Klänge einer Trauma-Wunde - Bernd Oberhoff - E-Book

Klänge einer Trauma-Wunde E-Book

Bernd Oberhoff

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Beschreibung

Die Musik des Carlo Gesualdo (1566-1613) hat den Autor bereits in jungen Jahren fasziniert und auf Grund ihrer ungewöhnlichen Harmonik in Staunen versetzt. Bei dem Bemühen, diesem Rätselhaften auf die Spur zu kommen, war die Entdeckung einer traumatischen Verwundung des Komponisten in der Kindheit wegweisend. Diesem Trauma hat Gesualdo in seinen Madrigalen in Text und Musik Ausdruck verliehen, sodass die 6 Madrigalbücher als ein klingendes Lehrbuch über Trauma, Traumafolgesymptome und Traumaheilung betrachtet werden können, was nicht nur beeindruckend, sondern vermutlich einzigartig in der Musikgeschichte ist.

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Inhalt

Einleitung: Wo liegt der Schlüssel für das „Rätsel Gesualdo“?

Kap I: Die Entdeckung der Kindheit in den Künsten der Renaissance

a) Die Entdeckung der Kindheit in der Malerei

b) Das Madrigal – Ein muttersprachlicher Gesang

c) Das mütterliche Spiegeln und Echogeben: Die imitierende Polyphonie

d) Die Feinfühligkeit der Mutter – „Der Glanz im Auge der Mutter“

e) Ein Überblick über Carlo Gesualdos Vokalkompositionen

Kap II: Die traumatisierte Kindheit in Gesualdos Madrigalen

a) Der Mangel an symbiotischer Verschmolzenheit mit der Mutter

b) Der Mangel an „Glanz im Auge der Mutter“

c) Der Mangel an Mitleid und Hilfe

d) Die Summe der mütterlichen Vernachlässigung als traumatische Erfahrung

e)

Ardita Zanzaretta

– Das süße Gift des mütterlichen Busens

f) Wenn die Wiege zur traumatischen Erfahrung wird

Kap III: Musik im geschützten Modus: Die Madrigalbücher I bis III

a) Die Ambivalenz bezüglich Trauma-Erinnerung

b) Ein stabiles Geländer als Schutz vor belastenden Bildern

c) Madrigalbuch III: Fühlen oder nicht fühlen? Annäherung an die bedrohlichen Trauma-Affekte

Kap IV: Ein traumatisiertes Innenkind tritt nach vorn: Die Madrigalbücher IV bis VI

a)

Io tacerò

(„Ich werde schweigen“)

b)

Mercè, grido piangendo

(„Mitleid erfleh ich weinend“)

c)

Tu m’uccidi, o crudele

(„Du tötest mich, Grausame“)

d) Buch IV: Eine Musik, die dem „gepreßten Innern Luft macht“

e) Exkurs: Das Vokalensemble

Dilitiae Musicae

und Gesualdos Madrigale

f)

Asciugate i begli occhi

– von Nenna und Gesualdo

g)

Pietà

– Das Erflehen von Mitgefühl

h)

Ecco, morirò dunque

(„Nun also werde ich sterben“)

Kap V: Schutzmechanismus Typ 1: Das Abdriften in die Gefühlsbetäubung

a)

languire:

Ein Verwelken der Gefühle

b)

morire:

Ein Sterben der Gefühle

c)

cor privo:

Ein Herz ohne Gefühle

d) Die Rückkehr aus einer Gefühlsbetäubung

e) Abrupte Stimmungswechsel

Kap VI: Schutzmechanismus Typ 2: Der Austritt aus dem Körper

a) Die außerkörperliche Erfahrung (AKE)

b) Die irreguläre Harmoniefortschreitung als Ausdruck von AKE

c) Die Rückkehr aus einem außerkörperlichen Zustand

Kap VII: Carlo Gesualdo und das Unheimliche: Sex & Crime

a) Der Mord an Maria d’Avalos

b) Liebesverrat, Gewalt und sexueller Missbrauch

c) Die seltsamen Machenschaften der „Hexe“ Aurelia

Kap VIII: Schutzmechanismus Typ 3: Nahtoderfahrung (NTE): Eine Seelenreise ins Jenseits

a) Die Nahtoderfahrung des Eben Alexander

b) Eben Alexanders Schlussfolgerungen

c) Die Jenseitsbilder in Gesualdos Madrigalen

d) Zwei tönende Wesenheiten in Gesualdos Madrigalen

e) Das wehklagende Innenkind und die feurig-liebende Seele kommen sich ins Gehege

f)

Moro, lasso

– Eine Nahtoderfahrung

Kap IX: Die Selbstheilungskräfte weisen den Weg in Richtung Traumaheilung

a) Das „Innere-Kinder-Retten“: Ein traumatherapeutisches Verfahren

b) Das Gemälde

Il Perdono di Gesualdo:

Ein Modell der Heilung des inneren Kindes durch die kosmischen Eltern

Literatur

Bildnachweis

Einleitung: Wo liegt der Schlüssel für das „Rätsel Gesualdo“?

