serena. Wirklich ganz, ganz clever.

Während der Taxifahrt vom Flughafen Charles de Gaulle hatte ich überhaupt keine Sorge, im falschen Arrondissement zu landen – so ausgefallen heißen in Paris übrigens die Stadtteile. Gut möglich, dass das 7. eins der ausgefallensten ist, denn laut Reiseführer befinden sich dort der Eiffelturm, das Musée d’Orsay, noch ein paar andere Musées und die letzte Ruhestätte von Napoleon. Es liegt ziemlich zentral links der Seine und würde normalerweise wahrscheinlich mein Budget total sprengen, aber Lara arbeitet hier als Au-pair-Mädchen bei einer Familie. Damit hat mir Lara zum ersten Mal seit Menschengedenken etwas erleichtert.

Die Treppe vom Fußweg zur Haustür besteht aus sechs Steinstufen, die ich nicht nur meine Tragetasche, sondern außerdem einen zwanzig Kilo schweren Koffer hinaufhieven muss. (Das Gewicht kenne ich deshalb so genau, weil das die Obergrenze für aufzugebendes Gepäck war und ich zu Hause zweimal nachgewogen habe, bevor ich zum Flughafen John F. Kennedy aufgebrochen bin.) Nach einem achtstündigen Nachtflug kommen mir diese zwanzig Kilo allerdings eher vor wie zweihundert und die sechs Stufen fühlen sich an wie der Mount Everest.

Jetzt krieg dich mal wieder ein, Serena Fuentes!, denke ich und versuche, mich zu motivieren. Du bist schon mehrere Halbmarathons gelaufen! Da wirst du doch wohl diese zwanzig Kilo ein paar Stufen nach oben tragen können.

Und außerdem… denk dran, warum du hier bist.

Ich schüttele meine Hände aus und versuche sie zu entkrampfen. Dann drücke ich die Tragetasche fester gegen meine Rippen, umfasse den Griff meines exakt zwanzig Kilo schweren Koffers, beiße die Zähne zusammen und stoße ein Ächzen aus, das mir vor lauter Müdigkeit nicht einmal peinlich ist – obwohl auf dieser Rue ohnehin kein Mensch unterwegs ist.

Als ich den Mount Everest bezwungen habe, drücke ich auf die Klingel für Wohnung Nummer 15. Die Stimme, die sich über die Sprechanlage meldet, klingt abgehackt und redet Französisch ohne Punkt und Komma. Ich verstehe kein Wort. Trotzdem würde ich diese Stimme jederzeit und überall erkennen.

»Lara, ich bin’s«, informiere ich meine Schwester.

»Serena?«

Ich frage mich, ob sie gerade erst aufgewacht ist, denn sie klingt total überrascht. Sie hat doch nicht etwa ernsthaft vergessen, dass das Projekt Romantik trotzdem stattfindet?

Lara sagt, ich soll die Treppe nach oben nehmen. Na toll. Also schleppe ich meinen exakt zwanzig Kilo schweren Koffer hinauf in die vierte Etage, in die ich laut meiner Schwester kommen soll – natürlich gibt es keinen Aufzug, und selbstverständlich denkt Lara gar nicht daran, mir zu helfen. Ich schaue auf die Wohnungsnummern: 10, 11, 12… Pro Etage sind es immer drei, Wohnung Nummer 15 ist eindeutig nicht dabei. Plötzlich fällt mir ein, dass das unterste Stockwerk hier nicht wie in Amerika erste Etage, sondern Erdgeschoss heißt, und mir wird klar, dass ich noch eine Treppe bewältigen muss.

Warum? Waaaruuum, ihr Europäer?

»Sag mal, wa… was machst du denn hier?« Lara steht in der Tür zu Wohnung Nummer 15 und erwartet mich. Normalerweise wäre ich erleichtert, sie zu sehen, wenn sie nicht so einen konfusen Eindruck machen würde. Sie trägt eine Jogginghose, und ihre Haare (sie hat eine prächtige Lockenmähne, während ich nur einen krausen Wuschelkopf abbekommen habe – schönen Dank auch, Genetik) sehen reichlich zerzaust aus, was meine Eben-erst-aufgewacht-Theorie bestätigt. Immerhin hat sie sich schon die Lippen geschminkt – wie immer in dem für sie typischen Knallrot. Ohne Lippenstift habe ich sie wahrscheinlich nicht mehr gesehen, seit sie auf die Highschool gekommen ist.

Ich ignoriere sie erst einmal, befördere meinen Koffer in die Wohnung und marschiere schnurstracks in das helle, geräumige Wohnzimmer. Dort stelle ich den Koffer neben einem Sofa ab. »Ich brauch erst mal ’ne Minute«, sage ich, dann zeige ich auf eine der Türen, die vom Wohnzimmer abgehen. »Bad?«

»Ja«, antwortet sie. Sie macht den Eindruck, als ob sie sich wie in einem wirren Traum fühlt und darauf wartet, jeden Moment aufzuwachen.

