KL - Nikolaus Wachsmann - E-Book
SONDERANGEBOT

KL E-Book

Nikolaus Wachsmann

4,9
16,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Eine Erzählung, die wohl nicht mehr übertroffen wird." Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ein historisches Werk, das seinesgleichen sucht: Nikolaus Wachsmanns monumentale Geschichte der Konzentrationslager von den improvisierten Anfängen 1933 bis zu ihrer Auflösung 1945. Diese erste umfassende Darstellung vereint auf eindrückliche Weise sowohl die Perspektive der Täter als auch jene der Opfer, sie zeigt die monströse Dynamik der Vernichtungspolitik und verleiht zugleich den Gefangenen und Gequälten eine Stimme. Ein gewaltiges Buch – erschütternd und erhellend zugleich.

  • »Ein Buch, das das bedrückende und schwierige Thema in einer bisher nicht dagewesenen Perspektivenvielfalt erschließt.« (Süddeutsche Zeitung)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 1949

Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Für seine Geschichte der Konzentrationslager hat Nikolaus Wachsmann, Professor für Neuere europäische Geschichte an der University of London, eine enorme Menge an Quellen und Forschungsliteratur ausgewertet, Tagebücher und Briefe der Lagerinsassen, Prozessunterlagen, SS- und Polizeiakten, ein Teil davon erstmals hier verwendet. Auf diese Weise kann er die Praktiken der Täter, die Einstellungen der Gesellschaft und die Welt der Opfer in einem großen epischen Rahmen zusammenführen, kann das Leben und Sterben im Lager, die individuellen Schicksale schildern, aber auch die politischen, ökonomischen und militärischen Umstände, die Hintergründe der NS-Vernichtungspolitik. Beides, die Nahaufnahme wie die historische Entwicklung, vereint Wachsmann zu einer eindringlichen Erzählung – ein historisches Werk, das, wie Ian Kershaw schreibt, »kaum jemals übertroffen werden wird«.

»Ergreifend, zutiefst menschlich und beeindruckend erzählt.«

Sir Richard Evans

Zum Autor

Nikolaus Wachsmann, 1971 in München geboren, absolvierte seine akademische Ausbildung in England, zunächst an der London School of Economics, dann in Cambridge. Seit 2005 lehrt er Neuere europäische Geschichte am Birkbeck College der University of London. Neben anderen Auszeichnungen erhielt er 2016 den Jewish Quarterly Wingate Prize und den Mark Lynton History Prize. Bei Siedler erschien Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat (2006).

NIKOLAUS WACHSMANN

DIE GESCHICHTE DER NATIONALSOZIALISTISCHEN KONZENTRATIONSLAGER

Siedler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe ist 2015 unter dem Titel KL. A History of the Nazi Concentration Camps bei Little, Brown, London, erschienen.

Erste AuflageCopyright © 2015 by Nikolaus WachsmannCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Vorlage von Alex MertoRedaktion: Teresa Löwe-Bahners und Jonas WegererRegister: Christoph Nettersheim, NürnbergSatz: Ditta Ahmadi, BerlinReproduktionen: Aigner, Berlin ISBN 978-3-641-18892-4V001www.siedler-verlag.de

MÖGE DIE WELT WENIGSTENS EINEN TROPFEN, EIN MINIMUM DIESER TRAGISCHEN WELT, IN DER WIR LEBTEN, ERBLICKEN.

Brief Salmen Gradowskis vom 6. September 1944,

entdeckt nach der Befreiung in einer Aluminiumfeldflasche,

die auf dem Gelände des Krematoriums von

Auschwitz-Birkenau vergraben war.

Inhalt

PROLOG

1 DIE FRÜHEN LAGER

EIN BLUTIGER FRÜHLING UND SOMMER

KOORDINIERUNG

OFFENER TERROR

2 DAS LAGERSYSTEM DER SS

DIE AUSNAHME ALS REGELFALL

DIE LAGER-SS

HÄFTLINGSWELTEN

3 EXPANSION

GESELLSCHAFTLICHE AUSSENSEITER

ZWANGSARBEIT

JUDEN

4 KRIEG

DIE LAGER-SS IM KRIEG

DER WEG INS VERDERBEN

STUFEN DES LEIDENS

5 MASSENVERNICHTUNG

DIE SCHWACHEN TÖTEN

DIE EXEKUTION SOWJETISCHER KRIEGSGEFANGENER

MÖRDERISCHE UTOPIEN

6 DER HOLOCAUST

AUSCHWITZ UND DIE »ENDLÖSUNG«

»TODESFABRIKEN«

VÖLKERMORD UND KL-SYSTEM

7 ANUS MUNDI

JÜDISCHE HÄFTLINGE IM OSTEN

SS-ALLTAG

RAUB UND KORRUPTION

8 KRIEGSWIRTSCHAFT UND VERNICHTUNG

OSWALD POHL UND DAS WVHA

SKLAVENARBEIT

»VERSUCHSKANINCHEN«

9 ENTFESSELTE LAGER

IN EXTREMIS

AUSSENLAGER

DIE WELT DRAUSSEN

10 UNMÖGLICHE ALTERNATIVEN

ZWANGSGEMEINSCHAFTEN

KAPOS

UNGEHORSAM

11 TOD ODER FREIHEIT

DER ANFANG VOM ENDE

APOKALYPSE

DIE LETZTEN WOCHEN

EPILOG

DANK

ANHANG

TABELLEN

ANMERKUNGEN

QUELLEN

REGISTER

BILDTEIL

BILDNACHWEIS

PROLOG

Dachau, 29. April 1945. Es ist früher Nachmittag, als sich US-Truppen, Teil der alliierten Kampfverbände, die Deutschland durchkämmen, um die letzten Reste des sogenannten Dritten Reiches zu zerschlagen, einem verlassenen Zug nähern, abgestellt auf einem Nebengleis bei einem ausgedehnten SS-Komplex in der Nähe von München. Als die Soldaten dichter herankommen, machen sie eine entsetzliche Entdeckung: Die Güterwaggons sind gefüllt mit den Leichen von weit über 2000 Männern und Frauen. Auch einige Kinder sind darunter. Ausgezehrte, verdrehte Gliedmaßen liegen ineinander verkeilt in einem Gewirr aus Stroh und Lumpen, über und über von Schmutz, Blut und Exkrementen bedeckt. Aschfahl wenden sich einige GIs ab und brechen in Tränen aus oder übergeben sich. »Wir hatten eine Wut im Bauch und es machte uns schier verrückt, dass wir nichts anderes tun konnten als die Fäuste zu ballen«, schrieb ein Offizier am nächsten Tag. Als die erschütterten Soldaten im Lauf des Nachmittags tief in den SS-Komplex vordringen und das Gefangenenlager erreichen, treffen sie auf 32000 Überlebende ganz unterschiedlicher ethnischer, religiöser und politischer Herkunft aus rund 30 europäischen Ländern. Einige scheinen mehr tot als lebendig, wie sie ihren Befreiern entgegentaumeln. Viele mehr liegen krank und verdreckt in den überfüllten Baracken. Wohin sich die Soldaten wenden, sehen sie Leichen: zwischen den Baracken verstreut, in Gräben geworfen, wie Holzscheite gestapelt neben dem Lagerkrematorium. Was die Hintermänner des Gemetzels angeht, sind fast alle SS-Dienstgrade längst verschwunden; nur ein zusammengewürfelter Haufen von vielleicht 200 Wachleuten ist zurückgeblieben.1 Bilder dieses Albtraums verbreiteten sich rasch über die ganze Welt und haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Bis zum heutigen Tag betrachtet man Konzentrationslager wie Dachau oft aus dem Blickwinkel der Befreier, mit den nur zu vertrauten Aufnahmen von Gräben voller toter Körper, Leichenbergen und knochendürren Überlebenden, die in die Kameras starren. Doch so stark diese Bilder sind, sie verraten nicht die ganze Wahrheit über Dachau. Denn das Lager hatte eine viel längere Geschichte und war erst kurz zuvor, in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, in seinen letzten Höllenkreis eingetreten.2

