Klarheit durch die Wahrheit - Ralph Weimann - E-Book

Klarheit durch die Wahrheit E-Book

Ralph Weimann

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Beschreibung

Es ist unstrittig: Kirche und Gesellschaft befinden sich in einer tiefen Wahrheitskrise. Wer von der Wahrheit spricht, hat es nicht leicht. Und doch ist die Wahrheit alternativlos, zum einen weil die Lüge – die der Wahrheit entgegengesetzt ist – nicht trägt, zum anderen weil ohne Wahrheit jene Klarheit fehlt, die für das Leben notwendig ist. Das Gesagte gilt für die Gesellschaft im Allgemeinen und für den Glauben im Besonderen, zumal sich Jesus Christus als die Wahrheit (Joh 14,6) geoffenbart hat. Im vorliegenden Buch wird die befreiende Kraft der Wahrheit für den Glauben und für das persönliche Leben in den Mittelpunkt gestellt. Daraus ergeben sich wertvolle Impulse für die Erneuerung des Glaubens und der Kirche. Der Verzicht auf Wahrheit weist auf einen Mangel an Demut hin und führt, wie es Kardinal Ratzinger einmal ausgedrückt hat, zum "Verzicht auf die Würde des Menschen". Umgekehrt ist die Wahrheit Gottes das Licht des Geistes, durch das der Mensch den Weg zu Gott und zu sich selbst findet. Wer ihr folgt, wird Erfüllung und Frieden finden, und dazu ist Klarheit durch die Wahrheit nötig.

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Seitenzahl: 173

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Ralph Weimann

Klarheit durch die Wahrheit

Ralph Weimann

Klarheit durch die Wahrheit

Beiträge zur Erneuerung des Glaubens und der Kirche

Die Bibelzitate stammen zumeist aus der revidierten Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift,

© Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart 2016.