Als ich aus dem Bad komme, gehe ich auf sie zu und lasse mich auf das hellbraune Sofa fallen. Es ist so weich und federnd, dass ich beinahe wieder hochschnelle. In der Ecke bemerke ich einen kleinen Weihnachtsbaum. Er ist mit schwarzen und goldenen Schleifen geschmückt. Sehr chic, sehr französisch. Ich reiße mich zusammen und schaue Lara vorwurfsvoll an. »Aaaaalso … Was ist los bei dir? Hast du vergessen, dein Handy auf Mails von deiner Schwester zu checken? Ist dir unser Plan entfallen, die Hochzeitsreise unserer Eltern nachzuvollziehen? Erinnerst du dich nicht mehr an das Projekt Romantik?«

»Natürlich erinnere ich mich …« Sie setzt sich auf die Armlehne des Sofas und sieht mich an, als ob ich die Verpeilte wäre. »Aber, ich meine … als Mom zu dieser Konferenz beordert wurde, bin ich halt davon ausgegangen, dass wir diese Paris-Sache abblasen und einfach getrennt nach London fliegen und uns dann Heiligabend mit Mom treffen.«

Offenbar hat der Jetlag nicht nur meinen Blick getrübt, sondern mir auch noch das Hirn vernebelt. Nur so kann ich mir erklären, wie ich auf die Idee komme, dass meine Schwester unseren sorgfältig ausgearbeiteten Plan vergessen hat – er besteht darin, alle Orte in Paris aufzusuchen, die unsere Eltern vor fünfundzwanzig Jahren in ihren Flitterwochen besucht haben. In die Vorbereitung dafür habe ich ein ganzes Wochenende gesteckt, obwohl ich die Zeit dringend zum Lernen für meine Abschlussprüfungen hätte brauchen können – die sind an der Columbia nämlich echt kein Spaß. Den genauen Ablauf hatte ich Lara gemailt und sie gefragt, was sie davon hält. Nicht dass ich je eine Antwort bekommen hätte.

O mein Gott. Langsam ergibt alles einen grausamen Sinn.

Ich starre sie immer noch an und hoffe, sie mit Fakten zu überzeugen. »Einspruch. Ich hab dir geschrieben, dass ich trotzdem nach Paris komme.«

»Wirklich? Wann denn?«

Ich richte mich kerzengerade auf, was gar nicht ganz einfach ist, denn das Sofa verschluckt mich förmlich, und ich bin so müde, dass ich mich nur schwer dagegen wehren kann. »In jeder Mail, die du diese Woche von mir bekommen hast. Dreimal hab ich dir mitgeteilt, wie sehr ich mich drauf freue, dich in Paris zu sehen. Ich hab dir die Flugnummer und meine genaue Ankunftszeit durchgegeben … und außerdem, wie viel Geld du für Verpflegung und Metrotickets einplanen sollst. Du musstest dich eigentlich um nichts weiter kümmern, als mich vom Flughafen abzuholen!«

»Ich dachte, die gesamte Reise wär gecancelt«, murmelt sie leise. »Ich … ich hatte echt viel um die Ohren. Dadurch habe ich nicht ganz so oft in meine Mails geschaut.«

Heißt also, du hast keine von meinen Nachrichten gelesen. »Auch wenn Mom nicht kann, können wir die Tour doch trotzdem machen und das Scrapbook gestalten, das wir ihr zu Silvester schenken wollen« – Ich erzähle ihr das alles, obwohl es genauso schon in meinen Mails stand, die sie offensichtlich nicht gelesen hat – »wenn wir alle zusammen in London ihren 25. Hochzeitstag feiern. Du weißt doch, dass Silvester immer besonders schwierig ist für Mom, seit …«

Ich beende den Satz nicht. Ich kann es einfach nicht. Schon seit zwei Jahren.

Und dann sieht mich meine Schwester mit ihrem typischen Lara-Blick an, wie er in unserer Familie heißt: große Augen und das Gesicht erstarrt, als wäre ihr Hirn ein Computer mit vierundachtzig offenen Websites, die alle versuchen, etwas herunterzuladen und teilweise durch Adware blockiert werden. Diesen Blick setzt sie immer dann auf, wenn sie genau weiß, dass sie etwas verbockt hat. Sie murmelt, dass es ihr wirklich leidtäte. »Ich dachte, du wolltest mich nur dran erinnern, ein Weihnachtsgeschenk für Mom zu besorgen.«

»Und? Hast du wenigstens das hingekriegt?« Die Frage rutscht mir einfach heraus. Ich kenne Lara gut genug und weiß bei diesem Blick genau, dass sie sich selbst schon genügend Vorwürfe macht, weil sie so verpeilt ist. Da ist es unnötig, alles noch schlimmer zu machen. Aber heute Morgen kann ich nicht anders, schließlich stecken mir 5832 Reisekilometer in den Knochen – mit einem Koffer, der so schwer ist wie ein Drittel von mir!