Dachau, 31. August 1939. Die Häftlinge stehen vor Sonnenaufgang auf, wie jeden Morgen. Keiner von ihnen weiß, dass am nächsten Tag der Krieg ausbrechen wird, und sie folgen ihrer üblichen Lagerroutine. Nach der stürmischen Hektik – in die Waschräume drängeln, ein paar Bissen Brot herunterschlingen, die Baracken säubern – marschieren sie in streng militärischer Formation zum Appellplatz. Fast 4000 Männer, die Köpfe kurz geschoren oder kahlrasiert, stehen in gestreifter Häftlingskleidung stramm, in Ängsten vor einem weiteren Tag Zwangsarbeit und Gewalt. Abgesehen von einer Gruppe von Tschechen kommen fast alle Häftlinge aus Deutschland oder Österreich, doch mehr als die Sprache haben sie oft nicht gemein. Farbige Winkel auf ihren Uniformen identifizieren sie als politische Gefangene, Asoziale, Berufsverbrecher, Homosexuelle, Zeugen Jehovas oder Juden. Hinter den Reihen der Gefangenen stehen Reihen einstöckiger Häftlingsbaracken. Jeder dieser 34 Zweckbauten ist ungefähr 100 Meter lang. Die Böden im Innern glänzen und die Betten sind akkurat gemacht. Flucht ist praktisch unmöglich: Das rechteckige, 583 x 278 Meter messende Häftlingsgelände ist umgeben von einem Graben und einer Betonmauer, Wachtürmen, Maschinengewehren, Stacheldraht und einem Elektrozaun. Jenseits davon liegt ein riesiges SS-Gelände mit über 220 Gebäuden einschließlich Lagerräumen, Werkstätten, Unterkünften und sogar einem Schwimmbad. Dort sind etwa 3000 Angehörige der Lager-SS stationiert, einer Freiwilligeneinheit mit ihrem eigenen Ethos, die die Häftlinge einem eigenspielten Programm von Misshandlung und Gewalt unterwirft. Trotzdem gibt es nur vereinzelt Sterbefälle mit nicht mehr als vier Todesopfern im August 1939; bislang bestand bestand für die SS noch keine dringende Notwendigkeit, ein eigenes Krematorium zu errichten.3 Dies war Lager-SS-Terror in seiner konzentriertesten Form – weit entfernt vom tödlichen Chaos der letzten Tage im Frühjahr 1945 und auch von Dachaus improvisierten Anfängen im Frühjahr 1933.

Dachau, 22. März 1933. Der erste Tag im Lager geht zu Ende. Es ist ein kalter Abend, knapp zwei Monate nachdem die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler die Weichen für die NS-Diktatur gestellt hat. Die neuen Häftlinge (noch in ihrer eigenen Kleidung) werden im früheren Verwaltungsbau einer aufgelassenen Pulver- und Munitionsfabrik mit Brot, Wurst und Tee verpflegt. Das Gebäude ist in den Tagen zuvor in großer Eile in ein provisorisches Lager umgewandelt worden, mit Stacheldraht abgeriegelt vom Rest des verlassenen Fabrikgeländes mit seinen verfallenden Bauten, zerborstenen Betonfundamenten und verwahrlosten Straßen. Im Ganzen gibt es nicht mehr als 100 bis 120 politische Häftlinge, hauptsächlich Kommunisten aus dem nahen München. Nach ihrer Ankunft in offenen Lastwagen verkündete das Wachpersonal – etwa 54 Mann stark –, die Gefangenen würden in »Schutzhaft« genommen, ein vielen Deutschen unbekannter Begriff. Was immer das war, es schien erträglich: Die Wachen waren keine nationalsozialistischen Milizen, sondern gemütliche Polizisten, die mit den Gefangenen plauderten, Zigaretten verteilten und sogar im gleichen Gebäude schliefen. Am nächsten Tag schrieb der Häftling Erwin Kahn seiner Frau in einem langen Brief, dass in Dachau alles in Ordnung sei; das Essen sei gut, die Behandlung auch. »Ich bin nur neugierig, wie lange die Sache noch dauert.« Einige Wochen später war Kahn tot, ermordet, nachdem SS-Männer das Häftlingslager übernommen hatten. Er war einer der ersten von fast 40000 Dachauer Gefangenen, die zwischen dem Frühjahr 1933 und dem Frühjahr 1945 ihr Leben verloren.4

Drei Tage in Dachau, drei unterschiedliche Welten. Im Verlauf von nur zwölf Jahren wandelte sich das Lager wieder und wieder. Insassen, Wachpersonal, Bedingungen – fast alles schien sich zu verändern. Auch das Gelände selbst wurde umgestaltet. Nachdem alte Fabrikgebäude in den späten Dreißigerjahren abgerissen und durch speziell errichtete Baracken ersetzt worden waren, hätte ein Althäftling aus dem Frühjahr 1933 das Lager nicht wiedererkannt.5 Aber wie erklärt sich Dachaus Wandel von den umgänglichen Anfängen zur SS-»Ordnung des Terrors« und weiter bis in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs? Was bedeutete das für die Häftlinge? Was trieb die Täter an? Und was wusste die Bevölkerung draußen über das Lager? Diese Fragen zielen ins Zentrum der NS-Diktatur, und man muss sie nicht nur im Blick auf Dachau, sondern bezogen auf das Konzentrationslagersystem als Ganzes stellen.6

Dachau war das erste von vielen SS-Konzentrationslagern. Errichtet innerhalb Deutschlands in den frühen Jahren von Hitlers Herrschaft, breiteten sich diese Lager im Zuge der Unterwerfung Europas durch die Nationalsozialisten seit den späten Dreißigerjahren rasch nach Österreich, Polen, Frankreich, in die Tschechoslowakei und die Niederlande, nach Belgien, Lettland, Estland, Litauen und selbst bis auf die kleine britische Kanalinsel Alderney aus. Insgesamt richtete die SS im Verlauf des Dritten Reiches 27 Hauptlager und über 1100 angeschlossene Außenlager ein. Die Zahlen schwankten jedoch beträchtlich, da alte Lager geschlossen und neue eröffnet wurden. Nur Dachau hatte über die ganze NS-Zeit hinweg Bestand.7