KLARHEIT DURCH DIE WAHRHEIT

Beiträge zur Erneuerung des Glaubens und der Kirche

Ralph Weimann

© Media Maria Verlag, Illertissen 2024

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-947931-59-0

eISBN 978-3-947931-88-0

www.media-maria.de

Inhalt

Vorwort

I.Der Glaube verdunstet in den Seelen

1. Abwendung vom Kult

2. Zuwendung zum Menschen

II. Neuerungen – gefährliche Zäsur

1. Erste einschneidende Zäsur

2. Zweite einschneidende Zäsur

3.Die Frage nach der Hermeneutik

III. Ringen um das Verständnis des Glaubens

1. Kontinuität in der Lehre

2. Kirchliche Grundhaltung

IV. Stein des Anstoßes – die geoffenbarte Wahrheit

1. Unter dem Maßstab der geoffenbarten Wahrheit

2. Die Versuchung, so sein zu wollen wie alle anderen

V. Gefährdete Wahrheit – gefährdeter Glaube

1. Der Relativismus – bedrohter Glaube und verlorene Orientierung

2. Die befreiende Wirkung der Wahrheit

VI. Die Bedeutung der Wahrheit für den Glauben

1. Offenbarung als Wahrheit des Glaubens

2. Jesus Christus als die Wahrheit

VII. Entweltlichung und die Zukunft der Kirche

1. Zwischen Sein und Schein

2. Entweltlichung – der Weg vom Schein zum Sein

VIII. Die Quelle der Erneuerung – lebendiger Glaube

1. Der Unglaube – das eigentliche Problem

2. Lebendiger Glaube

3. Die Quelle für den lebendigen Glauben

IX. Die Einheit im Glauben

1. Das Bemühen um äußere Einheit

2. Die Grundlage für die Einheit

2. Die Begegnung mit Gott als Quellgrund der Einheit

X. Weg der Nachfolge

1. Umkehr als Hinkehr zur Wahrheit

2. Erleuchtung durch die Wahrheit des Glaubens

3. Gemeinschaft in der Wahrheit

Schlusswort

Anmerkungen

Bibliografie

1. Lehramtliche Quellen(in chronologischer Ordnung)

2. Andere Quellen(in alphabetischer Ordnung)

3. Online-Quellen(in alphabetischer Ordnung)

Der Autor

Vorwort

Der Titel dieses Buches bringt zum Ausdruck, worum es auf den folgenden Seiten geht: Klarheit durch die Wahrheit. Das geoffenbarte Wort Gottes – die Wahrheit – bringt Klarheit; durch sie erkennt der Gläubige den Weg des Lebens. Diese Erkenntnis ist wie ein Licht, das das ganze Leben erleuchtet und damit den Weg weist. Die Worte des Herrn, der sich im Lobpreis an Gott Vater wandte und sprach, »Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du das vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen offenbart hast« (Mt 11,25), gehen in diese Richtung. Die Wahrheit Gottes ist das Licht des Geistes und bringt als solches demjenigen Klarheit, der sich ihr öffnet.

Anders verhält es sich bei den Sophisten, jenen Menschen, die die Wahrheit verfälschen, weil sie sich davon einen Vorteil versprechen. Ihnen sind die Zustimmung und der Applaus der Menschen, Anerkennung oder finanzielle Vorteile wichtiger. Nicht selten sind es auch vielfältige Zwänge, die Menschen einknicken lassen, wenn es um die Wahrheit geht. Das Paradebeispiel dafür ist und bleibt Pontius Pilatus. Darüber hinaus ist die Meinung weitverbreitet, dass die Wahrheit irgendwo zwischen der einen und der anderen Position zu finden sei, so als ob die Wahrheit Verhandlungsmasse wäre. Doch die Wahrheit ist weder der kleinste gemeinsame Nenner noch ein Kompromiss, sie ist die Mitte und der Maßstab. Sie führt zur Klarheit im Hinblick auf Gott, Klarheit im Hinblick auf den Nächsten, Klarheit im Hinblick auf das eigene und das ewige Leben.

Dazu ist es notwendig, sich der Wahrheit zu stellen, ihr ins Angesicht zu schauen, den Mut zu haben, ihr zu folgen. Je mehr das gelingt, umso mehr gibt es Klarheit im eigenen Leben. Das Abwenden von der Wahrheit oder die Ignoranz ihr gegenüber (vgl. 2 Tim 4,4) löst kein Problem. Denn ohne die Wahrheit fehlt das Licht des Geistes und der Mensch verstrickt sich in die Lüge, bleibt im Dunkeln. Aus biblischer Perspektive wird deutlich, warum es keine Alternative zur Wahrheit gibt, denn der Teufel ist »der Vater der Lüge«. Er »steht nicht in der Wahrheit; denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner« (Joh 8,44).

Im Gegensatz dazu hat sich der Herr als die Wahrheit (vgl. Joh 14,6) geoffenbart. Er sagt von sich: »Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme« (Joh 18,37). Dieses Zeugnis hatte einen sehr hohen Preis: Der Herr bezahlte dafür mit seinem Tod am Kreuz. Aber nur die Wahrheit befreit von der Lüge, von der Unwahrheit, von der Dunkelheit, sie wirkt geradezu erlösend.

Wenn es keine Wahrheit gäbe oder wenn der Mensch sie nicht erkennen könnte, dann wäre er vergleichbar mit einem Blindgeborenen. Er würde umherirren und unterschiedlichen Meinungen und Ideen folgen, nichts ließe sich mit Gewissheit sagen, vor allem im Hinblick auf jene Dinge, die wesentlich sind im Leben.