Carlo Gesualdo, ein italienischer Komponist der Spätrenaissance lebte von 1566 bis 1613. Er war von hoher Geburt – Fürst von Venosa – und weilte überwiegend auf seiner Burg im gleichnamigen Ort Gesualdo im süditalienischen Kampanien, etwa 100 km östlich von Neapel. Dass wir heute überhaupt noch etwas von ihm wissen, hängt im Wesentlichen mit zwei rätselhaften Phänomenen zusammen, welche die Welt bis heute beschäftigen. Das ist zum einen der gruselige Mord, den Gesualdo an seiner ersten Ehefrau Maria d’Avalos verübt hat und zum anderen ist es die aus dem Rahmen fallende, dissonanzenreiche und doch zugleich unvergleichlich schöne Musik, die er der Nachwelt hinterlassen hat. Es sind seine fünfstimmigen Madrigalkompositionen, insbesondere diejenigen der Madrigalbücher IV, V und VI, die ihn berühmt gemacht haben. So fragt man sich beunruhigt: Wie kann es sein, dass ein Mensch, der eine so zartfühlende Musik hervorgebracht hat, seine Ehefrau in einer derartig bestialischen Weise ermordet? War der Täter wirklich dieser hoch talentierte Lautenspieler und feinfühlige Komponist von wunderschönen fünfstimmigen Madrigalen? Man steht vor einem Rätsel und ist bei Gesualdo zweifellos mit dem Unheimlichen konfrontiert.

Gesualdos Musik hat mich bereits in jungen Jahren in ungläubiges Staunen versetzt und die Frage entstehen lassen: Wie konnte ein Komponist des ausgehenden 16. Jahrhunderts eine Musik schreiben, die (in Teilen) nicht nur den damals gültigen Regeln der Harmonielehre, sondern auch dem Harmonieempfinden der nachfolgenden Jahrhunderte eklatant widersprach? Dieses unglaubliche Phänomen, gepaart mit dem Faszinosum dieser Gesänge, erweckte in mir den kaum zu unterdrückenden Drang, dieses Unglaubliche einmal verstehen zu lernen und dem „Rätsel Gesualdo“ auf die Spur zu kommen.

Wie bei allen großen Genies gibt es leidenschaftliche Anhänger und ebenso heftige Gegner. Bei Gesualdo hält sich die Zahl der Kombattanten in gewissen Grenzen. Hier ist nur ein kleiner Kreis von Insidern zu kampfeslustigen Streitereien aufgelegt. Der wohl eingefleischteste Anti-Gesualdianer ist der englische Reiseschriftsteller Charles Burney (1726-1814), der den neapolitanischen Komponisten einen „stümperhaften Dilettanten“ schmäht. Doch die Zahl derjenigen, die der Musik Gesualdos mit Hochachtung begegnen, ist entschieden größer. Kein Geringerer als Igor Strawinsky war von Gesualdos Musik so begeistert, dass er zweimal dessen Geburts- und Wirkungsstätte in Süditalien aufsuchte, intensiv Gesualdos Musik studierte, u.a. die verloren gegangene Bassstimme in den Responsorien ergänzte und schließlich sogar drei von Gesualdos Madrigalen für großes Orchester „nachkomponierte“. Auch zeitgenössische Komponisten wie z.B. Jürg Baur, Manfred Trojahn, Gerhard Stäbler, Peter Maxwell Davies oder Wolfgang Rihm gehören zur Schar seiner Bewunderer und haben sich in ihren Werken von Gesualdos Madrigalen inspirieren lassen. Wolfgang Rihm bescheinigt Gesualdo „peinvolle süßdunkle Kontrapunkte, die schönsten, die es gibt. Er bleibt ohne Beispiel!“ (Rihm 1995, S. 20). Allein in den 1990er Jahren erlebten drei Opern über Carlo Gesualdo ihre Uraufführung. Alfred Schnittke (1995) und Franz Hummel (1996) nannten ihre Werke schlicht „Gesualdo“. Salvatore Sciarrino schrieb 1998 für die Schwetzinger Festspiele eine weitere Gesualdo-Oper mit dem Titel „Luci mie traditrici“, in der der Mord des Fürsten an Maria d’Avalos musikdramatisch in Szene gesetzt wird.

