Kleine Himmel - Brygida Helbig - E-Book

Kleine Himmel E-Book

Brygida Helbig

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Beschreibung

Willi, der Galiziendeutsche Halbwaise, 1939 in den Warthegau umgesiedelt, kommt nach dem Krieg in das nun polnische Stettin. Er heiratet die ebenfalls aus ihrer ostpolnischen Heimat vertriebene Basia, die 1941 als Sechsjährige von den Sowjets nach Kasachstan verschleppt worden war. Ein neues Leben soll beginnen, aber die Vergangenheit lässt sie nicht ruhen. Davon erzählt uns Zuzanna, ihre Tochter, die erst spät ihre väterlichen Wurzeln entdeckt und inzwischen in Deutschland lebt, aus der Sicht einer Migrantin, deren Vater Deutscher und Pole zugleich ist und deren Eltern beide Flüchtlinge und Umsiedler waren, nur aus unterschiedlichen „Lagern“. In wunderbar poetischer, warmer und ironischer Sprache nimmt uns Brygida Helbig mit auf die Suche nach den Wunden und verborgenen Schätzen ihrer Wurzeln, eingebettet in die Nachbeben mitteleuropäischer Geschichte. Eine neue Stimme der 1960er-Generation die unsere tradierte Überlieferung in Frage stellt.

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Impressum

© Brygida Helbig, Berlin ٢٠١٩

© KLAK Verlag, Berlin ٢٠١٩

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jolanta Johnsson

Satz/ Layout: Jolanta Johnsson

ISBN 978-3-948156-40-4

Inhalt

Ab nach Berlin

Wunderwaffe

Eins, zwei, drei

Kolonie Steinfels

Karawane

Der Nachbar

Die Verbannung

Polizeimeister Piepel

Stille Post

Popowo Tomkowe

Grüße aus Stettin

Autobahn

Seltsam ist diese Weeelt

Mama mit Papa

Mami, lies mir vor!

Vogelbeerbaum

Kleine Prinzessin

Das Leben

Hör zu, Jesus …

Anhang

Epilog

Danksagung

Nachweise

Es war [einmal] ein Ort, wo man froh und zu Hause war.

Heinrich Wolf

Ab nach Berlin

2014, also heute

Willi sammelt Osterhasen. Er bewohnt ein bescheidenes Reihenhäuschen in Polen, genau genommen in Stettin, heute Tsch …tsch …tsch … tschetschin, das er in den achtziger Jahren eigenhändig und aufopferungsvoll erbaut hat. Nebenan ist vor ein paar Jahren das überdimensionale Einkaufszentrum »Real« wie ein Pilz aus dem Boden geschossen, und obendrein noch der Baumarkt »Castorama«, der die Anreisenden aus Deutschland bereits wenige Kilometer hinter der Grenze mit dem alles überragenden Slogan „Du baust, du renovierst, du richtest dich ein“ zukunftsfroh begrüßt. In diesem Haus, auf einem Holzregal im Esszimmer, baut der dreiundachtzigjährige Willi seine Osterhasen auf, fein in Reih und Glied, vom kleinsten bis zum größten. Das Arrangement sieht aus, als wollten die Hasen geradewegs im Gänsemarsch losziehen, ins Gelobte Osterland. Am besten gefallen Willi die »Lindt«-Osterhasen im goldenen Gewand, mit dem kleinen Glöckchen und der roten Schleife um den Hals, die er sich gerne schenken lässt oder im angrenzenden Pasewalk selbst besorgt. Kein Mensch darf sie anfassen, und essen schon mal gar nicht.

– HALT! Finger weg von den Hasen!!!

– Schon gut, schon gut, Willi. Niemand hat die Absicht, sich an deinen Hasen zu vergreifen.

Nun kommt Basia, lies Baschja, ins Spiel, Willis Frau. Basia, neunundsiebzig, ist immer in Eile. Sie stolpert, balanciert schwankend am Abgrund des Tages, fällt manchmal fast über die Türschwellen. Weder ihre Wirbelsäule hält sie aufrecht, noch gibt ihr die Erde den nötigen Halt. Manchmal denke ich, dass sie allein durch das bloße Antippen mit dem Finger zu Staub zerfallen müsste. Sie kann schlecht atmen, bekommt keine Luft. Kopfschmerzen machen ihr zu schaffen.

Andauernd brennt ihr etwas an. Weil sie immerzu am Rennen ist, ständig auf der Flucht. Wenn ihre Kinder zu Besuch kommen, holt sie ihre berühmt berüchtigten Vitamintabletten »Vitaral« aus der Schublade und schiebt sie ihnen in den Mund. Wenigstens die Kinder will sie retten. „Das ist Mamas Wunderwaffe“, erlaubt sich Sohn Edek einen Scherz und lacht etwas verlegen, bevor er wieder verstummt und dann doch unwillig, aber folgsam die blutroten Tabletten runterschluckt, eine nach der anderen. An ihre Wirkung glaubt er nicht wirklich. Doch bringt er es nicht übers Herz, seiner Mutter zu widersprechen. Auch Tochter Zuzanna schluckt, stopft Nahrung und Nahrungsergänzungsmittel in sich hinein ‒ und wie! Bis es ihr zu den Ohren herauskommt, obwohl sie eigentlich gern selbst entscheiden würde, was sie braucht. Doch auch sie möchte Basia nicht verletzen. Mutterliebe geht halt manchmal seltsame Wege.

Januar 1945

Willi ist vierzehn, das Jahr 1945 ist noch jung. Er glaubt nicht, dass er unversehrt davon kommen wird. Schaut besorgt zum Himmel hinauf.

Sie sind wie lästige Mückenschwärme, die sich nicht verscheuchen lassen. Bomber der deutschen Luftwaffe – sogenannte Stukas, Sturzkampfflugzeuge, Junkers 87. Sie sind überall, kommen von allen Seiten. Flink und tänzelnd tauchen sie im Sturzflug herab, verwüsten die Straßen, beschießen heldenmutig die sowjetischen Panzer und Laster – Monster, Ufos, Kolosse, Elefanten, die unaufhaltsam Richtung Westen ziehen, im Großen Vaterländischen Krieg. Wehe den Spätzündern unter den Deutschen, die sich erst kurz zuvor zur Flucht aufgerafft und ihre Pferde vor die Fuhrwerke gespannt haben! Wehe den Soldaten der Roten Armee, jungen Burschen mit exotischen Gesichtern, die auf ihren Panzern hocken und die Läufe ihrer Maschinengewehre wie zum Gebet erhoben halten. Schusssalven krachen. Menschen brüllen. Bomber dröhnen. Panzer gehen in Flammen auf. Der liebe Gott versteckt sich hinter einer Rauchwolke. Ja.

Aus den Panzern kullert ein Verletzter nach dem anderen. Doch die Riesenraupen kriechen unbeirrt weiter, wie Roboter. Soldaty wpieriod! Vorwärts, Kameraden! Die Jungs sterben wie die Fliegen, drängen dennoch unermüdlich vorwärts, nach Berlin, für das Vaterland, für Stalin, za rodinu, za Stalina, sie wissen längst selbst nicht mehr, wofür. Pechschwarz von Staub und Dreck, mit Ölfässern an Bord, halb bewusstlos vom Alkohol, benommen wie im Drogenrausch, in Trance, in einem miesen, dreckigen Traum. Sie fluchen: job, mat, bljad. Scheiße. Die Russen.

Den Pferdewagen von Willis Mutter werden sie in Niechanów, Neudorf bei Gnesen erwischen. Willi wird sich diesen Ortsnamen genau merken. Und dann spielt sich alles wie im Film ab. Der Junge folgt einem Impuls: Weg hier, runter vom überladenen Pferdewagen, von dem gleich nur noch Staub und Asche übrig bleiben werden. Er springt zur Seite, in eine Furche oder einen Graben, wie er das bei der Hitlerjugend gelernt hat. Seine Mutter mit dem kleinen Hans und ihrem Knecht Kowalczyk versuchen auf der anderen Straßenseite ihr Glück. Willi sieht es wie auf einer Leinwand, im Zeitlupentempo: Wie die drei auf die andere Seite springen, hinter einem Sandhaufen kauern und dem Tod ins Auge sehen.