Die Konzentrationslager verkörperten wie keine andere Institution des Dritten Reiches den Geist des Nationalsozialismus.8 Sie bildeten ein besonderes System der Beherrschung mit eigener Organisation, eigenen Regeln, eigenem Personal und selbst einem eigenen Akronym: In offiziellen Dokumenten und im allgemeinen Sprachgebrauch wurden sie oft als »KL«bezeichnet (das härter klingende »KZ« wurde erst im Nachkriegsdeutschland zur Standardabkürzung).9 Unter Führung des Reichsführers-SS Heinrich Himmler, des wichtigsten Schergen Hitlers, wurden die KL zu einem Spiegel der glühenden Obsessionen der NS-Führung: der Schaffung einer einheitlichen »Volksgemeinschaft« durch die Ausschaltung politischer, sozialer und rassischer Außenseiter; der Opferung des Individuums auf dem Altar von Rassenhygiene und mörderischer Wissenschaft; dem Rückgriff auf Zwangsarbeit zum Ruhm des Vaterlands; der Herrschaft über Europa durch die Versklavung fremder Nationen und die Kolonisierung von »Lebensraum«; der Rettung Deutschlands vor seinen Erzfeinden durch Massenvernichtung; und, am Ende, der Entschlossenheit, eher in Flammen unterzugehen als zu kapitulieren. Über die Jahre hin prägten all diese Obsessionen das KL-System und führten zu Masseninhaftierung, Entbehrung und Tod der Insassen.

Schätzungsweise 2,3 Millionen Männer, Frauen und Kinder wurden zwischen 1933 und 1945 in SS-Konzentrationslager verschleppt, die meisten von ihnen, über 1,7 Millionen, verloren ihr Leben. Fast eine Million dieser Toten waren Juden, die in Auschwitz ermordet wurden, dem einzigen KL, das eine zentrale Rolle in der von den Nationalsozialisten sogenannten Endlösung spielte: der systematischen Vernichtung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs, die heute gewöhnlich als Holocaust bezeichnet wird. Von 1942 an, als die SS Deportationszüge aus ganz Europa nach Auschwitz zu schicken begann, fungierte das KL Auschwitz als ungewöhnliche Mischform aus Arbeits- und Todeslager. Etwa 200000 Juden wurden bei ihrer Ankunft »selektiert«, um Sklavenarbeit mit den gewöhnlichen Häftlingen zu verrichten. Alle anderen – schätzungsweise 870000 jüdische Männer, Frauen und Kinder – wurden direkt in die Gaskammern geschickt, ohne überhaupt als Lagerinsassen registriert zu werden.10 Doch trotz seiner Sonderfunktion blieb Auschwitz ein Konzentrationslager und teilte viele Charakteristika mit den übrigen Lagern, von denen die meisten – KL wie Ellrich, Klooga, Redl-Zipf und viele andere – seit Langem vergessen sind. Alle zusammen nahmen sie im Dritten Reich eine Sonderstellung ein. Sie waren Orte gesetzloser Gewalt, wo einige der radikalsten Merkmale der NS-Herrschaft geboren und weiterentwickelt wurden.

Vorläufer

Im April 1941 strömte das deutsche Publikum in die Kinos, um einen hochkarätig besetzten Spielfilm zu sehen, der angeblich auf einer wahren Geschichte beruhte. Der Höhepunkt des Films, für den die NS-Behörden zum Kinostart kräftig die Werbetrommel rührten, spielte an einem ungewöhnlichen Schauplatz – in einem Konzentrationslager. Die ausgehungerten und von Krankheiten geplagten Insassen erwartete kein Happy End. Sie alle sind die unschuldigen Opfer eines mörderischen Regimes: Ein tapferer Gefangener wird gehenkt, seine Frau erschossen, andere von Wachen abgeschlachtet. Am Ende bleiben nur Gräber zurück. Diese schaurigen Filmszenen ähneln auf frappierende Weise dem tatsächlichen Leben in den SS-Konzentrationslagern jener Zeit (es gab sogar eine Sondervorführung für die Wärter in Auschwitz). Doch der Film handelt nicht von den SS-Lagern. Er spielt Jahrzehnte früher im südafrikanischen Burenkrieg, und die Schurken sind britische Imperialisten. Ohm Krüger, so der Titel des Films, war ein wirkungsvolles Werk deutscher Propaganda im Krieg gegen Großbritannien, das eine öffentliche Rede Adolf Hitlers aufnahm, die er einige Monate zuvor gehalten hatte: »Konzentrationslager sind nicht in Deutschland erfunden worden«, hatte er erklärt, »sondern Engländer sind ihre Erfinder, um durch derartige Institutionen anderen Völkern allmählich das Rückgrat zu zerbrechen […]«11

Dies war eine oft gehörte Behauptung. Hitler selbst hatte dem deutschen Volk schon einmal verkündet, dass sein Regime die »Idee« der Konzentrationslager von den Engländern lediglich »kopiert« habe, ohne jedoch deren Missbräuche zu übernehmen.12 Die NS-Propaganda wurde nicht müde, auf ausländische Lager hinzuweisen. In den ersten Jahren des Hitler-Regimes befassten sich Reden und Artikel immer wieder mit den britischen Lagern im Burenkrieg, die in ganz Europa große Entrüstung hervorgerufen hatten. Darüber hinaus wiesen sie auf die aktuell bestehenden Lager etwa in Österreich hin, in denen heimische NS-Aktivisten angeblich schwer zu leiden hatten. Die eigentliche Botschaft hinter dieser Propaganda – dass die SS-Lager nichts Außergewöhnliches seien – war zwar kaum zu überhören, trotzdem wollte Reichsführer-SS Heinrich Himmler sichergehen, dass jedermann diese Botschaft auch verstand. 1939 verkündete er in einer Rundfunkansprache, dass die Konzentrationslager bei den »westlichen Demokratien« eine »geradezu altehrwürdige Einrichtung« seien, und fügte hinzu, dass die »Verbrecher in deutschen Konzentrationslagern« sogar mehr zu essen bekämen als die Arbeitslosen in diesen Ländern.13

Solche Versuche, die SS-Lager zu relativieren, hatten jedoch wenig Erfolg, zumindest außerhalb Deutschlands. Dennoch steckte in dieser plumpen NS-Propaganda ein Körnchen Wahrheit. »Das Lager« als Internierungseinrichtung war tatsächlich ein international verbreitetes Phänomen. In den Jahrzehnten vor der nationalsozialistischen Machtergreifung waren überall in Europa und darüber hinaus Lager für die Masseninternierung politisch oder anderweitig Verdächtiger außerhalb der regulären Gefängnisse und des ordentlichen Strafrechts entstanden, gewöhnlich in Zeiten politischer Umwälzungen oder Kriege. Solche Lager blieben auch nach dem Untergang des Dritten Reiches eine gängige Einrichtung, weshalb einige Beobachter die gesamte Epoche als »Zeitalter der Lager« bezeichnen.14