Dass ein Interesse an Gesualdos Musik aktuell im Wachsen begriffen ist, dessen Zenit wohl erst in der Zukunft liegen wird, das mag die Tatsache beleuchten, dass erst seit dem Jahre 2013 eine Gesamtaufnahme sämtlicher Madrigale Gesualdos (125 Madrigale in 6 Büchern) vorliegt. Das Vokalensemble Dilitiae Musicae mit seinem Leiter Marco Longhini hat beim Label NAXOS diese diskographische Großtat vollbracht, die deshalb erwähnenswert ist, weil dieser Gesangsvortrag nach meinem Dafürhalten ein Meilenstein in der Interpretation der Madrigale Gesualdos darstellt. Erst durch ihren äußerst expressiven, einfühlsamen und emotional engagierten Gesang kann sich im Hörer eine Ahnung davon entwickeln, welche verborgenen, leidvollen, wie auch euphorischen Erfahrungen in Gesualdos Madrigalkompositionen einen Ausdruck gefunden haben. Ich werde darauf an geeigneter Stelle näher eingehen. Auf jeden Fall empfehle ich dem Leser, sich diese CD-Box zuzulegen, um den Ausführungen in diesem Buch nachzuspüren und eigene Erfahrungen mit Gesualdos Musik zu machen.

Die Musik des Fürsten wirkt auf viele Musikliebhaber wie eine Solitärpflanze, die außerhalb der musikgeschichtlichen Entwicklung zu stehen scheint. Zwar ist sie zweifelsfrei als eine Musik der Spätrenaissance erkennbar und doch ist es eine Musik, die aus dem Rahmen fällt. So meint z.B. der Musikologe Stefano Russomanno:

„Die Vorliebe für die Dissonanz, die erbitterte Chromatik, die gewagten und unvorhersehbaren harmonischen Verkettungen und die fast schon expressionistische Spannung sind […] nicht ausschließlich auf den neapolitanischen Komponisten zutreffende Wesenszüge […] Und dennoch nimmt jeder, der die Musik Gesualdos hört, etwas wahr, was verschieden von allem anderen ist, was einzigartig ist“ (Russomanno 2005, S. 11).

Was ist dieses Einzigartige? Alle bisherigen Versuche, diese Einzigartigkeit näher zu beschreiben, sind nicht wirklich ans Ziel gelangt. In der musikwissenschaftlichen Literatur ist allenthalben ein Bedauern darüber zu verspüren, diesem Rätsel bislang nicht auf die Spur gekommen zu sein. So fragt sich der Gesualdo-Biograph Glenn Watkins: „Es ist relativ einfach, diese Madrigale als eine Serie von musikalischen Details zu beschreiben, wie aber ist ihre faszinierende Wirkung zu erklären?“ Und weiter heißt es:

„Reduziert auf die analytische Sprache kontrapunktischer Praxis, auf das Anführen unvorbereiteter Dissonanzen, des umkehrbaren Kontrapunkts, von Querständen, ungewöhnlichen melodischen Intervallen, Ketten von Vorhalten, Chromatik, chromatischer nichtfunktioneller Harmonie und einem reichen Modulationsvokabular kann es nicht überraschen, daß die Musik ihren eigentlichen Geist verliert. Zwar sind all diese Merkmale tatsächlich zu finden, aber es ist doch die besondere Mischung, die Zusammenstellung sonst isolierter Phänomene, die das wahrhaft Zauberische seines Stils schafft […]. Allein sein unfehlbarer Instinkt erlaubt die glückliche Juxtaposition dieser verschiedenen Bestandteile in einer äußerst zerbrechlichen Balance, die immer an die Möglichkeit, nein, Wahrscheinlichkeit eines architektonischen Zusammenbruchs denken läßt. Bleibt das Bauwerk stehen, so ist das Ergebnis häufig atemberaubend“ (Watkins 2000, S. 236).