Plötzlich klatscht etwas Braunes, Großes und Schweres auf Willi herunter, irgendein riesiges Stück Fleisch, eine absurd schwere Decke, ein monströser Fladen. Es erschlägt ihn fast, erdrückt ihn, es wird feucht und dunkel. Willi bekommt keine Luft mehr. Doch dann umhüllt ihn auf einmal bei fünfundzwanzig Grad Kälte eine behagliche und wohltuende Wärme.

Jahrzehnte später wird ihn Zuzanna fragen: Papi, erzählst du mir, wie das war?

Wunderwaffe

Heute

Ach, Papi.

Zuzanna schließt die Augen und öffnet den Laptop, diesen Zauberkasten, ihren Hexenkessel, den sie mit edlen Zutaten füttert. Das Rezept ist einfach: Alles, was ihr auf der Seele liegt, in einen Topf werfen, umrühren, sich bekreuzigen, drei Mal spucken und dann mal schauen, was für ein Trank dabei herauskommt und ob er die Kraft hat, jemanden zu heilen oder wenigstens zur Ruhe zu bringen.

Als eine der Ersten in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis hatte sie in den 90ern die Vorzüge eines Laptops entdeckt. Hach, wie sie damals ihren Stettiner Bekannten imponierte, was die für Augen gemacht haben. Dieses Wunder hatte sie zum ersten Mal bei Freunden in Berlin gesehen und wusste gleich, dass sie auch so etwas haben muss, obwohl ihr alle davon abrieten. Der Bildschirm sei zu mickrig, die Tastatur mikroskopisch klein, sodass sie sich die Augen verderben, die Finger brechen würde und so weiter und so fort...

Aber sie hatte da ihre ganz eigene Meinung. Der Laptop wurde sofort zu ihrem besten Freund und Begleiter, und sie tat keinen Schritt mehr ohne ihn. Er ersetzte ihr den Kater, der schon lange nicht mehr lebte, den Hund, den sie immer haben wollte, und den Hamster, der sich – als sie noch klein war – irgendwann aus dem Staub gemacht hatte, plötzlich bei den Nachbarn aufkreuzte und dort für immer verschwand. Sie füttert ihn mit Gedanken, Gefühlen, Ahnungen, die sich zu Buchstaben und Sätzen verdichten. Und irgendwann bekommt sie etwas zurück – einen Text, und wenn sie Glück hat, eine Geschichte, und wenn sie ganz viel Glück hat, einen Sinn.

*

Gut, also los geht´s, dawaj, dawaj, come on, lasst uns beginnen.

Zuzanna schließt die Augen und öffnet den Laptop.

*

Noch bevor sie zu schreiben anfängt, erscheint ihr das Grab ihrer Großmutter, Babcia Krystyna, auf dem Bildschirm.

„Krystyna Kowalczyk, geboren im Jahr Soundso, gestorben im Jahr Soundso, möge sie in Frieden ruhen“, steht in goldenen Lettern auf einem schw arzen, schlichten Grabstein auf dem Zentralfriedhof von Stettin geschrieben. Sonst nichts. Nicht einmal der Geburtsname? Warum fehlt er hier eigentlich?

Zuzanna sieht sich als junges Mädchen auf dem Friedhof. Sie weiß nicht so recht, was sie am Grab machen soll, stellt sich erst mal etwas unbeholfen an. Dann fällt es ihr wieder ein, sie bekreuzigt sich und setzt zum Gebet an: OHerr, gib ihr und allen Verstorbenen die ewige Ruhe. Und das ewige Licht leuchte ihr. Lass sie ruhen in Frieden. Amen. Und das alles dreimal. Und damit das Gebet nicht ganz so dürftig daherkommt, fügt sie noch das Vaterunser, Gegrüßet seist Du Maria, voll der Gnade, und Heiliger Schutzengel (aber nicht mein, sondern Omas) hinzu. Denn auch im Himmel kann ein Schutzengel nicht schaden.

Sie nimmt eine Gießkanne und schlurft Schritt für Schritt zum Brunnen, um Wasser zu holen und die Blumen zu gießen.

Die letzten Worte der Großmutter flammen wieder in ihr auf: „Danke für das Gemüse, herzlichen Dank.“ Und dann sieht sie noch den Teller mit den kugelrunden Fleischklößchen, bei deren Zubereitung Babcia Krystyna der Tod ereilte.

Babcia starb zu früh und konnte Zuzanna nicht allzu viel erzählen. Genau genommen, gar nichts. Sie hatte es gerade noch geschafft, sie ein wenig auf den Knien zu schaukeln, mit gefüllten Doppelkeksen zu füttern und in der Zinkwanne plantschen zu lassen. Zuzanna wiederum schaffte es noch, ihre Kartoffel-Krautwickel zu kosten, die es nur in Galizien gibt, ihre grauen, zu einem Dutt gebundenen Haare zu streicheln und die tiefen Stoßseufzer aufzusaugen, die sich zusammen mit einer bodenlosen Traurigkeit auch in ihre eigene Seele eingegraben haben. In Wahrheit hieß Krystyna Kowalczyk früher ganz anders.

Zuzanna erfuhr davon erst viel später.

Eins, zwei, drei

60er Jahre und heute

„Papi, woher kommt eigentlich dein komischer Nachname?“, fragte immer wieder Zuzanna, bohrte zuweilen Edek. „Meine Güte! Was ihr immer für Fragen stellt, woher wohl!“ Willi zuckte mit den Achseln. „Ganz normal, von irgendwelchen Vorfahren, aber Leute, wann war das schon! Womöglich waren einige meiner Vorfahren Österreicher, was weiß denn ich? Lasst mich in Ruhe, und ab an die Hausaufgaben! Und wenn wir schon beim Thema Aufgaben sind, wer ist heute eigentlich dran, den Müll rauszubringen?“

Selbstverständlich niemand. Und der kleine Edek schon mal gar nicht, das war klar.

Aber Zuzanna gab keine Ruhe und forschte hartnäckig weiter: „Papi, woher kannst du denn Deutsch?“

„Himmelherrgott nochmal, was du immer für Fragen stellst, woher wohl! Ich hatte es in der Schule.“

„Aber ich, Papi“, Zuzanna stampfte mit dem Fuß auf, „ich werde dieses germanische Gebelle niemals lernen, Halt und Hände hoch!“

Und als Willi einmal unvorsichtig die Möglichkeit einer Auswanderung in die Bundesrepublik in Erwägung zog, brüllte die Dreizehnjährige derart los, dass die dünnen Wände der winzigen Küche ihrer sozialistischen Dreiraumwohnung erbebten. „Ohne mich! Das könnt ihr, verdammt nochmal, ohne mich machen! Fahrt doch alleine! Ich gehe nirgendwo hin! Ich hasse dieses Kauderwelsch! Ich bleibe hier, hier ist meine Heimat. Zu den Nazis gehe ich NIEMALS. Das könnt ihr echt vergessen.“

*

Soso.

Willi, später Waldek, der eigentlich Bauer und Zimmermann wie sein Vater und Großvater hätte werden, Hilda oder Susanne Bischoff, Börstler oder Koch heiraten und seinen Sohn auf den Namen Heinrich oder Rudolf taufen lassen sollen, blieb im sozialistischen Volkspolen hängen, heiratete die hübsche Basia und nannte seine Kinder Zuzanna und Edek. Schnell erklomm er die Stufen der militärischen Karriereleiter. Es fehlte nicht viel, und er wäre Major oder sogar General geworden – wenn die Vergangenheit seine Pläne nicht durchkreuzt, wenn sich das Verdrängte und Vergessene nicht eines Tages gewaltsam an die Oberfläche gedrängt und ihn unwiderruflich, wenn auch schweren Herzens, zur Rückgabe seiner mit vier Sternen auf den Schulterstücken geschmückten Hauptmannsuniform der polnischen Volksarmee gezwungen hätte. Bis dahin wurde die Uniform sorgfältig in den Untiefen des weiß gestrichenen Einbauschranks in der Nische im Flur aufbewahrt, in den sich sein Töchterchen ab und zu heimlich und verstohlen hineinschlich, wobei die Türen verräterisch quietschten.