Die ersten Lager dieser Art entstanden während der Kolonialkriege des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als brutale militärische Reaktionen auf Guerillakriege. Die Kolonialmächte zielten darauf ab, lokale Aufständische zu besiegen durch die Masseninternierung nicht am Kampf beteiligter Zivilisten in Dörfern, Städten oder Lagern. Diese Taktik verwendeten die Spanier auf Kuba, die US-Amerikaner auf den Philippinen und die Briten in Südafrika (von wo die Bezeichnung »Concentration Camp« in Umlauf kam). Verursacht durch Gleichgültigkeit und Unfähigkeit der Kolonialbehörden, kam es in diesen Einrichtungen zu massenhaftem Hunger, Krankheiten und Tod der Insassen. Dennoch waren sie keine Prototypen der späteren SS-Lager, von denen sie sich in Bezug auf Funktion, Aufbau und Organisation in hohem Maß unterschieden.15 Das gilt auch für die Lager in Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia), die zwischen 1904 und 1908 während eines erbitterten Krieges gegen die einheimische Bevölkerung von der Kolonialverwaltung betrieben wurden. Viele Tausend Herero und Nama wurden in Einrichtungen eingesperrt, die gelegentlich Konzentrationslager genannt wurden, und etwa die Hälfte von ihnen starb aufgrund der Vernachlässigung und Missachtung durch ihre deutschen Bewacher. Im Unterschied zu anderen Koloniallagern dienten diese Lager weniger militärstrategischen Zwecken als der Bestrafung und der Bereitstellung von Zwangsarbeitern. Dennoch bildeten auch sie keine »Rohvorlage« für die SS-Lager, wie manchmal behauptet wird. Alle Versuche, eine direkte Linie von ihnen nach Auschwitz oder Dachau zu ziehen, gehen fehl.16

Die Zeit der Lager begann erst wirklich mit dem Ersten Weltkrieg, der sie von den weit entfernten Kolonien ins europäische Kernland brachte. Neben den Kriegsgefangenenlagern mit ihren Millionen von Soldaten richteten viele der kriegführenden Nationen Zwangsarbeitslager, Flüchtlingslager und zivile Internierungslager ein, hinter denen ganz bestimmte Vorstellungen von totaler Mobilisierung, radikalem Nationalismus und Sozialhygiene standen. Diese Lager waren dank jüngster Neuerungen wie Maschinengewehren, billigem Stacheldraht und massengefertigten, transportablen Baracken leicht einzurichten und zu bewachen. In Mittel- und Osteuropa waren die Bedingungen am schlimmsten. Dort mussten die Internierten oft systematisch Zwangsarbeit leisten und waren Gewalt und Vernachlässigung ausgesetzt. Mehrere Hunderttausend Gefangene starben. Am Ende des Ersten Weltkriegs war Europa von Lagern übersät, die noch lange nach ihrer Auflösung im Gedächtnis blieben. So prangerte eine Kommission des Reichstags noch im Jahr 1927 voller Empörung in Kriegszeiten begangene Übergriffe gegen deutsche Gefangene in französischen und britischen »Konzentrationslagern« an.17

In den Zwanziger- und Dreißigerjahren, als sich große Teile Europas von der Demokratie abwandten, entstanden viele weitere Lager. Totalitäre Regime mit ihrer manichäischen Teilung der Welt in Freund und Feind wurden zu den stärksten Verfechtern von Lagern mit dem Zweck, angebliche Widersacher dauerhaft zu isolieren und terrorisieren. Von der Genese her gehörten die KL zu dieser Lagersorte und teilten etliche ihrer typischen Eigenschaften. Es gab sogar einige direkte Verbindungen. So bezog das Lagersystem in Francos Spanien, in dem während und nach dem Bürgerkrieg Hunderttausende von Gefangenen einsaßen, offensichtlich einige Anregungen von seinem NS-Vorgänger.18

Der wahrscheinlich engste ausländische Verwandte der SS-Konzentrationslager befand sich jedoch in der Sowjetunion unter Stalin.19 Aufbauend auf den Erfahrungen mit Masseninternierungen im Ersten Weltkrieg, hatten die Bolschewisten schon seit der Revolution Lager (die manchmal sogar als Konzentrationslager bezeichnet wurden) unterhalten. In den Dreißigerjahren verfügten sie über ein riesiges Internierungssystem – den sogenannten Gulag –, das Arbeitslager, Kolonien, Gefängnisse und andere Einrichtungen umfasste. Allein in den Strafarbeitslagern des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) saßen Anfang Januar 1941 etwa 1,5 Millionen Gefangene, also ein Vielfaches der Insassen des SS-Lagersystems. Wie der KL-Komplex wurde das sowjetische System von einem zerstörerischen Utopismus angetrieben: der Schaffung einer perfekten Gesellschaft durch die Ausmerzung aller vermeintlichen Feinde. Auch der Werdegang dieser Lager ähnelte sich: Aus den provisorischen Terrorstätten wurde ein riesiges Netz zentral gelenkter Lager, der Internierung politisch Verdächtiger folgte die Verhaftung anderer sozialer und ethnischer Außenseiter, und das anfänglich propagierte Programm der Resozialisierung wich dem einer oft tödlichen Zwangsarbeit.20

In Anbetracht dieser Parallelen und der früheren Entstehung des sowjetischen Systems haben einige Beobachter die Behauptung aufgestellt, die Nationalsozialisten hätten die Idee der Konzentrationslager einfach von den Sowjets übernommen. Diese Behauptung ist irreführend, aber sie ist fast so alt wie die SS-Lager selbst.21 Zweierlei spricht dagegen. Erstens gab es gravierende Unterschiede zwischen den beiden Lagersystemen. So nahmen die KL, obwohl es anfangs in den sowjetischen Lagern mehr Todesfälle gab, später eine radikalere Wendung und entwickelten sich zu immer tödlicheren Einrichtungen, bis hin zum Vernichtungskomplex Auschwitz. Etwas Vergleichbares gab es weder in der UdSSR noch irgendwo sonst. Die Chance der NKWD-Häftlinge, entlassen zu werden, war größer als das Risiko, zu sterben; für die Gefangenen der SS-Konzentrationslager galt während des Krieges das Gegenteil. Insgesamt überlebten um die 90 Prozent der Insassen den Gulag. In den KL betrug die entsprechende Zahl unter den registrierten Gefangenen wahrscheinlich weniger als die Hälfte. Aus gutem Grund nannte die Philosophin Hannah Arendt in ihrer grundlegenden Studie über die totalitäre Herrschaft die sowjetischen Lager das »Fegefeuer«, die NS-Lager dagegen die »Hölle«.22 Zweitens gibt es kaum konkrete Hinweise darauf, dass die Nationalsozialisten die Sowjets kopiert hätten. Sicherlich beobachtete die SS die sowjetischen Zwangsmaßnahmen im Gulag genau, vor allem nach der deutschen Invasion im Sommer 1941: Führende NS-Männer dachten sogar darüber nach, die »Konzentrationslager der Russen«, wie sie sie nannten, zu übernehmen, und schickten einen zusammenfassenden Überblick über die Organisation und die Bedingungen in den sowjetischen »Konzentrationslagern« an ihre KL-Kommandanten.23 In einem allgemeineren Sinne diente die Gewalt in der Sowjetunion – ob auf Fakten gestützt oder frei erfunden – während des gesamten Dritten Reiches als ständiger Bezugspunkt. In Dachau wiesen SS-Funktionäre die ersten SS-Wärter im Jahr 1933 an, genauso brutal zu agieren, wie es der sowjetische Geheimdienst Tscheka in der UdSSR tue. Jahre später nannten SS-Männer in Auschwitz eines ihrer grausamsten Folterinstrumente »Stalin-Schaukel«.24