Weil eine solche Grundhaltung weitverbreitet ist, meinen nicht wenige, auch die Religion müsse von der Wahrheit Abstand nehmen, nur so könne sie dem Menschen gerecht werden und dem Frieden und der Toleranz dienen. Im Gegensatz dazu ist der Inbegriff für religiöse Wahrheit das Dogma, jene definierten Glaubenswahrheiten, die von der höchsten kirchlichen Autorität als zu glauben festgeschrieben sind und für alle Zeiten ihre Gültigkeit behalten. Der damit einhergehende Wahrheitsanspruch ist für viele Zeitgenossen nicht erträglich, weil er nicht der Mentalität der Zeit entspricht. Folglich wird eine dogmenfreie Religion gefordert, weil das Dogma störe und dem Fortschritt des Menschen im Weg stehe. Doch schon ein oberflächlicher Blick auf diese Aussagen lässt deutlich werden, dass es sich genau umgekehrt verhält. Es gibt keinen wahrheitsfreien Raum. Die Alternative zur Wahrheit ist die Lüge. Doch weder befreit die Lüge noch ist sie eine tragfähige Alternative, die auf Dauer halten kann. Vielmehr ist der Glaube nur dann glaubwürdig, wenn er wahr ist.

Der Mensch wird mit Recht als homo sapiens bezeichnet, als vernunftbegabte Person. Wie das Wort sapiens deutlich macht, ist der Mensch auf die sapientia hingeordnet. Damit ist jene Klugheit, Weisheit und letztlich Wahrheit bezeichnet, die erkennen zu können die Größe und Würde des Menschen ausmacht. Wer dem Menschen diese Fähigkeit abspricht, der erhöht ihn nicht, sondern erniedrigt ihn. So ist die Wahrheitsfähigkeit des Menschen bereits in der Schöpfungsordnung grundgelegt, was nicht heißt, dass alle Menschen auch tatsächlich zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Damit ist wohl aber gemeint, dass alle Menschen sie erlangen können und sollen. So schreibt der Apostel Paulus: »Das ist recht und wohlgefällig vor Gott, unserem Retter; er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen« (1 Tim 2,3–4). Der Völkerapostel bringt damit zum Ausdruck, worum es im Leben geht und was der inneren Veranlagung eines jeden Menschen entspricht. Schon im Buch Genesis heißt es: »Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn« (Gen 1,27). In dieser Schilderung findet sich der vornehmste Ausdruck für die Wahrheitsfähigkeit des Menschen, denn der Mensch trägt die Wahrheit Gottes in sich.

Aus dieser Perspektive wird deutlich, warum die Theologie als »Lehre von Gott« – wie die ganze menschliche Existenz – auf die sapientia hin ausgerichtet ist. Dabei kommt Gott dem Menschen entgegen, er offenbart das gnadenhafte Licht seiner Wahrheit (vgl. Joh 1,14). So wird deutlich, dass die Wahrheit der Maßstab und die Mitte für den Menschen ist bzw. sein sollte. In ihr findet der Mensch seinen Sinn und seine Erfüllung. Um diese Mitte geht es im vorliegenden Buch. Dabei werden jene Aspekte dargelegt, die ausgehend von der Wahrheit für eine Erneuerung des Glaubens und der Kirche wichtig sind.

Damit ist bereits der große Rahmen dessen angedeutet, worum es gehen soll. Zunächst wird dargestellt, wie der Glaube – die göttliche Wahrheit – in den Seelen der Menschen zunehmend verdunstet, sodass sich immer mehr Menschen von der Glaubenswahrheit lossagen. Verschiedene Einschnitte in der Neuzeit haben diesen Prozess beschleunigt, was nicht ohne Auswirkungen auf das Verständnis des Glaubens geblieben ist. Wenn nämlich der Glaube nicht mehr bekannt ist, kann er auch nicht mehr gelebt werden. Dabei ist der Stein des Anstoßes die geoffenbarte Wahrheit. An ihr scheiden sich die Geister. Je mehr die Wahrheit des Glaubens gekannt, geschätzt und gelebt wird, umso attraktiver wird sie. Umgekehrt bedeutet dies: Wenn die Wahrheit gefährdet oder abgelehnt wird, leidet der Glaube. Daraus lassen sich wichtige Anregungen für eine Erneuerung des Glaubens und der Kirche ableiten. In dem Sinne hatte Papst Benedikt XVI. von einer »Entweltlichung der Kirche« gesprochen, um vom Schein zum Sein zu kommen und in der Wahrheit zu verbleiben. Nur so kann der Glaube lebendig und zur Quelle für die Erneuerung der Kirche sowie zum Garanten für die Einheit im Kleinen wie im Großen werden. Dabei ist die innere Gemeinschaft mit der Wahrheit, die einen geistigen Prozess voraussetzt, wichtiger als das äußere menschliche Bemühen.