*

Waldek tat es ein wenig weh, derartige Sprüche von seiner Tochter zu hören: Ich gehe niemals zu den Nazis, zu den Deutschen.

Denn früher ‒ als Waldek noch Willi hieß ‒ war er selbst mal so etwas wie ein Deutscher gewesen. Falls es so etwas wie einen Deutschen überhaupt gibt.

Inzwischen weiß Waldek nicht mehr, ob er Deutscher oder Pole ist. Im Grunde könnte man ihn für einen Polen halten, wäre da nicht der Umstand, dass sein Herz bei Fußballspielen zwischen Deutschland und Polen unwillkürlich stärker für die Deutschen schlägt und Waldek unruhig in seinem ausgedienten, von langen nächtlichen Fernsehsitzungen beanspruchten Lieblingssessel zu zappeln anfängt.

In seinem langen Leben war Waldek notgedrungen mal das eine, mal das andere. Er wechselte die Haut, zuerst um sich durchzukämpfen, um Schlägen und Tritten oder gar dem Tod zu entgehen, und später, um etwas zu erreichen, Rang und Ansehen zu erlangen und die Familie durchzubringen.

„Ach woher denn, die Haut gewechselt“, widerspricht er und zuckt mit den Achseln. „Ich war eigentlich immer derselbe.“

Was auch immer das bedeuten mag.

Er war ein Kind, als der Krieg ausbrach, als Flugzeuge der deutschen Luftwaffe über der Kolonie Steinfels kreisten und es hell wurde wie am Tag des Jüngsten Gerichts. Er war noch keine neun Jahre alt. Aufmerksam beobachtete er die Erwachsenen und alles, was um ihn herum geschah. Er war ein aufgeweckter Junge, ein ganz schlauer.

Ja. Die kleine Zuzanna bewahrte die Sternchen von den Schulterstücken ihres Vaters in einer Streichholzschachtel auf. Von Zeit zu Zeit kontrollierte sie, ob noch alle drin waren, zählte sie immer wieder durch: Raz, dwa, trzy, cztery. Auf Deutsch konnte sie nicht zählen. Höchstens bis drei – das hatte sie auf dem Hof gelernt: „Eins, zwei, drei wypieprzaj“. Ins Deutsche übersetzt hieß das „eins, zwei drei, verpiss dich dabei“. Das reimte sich so schön! Und noch etwas konnte sie sagen: „Guten Morgen, butem wmordę“, was so viel bedeutete, wie „Guten Morgen, Schuh aufs Maul und keine Sorgen.“

Kolonie Steinfels

1783–1939

Steinfels in der Nähe von Bandrow.

Als eines Tages, an einem wunderschönen Sommernachmittag in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein gewisser Otto Mack aus Lemberg, Mitglied des deutschen Nationalrats, hier zu Besuch eintraf, soll er vor Entzücken ausgerufen haben: „Das ist der schönste Platz auf Erden, mit Wasser, Wäldern und Sonne, ein wahrer Kurort!“

Von diesem wunderschönen Fleckchen Erde, aus einem kleinen Dorf in Bieszczady, den Waldkarpaten, von dem kein Stein übrig geblieben ist, kommt eigentlich Papi her, also Tatuś, lies Tatusch. Die wenigen Spuren von Steinfels, die es noch gibt, verlieren sich im Niemandsland, dicht am Grenzstreifen zwischen Polen und der Ukraine. Hüfthoch wächst dort mittlerweile das Gras. Vielmehr Unkraut. Willi wurde also im Auenland der Hobbits geboren, das sich malerisch entlang eines reißenden Baches erstreckte. Der Stebnik rauschte lebhaft in den Fluss Strywihor, und mit ihm weiter bis zum Dnister Richtung Osten. Es war ein sonderbares Dorf und zudem an einem ungewöhnlichen Ort gelegen, sehr weit weg von dem Balkon, auf dem Zuzanna gerade energisch Buchstaben in die abgenutzte Tastatur hämmert, als ob sie das Schuldgefühl übertönen wollte, Zeit für solch einen Humbug wie Romane-Schreiben zu vergeuden, anstatt endlich ordentlich Kohle zu machen. Vor ihren Augen verdichten sich die Schriftzeichen in Windeseile, brausen wie Meeresfluten auf, werden zu Feuersäulen, meterhohen Türmen, um sich dann wieder zu beruhigen, zu ordnen, in Absätze zu formatieren und zu einem Bild zusammenzufügen.

Unweit des unberührten Hochwaldes, in einem stillen Tal mit Blick auf die reich mit Laub- und Nadelbäumen bewachsenen Hänge, flossen die Bäche Nanówka und Królówka schwungvoll plätschernd in den Stebnik. So stellt Zuzanna sich das vor. Wie ein Heiligenbild. So schildern es die Galiziendeutschen in ihren Memoiren. Eine regelrechte Idylle, sagen sie, auch wenn sie sich ein bisschen für dieses Wort schämen. Herrje, und wie viele Forellen, Krebse und einzigartige Fische dort herumtollten. Sogar Gründlinge kamen hin und wieder mal vor.

Ein buntes Schachbrett aus Feldern mit Getreide jeglicher Art. Direkt daneben das ukrainische Dorf Stebnik, von wo aus herzzerreißende Lieder bis nach Steinfels drangen. Ach, Stebnik und die Ukrainerinnen in ihren weiten, bunten Röcken, unter denen sich die ganze Welt verkriechen konnte ...

Das waren noch Zeiten!

Heute haben dort vor allem Kühe und Pferde einen Kurort – das geht jedenfalls aus den Reiseführern hervor. Zuzanna hat die Gegend noch nie gesehen. Bis jetzt hat sie sich in ihrem Leben mit ganz anderen Sachen beschäftigt.

*

Denn wir beschäftigen uns im Leben meist mit anderen Sachen.

Sie weiß nicht, ob sie die Trägheit überwinden wird, um irgendwann dort hinzufahren.

Eigentlich ist sie inzwischen alt genug, um nur das zu tun, was wichtig ist. „Tu, was nötig ist. Und nichts anderes!”, las sie letztens in einem Buch und fand das ganz treffend.

Doch etwas richtig zu finden und etwas zu tun, sind zwei Paar Stiefel.

*

Willi ist keineswegs in Westpolen geboren, d.h. in den deutschen Ostgebieten, die nach dem Krieg der Republik Polen gewissermaßen als Entschädigung für verlorene Landstriche im fernen Osten zugesprochen wurden. Er ist weder in Danzig noch in Stettin geboren, auch nicht in Breslau. Dass er Deutscher ist, steht jedoch außer Zweifel. Die Nazis haben das gewissenhaft untersucht, und die Bundesrepublik glaubt ihnen aufs Wort, denn wer hätte das gründlicher erledigen können? Sie vermaßen 1940 den Umfang seines Schädels, untersuchten eingehend die Form seiner Nase, nahmen seine Herkunft und Rassenzugehörigkeit genau unter die Lupe, bestätigten amtlich sein Volksdeutschtum und stellten ihm ein entsprechendes Einbürgerungsdokument aus, auf dessen Grundlage seine Kinder Zuzanna und Edek Jahrzehnte später den Status deutscher Spätaussiedler bekommen sollten – die Eintrittskarte ins Paradies, das Sonderangebot ihres Lebens! Heute werden sie von Erika Steinbach, einer schicken, vorbildlichen Blondine und dem Schrecken manch polnischer Patrioten, zur Gemeinschaft deutscher Vertriebener gezählt und treiben deren Zahl in die Höhe. Aber vertrieben hat sie eigentlich niemand. Jedenfalls nicht, dass sie es wüssten.

Und blond sind die beiden Geschwister schon mal gar nicht!