Das allgemeine Interesse am sowjetischen Terror darf jedoch nicht mit einem direkten Einfluss verwechselt werden. Das NS-Regime war in keiner besonderen Weise vom Vorbild des Gulag geprägt, und es ist kaum anzunehmen, dass die Geschichte der SS-Konzentrationslager im Wesentlichen anders verlaufen wäre, hätte es den Gulag nie gegeben. Die KL wurden weitgehend in Deutschland entwickelt, so wie der Gulag überwiegend ein Produkt der Sowjetherrschaft war. Natürlich gab es Ähnlichkeiten, die jedoch von den Unterschieden übertroffen wurden. Jedes der beiden Lagersysteme hatte seine eigene Form und Funktion, die durch spezifische nationale Praktiken, Absichten und Vorläufer geprägt waren. Dennoch kann eine vergleichende Untersuchung internationaler Verbindungen und Ähnlichkeiten auch heute noch nützliche Einsichten vermitteln. Eine solche Analyse würde jedoch den Rahmen dieses Buches sprengen. Es konzentriert sich auf die Geschichte der SS-Konzentrationslager und wirft nur gelegentlich einen Blick über das von den Nationalsozialisten kontrollierte Gebiet hinaus.

Geschichte und Erinnerung

»Ich glaube, wo künftig das Wort Konzentrationslager fallen wird, da wird man an Hitlerdeutschland denken und nur an Hitlerdeutschland«, schrieb Victor Klemperer im Herbst 1933, nur einige Monate nachdem die ersten Häftlinge in Dachau eingetroffen waren und lange bevor die SS-Lager zu Massentötungsanstalten wurden.25 Klemperer, ein liberaler deutsch-jüdischer Romanistik-Professor in Dresden, war einer der scharfsinnigsten Beobachter der NS-Diktatur, und seine Voraussage erwies sich als richtig. Tatsächlich sind die nationalsozialistischen Lager heute Synonyme für »das Konzentrationslager«. Vor allem aber sind diese Lager zu Symbolen für das gesamte Dritte Reich geworden und nehmen einen der vordersten Plätze in den Schreckenskammern der Geschichte ein. Sie tauchten in den letzten Jahren fast überall auf, in Kinohits und Dokumentarfilmen, Bestsellerromanen und Comics, Memoiren und wissenschaftlichen Wälzern, Theaterstücken und Kunstwerken. Wer bei Google den Suchbegriff »Auschwitz« eingibt, erhält über 29 Millionen Treffer.26

Der Drang, die Konzentrationslager zu verstehen, setzte früh ein. Sie rückten in der unmittelbaren Nachkriegszeit in den Mittelpunkt des Interesses, als die Alliierten im April und Mai 1945 eine Medienoffensive starteten. Die sowjetische Presse hatte um die Befreiung von Auschwitz, ein paar Monate zuvor, kaum Aufhebens gemacht – ein Grund, warum dieses Lager anfänglich im öffentlichen Bewusstsein nur eine geringe Rolle spielte. Erst die Befreiung Dachaus, Buchenwalds und Bergen-Belsens durch die Westalliierten brachte die KL auf die Titelseiten in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und darüber hinaus. In einem australischen Zeitungsartikel wurde Deutschland im April 1945 als »das Konzentrationslager-Land« bezeichnet. Es gab Radiosendungen, Wochenschauberichte, illustrierte Zeitschriftenartikel, Broschüren, Ausstellungen und Vorträge; und obwohl ihnen die historische Perspektive fehlte, vermittelten diese Berichte bereits das Ausmaß der hinter den Lagertoren ans Licht gebrachten Schrecken. In einer Umfrage aus dem Mai 1945 schätzte der Durchschnitts-Amerikaner die Zahl der in den Konzentrationslagern getöteten Häftlinge auf etwa eine Million.

Eigentlich hätten diese Medienenthüllungen gar nicht mehr einen derartigen Schock auslösen dürfen. Berichte über KL-Gräuel waren seit Beginn des NS-Regimes im Ausland erschienen, einige verfasst von früheren Häftlingen oder Verwandten ermordeter Insassen, und die Alliierten hatten während des Krieges fundierte Geheimdienstinformationen erhalten. Doch die Wirklichkeit erwies sich als weit schlimmer als von den meisten Menschen angenommen. Als wollten sie diesen Mangel an Vorstellungskraft nachträglich wettmachen, forderten führende alliierte Generäle nun Journalisten, Soldaten und Politiker auf, die befreiten Lager zu besichtigen. Denn diese Stätten bewiesen in ihren Augen die absolute Gerechtigkeit dieses Krieges. »Dachau beantwortet, warum wir gekämpft haben«, erklärte eine Divisionszeitung der US-Armee im Mai 1945 und gab damit die Ansicht General Eisenhowers wieder. Darüber hinaus benutzten die Alliierten die Lager, um die deutsche Bevölkerung mit ihrer Mittäterschaft zu konfrontieren. Das war der Auftakt einer Umerziehungskampagne, die in den folgenden Monaten fortgesetzt und durch erste Prozesse gegen SS-Täter noch verstärkt wurde.27

Zur gleichen Zeit halfen Überlebende, die KL ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Sie verharrten nicht fassungslos in kollektivem Schweigen, wie oft behauptet wird.28 Vielmehr meldeten sie sich nach der Befreiung laut und vielstimmig zu Wort. Während ihrer Leidenszeit hatten Gefangene davon geträumt, Zeugnis abzulegen. Einige hatten sogar ein geheimes Tagebuch geführt. Einer von ihnen, der politische Gefangene Edgar Kupfer, war vermutlich der genaueste Chronist von Dachau. Er nützte den Schutz durch seine Stelle im Büro einer Schraubenfabrik auf dem SS-Komplex und seinen Ruf als Einzelgänger unter Mitgefangenen und schrieb ab Ende 1942 heimlich mehr als 1800 Seiten. Vor seiner Verhaftung im Jahr 1940 wegen abfälliger Äußerungen über das NS-Regime hatte der Nonkonformist Kupfer auch als Reiseleiter gearbeitet; sein Buch konzipierte er nun als eine Grand Tour durch Dachau. Ihm war bewusst, dass die SS ihn wahrscheinlich ermorden würde, wenn sie sein Geheimnis entdeckte, aber es gelang ihm zu überleben, samt seinen Aufzeichnungen. Kaum wieder zu Kräften gelangt, tippte er im Sommer 1945 das Manuskript ab, um es zu publizieren.29