So wird deutlich, dass man dem Menschen keinen Gefallen erweist, wenn man ihm die Wahrheit vorenthält. Für den Moment mag es angenehmer sein, aber auf diese Weise verschleppt man die Probleme, lässt sie größer werden, statt sie zu lösen. Allein die Wahrheit macht frei, denn sie führt zu jener Klarheit, der man sich früher oder später – wenn nicht in dieser, dann in der anderen Welt – stellen muss.

I. Der Glaube verdunstet in den Seelen

Im Jahr 2012 habe ich einen Artikel mit dem provokanten Titel verfasst: »Der Glaube verdunstet in den Seelen«.1 Vor allem mit einem Blick auf die Kirche in Deutschland bestätigt sich die vor gut zehn Jahren gemachte Aussage immer mehr. Seit 2012 sind in Deutschland deutlich über zwei Millionen Katholiken aus der Kirche ausgetreten. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Glaubensvermittlung die zentrale Aufgabe der Kirche ist, um die Menschen zur Gemeinschaft mit Gott und damit zum ewigen Leben zu führen, wird unmissverständlich deutlich: Der Glaube verdunstet in den Seelen. Es wäre unrechtmäßig, die Schuld daran allein gewissen Krisenerscheinungen und Skandalen anzulasten, zumal die Abwendung von der Kirche und damit auch vom Glauben – wenigstens statistisch belegt – kontinuierlich erfolgt, auch wenn der Exodus sich in den letzten Jahren beschleunigt. Die Gründe dafür sind weitreichend und tiefgehend. Tragfähige Lösungsansätze setzen voraus, dass die zugrunde liegende Problematik erfasst wird, um auf die Krise antworten zu können. Daher muss zunächst die Problematik als solche skizziert werden, um genauer zu erfassen, worin dieser Verdunstungsprozess des Glaubens besteht. Erst dann kann nach tragfähigen Lösungen gesucht werden.

1. Abwendung vom Kult

Noch 1920 machte Romano Guardini eine Entwicklung im Hinblick auf Glaube und Kirche aus, die er wie folgt beschrieb: »Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen.«2 Später ergänzte er: »›Die Kirche wird lebendig in den Seelen‹, hat der Verfasser vor zehn Jahren geschrieben. Heute [1930] fügt er hinzu: Dann, wenn Christus in den Seelen lebendig wird; Er, wie er ist, aus der Sendung des Vaters an den Menschen herantretend.«3 Von diesem Vorgang ist in vielen Teilen der westlichen Welt nur noch wenig zu spüren, im Gegenteil, es gibt eine zunehmende Abwendung vom Glauben der Kirche.

Dabei handelt es sich – dies lässt sich in Anlehnung an Guardini sagen – in der Tat um einen Vorgang von unabsehbarer Tragweite, denn immer dann, wenn der Glaube an Gott schwindet, befindet sich nicht nur die Kirche in einer Krise, sondern es fehlt auch das tragende Fundament für die Gesellschaft.4 Das wird im Hinblick auf die Kultur besonders deutlich. Das Wort »Kultur« leitet sich vom lateinischen Verb colere her und bedeutet so viel wie behauen, pflegen, veredeln. Im Altertum wurde dieses Wort auch im Kontext der Götterverehrung verwendet, sodass der Zusammenhang von Kult und Kultur offen zutage trat. Jeder Kultur liegt ein geistiges Fundament zugrunde: ein Kult. Andernfalls würde es sich um eine sterbende oder tote Kultur handeln. Aus diesem religiösen Fundament leiten sich ethisch-moralische Prinzipien her, die für eine Gesellschaft/Kultur wegweisend sind.