Man war in der Gesualdo-Forschung bislang offenbar der Meinung, den verbalen Inhalten der Madrigale keine wirkliche Aufmerksamkeit widmen zu müssen. Einstein bescheinigt den Texten – insbesondere jenen, die von Gesualdo persönlich stammen – „eine mindere literarische Qualität“ (Einstein 1946, S. 691). Watkins meint zur Textbehandlung: „Er pfropfte und verkürzte Texte nach seinem Geschmack“ (Watkins 2000, S. 173). Bei Huxley ist zu lesen: „Manchen seiner schönsten Madrigale liegen Versbruchstücke zugrunde, die keinerlei literarisches Verdienst beanspruchen können“ (Huxley 1994, S. 269). Und Hubert Meister kommt schließlich zu dem vernichtenden Urteil: „Die Bilder sind fast durchwegs schablonenhaft und abgenützt […]. Die Strukturen [der Texte] sind bisweilen sehr simpel, der Inhalt nichtssagend“ (Meister 1973, S. 54f.).

Wer so denkt, der ist natürlich schnell fertig mit den Gesangstexten und liefert sich selbst ein schlagendes Argument, sich mit diesen Worten nicht weiter befassen zu müssen. Es ist keine Frage, dass die vertonten Verse oftmals dunkel und unklar erscheinen, nicht selten paradox anmuten und nahezu durchgängig schwer verständlich sind. Dass dies so ist, hat jedoch gewichtige Gründe, die wir noch kennenlernen werden. Auf jeden Fall werden wir verstehen lernen, warum es unergiebig, ja irrelevant ist, die Texte nach ihrem literarischen Wert bemessen zu wollen, denn es geht bei diesen Madrigalen nicht um Schöngeist, sondern um – Selbstausdruck. Gesualdos musikalischer Ausdruckswille zielt auf etwas, das ihm selbst die ausgefeiltesten Verse wohl nicht hätten liefern können. Es ging ihm in seiner Musik darum, „seinem gepreßten Innern Luft zu machen“, wie Richard Wagner es einmal für sein kompositorisches Schaffen beginnend mit dem Fliegenden Holländer ausgedrückt hat (Wagner 1851, S. 261f.). Als Wagner dazu überging, seine Musik in den Dienst des Ausdrucks seines Innern zu stellen, war es unumgänglich, die Texte selbst zu verfassen, weil sie nur so wahrhaftiger Ausdruck seiner ganz eigenen psychischen Realität sein konnten. Auch hierin scheint es eine Parallele zu Gesualdo zu geben, der nur in den ersten Büchern Verse von Dichtern wie Tasso und Guarini verwendete. Die wortgenaue Übernahme von Fremdtexten wird bei den späteren Büchern immer geringer. Das Streben nach Selbstausdruck zwang Gesualdo gleichsam dazu, neben seinen musikalischen auch poetische Fähigkeiten zu entwickeln, auch wenn diese sich überwiegend darauf beschränkten, fremde Texte so abzuwandeln, dass sie seinen Zwecken dienlich waren. Und wenn es sich so verhält, dass die Texte Ausdruck des „gepreßten Innern“ der Person des Schöpfers sind, so ist dem gemeinten Sinn natürlich nicht mit philologischen Deutungsinstrumenten beizukommen. Auch eine Zuordnung zum Manierismus oder anderen literarischen Zeitströmungen, wie sie gelegentlich unternommen worden ist, erklärt wenig.

Die Psychoanalyse hat uns gelehrt: Es existieren geheime seelische Wirkkräfte im Inneren eines jeden Menschen, welche die Absicht verfolgen, dass der Mensch sich der Wahrheit, vor allem seiner individuellen Wahrheit, zuwenden möge, wie schmerzlich und kompliziert diese auch jeweils sein mag. Unsere inneren Selbstheilungskräfte sind unentwegt damit beschäftigt, uns damit zu konfrontieren, dass im Innern psychische Probleme darauf warten, gesehen, verstanden und gelöst zu werden. Die Künste halten uns oftmals einen Spiegel vor und wollen z.B., dass wir uns erinnern, was in unserem Leben Schlimmes geschehen ist und wir uns daran machen, die noch offenen Wunden zu versorgen und einer Heilung zuzuführen. Doch wie sollen wir das Schlimme erinnern, das uns in unserer frühesten Kindheit heimgesucht hat? Unser Gedächtnis reicht nicht zurück in jene Frühzeit unseres Lebens. Das ist natürlich ein Problem, weil insbesondere in den frühen Lebensjahren aufgrund der Unreife des Ichs die stärksten Verletzungen geschehen sein können. Doch es gibt für dieses Problem eine Lösung. Diese frühen Erfahrungen sind zwar nicht in unserem sprachlichen oder expliziten Gedächtnis, wohl aber als sensorische oder motorische Engramme in unserem Körpergedächtnis gespeichert. Und an dieser Stelle erahnt man die große Bedeutung, die der Musik zukommt, diese frühen körpersinnlichen Spuren in uns wieder aufzurufen und in Resonanz zu versetzen. Nicht jede Musik vermag dies und tut dies, aber auf jeden Fall solche, von der wir sagen, dass sie genial, inspiriert oder faszinierend ist. Sie trägt jene körpersinnliche Erfahrungswelt an uns heran, mit der unsere inneren Selbstheilungskräfte uns zu konfrontieren wünschen.