Auch andere Männer, Frauen und Kinder, die die Lager überlebt hatten, brannten darauf, ihre Geschichte zu erzählen, nachdem sie wieder frei sprechen konnten. Einige begannen damit unverzüglich, also noch im Lager; selbst Kranke packten alliierte Helfer in den Krankenabteilungen am Ärmel, um auf sich aufmerksam zu machen. Bald koordinierten die Überlebenden ihre Anstrengungen. Sie müssten zusammenarbeiten, »um die Weltöffentlichkeit zu alarmieren«, erklärte ein früherer Häftling am 7. Mai 1945 seinen Mitüberlebenden in Mauthausen. Bereits einige Tage nach der Befreiung hatten überall Überlebende begonnen, gemeinsam Berichte zu erstellen.30 Tausende weitere Schilderungen folgten, kurz nachdem die ehemaligen Häftlinge die Lager verlassen hatten. Jüdische Überlebende sagten beispielsweise vor Historischen Kommissionen aus, die sich der Forschung und dem Gedenken widmeten. Ein Höhepunkt dieser frühen Bemühungen war die 1947 in Paris stattfindende allererste internationale Konferenz von Holocaust-Überlebenden, an der Delegierte aus 13 Ländern teilnahmen. Auch die Besatzungstruppen, ausländische Regierungen und Nichtregierungsorganisationen ermutigten die Überlebenden zu Zeugenaussagen, um die Täter bestrafen zu können und die Erinnerung an die Lager zu bewahren.31 Einige dieser Berichte erschienen später in Zeitschriften und Informationsbroschüren.32 Andere Überlebende schrieben ihre Texte von Anfang an mit der Absicht, sie später zu veröffentlichen. Unter ihnen war der junge italienische Jude Primo Levi, der fast ein Jahr in Auschwitz gelitten hatte. »Jeder von uns Überlebenden«, erinnerte er sich später, »verwandelte sich, sobald wir nach Hause kamen, in einen unermüdlichen Erzähler, gebieterisch und manisch.« Beinahe überall bei Tag und Nacht schreibend, vollendete Levi sein Buch Ist das ein Mensch? innerhalb weniger Monate. Es kam in Italien 1947 heraus.33

In den ersten Nachkriegsjahren erschien in Europa und auch anderswo eine Flut von Erinnerungen, zumeist eindringliche Zeugnisse individuellen Leidens und Überlebens.34 Einige ehemalige Gefangene dachten auch in größeren Zusammenhängen und schrieben wichtige frühe Untersuchungen über das Lagersystem und die Erfahrung der Insassen aus soziologischer oder psychologischer Sicht.35 Andere verfassten erste historische Überblicksdarstellungen für bestimmte Lager oder drückten ihr Leid in Gedichten und romanhaften Schilderungen aus.36 Die meisten dieser frühen Werke, einschließlich desjenigen von Primo Levi, wurden kaum beachtet, aber einige Bücher machten Furore. Gefeierte Überlebensberichte erschienen in verschiedenen europäischen Ländern. Auch in dem in Trümmern liegenden Deutschland wurden Taschenbücher und Broschüren in hohen Auflagen gedruckt, während größere Zeitungen Berichte als Fortsetzung brachten. Am einflussreichsten war eine Untersuchung des KL-Systems (mit Buchenwald im Zentrum) des ehemaligen politischen Gefangenen Eugen Kogon, die die allgemeine Vorstellung auf viele Jahre hinaus prägte. Die Auflage des in Deutschland zuerst 1946 erschienenen Buches erreichte innerhalb eines Jahres 135000 Exemplare. Schon bald wurde es in andere Sprachen übersetzt, wie auch weitere frühe Arbeiten von Überlebenden.37

Doch schon Ende der Vierzigerjahre, als die US-Ausgabe vorbereitet wurde, sorgte sich Kogons amerikanischer Verleger, der leidenschaftlich an das Buch glaubte, um die »Apathie der Öffentlichkeit, was das Lesen solcher Sachen betrifft«.38 Das allgemeine Interesse an den KL, das ihre Befreiung sowie einige der ersten Erinnerungsbücher und Prozesse gegen die Täter begleitet hatte, nahm beidseits des Atlantiks immer mehr ab. Das lag teilweise schlicht an einer gewissen Übersättigung, die auf die Welle erster eindringlicher Schilderungen folgte. Ganz allgemein wurde die öffentliche Erinnerung an die Lager jedoch vom Wiederaufbau und den außenpolitischen Entwicklungen an den Rand gedrängt. Seit die Frontlinie des Kalten Krieges Deutschland durchschnitt und die beiden miteinander rivalisierenden neuen deutschen Staaten zu strategischen Verbündeten der UdSSR beziehungsweise der USA machte, schien die Erwähnung der NS-Verbrechen politisch nicht mehr opportun zu sein. »Heute gilt es als schlechter Geschmack, von den Lagern zu sprechen«, schrieb Primo Levi im Jahr 1955 und fügte hinzu: »Das Schweigen überwiegt.« Bereits zehn Jahre nach der Befreiung waren die Lager zu einem Nebenthema geworden. Das lag nicht an der Unfähigkeit der Überlebenden, darüber zu sprechen, sondern an dem Unwillen einer größeren Öffentlichkeit, ihnen zuzuhören. Ehemalige Häftlinge bemühten sich weiterhin, die Erinnerung an die Lager lebendig zu halten. »Wenn wir verstummen, wer wird dann sprechen?«, fragte Levi zornig. Auch Edgar Kupfer gab trotz der weitverbreiteten Gleichgültigkeit nicht auf, bis endlich sein Dachauer Tagebuch 1956 in Deutschland veröffentlicht wurde, allerdings in stark verkürzter Form. Doch trotz einiger guter Kritiken wurde es kaum wahrgenommen, und kein ausländischer Verleger wollte es ins Programm nehmen, »aus Angst, das Publikum würde es nicht kaufen«, wie der deprimierte Verfasser feststellte.39

Das allgemeine Interesse erwachte in den Sechziger- und Siebzigerjahren erneut. Große Gerichtsverhandlungen gegen NS-Täter wie der Prozess in Israel gegen Adolf Eichmann, den SS-Offizier, der die Deportationen der Juden nach Auschwitz mitorganisiert hatte, und Medienereignisse wie der US-amerikanische Fernsehvierteiler Holocaust von 1978, der im folgenden Jahr in Westdeutschland ein großes Publikum erreichte, sorgten dafür, dass sich die Öffentlichkeit mit dem NS-Regime und seinen Lagern auseinandersetzte. In der Folge wurden auch einige frühe KL-Memoiren wiederentdeckt, darunter Primo Levis Meisterwerk über Auschwitz, das seitdem längst in den Kanon der modernen Literatur eingegangen ist. Gleichzeitig erschien auch eine Fülle neuer Zeugenberichte von Überlebenden. Diese Flut stieg weiter – die vollständige Ausgabe von Edgar Kupfers Tagebuch kam schließlich 1997 auf den Markt – und klingt jetzt erst ab, da die letzten Zeugen sterben.40 Überlebende setzten außerdem die Erforschung der Geschichte einzelner Lager fort und erstellten Quelleneditionen und historische Dokumentationen.41 Und wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit betätigten sich ehemalige Insassen nicht nur als Historiker; sie schufen ein außerordentlich reiches Korpus, das medizinische, soziologische und philosophische Arbeiten ebenso umfasst wie literarische Reflexionen und Kunstwerke.42