»Ich wollte mich darum kümmern, wenn wir in Madrid sind.«

Vor lauter Jetlag schaffe ich es nicht einmal, sie mit offenem Mund anzustarren. »Madrid? Wovon redest du? Wir wollen doch nicht nach Madrid!«

Sie macht ein verlegenes Gesicht. »Na ja, ich … meinte auch nicht uns beide.«

Erst jetzt fällt mir auf, dass nicht nur ihre Haare wirr aussehen, sondern auch ihr Lippenstift leicht verschmiert ist und schon die ganze Zeit ein fremdes Parfum durch die Wohnung weht. Lara hat offenkundig … Besuch.

Ich sehe mich um, ob er vielleicht mucksmäuschenstill in einer Ecke steht, doch er scheint sich in einem anderen Zimmer zu verstecken. Wenn ich nur wüsste, wie man auf Französisch sagt: »Komm raus und zeig dich!«

Als Nächstes bemerke ich … weitere Koffer. Nicht so groß wie meiner, dafür aber drei Stück. Sie stehen rings um den schicken Couchtisch in der Mitte des Zimmers.

»Was ist denn hier los?«

Lara klemmt sich die Haare hinter die Ohren, verschränkt die Arme und schaut zu Boden. »Das ist ein totales Desaster, verdammt.«

»Du fährst echt nach Madrid? Was willst du denn da?«

Und dann kommt plötzlich der GRUND, warum Lara keine Zeit hatte, meine Mails zu lesen, aus einem der anderen Zimmer geschlendert. Es ist ein langer und (natürlich) bildschöner Typ, obwohl er nur ein Trikot irgendeiner französischen Fußballmannschaft trägt. Hohe Wangenknochen, sonnenverwöhnte Haut und wellige dunkle Haare, die zwar ein bisschen lang sind, aber trotzdem perfekt sitzen und ihm nicht ins Gesicht fallen. Er ist ein Lara-Lover wie aus dem Bilderbuch. Lächelnd nickt er mir zu und murmelt dann etwas auf Französisch zu Lara. Sie murmelt zurück und sagt mehrmals: »Tout va bien.«

Daraufhin schaut mich der Typ an, kommt auf mich zu und streckt mir die Hand entgegen. »Bonjour.«

Wir begrüßen uns, wobei ich hoffe, dass er auf die Doppelküsschen-Masche verzichtet, denn die geht mir selbst dann auf die Nerven, wenn ich ausgeruht bin. (Zuerst die rechte Wange? Oder doch die linke? Na super, voll das Missverständnis und jetzt hast du meine Nase im Mund.) Ich bin so sauer auf Lara, dass ich nicht mit »Bonjour« antworte, sondern im breitesten amerikanischen Slang zu ihm sage: »Hey, what’s up?« – Ich schaffe es sogar, einen leicht näselnden Südstaatler-Ton zu imitieren, obwohl ich noch nie südlicher gekommen bin als bis Philadelphia.

Er verzieht einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln, das ebenso gut ein arrogantes Grinsen sein könnte. »Wirr ’aben Konfusion, oui?«

Lara starrt immer noch auf den Teppich. »Serena, das ist Henri. Henri, das ist meine kleine Schwester Serena. Sie kommt direkt aus New York.«

Henri zieht nun auch noch den anderen Mundwinkel hoch – okay, arrogant ist er also nicht –, nickt und sieht wieder Lara an. Er sagt etwas Französisches zu ihr und Lara antwortet, ebenfalls auf Französisch. Dann macht Henri noch eine Bemerkung in seiner Muttersprache, und ich frage mich, ob ich vielleicht einfach in die Küche gehen und mir einen Kaffee machen kann. Da sehe ich, wie Henri ihr beruhigend den Arm streichelt. Dabei sieht er meine Schwester so sanft und zärtlich an, dass mir sofort klar ist, wie heillos verliebt er in sie ist. Ich frage mich – nicht zum ersten Mal –, wie sie eigentlich mit ihrem Studium klarkommt, wenn sie jede Woche eine neue Affäre hat.

Dann ermahne ich mich jedoch, nicht verärgert zu sein, wenn sich zwei Leute so gernhaben, nur weil mir das noch nie passiert ist – nicht mal ansatzweise.