Willi ist also nicht in Deutschland geboren, und seine Nächsten hielten von den sogenannten Reichsdeutschen nicht allzu viel. Er erblickte im mythischen Galizien das Licht der Welt, an einem Ort, an den 1783 seine Ahnen aus dem Rheinland mit einigen Dutzend Fuhrwerken angerollt kamen, auf der Suche nach Speis und Trank. Deutsche Siedler. Es war vor allem der Hunger, der sie in dieses ferne Land trieb. Aber auch der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, seine Majestät Joseph der Zweite, lockte sie dorthin, indem er ihnen Steuervergünstigungen und allerlei Erleichterungen und Vorteile, quasi das Blaue vom Himmel versprach. Es waren ihrer zwölf. Zwölf Siedler, die sich als Erste in den Osten trauten, wie die zwölf Apostel eines unbekannten Gottes. Unter anderem Emmel, Götz und Börstler. In der neuen Heimat blühte ihnen zunächst einmal harte Arbeit. Der Schweiß lief in Strömen, der Wald musste gerodet, der Natur Platz zum Leben und Beackern abgerungen werden. Altes musste weichen, damit Neues entstehen konnte. So jedenfalls die Legende.

Später kamen dann noch Helbig, Bischoff, Wolf, Volz und Keller aus dem angrenzenden Makowa dazu und heirateten nach Steinfels ein, denn Haus und Hof wurden hier den Töchtern vererbt. Die Söhne lernten dafür ein Handwerk, einen Beruf ‒ denn ein „Handwerk hat goldenen Boden“ und von der Landwirtschaft allein konnte man hier nicht leben. Die ganze Aktion nennt sich »Josephinische Kolonisation«.

Polen verschwand damals schrittweise von der Landkarte, und ab 1795 hörte der polnische Staat auf zu existieren. Er wurde bereitwillig unter Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt und führte von nun an ein Schatten-Dasein, war ein kollektiver Kraftakt, eine Vision, ein Phantom, das Opfer forderte, ein permanentes Stechen in den Herzen. Teile des heutigen Polens und der Ukraine fielen der Habsburger Monarchie zu und wurden zum östlichsten und größten Kronland, zum Königreich Galizien und Lodomerien zusammengefasst. Die Siedler kamen vorwiegend aus Süddeutschland und stammten in der Regel aus ärmeren Bauernfamilien, die in ihrer Heimat keine Zukunft sahen. Sie vertrauten Joseph II., wanderten nach Galizien aus, gründeten dort, sofern sie sich nicht aus Verzweiflung umbrachten oder kehrtmachten, Reihendörfer, siedelten dicht beieinander als deutschsprachige Gemeinschaften und wurden so zu Galiziendeutschen.

Sie gelobten, ihr geliebtes deutsches Vaterland niemals zu vergessen und die Traditionen und Gebräuche ihrer Väter für immer und ewig hochzuhalten.

Diese hielten sie noch höher, als 150 Jahre später noch aus der Ferne, aber längst überdeutlich das Echo der Nazipropaganda ihre Dörfer erreichte, die an ihre urdeutschen glorreichen Eigenschaften appellierte:Ordnungsliebe, Ehrlichkeit und Fleiß. Eigenschaften, die sie mit Stolz erfüllten.

Willis Vorfahren – Bauern, Zimmermänner und Bierbrauer – brachten also ihre Fuhrwerke nach wochenlanger und beschwerlicher Wanderung irgendwo im Südosten des heutigen Polens zum Stehen; von Stettin aus einmal quer runter, siebzig Kilometer von Lemberg und fünfzig Kilometer von Drohobycz entfernt, östlich von Ustrzyki Dolne, südlich von Krościenko, gerade noch wenige Kilometer von der heutigen Grenze zur Ukraine, vielleicht sogar direkt auf der Grenzlinie. Brrrrrr! Sie hielten ihre Pferdewagen im schönsten Schlupfwinkel der Welt an, in der sogenannten Heimat. Da, wo heute nicht einmal eine Grabplatte von ihnen existiert. Na ja, vielleicht bis auf ein paar wenige. Wo nicht einmal Hunde jaulen. Ihre sterblichen Überreste, niemandem nütze, verschmelzen mit der Erde, unweit von den Gebeinen der dort später erschossenen Juden.

Die Kolonisten erbauten eine Siedlung nach dem Vorbild deutscher Waldhufendörfer. Zur einen Seite der Straße, an einem leichten Hang, hinter Holzhäuschen mit Ziegel gedeckten Dächern hatte jeder einen Garten, der als Weide diente. Auf der anderen Seite der Straße befand sich ein zweiter Garten. Eine Kette nahezu identischer Häuser krümmte sich in der Mitte des Dorfes zu einem rechten Winkel und durchzog unbekümmert die Landschaft.

Seit jener Zeit rollten mehrfach Armutswellen über das Land, Missernten, Kriegsfronten, alles Mögliche. Heute ist es dort ganz still. Nur ab und zu hält hier für ein paar Stunden irgendein Reisebus aus der Gegend von Wolfsburg und schüttet eine Gruppe sehr alter, sehr sauberer und hell gekleideter Deutscher aus, Mitglieder des Vereins der Galiziendeutschen.

Sie behaupten zumindest, dass sie dort irgendwo schon einmal waren.

Gut möglich.

*

Bis dato wurde Willi jedoch nicht unter ihnen gesichtet. Er würde da schon gern einmal hinfahren, aber so gern, dass er es in die Tat umsetzen würde, dann auch wieder nicht. Würde ihn jemand in ein Auto stecken und hin kutschieren, hätte er sicherlich keine Einwände. Aber auf eigene Faust? Das macht er nicht, denn dazu fehlt es ihm an der nötigen Entschlossenheit. Außerdem ist er nicht mehr der Jüngste, obwohl er stolz und nachdrücklich unterstreicht, dass er noch keinen Gehstock braucht und auch nicht die Absicht hat, einen solchen in absehbarer Zeit einzusetzen. Im Garten klettert er notfalls sogar noch selbst auf Bäume, wenn diese beschnitten werden müssen. Da erwartet er keine Hilfe, weder von den Kindern noch vom Schwiegersohn, der ihn ohnehin nie von sich überzeugen konnte. Sein ganzes Leben lang ist Willi allein zurechtgekommen – mit Demütigungen und Gewalt. Er strebte vorwärts, kletterte die Stufen der Karriereleiter empor, der einzig möglichen, die ihm die Volksrepublik Polen anzubieten hatte, das Land, wohin es ihn unter der Maske eines Polen, die fest mit seinem Gesicht verwachsen war, verschlagen hatte.

„Das war gar keine Maske! Ich habe mich schon damals als Pole gefühlt. Ich habe gar nicht groß über meine Abstammung nachgedacht. Ich bin doch in Polen geboren. Das ist doch alles Quatsch mit Soße.“

Na gut, belassen wir es dabei.

Denn was bedeutet eigentlich Deutscher? Was bedeutet Pole? Was bedeutet deutsches Blut? Kann mir das bitteschön mal jemand erklären?

Als Jugendlicher überstand er die schmachvolle Niederlage Deutschlands, den missglückten Fluchtversuch ins Deutsche Reich, die Verschleppung zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, Schläge und Erniedrigungen, und später dann den Wiederaufbau des in Trümmern liegenden Landes, die Minenräumung, die er unter Lebensgefahr auf den Gebieten des befreiten Polens durchführte, damit die nachfolgenden Generationen ohne Angst auf dieser Erde wandeln können. Er sah haarsträubende Unfälle, abgerissene Beine, zerfetzte Körper und abgetrennte Nasen, die man dem Verletzten ins Gesicht pressen und ihn dann zügig ins Krankenhaus befördern musste. Für seine vorbildlichen sportlichen Verdienste als Gewichtheber und die militärischen als Pontonier des Pionierbataillons wurde er mit unzähligen Medaillen ausgezeichnet, obendrein mit dem Goldenen Verdienstkreuz und dem Ritterkreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens. Letztere Dekoration sollte ihm fünfundzwanzig Prozent zusätzlich zur Rente sichern, aber wie es das Schicksal wollte, kam es nicht dazu. Systemwechsel. Pech gehabt. Dumm gelaufen.