In Gesualdos Musik erklingen sowohl überirdische Schönheit als auch tiefste Dunkelheit. Die überirdische Schönheit seiner Musik wird uns abverlangen, uns mit spirituellen Konzepten vertraut zu machen, die uns einen Eindruck davon vermitteln, was sich in Räumen jenseits unserer sinnlichen Welt abspielt. Die Literatur über Jenseitsreisen ist in den letzten Jahren stark angewachsen, sodass sich Konturen der übersinnlichen Welten abzuzeichnen beginnen. Dieses Material wird uns helfen, den lichten Teil des Faszinosums gesualdinischer Musik ein wenig besser zu verstehen. Doch im Zentrum unserer Forschungsarbeit wird die „tiefste Dunkelheit“ stehen, die aus den Madrigalen zu uns spricht. Wir werden hinabsteigen müssen in jene schwer zugänglichen inneren Räume, wo unbewältigte traumatische Erfahrungen darauf warten, ins Licht des Bewusstseins gehoben zu werden.

Warum ist das so schwierig? Das Heraufholen von unbewussten Inhalten ist deshalb so schwierig, weil jeder Mensch, insbesondere ein Traumatisierter, solchen seelischen Inhalten ambivalent gegenübersteht. Er möchte sie unbedingt einer Heilung zuführen, doch er fürchtet sich davor, erneut mit der Angst und dem Schrecken von damals konfrontiert zu werden. Deshalb sucht eine solche Person nach Möglichkeiten, das erlittene Leid in einer Weise zum Ausdruck zu bringen, die sie davon befreit, ein Bewusstsein darüber zu entwickeln. Hier bietet sich die Musik als ein Medium an, in das hinein sich Gefühle ausdrücken lassen, die weder benannt noch vom Bewusstsein zur Kenntnis genommen werden müssen. Insofern verfügen Musikschöpfer über gute Chancen, Schritte der Selbstheilung einzuleiten, indem sie ihr unbewusstes traumatisches Material in ihre Werke einfließen lassen. Über diesen Weg ist es ihnen vergönnt, wenn nicht Heilung, so doch zumindest eine Entspannung vom traumabedingten Stress in ihrem Inneren zu erreichen.

Meine Auseinandersetzung mit den Musikwerken Richard Wagners wurde für mich zum Schlüssel, der es mir erlaubte, die Tür zum geheimnisumwitterten Lebenswerk des Carlo Gesualdo einen Spalt weit zu öffnen. Im Gegensatz zu Wagner, der uns geschichtlich nähersteht und von dem eine Fülle an Dokumenten zu Leben und Werk verfügbar sind, ist die Selbstauskunft bei Gesualdo leider eher spärlich. Persönliche Stellungnahmen zu seinen Kompositionen gibt es so gut wie keine. Die wenigen Berichte von Zeitgenossen über ihn sind oftmals recht subjektiv und von Phantasiebildungen durchsetzt, sodass sie schwerlich dazu taugen, ein konturiertes Bild dieses Menschen zu zeichnen. Einige Autoren sehen Gesualdo als einen Visionär an, der mit seinen dissonanzenreichen Klängen, insbesondere mit seiner fremdartigen Chromatik seiner Zeit weit voraus war und im Fortgang der Musikgeschichte genau drei Jahrhunderte später wieder auftaucht, z.B. bei – Richard Wagner. Es waren nicht wenige, die hier eine Verbindung gesehen haben. Aldous Huxley ist einer von ihnen. Er zitiert den Oxforder Musikwissenschaftler Ernest Walker, der die Ansicht vertritt, dass Gesualdos berühmtes Madrigal Moro lasso wie „danebengeratener Wagner“ klinge (Huxley 1994, S. 294). Huxley bekräftigt diese Bezugnahme auf Wagner, „denn die unaufhörliche Chromatik von Gesualdos Spätwerk fand bis zu den Zeiten des Tristan nicht ihresgleichen“ (ebd., S. 294). Doch da Huxley wohl ein Verehrer von Gesualdo nicht aber von Wagner war, wird ihm vermutlich Wagners Tristan wie ein „danebengeratener Gesualdo“ vorgekommen sein.