»Hey«, unterbreche ich ihre fremdsprachige Unterhaltung und setze mich auf. »Jetzt mal Klartext – ohne Untertitel. Was geht hier eigentlich ab?«

Lara sieht mich an, hebt leicht die Hände und fährt sich dann nervös durch die Haare. »Wenn das Studium wieder anfängt, können wir uns fast einen ganzen Monat nicht sehen, deshalb hat Henri übers Wochenende für uns einen Flug nach Madrid gebucht. Ich wollte von dort aus nach London fliegen.«

Wow. Lara verreist mit einem Typen? So was macht sie sonst nie. Das ist ihr eigentlich viel zu verbindlich.

Henri zuckt theatralisch die Schultern, was eher galant als gallisch aussieht. »Sie ist deine Schwesterr. Wir können nach Madrid fliegen auch in Januarr. Die Stadt geht nischt weg, non? Es iist okay, tout va bien.«

Lara verzieht gequält das Gesicht, und ich sehe ihr an, dass es nicht nur mit dem Chaos zu tun hat, das sie durch ihre verpeilte Art ausgelöst hat. Sie möchte unbedingt nach Madrid, und wenn ich es mir richtig überlege, war sie von unserer Aktion nie so richtig begeistert. Vielleicht liegt es daran, dass wir dabei über Dad reden würden, den Lara von sich aus niemals erwähnt.

Auch wenn meine Schwester in der Tat manchmal ziemlich verpeilt ist, frage ich mich nun besorgt, ob ich diesmal etwas Entscheidendes nicht mitbekommen habe.

»Ach wisst ihr was?«, beschließe ich spontan. »Fliegt ihr mal.«

»Bist du sicher?« Lara sieht immer noch ganz mitgenommen aus, und es geht mir schon ein bisschen nahe, dass sie so ein schlechtes Gewissen hat wegen ihrer Reise, obwohl es nicht zu übersehen ist, wie viel lieber sie nach Madrid möchte.

»Ja, bin ich. Aber denk unbedingt dran, ein ganz tolles Geschenk für Mom zu besorgen!«

Lara umarmt mich – dankbar und erleichtert, so viel ist sicher. »Vielen Dank, Serena. Du bist die Beste!«

Das muss sie mir nun nicht extra sagen. »Unsinn – nein, bin ich nicht. Und außerdem kann ich jetzt wenigstens in deinem Zimmer schlafen und muss nicht auf dem Sofa übernachten.«

Ich lache, doch sie bleibt ernst. Stattdessen setzt sie wieder ihren Lara-Blick auf. »Puh. Also, das Ding ist, dass die Familie, bei der ich hier arbeite, Weihnachten in Zürich verbringt. Während sie weg sind, wird hier alles grundgereinigt. Ich hab versprochen, dass die Wohnung komplett leer ist, wenn die Reinigungsfirma kommt. Und das ist heute.«

Ich seufze auf und sehe kurz an die Decke, während sie mir die Hand auf den Arm legt. »Es geht doch nur um eine Nacht. Kannst du dir vielleicht ein Hotel suchen?«

Eine ganze Reihe von Zahlen schießen mir durch den Kopf, als ich versuche, im Budget, das ich nach Moms Absage noch einmal anpassen musste, ein Hotelzimmer in Paris unterzubringen. 1 Stunde würde es mindestens dauern, bis ich ein Hotel gefunden habe, dann noch einmal 30 bis 45 Minuten, um in dieses Hotel zu kommen und mein Gepäck (20 Kilo) dort abzustellen, nachdem ich mindestens 90 Euro bezahlt habe (wahrscheinlich sogar mehr, wenn ich Wert auf saubere Bettwäsche und ungezieferfreies Ambiente lege) …

»Ich weiß nicht so genau, ob ich mir das leisten kann.«

Ratlos dreht sie sich wieder zu Henri um. »Klar. Vielleicht sollte ich doch lieber hierbleiben …«

Aber Henri lächelt nur und zieht sein Handy aus der hinteren Hosentasche. »Kein Problemm. Isch ’abe Idee.« Dann wählt er eine Nummer und führt ein turboschnelles, extrem-französisches Gespräch mit irgendwem. Nach weniger als zwei Minuten dann: voila (sagt er, nicht ich):

»Es iist okay. Du schläfst mit unsere Freund, Jean-Luc.«

Ich starre ihn an. »Wie bitte?«

Lara schlägt die Hände vors Gesicht und ihre Schultern beben vor Lachen. »So meint er das nicht! Er will damit sagen, dass du bei Jean-Luc im Wohnheim übernachten kannst. Sein Mitbewohner ist über die Feiertage verreist und du hast ein Zimmer ganz für dich allein. Das ist doch super.«

»Ähm, ich soll mich echt bei ’nem fremden Franzosen einquartieren? Also, nichts für ungut, Henri.«

Henri grinst uns beide an, wirkt von unserem rasanten Englisch aber genauso überfordert wie ich vorhin mit dem ganzen Französisch.