Er überstand es, dass seine Heldentaten nunmehr vergebliche Liebesmüh waren ‒ alles für die Katz ‒ und es sogar eher angebracht war, darüber zu schweigen.

Nichts kann ihn mehr verwundern, überraschen. Willi ist abgehärtet und diese Härte fordert er ebenso den Anderen ab. Jammern bringt nichts. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Es gibt keinen Grund, morgens stundenlang im Badezimmer Wurzeln zu schlagen – insbesondere als Mann. Und schon gar nicht, sich exzessiv mit irgendwelchen Düften einzunebeln. Zack, zack und die Sache ist erledigt! Ein Mann sollte schnell, gewandt und zielgerichtet sein. Er sollte sich keine langen Haare wachsen lassen, keine Hosen tragen, die in den Kniekehlen hängen und auch keine Kapuze über den Kopf ziehen, wie ein Henker vor der Exekution. Nein, so etwas sollte ein Mann nicht tun ... die Liste ist lang.

Zum Glück ist Zuzanna kein Mann.

Obwohl sie einer hätte werden sollen! Das Schicksal spielte jedoch Willi in alter Gewohnheit einen Streich. Es sparte nicht mit beklagenswerten Überraschungen.

Willi verlor seinen Vater sehr früh, vielleicht wünschte er sich deshalb so sehnlichst einen Sohn.

Einen Vater suchte er sein ganzes Leben lang. Er suchte ihn in Männervereinen, dort, wo er sich immer wieder die Anerkennung der höchsten Autoritäten erkämpfen konnte. Er war der Beste, der Ehrgeizigste, immer der Erste. Überall die Nummer Eins, der Primus unter den Primussen. In der polnischen Volksarmee hob er sich in kürzester Zeit stark vom Durchschnitt ab. Man kann durchaus sagen, dass er glänzte. Wenn da nur nicht seine Vergangenheit wäre, die ihn immer wieder einholte, die Tränen der Mutter, das bedenkliche Schicksal des Bruders, der alarmierende Familienname … – dann hätte er heute die Rente eines Generals.

Vielleicht.

Es hätte aber auch ganz anders enden können.

Karawane

Die Osterhasen aus Pasewalk sitzen schon seit Jahren auf Willis Regalen, das Verfallsdatum ist längst überschritten. Er entfernt sie nur vorübergehend, während der Weihnachtszeit, ersetzt sie aber nicht durch Weihnachtsmänner. Diese hauen ihn nämlich nicht vom Hocker.

*

30er Jahre

Johann, Willis Vater, war Bauer, so wie alle anderen auch, obwohl die Familie nur wenig Ackerland besaß, gerade mal vier Hektar, nahe eines abgeschiedenen Waldstücks – Kartoffeln, Roggen und etwas Weizen. Außerdem noch Gemüse im Garten. Zum Beackern und Pflügen des Bodens und zur Aussaat borgte er sich jedes Mal ein Pferd von den vermögenderen Nachbarn. Die Kellers hatten nur drei Kühe und ein Kalb. Aber eben kein Pferd. Johann oder Hannjekopp, wie man ihn in Steinfels nannte, war auch Zimmermann und Spengler. Er wurde von seinem Vater, ebenfalls einem Johann, angelernt. Beide fertigten Räder für Pferdewagen an – runde Holzräder, die später auf den Wegen Galiziens rollten und dort tiefe Furchen hinterließen. Johann war bettelarm. Dennoch hält Willi unbeirrt daran fest, dass sich sein Vater trotz des ganzen Elends ganz gut zu helfen wusste.

Er verdiente sich etwas dazu, wo und wann immer er nur konnte.

Nächtelang stand er sowohl auf dem eigenen als auch auf den Feldern der Nachbarn Wache und beschützte sie vor Wildschweinen. Wer es sich leisten konnte, sicherte seine Felder mit Stacheldrahtzäunen oder Wassergräben. Johann gehörte allerdings nicht dazu. Deshalb wachte er abwechselnd mit den anderen ärmeren Dorfbewohnern zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter über die Felder. Stundenlang patrouillierte er wie ein Automat entlang des Streifens zwischen Feld und Wald. Denn so war sie ‒ die Welt.

Und niemand fragte, warum.

Oder er kauerte sich in der erbarmungslosen Dunkelheit der Nacht in einer Holzhütte zusammen, die ihn vor Wind und Regen schützen sollte. Wann immer er ein Geräusch hörte, sprang er heraus ‒ wie der Kuckuck aus der Kuckucksuhr.

Kuckuck!

Die Wölfe kamen selten dicht heran, und wenn doch, dann galt ihr Interesse eher dem Vieh als den Menschen. Das heißt, wenn das Vieh in Reichweite war. Häufiger als mit Wölfen hatte man es allerdings mit Wildschweinen zu tun. Es galt, sie von den Kartoffeln fern zu halten. Ohne Kartoffeln, die in Steinfels Krumpel hießen, hätte hier keiner überlebt. Das war die Existenzgrundlage. Mit etwas Phantasie, Kohl und Waldpilzen ließen sich aus ihnen viele deftige Speisen zaubern, an die sich Willi wehmütig erinnert. Einige Gerichte bereitet er sogar heute noch zu. Vor allem Heiligabend. Für die Alltagsküche ist (natürlich!) Basia zuständig.

Er macht aber dafür den Abwasch – immerhin.

Zur Suppe aus getrockneten Steinpilzen, einer tiefbraunen, klaren, kräftigen und säuerlichen Essenz, serviert Willi einmal im Jahr Krautrouladen aus Kartoffeln, die in Kohlblätter gewickelt werden – die Holobtjer. Dafür wird nur ein kleiner Teil der Kartoffeln gekocht, der größere Teil bleibt vorerst roh. Im Idealfall sollten die Kohlblätter vorher eingelegt sein, so wie es in Steinfels Sitte war. Zuzanna ist sich ganz sicher – es gibt nichts Köstlicheres auf der Welt. „In Steinfels“, erzählt Willi, „haben wir ganze Kohlköpfe in Fässern eingelegt. Einen Teil der Kohlköpfe schnitt Mutter jedoch klein, und dann stampften wir mit bloßen Füßen das geschnittene Kraut in den Fässern. Aus den eingelegten Blättern wickelte Mutter irgendwann Rouladen. Aber das war einmal. Heute ist alles anders. Wer legt denn heute noch ganze Kohlköpfe ein?“ Willi hatte mal einen Versuch gewagt, aber wohin mit einem Fass in einer sozialistischen Miniwohnung? Wie hätte man das bewerkstelligen sollen? Völlig unpraktikabel! Wie sollte man jene andere Welt in eine Behausung in der dritten Etage eines Plattenbaus, die offensichtlich für Zwerge konstruiert war, zwängen? Und selbst heute. Etwa in dieses kompakte Reihenhäuschen in der Stettiner Vorstadt, neben dem Einkaufszentrum »Real«? Also vermengt er heute die kochenden Kohlrouladen mit gekauftem Sauerkraut, wodurch sie etwas Säure aufnehmen. Tomatenmark ist dabei auch ganz hilfreich. Es sollte nicht vergessen werden!

Mit einem Wihajster (eine polnische Sprachschöpfung, die dem deutschen „Wie-heißt-er“ entlehnt ist), so einem speziellen Dingsbums eben, aus Holz, machte Johann einen Heidenlärm, um die Horde anrückender Wildschweine zu verscheuchen.

Ein Wolf, in Steinfels de Grimme genannt, hat sich nur ein einziges Mal an ihn herangepirscht, als Johann sich auf den Heimweg machen wollte, an sein warmes Bett dachte und davon träumte, sich wenigstens für einen kurzen Augenblick neben die warme Christina ‒ seine Chrischtje ‒ zu legen, unter die Bettdecke aus Gänsefedern zu kriechen und in einen tiefen Schlaf zu fallen. Er stieß die Tür des Wachhäuschens auf, wo das arme Tier bereits auf ihn und sein Schicksal wartete, ihn mit traurigen Augen fixierte.