Erst in der Moderne fand die Ansicht Verbreitung, dass der säkulare Staat auch ohne ein religiöses Fundament auskomme und autonom festlegen könne, was für das Volk geeignet sei und was nicht. Der Staat, so heißt es, sei selbst in der Lage, ethisch-moralische Prinzipien zu definieren. Es wird von »Werten« oder »Wertegemeinschaften« gesprochen, die ein Land oder einen Kulturkreis kennzeichnen. Doch handelt es sich um dehnbare, unpräzise Begriffe, die je nach zeitbedingten Vorgaben definiert werden können. Neben der begrifflichen Unschärfe verbindet sich damit eine weitere Problematik, die immer deutlicher zutage tritt.

Wenn der Staat seine ethisch-moralischen Prinzipien losgelöst von religiösen Grundlagen definiert, dann muss er einen Ersatz dafür schaffen. Denn ethisch-moralische Prinzipien entstehen nicht aus sich selbst, ihnen liegt immer eine kultische Dimension zugrunde. Wie aber sieht der Ersatz aus? In gewisser Weise setzt sich der Staat – die Politiker und diejenigen, die den Ton in Politik und Medien angeben – selbst an die Stelle dessen, der Prinzipien festlegt und vorgibt. Wohin dieser Prozess geführt hat und immer wieder führt, zeigt ein Blick in die Geschichte des letzten Jahrhunderts, erfreut sich aber trotzdem in der gegenwärtigen Zeit einer gewissen Attraktivität. Das Gesagte spiegelt sich auch im Verhalten von Politikern wider, die beim Ablegen des Eides auf die Verfassung den Zusatz »So wahr mir Gott helfe« weglassen. Auf den ersten Blick mag dies als kleines »Detail« erscheinen, in Wirklichkeit kommt darin aber etwas Wesentliches zum Ausdruck. Denn die Spitze des Eisbergs wird sichtbar.

Wenn sich eine Gesellschaft, Kultur und Politik vom Kult lösen, dann werden die eigenen Positionen und Ansichten zum neuen Kult. Wenn sich aber der Kult ändert, dann auch die ethischen Prinzipien. In diesem Fall ließe sich ein Abgleiten in die Willkür jener, die den Ton angeben, auf Dauer nicht vermeiden. Ein solcher Prozess ist inzwischen weit vorangeschritten, was im Hinblick auf bioethische Fragen am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens besonders deutlich wird.5 Die ganze – vor allem – westliche Kultur hat sich tiefgreifend verändert; dies tritt heute immer deutlicher zutage.6 Ernst-Wolfgang Böckenförde hatte zweifellos recht, wenn er in den 70er-Jahren unterstrich, dass der säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht zu garantieren vermag.7

Schon an dieser Stelle lässt sich erkennen, wie tiefgreifend die gegenwärtige Krise ist, von der auch die Kirche nicht verschont bleibt. Denn was für den Staat gilt, das gilt noch mehr für die Kirche. Auch sie hat gegen Säkularisierungstendenzen zu kämpfen und ist nicht selten einer starken Selbst-Säkularisierung ausgesetzt. Die Forderung von Papst Benedikt XVI. nach einer Entweltlichung der Kirche zielt darauf, Abhilfe zu schaffen, worauf im weiteren Verlauf noch einzugehen sein wird.8