»Jean-Luc ist schon ein bisschen speziell«, sagt Lara, steht vom Sofa auf, hockt sich neben den Couchtisch und fängt an, den darauf liegenden Stapel mit Werbepost und Zeitschriften durchzublättern. »Aber echt nett, wenn man ihn ein bisschen kennt.« Den zweiten Teil des Satzes murmelt sie leise vor sich hin.

Ich weiß ja nicht, wie viel Zeit ich ihrer Ansicht nach mit ihm verbringen soll – immerhin habe ich eine Agenda einzuhalten und bin jetzt schon im Rückstand. Wahrscheinlich werde ich mit diesem »Jean-Luc«-Spezi nicht mehr als ein paar Worte wechseln.

»Außerdem«, fügt Lara noch hinzu, »ist er zur Hälfte Amerikaner. Er spricht also wirklich gut Englisch. Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen. Hier …« Sie schreibt etwas auf einen Linienplan der Pariser Metro und drückt ihn mir in die Hand. »… damit müsstest du dich zurechtfinden.«

Ich nehme ihn entgegen und wundere mich insgeheim, denn eigentlich müsste meine Schwester genau wissen, dass ich drei von diesen Metroplänen dabeihabe (nur ein einziger als Ersatz wäre für mich zu viel an Improvisation).

»Oben hab ich dir Jean-Lucs Nummer hingeschrieben.«

Umgehend tippe ich die Nummer in mein Handy, um sie außerdem elektronisch zu sichern. In diesem Moment wird mir klar, dass ich damit offenbar »zugestimmt« habe, bei einem Jungen zu übernachten, der zur Hälfte Amerikaner, wirklich nett, aber auch ein bisschen speziell ist. Das ist zwar nicht ganz ideal, aber im Moment sehe ich wenig andere Möglichkeiten. »Gut«, sage ich schulterzuckend. »Wahrscheinlich werd ich ihn eh kaum sehen. Ich hab ja nicht vor, die ganze Zeit im Wohnheim zu hocken.«

Lara sieht mich wieder an – immer noch verwirrt, aber auch ein bisschen skeptisch und besorgt. »Willst du wirklich ganz allein Paris erkunden?«

Ich muss kurz den Blick abwenden, denn Lara kneift jetzt die Augen genauso zusammen, wie es unser Vater immer getan hat, wenn er sich Sorgen um mich machte. Zum Beispiel dann, wenn ich nicht zugeben wollte, dass mich irgendetwas bedrückt. Ich sehe sie wieder an und hoffe, meiner Stimme ist nichts anzuhören.

»Doch. Muss ich ja.«

Lara kommt auf mich zu und nimmt mich fest in den Arm – erst zum zweiten Mal, seit ich angekommen bin. Das letzte Mal ist schon mindestens fünf Minuten her, womit sie weit unter ihrem sonstigen Durchschnitt liegt. Sie lässt wieder ein bisschen locker, hält aber immer noch meine Hände fest und sieht mich mit feuchten Augen eindringlich an.

»Mayonnaise?«, fragt sie. Als wir klein waren, hassten wir beide Mayonnaise abgrundtief und schworen uns deshalb, ein ganzes Glas davon zu essen, falls wir je eine Zusage brechen sollten. Obwohl wir längst erwachsen sind und Mayo gar nicht mehr so schlimm finden, ist es immer noch unser schwesterlicher Code für: Versprochen.

Ich nicke nur, denn diesmal würde mich meine Stimme ganz bestimmt verraten.

Henri räuspert sich und sagt etwas auf Französisch. Lara antwortet auf Englisch: »Ich weiß, ich weiß.« An mich gewandt fügt sie hinzu: »Wir müssen bald los, wenn wir unseren Zug schaffen wollen.«

Wieder nicke ich und traue meiner Stimme langsam wieder über den Weg: »Verstehe.« Noch eine kurze Umarmung, dann nehme ich meinen exakt 20 Kilo schweren Koffer und schleppe ihn aus der Wohnung.

Als ich schon an der Treppe bin, ruft mir Lara hinterher:

»Hey, Schwesterlein, vielleicht sollte Henri dir lieber deinen Koffer tragen.«

Ich will gerade sagen, dass ich es schon schaffe, als meine Muskeln nachgeben und meine Hand sich verkrampft. Ich kann nichts weiter tun als zuzusehen, wie 20 Kilo Gepäck die Treppe hinunterpurzeln.

Sacre bleu!

2

Jean-Luc

09:45 Uhr

Warum bin ich eigentlich ans Telefon gegangen?