Das war Johanns große Stunde, obwohl sie nur einen Moment dauerte. Er spürte eine übernatürliche Kraft in sich, die wie aus dem Nichts kam. Als würde jemand just in dieser Sekunde für ihn beten, als würde jemand stärkend hinter seinem Rücken stehen.

Und siehe da. Nach einem kurzen Kampf drückte er mit einer entschlossenen Bewegung dem Wolf mit der Tür die Luft ab. Auf diese Weise verlängerte er ein wenig sein eigenes Leben, dessen Tage sowieso schon gezählt waren. Die Zeitbombe tickte schon.

Diese Geschichte erzählte Hannjekopp seinen kleinen Söhnen wieder und wieder. Willi malte sich mit Vorliebe aus, wie sein Vater den Wolf an der Kehle packt und mit ihm bis in die frühen Morgenstunden ringt, egal, ob diese Episode stimmte, oder nicht. Sein Vater hatte doch vor nichts und niemandem Angst. Willi war ebenfalls kein Angsthase, aber vor Wölfen, großen Hunden und dem Kartoffeldieb, der mit einem scharfspitzigen Stab bewaffnet sein Unwesen im Dorf trieb, hatte er dann doch etwas Respekt. Wozu er sich aber vor dem älteren Bruder niemals bekennen würde. „Und vor dem Vetter Börstler schon mal gar nicht!“, wirft Basia beiläufig ein und kann sich ein schelmisches Schmunzeln nicht verkneifen.

Nie im Leben!

*

In einer anderen Nacht wurde Johann von einem weiteren Gast heimgesucht. Ein Hirsch war mit seinem Geweih in der Umzäunung, die den Acker vom Wald trennte, stecken geblieben – eine edle Beute, fast zu schade zum Töten, aber man hatte keine Wahl. Vogel, friss oder stirb. Johann betäubte ihn und tat, was getan werden musste. Lange dachten sie an dieses Festmahl zurück, das ihnen de Hersch beschert hatte, an das Wildfleisch, das sie räucherten, damit es länger haltbar blieb. Fleisch aßen sie sonst nur alle Jubeljahre – ein Stückchen Huhn oder Kalbsfleisch aus eigener Schlachtung. Manchmal auch ein gepökeltes oder gut geräuchertes Schweinchen. „Man konnte davon lange zehren“, schwärmt Willi. „Man belegte das Brot mit hauchdünnen Scheiben, und das auch nur an Sonn- und Feiertagen.“ Immerhin hatte er im sozialistischen Polen trotz Mangelwirtschaft deutlich mehr Fleisch gegessen. Er kannte einen guten Lieferanten in der nahegelegen Kleinstadt Gryfino, der ihm das Fleisch beschaffte – natürlich ganz legal, auf Lebensmittelkarten, aber ohne, dass Willi oder vielmehr Basia dafür stundenlang anstehen mussten. Die Länge der Warteschlangen brach damals bekanntlich alle Rekorde. Dieses Fleisch hatte Willi immer sehr geschätzt. Auch Wurst schnitt er in feine Scheibchen, er ergötzte sich an ihr. Was auch immer es war, er duldete keine Verschwendung. Dennoch hatte Willi die Angewohnheit, schnell zu essen, hastig zu schlingen, als ob man ihm die Beute sofort wieder entreißen wollte. Hektisch kippte er heiße Gurken-, Tomaten- und Rote-Beete-Suppen in sich hinein, verbrühte sich damit den Hals und die Speiseröhre, verdarb sich den Magen. Und trotzdem war er niemals richtig satt.

Und die Kinder … Sie sollten stark und gesund sein. Deshalb zwang Willi täglich jeweils einen Löffel Lebertran und ein Glas heißer Milch in sie hinein, das Zuzanna in Windeseile leerte und sich dabei die Zunge und den gesamten Magen-Darm-Trakt verbrühte. Und das nur, damit sich auf der Milch keine schrumpelige Haut, diese ekelige Schicht aus geronnener, schleimiger Sahne, bilden konnte. Tja, was tut man nicht alles für die Gesundheit … Möge Gott sie vor so einer teuer erkauften Gesundheit bewahren! Mit verbrühten Lippen und Gaumen schüttete und stopfte sie tapfer alles, was man ihr gab, in sich hinein. Ganz anders ihr Brüderchen. „Du isst ja wie ein Spatz. Hör auf, auf deinem Teller herumzupicken!“, drängte Willi den kleinen Edek, der tapfer versuchte, sich der ganzen Prozedur zu entziehen. „Stimmt doch gar nicht. Ich picke überhaupt nicht!“, widersetzte sich der Junge resolut und blickte dabei hilfesuchend zur Mutter. Er hatte keine Lust, sich wie Zuzanna die Zunge zu verbrühen, wofür auch. Und auch beileibe nicht die Absicht, dem vorbildlichen Verhalten seiner Schwester zu folgen, die alles in sich hinein schaufelte, nur weil es dem Vater gefiel. Schließlich war er kein Schwein. Ja, genau! Schluss, Punkt, Finito.

Prost! Auf die Gesundheit!

*

Eine richtig fiese Krankheit – so eine Lungenentzündung.

Am Ende bekam Johann die Quittung für seine nächtlichen Abenteuer, am Ende hat er sich den Tod geholt. Nach den langen Wachschichten in den vielen Nächten, die in jenem Herbst bitterkalt waren, begann er plötzlich Blut und Galle zu spucken. Christina brachte ihn ins Krankenhaus, der Schwiegervater fuhr beide mit seinem Pferdewagen hin. Sieben lange Fahrtkilometer. Da sie Not litten, konnte der Erkrankte jedoch nicht lang genug in Behandlung bleiben. Das Geld ging ihnen aus und so brachten sie ihn nach wenigen Wochen wieder nach Hause. Christina war ohnehin schon beim Doktor verschuldet. Das Krankenhaus stellte weitere Rechnungen, eine Besserung war derweil nicht in Sicht.

Also betteten sie ihn in der winzigen Kammer neben der Küche, damit er dort sein Leben vollenden oder auch wiederauferstehen konnte. Denn Wunder sollte man niemals ausschließen. Die Kammer hatte keine Tür, nur einen Vorhang, hinter dem der Vater in den letzten Zügen lag. In unmittelbarer Nähe dieses Vorhangs musste man auf Zehenspitzen laufen. Wenn die Jungs daran vorbeirannten und sich gegenseitig schubsten, legte die Mutter mit strenger Miene den Finger auf die Lippen. Psst … Kee Laut … Am Ende konnte er sich nicht einmal mehr bewegen. Nach und nach breitete sich die Lähmung über den ganzen Körper aus, bis Johann weder sprechen noch laufen konnte. Er wurde steif wie eine Leiche. Er vermochte nur noch ganz leicht die Hand und die Finger zu rühren, gerade mal so viel, um ein paar Worte auf ein Blatt Papier zu kritzeln. Wie: Wasser. Oder: Auf die andere Seite drehen. Manchmal: Was gibt´s auf dem Acker? Hilft dir jemand? Oder, kurz vor seinem Tod: Zigaretten, Tremmcher.

Daran erinnert sich Willi ganz genau.

Es scheiterte also am Geld. Niemand rettete zu jener Zeit ein Leben um jeden Preis. Niemand war in der Lage, jeden Preis zu bezahlen. Jedenfalls nicht in Steinfels.

Sie waren sich dessen bewusst, wer sie sind und wer sie niemals sein würden, wie viel ihr Leben wert und wo ihr Platz war.

Nur Willi war mit dem ihm zugewiesenen Platz nicht einverstanden. Er wollte sich damit partout nicht anfreunden. Irgendetwas kämpfte in ihm, zerriss ihn innerlich. Als würde es ihm nicht genügen, dass der Pastor ihnen jeden Sonntag ewigen Lohn versprach und dabei nach Spenden äugte, sie sogar von den Ärmsten nahm.