An dieser Stelle genügt es jedoch, einen Blick auf die Bedeutung des Kultes schlechthin zu werfen: die heilige Eucharistie. Sie ist der zentrale Vollzug in der Kirche, so zentral, dass Johannes Paul II. geschrieben hat: »Die Kirche lebt von der Eucharistie.«9 In seinem Lehrschreiben erinnert der Papst daran, dass die Kirche nicht in sich selbst steht und daher weder von Diskussionsgruppen, Reformforen oder synodalen Prozessen lebt, sondern aus der Eucharistie – dem Kult – ihre vitale Kraft schöpft, ohne die sie zugrunde gehen würde. Denn die Eucharistie enthält »das Heilsgut der Kirche in seiner ganzen Fülle, Christus selbst, unser Osterlamm und das lebendige Brot. […] Deshalb ist der Blick der Kirche fortwährend auf den Herrn gerichtet, der gegenwärtig ist im Sakrament des Altares, in dem sie den vollkommenen Ausdruck seiner unendlichen Liebe entdeckt.«10

In den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stellte Romano Guardini fest, dass eine neue Sensibilität unter den Gläubigen entstand, die zu einem neuen Bewusstsein führte. Die Kirche, der Glaube, die Eucharistie erwachten in den Seelen. Die heilige Eucharistie bildete das Zentrum, sodass die Gläubigen bemüht waren, am Geheimnis des Glaubens teilzunehmen, was in der Forderung nach einer participatio actuosa in der Liturgie seinen Ausdruck fand. Das letzte Konzil verstand darunter eine inwendige Teilnahme am Glaubensgeschehen.11 Es ging vor allem um eine geistig-innerliche Teilnahme am Kult als zentralem Glaubensvollzug. Diese Erneuerung hätte jedoch nur dann gelingen können, wenn die Heiligkeit des Kultes allen deutlich vor Augen gestanden und zugleich die Glaubensunterweisung den Zugang dazu erschlossen hätte. Letztendlich geht es um die Anbetung Gottes »im Geist und in der Wahrheit« (Joh 4,23). Dazu schreibt Joseph Ratzinger: »Aber Geist und Wahrheit sind nicht abstrakte philosophische Begriffe – die Wahrheit ist ER, und der Geist ist der Heilige Geist, der von ihm ausgeht.«12 Beides ist im Großen gescheitert; weder die Wahrheit noch die Anbetung Gottes im Geist haben sich durchgesetzt, dabei sind sie die Säulen, auf denen der Kult steht.

Romano Guardini hatte bereits auf die Gefahren einer Abwendung von Gott aufmerksam gemacht. Er schrieb im Jahr 1952: »In der Neuzeit zeigt sich etwas Eigentümliches, das Jeden betroffen machen muss, der fähig ist, Wesentliches zu sehen. Der Mensch – richtiger gesagt, viele Menschen; jene, die geistig Maß und Ton bestimmen – lösen sich von Gott ab. Sie erklären sich für autonom, das heißt für fähig und befugt, sich selbst das Gesetz ihres Lebens zu geben. […] Diese Haltung geht immer entschiedener darauf zu, den Menschen absolut zu setzen.«13

An die Stelle Gottes trat zunehmend der Mensch und damit der Eigenwille, der sich von den Lebensumständen, der Willkür und dem Zeitgeist leiten lässt, aber nicht vom Heiligen Geist. Was sich in Politik und Gesellschaft abspielte, fand auch seinen Weg in die Kirche. Nicht wenige »Gläubige« haben sich vom Glauben an Gott abgewandt und an dessen Stelle ihre eigenen Wünsche und Ansichten gestellt. Wenn aber der Gottesbezug schwindet und seine Bedeutung verliert, dann fehlt jenes tragende Fundament, auf dem alles steht. Auf diese Weise würde der Eckstein verworfen (vgl. Mt 21,42) und das Haus wäre auf Sand gebaut (vgl. Mt 7,26–27). Ein derartiger Prozess ist im Gange. Hier soll es genügen, diesen Prozess in groben Zügen zu skizzieren.