Seit drei Wochen ignoriere ich es standhaft, weil Martine beschlossen hat, dass eine Trennung nicht genug ist, sondern sie auch noch ewig darüber diskutieren will. Ausgerechnet heute habe ich tatsächlich nachgesehen, wer mich zu erreichen versucht – falls sie es ausnahmsweise nicht sein sollte –, und nun…

Nun hat Henri mich tatsächlich dazu überredet, den Babysitter für Laras kleine Schwester zu spielen, weil ich Idiot ihm letzte Woche erzählt habe, dass Olivier nach Lille fährt, um mit einer Art Gefühlsharakiri seine Freundin aus dem Lycée zurückzuerobern. Was bedeutet, dass wir bei uns im Wohnheim ein Zimmer frei haben. Und dass ich nun meine ganzen Fotos abnehme und sämtliche Unterlagen und Gerätschaften aus meinem improvisierten Studio räume, damit diese Amerikanerin heute Nacht einen Schlafplatz hat.

Ich nehme mir vor, ihr nur das Zimmer zu zeigen und den Ersatzschlüssel zu geben, aber das war’s dann auch. Mehr ist bei mir nicht drin. Bis Januar, wenn das Studium wieder losgeht, muss ich ein Projekt zu Ende bringen, mit dem ich vor drei Wochen komplett von vorn anfangen musste, weil mir klar geworden ist, dass meine ach-so-selbstlose Ex-Freundin mich total abgelenkt hat. Seitdem habe ich nur noch schlecht gemachtes, laienhaftes Zeug zustande gebracht. Ich hoffe nur, diese Amerikanerin erwartet nicht von mir, dass ich für sie den Stadtführer gebe, denn das bekomme ich nun wirklich nicht hin. Ich meine, natürlich werde ich mich bemühen, für sie erreichbar zu sein, wenn sie irgendwelche Probleme hat oder sich nicht zurechtfindet. Aber ich kann auf gar keinen Fall den ganzen Tag auf sie aufpassen.

Ich versuche meine Fotos ordentlich zu stapeln, ohne sie mir dabei allzu genau anzusehen. Denn ich finde sie nur schwer erträglich, vor allem die im Morgengrauen entstandenen Aufnahmen aus der Rue Lamarck am Montmartre. Aus unerfindlichen Gründen hatte ich mir in den Kopf gesetzt, dass diese Bilder unbedingt falsch herum sein mussten. Damit wollte ich auch ganz bestimmt etwas Tolles ausdrücken, nur fällt mir leider partout nicht mehr ein, was genau. Wenn ich normalerweise meine Fotos anschaue, die ich für eine Abgabe vorbereite, weiß ich genau, was ich damit zeigen oder erreichen will – selbst wenn es mir nicht hundertprozentig gelungen ist. Aber diesmal erinnere ich mich an gar nichts, außer dass ich mich hingekauert und die Kamera umgedreht habe, als ob dadurch wie von Zauberhand alles irgendwie interessanter aussehen würde. Leider Fehlanzeige.

Mein Ärmel streift den Stapel und etliche Fotos fallen herunter. Während ich sie wieder aufhebe, will ich am liebsten sämtliche Flüche ausstoßen, die ich in zwei Sprachen kenne.

Doch ich lasse es. Stattdessen hole ich tief Luft und frage mich, ob es wirklich die Aussicht auf einen Übernachtungsgast ist, die mir so schlechte Laune macht? War es nicht vielleicht doch die kleine rote Benachrichtigung in der rechten unteren Ecke meines Handy-Displays? Die ich schon seit heute Morgen ignoriere, als ich kurz nach dem Aufstehen gesehen habe, dass mir PAULTHAYER um 06:05 Uhr auf die Mailbox gesprochen hat?

Paul Thayer ist mein Vater. Er lebt in New Jersey. Das bedeutet, er hat kurz nach Mitternacht (seiner Zeit) angerufen. Es würde mich allerdings auch nicht überraschen, wenn er einfach nur verwechselt hätte, ob es in Paris nun sechs Stunden früher oder später ist als an der US-Ostküste. Oder er dachte, ich bin Frühaufsteher. Aber wenn er mich auch nur ein winziges bisschen kennen würde, dann wüsste er genau, dass mit mir am frühen Morgen nicht viel anzufangen ist.

Ich habe seine Nachricht nicht abgehört. Das ist auch gar nicht nötig, denn sie wird ohnehin genauso ausfallen wie voriges Jahr zu Weihnachten:

Mein Sohn, es tut mir leid, aber ich kann im Dezember nicht wie üblich nach Paris kommen. (Er tut immer noch so, als ob seine Besuche eine jährliche Tradition wären, obwohl er schon seit sieben Jahren nicht mehr hier war.) Ich versuche es wiedergutzumachen. Julie und ich würden uns wirklich freuen, wenn du diesen Sommer nach New Jersey kommen könntest. Du liegst uns sehr am Herzen, auch wenn ich natürlich verstehe, wenn du vielleicht, äh… also, in Paris bleiben musst.