„Tremmcher!“ – wiederholte Christina und zog den Sechsjährigen am Ärmel. „Heersch net? Hol‘ em Tremmcher. Tummel dich, Seeche, laaf, Willi, laaf!“

Sie drückte ihm ein Geldstück in das Händchen. Ein polnisches, denn 1918 befand sich Steinfels auf dem Gebiet des zurückeroberten, wiederauferstandenen Polens, der Zweiten Polnischen Republik. Willi wurde nicht wie seine Großeltern und Eltern in Österreich-Ungarn geboren, sondern in Polen. Trotz der neuen Verwaltung und der Veränderungen kam es kaum einem der Galiziendeutschen in den Sinn, das liebgewonnene Fleckchen Erde zu verlassen. Viel mehr als die Zugehörigkeit zu einem Staat zählte der eigene Grund und Boden ‒ wie wenig es auch war. Die kleine Heimat. Außerdem verjagte sie auch niemand von dort. Sie mussten sich einzig und allein mit der Polonisierung arrangieren, kamen aber offenbar ganz gut damit zurecht. Manchmal half beim Regeln eines Anliegens, wenn es zum Beispiel darum ging, den Siedlern ihre deutsche Schule und ihr evangelisches Pfarramt zu lassen, eine ordentliche Flasche Wodka.

Ja, und Willi rannte los. Flitzte davon.

Flitzzzzz-te davon! Ließ eine riesige Staubwolke und ein paar lautstark kläffende Straßenköter hinter sich. Hier hatte jeder einen Hund, der dem Kartoffeldieb (und natürlich auch anderen Schurken und Ganoven) auflauern und ihn gegebenenfalls in die Flucht schlagen sollte ‒ diesen ewig ausgehungerten Landstreicher, der mit einer Riesenstange die kostbaren Krumpel aus den dunklen Kellern fischte. Für Johann und Christina war jede Kartoffelknolle Gold wert. Wenn also Fin, ihr Wachhund, auch nur anfing Alarm zu schlagen, jagte Christina in die Küche, schnappte sich einen Topf mit kochendem Wasser und kippte es dem Unglücksraben über den Kopf. Zwei Mal hat sie ihn so auf frischer Tat ertappt und mit einer heißen Erfrischung bestraft.

Lauf Willi, lauf. Dieser Lauf ist wichtiger als du denkst.

Willi rannte also mutterseelenallein in der anbrechenden Dunkelheit los. Keine Ahnung, warum die Mutter nicht den älteren Bruder geschickt hatte. „Vielleicht hat er sich einfach herausgeredet, vielleicht hatte er Angst“, spekuliert Basia, „vielleicht war er gerade nicht greifbar gewesen?“

Lauf Junge, lauf. Vier Kilometer durch das ganze Dorf, zum Lädchen von Mendel Wenig, den Willi gut kannte und mochte.

*

Der Tod war in Steinfels keine große Sache, denke ich.

Die Frauen wussten, wie sie mit ihm umzugehen hatten. Sie taten, was getan werden musste, gestatteten sich kein Zögern und kein Zweifeln. Sie unterstützten sich gegenseitig bei den Geburten und beim Herrichten der Verstorbenen für die Bestattung – bei der Waschung, der Totenwache, den Gebeten und Gesängen. An langen Winterabenden rupften sie gemeinsam Gänse für Federdecken, erzählten einander gruselige Geschichten über die Seelen der Toten, die unter ihnen geisterten. Es starben so viele junge Menschen, so viele Kinder, dass man sie gar nicht alle sofort ins Jenseits entlassen und die Tür vor ihnen verriegeln konnte. Es wäre herzlos gewesen. Man musste mit ihnen noch eine Weile zusammenleben. Letztendlich möchte doch jeder, dass später ähnlich mit ihm umgegangen wird ‒ einfühlsam. Und der Tod liegt bekanntlich nicht auf der faulen Haut. Also erlaubte man den Toten, einige Zeit in der warmen Stube unter den Lebenden zu verweilen und ließ sie zwischen den Welten herumgeistern, damit sie sich an das Nichtsein gewöhnen konnten. Die Frauen trösteten und besänftigten die Verstorbenen, überbrachten den Hinterbliebenen Botschaften, zähmten den Tod, boten ihm am Tisch einen Platz und ein leeres Gedeck an.

Die Geschichten, die sich die Frauen erzählten, waren besser als Horrormärchen. Fernseher gab es ja nicht, nur ein einziges Rundfunkgerät im ganzen Dorf. Und wenn wir schon bei technischen Errungenschaften sind ‒ in den zwanziger Jahren wurde in Steinfels auch ein Automobil gesichtet, und das nicht nur einmal! Fast das ganze Dorf war ihm jedes Mal hinterher gejagt, zum Glück nicht mit Heugabeln. Der feine Herr Ingenieur Simon aus Aschersleben in Sachsen, ein Spezialist für Ölförderung (es gab einige Ölquellen in der Umgebung) düste damit ab und zu durchs Dorf. Denn nur er konnte sich so eine Karre leisten. Der Rest hatte, wenn überhaupt, bestenfalls einen Karren.

Nun rannte aber der sechsjährige Papi mit hundert Pferdestärken diesen Weg entlang.

*

Ja, die Hunde... Sie setzten ihm am meisten zu. Bellten sich die Seele aus dem Leib, so wie einige Jahre später Adolfo aus dem Radioempfänger. Sie zerrten an den Hosenbeinen, diese kleinen Teufel, stahlen kostbare Zeit, taten alles, um seine Mission zu vereiteln. Zum Henker mit ihnen. Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter. Und Willi lief weiter, auch wenn ihm angst und bange war, denn er hatte neulich irgendetwas über Tollwut aufgeschnappt und wollte ums Verrecken nicht tollwütig werden und Schaum vor den Mund bekommen. Ein paar Mal wurde er schon von Hunden gebissen, und über Impfungen hätten sich damals sogar die Hühner totgelacht.

Wäre der Vater nicht so krank, würde sich Willi freuen, dass er zum Lädchen des gewitzten Juden laufen darf, obwohl sich die Leute ja alles Mögliche über die Juden erzählten, zum Beispiel, dass sie reich sein würden. Und dass sie Schlitzohren seien, ganz schön gerissen! Willi rannte durch das Dorf und ein Stück durch den Wald. Mit dem Lädchen verband er gute Gefühle. Ab und zu gelang es ihm, sich für ein mitgebrachtes frisches Hühnerei oder für fünfzig polnische Groschen, die die geliebte Großmutter Anne aus ihrer abgrundtiefen, bestickten Schürzentasche für ihn hervorzauberte, ein paar Karamellbonbons, ein Stückchen Schokolade oder eine warme Semmel, ee Bredche, zu kaufen. Zu Hause aßen sie gewöhnlich keine Brötchen. So etwas gab es nicht. Nichts auf der Welt schmeckte Willi so sehr wie ein Brötchen mit Butter, das auf der Zunge zerging. Heute leidet Willi an Diabetes, und mit Butter soll er sparsam sein. Er gönnt sich Diätmargarine ohne Cholesterin, auf Kuchen verzichtet er allerdings nicht. Erst der Kuchen, dann die Tabletten. Man lebt nur einmal.

„Wenn das Doktor Blumenstock hören würde, würde er ihn zur Sau machen!“, gibt Basia ihren Senf dazu.

Willi rannte an den Häusern der Nachbarn vorbei, den Häusern von Wolf, Börstler, Bischoff, Keller und von Volz, von Miketa, Wowczak, Sandak, Mural und Hawerelko, die mit Vornamen Iwan, Nikolai, Michail und Wasyl hießen. Die Vornamen der Frauen ‒ unbekannt. Er ließ die Häuser von Moses Feld, Józef Korzonek und den Nachfahren des Italieners Adam de Grignis hinter sich. Seine Kehle war wie zugeschnürt, sein Brustkorb brannte, erdrückte ihn, lähmte seinen Atem. Er weinte nicht, dachte an Nichts. Sein Vater wollte vor dem Tod noch einmal eine paffen. Den Rauch noch einmal in seiner Lunge spüren. Dem Rauch noch einmal dabei zusehen, wie er sich in der Kammer verflüchtigt. Ja.