Ganz anders als die Überlebenden begann die breitere wissenschaftliche Gemeinschaft erst langsam, sich mit den KL zu befassen. Einige wenige Spezialstudien, die hauptsächlich medizinische Aspekte behandeln, erschienen in den späten Vierziger- und den Fünfzigerjahren.43 Aber erst in den Sechziger- und Siebzigerjahren veröffentlichten Geschichtswissenschaftler erste Arbeiten zu einzelnen NS-Lagern und zum gesamten KL-Komplex, die auf einer gründlichen Quellenanalyse beruhten. Am einflussreichsten waren die Arbeiten zweier junger deutscher Wissenschaftler, Martin Broszats bahnbrechende Untersuchung der Entwicklung des Lagersystems und Falk Pingels beeindruckende Studie über das Lagerleben.44 Diese historischen Analysen wurden durch die Arbeiten von Forschern aus anderen Fachrichtungen ergänzt, die sich mit Themen wie der Täterpsyche und der Erfahrung des Überlebens befassten.45

Trotz einiger unvermeidlicher Schwächen trugen diese frühen Studien beträchtlich zum Wissen über die SS-Konzentrationslager bei. Sie blieben jedoch Ausnahmen und konnten nur erste Umrisse skizzieren. Eine umfassende Geschichte der Lager zu schreiben, so die Schlussfolgerung Broszats noch im Jahr 1970, sei aufgrund der mangelnden Detailforschungen schlicht unmöglich.46 Paradoxerweise beruhte diese Forschungslücke wenigstens teilweise auf der irrigen Annahme, dass man kaum noch Neues über die Lager lernen könne, eine Ansicht, die selbst von einigen ansonsten scharfsichtigen Beobachtern geteilt wurde.47 In Wahrheit fingen die Wissenschaftler gerade erst an, die KL zu entdecken.

Das historische Wissen nahm in den Achtziger- und Neunzigerjahren enorm zu, vor allem in Deutschland. Mit dem Aufkommen der »Geschichte von unten« erforschten Geschichtsinteressierte vor Ort die Hinterlassenschaften ehemaliger Lager in ihrer Nachbarschaft. Gleichzeitig dienten die Lagergedenkstätten nicht mehr nur der Erinnerung, sondern entwickelten sich zu Orten der wissenschaftlichen Forschung. Die Öffnung der osteuropäischen Archive nach dem Ende des Kalten Krieges gab diesen Forschungsanstrengungen weiteren Auftrieb. Währenddessen wandte sich eine jüngere, von der Vergangenheit nicht mehr unmittelbar belastete Wissenschaftlergeneration dem Dritten Reich als Thema zu und machte aus der Untersuchung seiner Lager eine eigene Forschungsrichtung, die wichtige Arbeiten hervorbrachte, etwa Karin Orths Darstellung der KL-Organisation und -Struktur.48 Nach einer langen Zeit der Vernachlässigung florierte nun die Erforschung der SS-Konzentrationslager, jedenfalls in Deutschland (nur wenige Untersuchungen wurden in andere Sprachen übersetzt).49

Diese Welle zeigt keine Zeichen der Abschwächung, die historische Forschung wächst weiterhin rasant. Neue Perspektiven tun sich auf, über einzelne Täter, Häftlingsgruppen und Lager, über Anfang und Ende des SS-Systems, über die unmittelbare Umgebung der Lager, über die Zwangsarbeit und die Ausrottungspolitik. Passten alle wichtigen wissenschaftlichen Untersuchungen über die KL, die vor den späten Siebzigerjahren erschienen, bequem in ein einziges Bücherregal, benötigt man für alle seitdem veröffentlichten Arbeiten eine kleine Bibliothek.50

Die jüngste wissenschaftliche Forschung gipfelt in zwei großen Enzyklopädien – die eine über 1600, die andere über 4100 Seiten stark –, die die Entwicklung jedes einzelnen Haupt- und Außenlagers zusammenfassen; geschrieben wurden die Einträge von weit über 150 Historikern aus der ganzen Welt.51 Diese beiden unverzichtbaren Werke beweisen die ganze Breite der gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschung. Aber sie verweisen auch auf deren Grenzen. Der wichtigste Punkt: Die Vielzahl der Einzeluntersuchungen hat das Bild der SS-Konzentrationslager stark fragmentiert und aufgesplittert. Während es früher unmöglich war, das Lagersystem als Ganzes zu sehen, weil so viele Details fehlten, ist es jetzt fast unmöglich geworden, zu erkennen, wie alle diese Einzelheiten zusammenpassen. Blickt man auf die jüngsten Forschungsarbeiten, ist es, als säße man vor einem riesigen, in seine Einzelteile zerlegten Puzzle, dem ständig weitere Teile hinzugefügt werden. Es ist deshalb auch nicht weiter überraschend, dass die neuen historischen Darstellungen der KL in der breiten Öffentlichkeit kaum auf größere Resonanz gestoßen sind.

Deshalb sind die allgemein verbreiteten Vorstellungen von den NS-Konzentrationslagern weiterhin oft eindimensional. Statt der komplexen Details und subtilen Schattierungen historischer Gelehrsamkeit sehen wir breite Pinselstriche und kräftige Farben. Die allgemein verbreiteten Vorstellungen werden vor allem beherrscht von den grellen Auschwitz- und Holocaustbildern, die dieses Lager in den Worten des Politologen Peter Reichel zu einem globalen »Erinnerungsort« gemacht haben.52 Das war nicht immer so. In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg wurde der Terror gegen die Juden gewöhnlich als Teil der allgemeinen Zerstörung aufgefasst, die die Nationalsozialisten angerichtet hatten, und Auschwitz als ein Leidensort unter vielen. Das Bewusstsein der Einzigartigkeit und Ungeheuerlichkeit des Krieges gegen die Juden hat seitdem enorm zugenommen, und das Dritte Reich wird inzwischen weitgehend durch die Linse des Holocaust betrachtet.53 Die SS-Konzentrationslager wurden in der Folge eng mit Auschwitz und seinen jüdischen Opfern in Verbindung gebracht, was andere Lager und andere Häftlinge in den Schatten stellt. Laut einer Meinungsumfrage ist Auschwitz das in Deutschland bei Weitem bekannteste KL, und die große Mehrheit der Befragten verbindet mit den Lagern die Verfolgung der Juden, wohingegen weniger als zehn Prozent Kommunisten, Kriminelle oder Homosexuelle als Opfer nannten.54