Der Mann hat mich seit sieben Jahren weder zu Weihnachten noch zu meinem Geburtstag besucht und erwartet ernsthaft, dass ich allein auf einen anderen Kontinent reise, um bei ihm und seiner neuen Familie herumzuhängen? Dass wir wieder ins Gespräch kommen und einen Draht zueinander finden? Dass ich mich plötzlich super mit seinen Zwillingsjungs verstehe, die ich das letzte Mal als Kleinkinder gesehen habe, als er mit ihnen in Paris war, wo sie nur wild in der Gegend herumgerannt sind, sich die Seele aus dem Leib geschrien haben und ihren »großen Bruder« die ganze Zeit mit Essen bewerfen mussten?

Ich gehe aus Oliviers Zimmer in mein eigenes. Dort lege ich meine Fotomappe (die leere Hülle meines Projekts) auf den Laptop und versuche zu übersehen, wie voll und chaotisch mein Schreibtisch ist. Ich bemühe mich – wieder einmal –, nicht daran zu denken, dass ein Foto aus dem Stadtteil Montmartre immer ein Foto vom Montmartre bleiben wird, egal, ob die Kamera um hundertachtzig Grad gedreht war oder nicht. Und ich versuche auszublenden, was für uninspirierte Arbeiten ich für dieses Projekt produziere und wie mir mein Dozent, Monsieur Deschamps, wieder einen Vortrag darüber halten wird, dass eine Serie einfallsloser Aufnahmen von Paris nicht die Aufgabenstellung erfüllt, diese Stadt in fünfzig Bildern einzufangen.

Wo sind die Menschen?, hat er mich vorigen Mittwoch gefragt, als ich zu einer Konsultation in seinem Büro war. Ich habe ihm gesagt, dass jedes Kunstwerk ein Stück weit den Künstler widerspiegelt und somit sehr wohl Menschen vorhanden wären.

Daraufhin wies er mich zurecht: »Spielen Sie hier nicht den anmaßenden Klugscheißer. Denken Sie daran, Sie versuchen, eine Stadt zu zeigen. Und das Herz einer Stadt sind nicht ihre Straßen und ihre Sehenswürdigkeiten, sondern die Menschen darin.«

Ich beschloss ihm zu verschweigen, dass ich gerade eine Trennung hinter mir habe und meine Mitbewohner allesamt über Weihnachten nach Hause gefahren sind, sodass ich gerade kaum Leute um mich herum habe. Außerdem war es noch nie meine große Stärke, Menschen zu fotografieren. Ein paar von meinen Studienkollegen haben es ziemlich gut drauf, im richtigen Moment ein Lächeln einzufangen. Oder einen versonnenen Blick, ein Staunen, eine besonders charmante Miene. Aber dazu ist es nötig, sich auf die Person einzulassen, die man fotografieren will. Man muss ihr den nötigen Freiraum geben, damit sie bei der Sache bleibt. Aber das ist noch nicht alles. Vor allem muss man sie dazu bringen, dass sie lange genug still hält, damit man ein gutes Bild hinbekommt.

Leute davon zu überzeugen still zu halten, war noch nie meine große Stärke. Und jetzt, vier Tage vor Weihnachten, wo das Wohnheim so gut wie leer ist, ist einfach niemand da, den ich bitten könnte, für mich Fotomodell zu spielen. Tja, bis auf diese Amerikanerin, die jeden Moment hier sein müsste. Aber die kann ich ja wohl schlecht fragen, oder? Henri meinte, sie hätte eine total vollgepackte Agenda.

Die Rezeption klingelt mich an und ich mache mich auf den Weg nach unten. Das Foyer sieht ziemlich trostlos aus, mit einem uralten künstlichen Weihnachtsbaum in der Ecke, der aussieht wie ein Moosfleck an der tristen, schmutzig-weißen Ziegelwand. Ein Latina-Mädchen steht an der Rezeption, wo Thierry, der Concierge, keinerlei Anstalten macht, von seiner Sportzeitung L’Équipe aufzuschauen. Das Mädchen hat einen riesigen Koffer und eine Tragetasche dabei. Sie ist ungefähr so groß wie ich, hat ihre langen, leicht krausen Haare zurückgebunden und ist ungeschminkt. Sie trägt einen knielangen schwarzen Parka, dazu Jeans, einen violetten Pullover und schwarze Stiefel. Erst als ich sie sehe, wird mir bewusst, dass ich nicht mit einer Besucherin gerechnet habe, die so amerikanisch aussieht und einen so natürlichen Chic hat. Ich hebe die Hand, um ihr zu signalisieren, dass ich der Gesuchte bin, woraufhin sie etwas von sich gibt, das möglicherweise Französisch sein könnte.