Wagner hat Gesualdos Musik vermutlich nicht gekannt, denn es sind – nach meinem Wissensstand – keine Äußerungen über diesen „Vorgänger“ überliefert. Als meine Beschäftigung mit Wagner über den Ring des Nibelungen (Oberhoff 2012) hinausgewachsen war und im zweiten Wagnerbuch Richard Wagner Inside (Oberhoff 2016) die Oper Tristan und Isolde in den Fokus meiner Aufmerksamkeit rückte, bekam ich eine Ahnung davon, wo die Affinität von Gesualdo und Wagner zu suchen und zu finden sein könnte. Die Gemeinsamkeit einer „unaufhörlichen Chromatik“ schien mir dabei eher als eine Äußerlichkeit, eine Akzidenz, ein abgeleitetes Phänomen von etwas, das letztlich auf ein spezielles psychologisches Feld verwies. Wagner wurde nicht zuletzt deswegen für mich zu einer sehr wichtigen Quelle beim Dechiffrieren von Gesualdos musikalischem Werk, weil er über die Zusammenhänge zwischen seinem Werk und seiner Person reflektierte.

Begibt man sich auf die Suche, was denn mit dem „gepreßten Inneren“ gemeint sein könnte, so wird man feststellen, dass es sich sowohl bei Wagner wie bei Gesualdo um frühe traumatische Verletzungen handelt. Während es seit dem 20. Jahrhundert möglich ist, durch die fachkundige Hilfe eines Traumatherapeuten oder einer Traumatherapeutin von dieser gravierenden psychischen Verletzung geheilt zu werden, hatten Menschen aus früheren Jahrhunderten kaum eine Chance auf Erlösung von ihrem Leid, sondern mussten sich ein Leben lang mit den Folgen dieser Erfahrung in Form einer – wie man heute sagt – „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS) herumquälen. Es kommt hinzu, dass die Fähigkeit der Menschen zur Zeit der Renaissance, selbstreflexiv und introspektiv in ihr Inneres zu schauen, nicht wirklich entwickelt war. Es gab weder eine Wissenschaft mit Namen “Psychologie” – dieser Name taucht erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts auf – noch gab es eine Vorstellung von unbewussten Vorgängen im Innern der eigenen Person. Das hatte zur Folge, dass das, was wir heute in der Nachfolge von Sigmund Freud als das Unbewusste bezeichnen, nur dadurch erkannt werden konnte, dass man es nach außen schaffte und z.B. in einer künstlerischen Schöpfung real oder symbolisch zur Anschauung brachte. Es ist mein Eindruck, dass sowohl Wagner als auch Gesualdo das Komponieren von Musik als ein Medium und einen Weg benutzt haben, um einen Prozess der Selbstheilung von in früher Kindheit erlittenen seelischen Verletzungen zu initiieren. Sie ahnten, dass das Schöpfen von Musik als ein Forschungs- und Experimentierfeld für Selbstheilungsversuche genutzt werden kann.

Nach diesen Vorbemerkungen soll nunmehr unsere Forschungsreise in die Tiefen der gesualdinischen Musik beginnen. Um zu verstehen, warum sich Gesualdo dazu aufgerufen fühlte, Erlebnisse aus frühester Kindheit in seiner Musik unterzubringen, erscheint es mir wichtig und aufschlussreich, unser Projekt mit einem Blick in die Themen und Anliegen der Künste der Renaissancezeit – speziell der Malerei und der Musik – zu beginnen, weil sie der Nährboden sind, aus dem das musikalisch-psychologische Werk des Carlo Gesualdo erwachsen ist.