2. Zuwendung zum Menschen

Aus dem zuvor Gesagten wird deutlich, dass die Abwendung von Gott zu »Ersatzformen« führt. Wenn nicht mehr Gott die Quelle für die Inspiration ethisch-moralischen Handelns ist, dann bleibt alternativ nur der Mensch, der sich nun selbst das Gesetz des Lebens gibt. Etwas Ähnliches wird bereits im Buch Exodus beschrieben, auch wenn die Geschichte zunächst entgegengesetzt beginnt. Mose erhielt von Gott das Gesetz auf dem Berg Sinai. Es sollte als Richtmaß dienen, um den Weg zu zeigen, der zum ewigen Leben führt. Daraus ergibt sich ein ethischer Kodex, der in den Zehn Geboten seinen Ausdruck findet. Doch das Volk wandte sich von Gott ab und schuf sich Götzen nach eigenen Vorstellungen. Sie gossen sich ein Goldenes Kalb und warfen sich vor ihm nieder. Mehr noch, sie sagten: »Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben« (Ex 32,8). Die Dramatik dessen, was hier beschrieben wird, ist kaum zu unterschätzen; sie wiederholt sich, wie ein Blick in die Geschichte zeigt.

Damals wandte sich das Volk Gottes von Gott und seinen Geboten ab, wobei die Möglichkeit, die Wege Gottes zu verlassen, zu allen Zeiten bestehen bleibt. Dabei gibt es einen untrennbaren Zusammenhang zwischen der Wahrheit Gottes und den Geboten. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Als sich das Volk Israel Götzen schuf, die nichts anderes waren als ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche, hatten sie den Bezugspunkt für ihr Leben und Handeln verloren. Derartige Tendenzen lassen sich auch in der Kirche ausmachen. Viele haben begonnen, sich von Gott abzuwenden unter vorgeblicher Zuwendung zum Menschen. Dem liegt gewöhnlich ein subtiler Prozess zugrunde, den es im Folgenden darzulegen gilt.14

Natürlich ist die Zuwendung zum Menschen grundsätzlich wünschens- und erstrebenswert. Sie wirkt sich jedoch verhängnisvoll aus, wenn sie zum Ausgangspunkt gemacht wird, um die Gläubigen von Gott und der in Jesus Christus geoffenbarten Wahrheit abzubringen und seine Wahrheit zu ignorieren oder ihr gar zu widersprechen. In diesem Fall wäre eine solche »Zuwendung« zum Menschen ein Trojanisches Pferd, um die Menschen von Gott abzubringen.

Ein derartiger Entkopplungsprozess ist seit vielen Jahren im Gang und hat die »Gläubigen« von Gott entfremdet, was sich vor allem darin zeigt, dass die Offenbarung Gottes, bezeugt in Schrift und Tradition, an Bedeutung und Normativität verloren hat und weiterhin verliert. Die Vorgehensweise ist subtil, denn die Menschen werden im Glauben gelassen, sie seien »katholisch«, obwohl sie sich von der in Jesus Christus geoffenbarten Wahrheit abwenden oder bereits abgewandt haben.

Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass grundlegende Glaubensinhalte nicht mehr bekannt sind, nicht mehr akzeptiert und nicht mehr geglaubt werden. Besonders augenscheinlich tritt dies im zentralen Glaubensvollzug der Kirche vor Augen: der Heiligen Messe. Obwohl es Gottes-Dienst ist, gibt es die Tendenz, Gott in der Feier kleinzuhalten. Kniebeugen und Knien, durch die der Glaube an die Gottheit Jesu Christi äußerlich bezeugt wird, werden vermieden. Die Feier selbst wird so gestaltet, wie sie dem Publikum entspricht, auch wenn dies zu einer Banalisierung des göttlichen Geheimnisses führt. Der sakrale Raum wird gemieden oder so umgebaut, dass er sich äußerlich kaum mehr von einem profanen Raum unterscheidet. Auf diese Weise wird fälschlicherweise vorgegeben, dass der Mensch im Mittelpunkt stehe, wobei in Wirklichkeit genau das Gegenteil der Fall ist. Denn der Mensch wird erhöht durch Gott, er erniedrigt sich selbst, wenn er sich selbst an Gottes Stelle setzt.