Im allgemeinen Gedächtnis sind die Begriffe »Konzentrationslager«, »Auschwitz« und »Holocaust« inzwischen miteinander verschmolzen. Doch Auschwitz ist kein Synonym für die NS-Konzentrationslager. Sicherlich nahm es als größtes und tödlichstes Lager einen besonderen Platz innerhalb des KL-Systems ein. Aber dieses System umfasste schon immer viel mehr. Auschwitz war eng in das größere KL-Netz eingebunden, und manche seiner Strukturen gingen auf ältere Lager zurück. Dachau zum Beispiel war bereits mehr als sieben Jahre in Betrieb, als Auschwitz eingerichtet wurde, und hat es deutlich beeinflusst. Und trotz seiner beispiellosen Größe wurde die Mehrheit der registrierten KL-Häftlinge – also derjenigen, die in die SS-Baracken und zur Zwangsarbeit gezwungen wurden – anderswo festgehalten. Selbst in den Zeiten mit der größten Ausdehnung des Lagers befand sich in Auschwitz nicht mehr als etwa ein Drittel aller regulären KL-Insassen. Auch starb die große Mehrheit anderswo; geschätzte drei Viertel der registrierten KL-Insassen kamen in anderen Lagern als Auschwitz um. Deshalb ist es wichtig, Auschwitz in der allgemeinen Vorstellung von den Lagern zu entmystifizieren, wobei weiterhin deutlich auf seine ganz besonders zerstörerische Rolle hingewiesen werden muss.55

Auch waren Konzentrationslager nicht gleichbedeutend mit dem Holocaust, selbst wenn die Geschichte der beiden eng zusammenhängt. Erstens entwickelte sich der Terror gegen die Juden weitgehend außerhalb der KL; erst im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs befand sich die Mehrzahl der jüdischen Opfer, die bis dahin überlebt hatten, in einem Konzentrationslager. Die überwiegende Mehrheit der bis zu sechs Millionen Juden, die unter dem NS-Regime ermordet wurden, kam anderswo um, erschossen in Gräben und Feldern irgendwo in Osteuropa oder vergast in besonderen Vernichtungslagern wie Treblinka, die getrennt von den KL operierten. Zweitens waren die Konzentrationslager immer auf unterschiedliche Opfergruppen ausgerichtet, und abgesehen von einigen Wochen gegen Ende des Jahres 1938 bildeten die Juden nicht die Mehrheit unter den registrierten Häftlingen. Tatsächlich machten sie während der meisten Zeit des Dritten Reiches nur einen verhältnismäßig kleinen Teil aus, und selbst als ihre Zahl in der zweiten Kriegshälfte stark anstieg, waren nicht mehr als etwa 30 Prozent der registrierten KL-Insassen Juden. Drittens wurden in den Konzentrationslagern, zusätzlich zur Massenvernichtung, viele andere Kampfmittel eingesetzt. Die KL dienten unterschiedlichen, sich ständig verändernden und überlappenden Zwecken. In den Vorkriegsjahren nutzte die SS die Konzentrationslager als Abschreckungsmittel, Besserungsanstalten, Zwangsarbeiter-Reservoirs und Folterkammern, nur um im Krieg noch weitere Funktionen hinzuzufügen: KL wurden nun Orte der Kriegswirtschaft, Hinrichtungsstätten und Menschenversuchsanstalten. Die Lager wurden gerade durch ihre Vielgestaltigkeit definiert, ein wesentlicher Aspekt, der aus dem kollektiven Gedächtnis weitgehend verschwunden ist.56

Auch Betrachtungen über die Konzentrationslager aus eher philosophischer Perspektive unterlagen oft gewissen Verkürzungen. Seit dem Ende des NS-Regimes suchten bedeutende Denker nach verborgenen Wahrheiten und luden die Lager mit tieferer Bedeutung auf, entweder um ihre eigenen moralischen, politischen oder religiösen Ansichten zu bestätigen oder um etwas Wesentliches über die allgemeine Natur des Menschen zu erfassen.57 Diese Sinnsuche ist nur zu verständlich, denn der Schock, den die KL dem Glauben an den Fortschritt und die menschliche Kultur versetzt haben, machte sie zu Symbolen der Fähigkeit des Menschen zur Unmenschlichkeit. »Alle Systeme, die auf die natürliche Gutherzigkeit des Menschen gegründet sind, werden für alle Zeiten davon erschüttert sein«, warnte der französische Romancier François Mauriac in den späten Fünfzigerjahren. Einige Autoren haben seither den Lagern eine beinahe mystische Qualität zugesprochen. Andere sind zu konkreteren Schlüssen gelangt und beschreiben die KL als Ergebnis einer spezifisch deutschen Geisteshaltung oder als dunkle Seite der Moderne.58 Einer der einflussreichsten Beiträge stammt von dem Soziologen Wolfgang Sofsky, der die Konzentrationslager als eine Manifestation »absoluter Macht« jenseits aller Rationalität oder Ideologie darstellt.59 Allerdings leidet auch seine anregende Untersuchung unter denselben Begrenzungen wie einige andere allgemeine Betrachtungen über die Lager. Auf der Suche nach universellen Antworten verwandelt sie die Lager in abstrakte, zeitlose Gebilde. Sofskys archetypisches Lager ist ein ahistorisches Konstrukt, das ein Hauptmerkmal des KL-Systems verunklart: seine dynamische Natur.60

All das führt uns zu einer überraschenden Schlussfolgerung. Mehr als 80 Jahre nach der Gründung Dachaus gibt es keine für sich stehende Gesamtdarstellung der KL. Trotz der Mengen an Literatur – von Überlebenden, Historikern und anderen Wissenschaftlern – existiert keine umfassende Geschichte, die die Entwicklung der Konzentrationslager und die sich verändernden Erfahrungen der Menschen in den Lagern nachzeichnet. Es fehlt eine Untersuchung, die die Komplexität der Lager berücksichtigt, ohne zu zerfasern, und sie in ihren breiteren politischen und kulturellen Kontext einfügt, ohne zu vereinfachen. Aber wie schreibt man solch eine Geschichte der KL?

Annäherungen

Um die Gegenwart zu vergessen, sprachen SS-Gefangene oft über die Zukunft; so drehte sich 1944 das Gespräch einer kleinen Gruppe von Jüdinnen, die von Ungarn nach Auschwitz deportiert worden waren, wiederholt um folgende Frage: Für den Fall, dass sie überlebten, wie würden sie Außenstehenden ihr Schicksal vermitteln können? Gab es ein Medium, in dem sie auszudrücken vermochten, was Auschwitz bedeutete? Vielleicht Musik? Oder Vorträge, Bücher, Kunstwerke? Oder ein Film über den Weg eines Häftlings ins Krematorium, und vor Beginn müsste das Publikum vor dem Kino strammstehen, ohne warme Kleidung, Essen und Trinken, so wie die Häftlinge beim Zählappell? Selbst das aber, fürchteten die Frauen, würde keinen wirklichen Eindruck davon verschaffen, wie ihr Leben tatsächlich aussah.61 Häftlinge anderer SS-Konzentrationslager kamen zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Gefangene, die heimlich Tagebuch führten, quälte häufig die Begrenztheit ihres Zeugnisses. »Die Sprache ist gesprengt«, schrieb der Norweger Odd Nansen am 12. Februar 1945. »Ich selbst habe sie gesprengt. Es gibt keine Worte, die die Schrecken, die ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, beschreiben können.« Und trotzdem schrieb Nansen weiter, fast jeden Tag.62 Dieses Dilemma – der Drang, über das Unaussprechliche zu sprechen – gewann nach der Befreiung noch an Schärfe, denn nun mühten viele weitere Überlebende sich ab, Verbrechen zu schildern, die, so schien es, sich der Sprache entzogen und den Verstand überstiegen.63

ENDE DER LESEPROBE