Kap I Die Entdeckung der Kindheit in den Künsten der Renaissance

Die mittelalterliche Malerei kannte die Kindheit nicht. Sie hielt sie zumindest nicht für interessant genug, um sie zur Darstellung zu bringen. Das lag wohl auch daran, dass die Erlebniswelt des frühen Kindes für die Menschen des Mittelalters eine terra incognita war. Man verstand diese kleinen sprachlosen Wesen nicht, die eher einem Tier als einem Menschen ähnelten. So meint etwa der Theologe Berulle: „Der Säuglingszustand ist der niedrigste und gemeinste Zustand der menschlichen Natur, nach dem des Todes“ (zit.n. Marcard 1994, S. 28). Säuglinge wurden nicht selten als böse und sündhaft hingestellt, und es bestand hier und da die Vorstellung, dass ein bei der Taufe schreiendes Kind den Teufel herauslasse. Und so diente die Taufe u.a. auch der Teufelsaustreibung. Wer nicht zu dieser extremen Auffassung neigte, war zumindest der Ansicht, dass das Schreien eines Säuglings bedeute, dass er eine Sünde begehe. Solche Ansichten verdeutlichen, dass man diesen kleinen Wesen hilflos, ja gleichgültig gegenüberstand, da man an ihnen etwas Wesentliches vermisste: das Vernünftige und Verständige, durch das sich nach allgemeiner Meinung menschliche Wesen auszeichnen. Kinder mussten erst einmal durch eine strenge Erziehung zur Vernunft erzogen werden. Bevor dieser Zustand nicht erreicht war, gehörten sie nicht wirklich als vollwertige Mitglieder zur Familie. Diese Gleichgültigkeit gegenüber der kindlichen Erlebniswelt hatte natürlich auch damit zu tun, dass es eine hohe Säuglingssterblichkeit gab. Zuviele starben. Daran hat sich auch in der frühen Neuzeit nichts geändert. Aber es setzte sich trotzdem mehr und mehr die Vorstellung durch, dass auch Kleinkinder eine vollständige menschliche Person sind.

a) Die Entdeckung der Kindheit in der Malerei

Was es in der Malerei seit Ende des 14. Jahrhunderts gab, ist der Putto, das kleine nackte Kind, das höchstwahrscheinlich dem griechischen Eros (lateinisch: Amor) nachgebildet ist. In diesen allegorischen, anonymen und typisierten Darstellungen des kleinen Kindes mag man ein erstes auftauchendes Interesse an Kindern erblicken. Der Kunsthistoriker Walter Salmen teilt die Beobachtung mit, dass bereits während des 15. Jahrhunderts die Vorstellungen von musizierenden Engeln eine Wandlung ins Weltlich-Kindliche erfahren haben und führt als Beispiel eine Altarmalerei im Freiburger Münster an. Dort ist zu sehen:

„Die einst Ehrfurcht, ‚tremendum’ gebietenden Gestalten aus dem Jenseits wurden aus der erhabenen Größe in die kindlich-niedliche Kleinheit irdischer Lebensverhältnisse herabgezogen. Aus den Repräsentanten und Garanten einer unerfahrbaren himmlischen Harmonie wurden Sänger und Instrumentalisten einer scheinhaft innerweltlichen Praxis. Aus Erzengeln wurden Kinderengel und Spielgefährten des Jesuskindes“ (Salmen 2002, S. 22).

Salmen sieht in dieser „Verniedlichung“ eine Annäherung an die Sphäre des Weltlich-Kindlichen.

Noch deutlicher wird dieses Interesse in der Malerei des ausgehenden 16. Jahrhundert. Hier trifft man auf Einzelportraits von Kindern. Das Kind wird nun allein und um seinetwillen dargestellt; man könnte auch sagen: Es wird als eine menschliche Persönlichkeit entdeckt. Die Familienportraits beginnen sich um das Kind herum zu organisieren, das vielfach zum Mittelpunkt des Gemäldes wird. Der Historiker Ariès (1971) hält diesen Wandel in der Malerei des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts für so bedeutsam, dass er hier von der „Entdeckung der Kindheit“ spricht. Das Gemälde des Niederländers Frans Hals „Drei Kinder mit Ziegenbock und Wagen“ (um 1620) vermag, als ein Beispiel, dieses erwachende Interesse zu verdeutlichen.