Oder auch Suaheli.

»Ist schon okay«, sage ich. »Ich spreche Englisch. Du bist Serena?«

»Ja, genau.«

»Ich heiße Jean-Luc.« Ich halte ihr die Hand hin, die sie auch schüttelt, wobei sie sich allerdings leicht nach vorn beugt, ihr Gesicht zur Seite dreht und mir ihre Wange hinhält. Da ich das von einer Amerikanerin nicht erwartet habe, reagiere ich nicht, sondern bleibe einfach vor ihr stehen und halte weiter ihre Hand fest, bis sie schließlich den Kopf wieder nach vorn dreht und mich ansieht. Dabei zieht sie einfach ihre Hand zurück, als hätte es diesen peinlichen Nicht-Kuss gar nicht gegeben.

Aber es gab ihn.

Müde lächelt sie mich an und bedankt sich, dass ich sie bei mir aufnehme.

»Passt schon«, sage ich wieder, während wir uns endgültig loslassen. »Du bist bestimmt ziemlich geschafft. Henri meinte, du bist mit dem Nachtflug gekommen und erst vor einer Stunde gelandet?«

»Jep, so ist es. Direkt aus New York eingeflogen.«

»Komm, ich nehme dein Gepäck.« Ich zeige in Richtung Treppe.

»Danke.« Sie hängt sich ihre Tasche über die Schulter und geht an mir vorbei.

Als Serena schon auf der Treppe ist, hebt Thierry schließlich doch den Blick von seiner Zeitung und mustert mich argwöhnisch. Auf Französisch teile ich ihm mit: »Sie ist eine Freundin aus Amerika.«

Ich beuge mich hinunter und greife nach Serenas Koffer. Dabei verrenke ich mir fast die Schulter.

Das Ding fühlt sich an, als ob es mindestens zwanzig Kilo wiegt!

Als ich zurück in die Wohnung komme, sitzt Serena im Wohnzimmer auf der Chaiselongue und hat den Kopf bequem nach hinten gelehnt. Offenbar fühlt sie sich schon wie zu Hause.

»Ich hoffe wirklich, dass ich dir keine Umstände mache«, sagt sie. Wie die meisten Amerikaner, die ich in Paris kennengelernt habe, redet sie extrem laut – als würde sie jemanden anschreien, was jedoch gar nicht ihre Absicht ist. Trotzdem wackeln dabei beinahe die Wände.

»Das ist kein Problem«, antworte ich und versuche mein angestrengtes Keuchen zu unterdrücken, während ich den Koffer zur Tür des freien Zimmers hieve. Ich wende mich von ihr ab und wische mir verstohlen den Schweiß von der Stirn. »Hier kannst du schlafen. Nach deinem Flug willst du dich wahrscheinlich erst mal ein bisschen ausruhen, non?«

Sie richtet sich kerzengerade auf, wie ein Vampir in einem alten Hollywoodfilm. Dann schwingt sie die Beine von der Chaiselongue. »Geht nicht. Ich hab eine Agenda! Außerdem hab ich vorher nach den idealen Reisekissen recherchiert, deshalb konnte ich auf dem Flug ein bisschen schlafen. Aber egal, ich muss auf jeden Fall gleich los. Ich hänge nämlich schon jetzt ein bisschen hinter meiner Agenda zurück. Und wenn ich die Sachen nicht erledige und die Orte nicht besuche, die auf meinem Plan stehen, dann ist er ja total sinnlos und nur ein Stück wertloses Papier. Ich will mir so viel ansehen. Den Louvre, die Seine, den Eiffelturm. Deshalb muss ich mich sofort auf den Weg machen!«

Agenda, Agenda. Ich höre immer nur Agenda. Ich frage mich, ob sie versucht hat, ihren Jetlag mit Kaffee zu bekämpfen. Viel Kaffee. Damit sie es schafft, die beliebtesten Touristenattraktionen von Paris abzuhaken, als ob die Stadt eine To-do-Liste wäre.

Plötzlich fällt mir etwas ein. Diese Orte sind alle ziemlich überfüllt … eignen sie sich damit nicht ideal, um Menschen für mein Projekt zu finden?

»Na ja, wenn du dich wirklich nicht ausruhen willst …« Ich beuge mich hinunter und greife nach meiner Kamera, die ich einfach auf dem Couchtisch abgelegt hatte, da sich Olivier ja im Moment nicht über zu viel herumliegenden »Müll« beschweren kann. Ich lege mir den Kameragurt um den Hals und lasse sie einfach vor der Brust herunterhängen. »Ich muss noch ein paar Kleinigkeiten für ein Fotoprojekt erledigen« – krasse Untertreibung! – »aber ein bisschen kann ich dich schon in Paris herumführen.«