Abb. 1: Frans Hals: „Drei Kinder mit Ziegenbock und Wagen“ (um 1620)

Und wie sieht es mit der Musik aus? Gibt es auch in der Musik eine Entdeckung der Kindheit?

b) Das Madrigal – Ein muttersprachlicher Gesang

Madrigale sind (überwiegend) fünfstimmige unbegleitete A-Capella-Gesänge, die aus wenigen gereimten Verszeilen bestehen und deren Aufführungszeit ca. 3 bis 5 Minuten umfasst. Die Texte erzählen von Liebe, meist von enttäuschter Liebe. Nach überlieferter Auffassung (Pirrotta 1960, Sp 1420) leitet sich der Begriff Madrigal „von matrix und cantus matricalis“ ab, was soviel heißt wie „muttersprachlicher Gesang“. Eine zweite mögliche Ableitung verweist auf den „cantus materialis“, im Sinne eines weltlichen, stofflich-sinnlichen Liedes. Weiter heißt es bei Pirrotta: „So soll (nach Biadene) der cantus matricalis ein Gesang in der Muttersprache (lingua materna) oder (nach Hall) ein Wiegendlied (ninna-nanna) gewesen sein.“ Welcher der beiden etymologischen Versionen wir auch folgen, wir stoßen in beiden Fällen auf das Stammwort „mater“, das eine unübersehbare Fährte zur Mutter legt und zwar, wie der zweite Herleitungsstrang verdeutlicht, nicht zur Mutter Gottes, sondern zur weltlichen, „stofflich-sinnlichen“ Mutter. „Muttersprachlicher Gesang“ und „Wiegenlied“ scheinen bedeutungsvolle Fährten zu sein, da sie gut zu dem zuvor erwähnten aufkommenden Interesse an der Kindheit in der Renaissancezeit passen. Und diese Fährte scheint uns offensichtlich in die ganz frühe Kindheit zurückzuführen mit den ihr eigenen spezifischen Themen und Erlebnisweisen.

Die Gattung „Madrigal“ erlebt im 16. Jahrhundert eine wahre Blütezeit. Die Zahl der komponierten Madrigale geht ins Unermessliche. So sind z.B. allein von Philippe de Monte (1521-1603), der in Neapel, Wien und Prag wirkte, insgesamt 1100 Madrigale überliefert. Von Giaches de Wert (1535-1596) existieren insgesamt zwölf umfangreiche Madrigalsammlungen, von Monteverdi (1567-1643) neun „libri di madrigali“. Das erste Buch vierstimmiger Madrigale von Arcadelt (1505-1603) erlebte bis zum Jahre 1554 insgesamt 36 Auflagen. Der Musikwissenschaftler Hartmut Schick wagt eine grobe Schätzung des Umfangs an Madrigalvertonungen in dieser Zeit. Danach „dürfte sich die Zahl der noch im 16. Jahrhundert gedruckten Madrigale in einer Größenordnung von 30.000 bewegen“ (Schick 1998, S. 14). Von Carlo Gesualdo sind 6 Madrigalbücher mit insgesamt 125 Madrigalen auf uns übergekommen, mit denen wir uns in diesem Buch befassen werden.

Wie mag der Säugling den „cantus matricalis“, den „muttersprachlichen Gesang“ erlebt haben? In seinem Beitrag „Lyrik als Muttersprache“ nimmt Walter Schönau Bezug auf die besondere Art und Weise, wie der Säugling die Stimme und die Sprache der Mutter erlebt, die sich deutlich von dem unterscheidet, wie wir als erwachsene Personen Stimmen wahrnehmen. Schönau führt aus:

„Was in der sprachlichen Kommunikation Erwachsener Nebensache oder irrelevant ist, alle nonverbalen Begleitungserscheinungen des Sprechens in Stimmbeugung und Körpersprache, das war in der präverbalen Phase die Hauptsache. Nicht was gesagt wurde, sondern dass etwas gesagt wurde und wie es gesagt wurde, war wichtig. Die Stimme der Mutter, ihr Timbre, die Satzmelodie, die Stimmhöhe und das Sprechtempo waren Ausdruck ihrer Beziehung zum Kinde. Die Stimme der Mutter sprach nicht über ihre Stimmung, sie war ihre Stimmung. Die Wärme oder Kälte ihrer Stimme war (semiotisch formuliert) ein Index ihrer Einstellung zum Kind. Das Kind verstand, kurzum, die sprachlichen Zeichen noch nicht als semantische Symbole, aber reagierte wohl darauf als emotionale Symptome, als spontane Zeichen der Liebe, der Beruhigung, des Ärgers oder der Erregung“ (Schönau 2003, S. 34).