*

Wie gut, dass Willi rennt, ja beinahe fliegt.

Ich sehe ihn wie in Zeitlupe vor mir.

Seine unsichtbaren Flügel.

Johann ist gerade mal vierunddreißig Jahre jung. Während Christina schluchzend an seinem Krankenlager unermüdlich das Vaterunser betet, zieht vermutlich vor seinen graugrünen Augen sein ganzes Leben vorbei, die vielen großen und kleinen Momente, die darüber entschieden, wer er war. Fast wie ein biographischer Film. So stelle ich mir das zumindest vor.

Johann sieht den Tanzabend bei den Börstlers. Er bittet die blutjunge, damals fünfzehnjährige und acht Jahre jüngere Christina zu feurigen Rhythmen der ukrainischen Kapelle, die es ordentlich krachen ließ, zum Tanz. Die Steinfelser liebten das Vergnügen. Klar, sie arbeiteten hart, pflegten aber auch freudvolle Rituale, um dem Jahr eine sinnvolle Ordnung zu geben, damit alles seinen Raum und seine Zeit hatte. Später, als erwachsener Mann, war diese Sorglosigkeit und Freude Willi ein wenig abhanden gekommen, um es milde auszudrücken. So auch seinen Nachkommen. Mühsam versuchten sie, die vergessene Kunst des Feierns wiederzubeleben.

Hannjekopp und Chrischtje fanden Gefallen aneinander. Sie kannten sich schon eine Weile. Jeder kannte hier jeden. Die Auswahl war nicht sehr groß, daher fiel die Wahl auch nicht besonders schwer. Schließlich sind wir hier nicht im »KaDeWe« oder bei Wünsch dir was. Es hatte keinen Sinn, allzu lange Ausschau zu halten. Johann kehrte gerade vom Dienst aus der Polnischen Armee zurück, in einer schneidigen Uniform – der beste Moment, um zu heiraten und ein selbstständiges Leben zu beginnen.

*

Die Tochter des Schwarzen Heinrichs gefiel ihm. Sie war fröhlich, heißblütig, wild.

Noch vor dem Tanzabend bei den Börstlers hatte sie ihn beim Osterfest gezielt dafür auserwählt, ihm ein Oschteraj zu schenken, in das sie eigenhändig die Verzierungen eingeritzt hatte. Denn das war in Steinfels Tradition. Dazu spießte man das metallene Endstück eines Schnürsenkels, eine sogenannte Pinke, auf einen Bleistift oder ein Stöckchen und kratzte damit die typischen Muster in die bunt gefärbten Eier. Dieses bescheidene Geschenk des Mädchens für den jungen Mann, der ihr gefiel, war ein diskreter Wink, dass er ihr den Hof machen darf.

Ob Christina so früh heiraten wollte, ist nicht bekannt. Wen interessiert´s? Womöglich hatte sie sogar nichts dagegen, aus dem überfüllten Elternhaus, wo es immer enger wurde, auszubrechen. Selbst für Erinnerungen an die verstorbene Mutter, Karoline, war hier schon seit langer Zeit kein Platz mehr. Christina hatte eine Stiefmutter, fünf leibliche Geschwister und noch viel mehr Stiefbrüder und -schwestern. Im Ganzen waren sie sechzehn Hausgenossen. In der Reihenfolge war sie die Zweitälteste nach Jakob, der dann später, 1945, auf den Straßen von Berlin-Spandau fiel. Ihrem strengen, aufbrausenden Vater, der vor Energie strotzte, hatte man den Spitznamen Schwarzer Heinrich, de schwoarz Hinrich, verpasst – das ganze Dorf zitterte vor ihm. Er hätte sich auch Iwan der Schreckliche nennen können. Wenn nötig, verprügelte er großzügig Jungen wie Mädchen. Der Gerechtigkeit halber. Wenn er in Rage geriet. Wenn er aber betrunken war, konnte er lustig und anschmiegsam wie ein Kater sein. Dann trommelte er alle Kinder zusammen, zählte sie durch, verkündete, dass er sie über alles lieben würde, und hinderte sie vor Rührung daran, zu Bett zu gehen. Einer seiner Söhne wurde später Polizist, ein übereifriger Nazi. Kurz nach dem Krieg starb er dafür einen unschönen Tod. Durch einen Akt polnischer Lynchjustiz.

Die anderen Kinder wurden indes Opfer der Verbrechen, die von den eigenen Anführern an ihnen begangen wurden.

*

Christina war harte Arbeit gewöhnt, sie drückte sich nicht davor. Sie hatte keine Ahnung davon, wie sonst ihr Leben hätte aussehen können. Fast keiner von ihnen hatte jemals Steinfels verlassen. Sie kamen dort zur Welt und starben hier. In der Zwischenzeit taten sie ihre Pflicht. Ihren Kindern gaben sie die Vornamen der Großeltern und Urgroßeltern, der Großmütter und Urgroßmütter – Heinrich, Adam, Johann, Peter, Rudolf, Karl und Wilhelm oder Anna, Christina, Mathilda, Frieda, Susanne, Hilde, Käthe. Auf diese Weise erlangten sie Unsterblichkeit. So gab es immer jemanden, der Heinrich Keller oder Susi Börstler hieß, oder auf den Namen Fin hörte, obwohl das Sterben hier ein Kinderspiel war. Dieser Kreislauf sollte sich eigentlich niemals schließen.

Christina war tüchtig, anständig und gefühlvoll. Und natürlich glaubte sie an Gott. Nebenbei bemerkt, wer würde denn in Steinfels nicht an ihn glauben oder sich wenigstens vormachen, gläubig zu sein. Sie hatte dicke, kräftige Zöpfe, kohlrabenschwarze Augenbrauen, war robust und kräftig, lachte laut, aufrichtig und aus tiefstem Herzen. Sie machte den besten Hefekuchen im ganzen Dorf ‒ in Rekordzeit, zack zack und fertig. Basia war sich darüber im Klaren, dass sie in diesem Punkt ihrer Schwiegermutter niemals das Wasser reichen würde.

Als sie Johann heiratete, war Christina sechzehn oder siebzehn. Eine Zwanzigjährige war in Steinfels eine alte Jungfer. Eine Nachbarin hatte die beiden verkuppelt, und die Eltern, die wichtigsten Entscheidungsträger, feilschten untereinander ihre Interessen aus, wer wie viel Land, wer wie viel polnische Złoty bekommen sollte. Wenn man auf Eltern, Vorfahren, Gott und Nachbarn keine Rücksicht hätte nehmen müssen, hätte so manch Deutscher eine Polin zur Frau genommen, und so manche Deutsche einem Ukrainer das Jawort gegeben. Das wurde jedoch nicht gern gesehen, obwohl, wie Heinrich Wolf in seinen unveröffentlichten Memoiren Steinfels. Ein deutsches Dorf in Galizien betont, wir uns alle gegenseitig mochten und respektierten. Erwartet wurde die Bewahrung der eigenen Kultur und ihrer Eigenart. Das durfte man nicht verspielen. Obwohl Ausnahmen durchaus denkbar waren. Oder vielmehr Ausrutscher, die nicht folgenlos blieben und meist sorgfältig verhüllt wurden. Es lebten ja dort nicht ausschließlich blonde Zeitgenossen mit arischen Gesichtszügen.

Aber das ist nicht unser Thema.

Könnte der Schwarze Heinrich nicht die Frucht eines Fehltritts sein? Neben polnischen und ukrainischen lebten in der Gegend auch jüdische Familien, und sogar eine italienische – Nachkommen des wohlbekannten Adam de Grignis. Meist suchte man sich jedoch einen Landsmann, jemand aus den eigenen Reihen oder wenn überhaupt, dann aus dem Nachbardorf. Es kam sogar öfter vor, dass die Mädchen nach der Heirat nicht einmal ihren Nachnamen ändern mussten. Genauso verhielt es sich im Falle von Christina. Sie hieß schon immer Keller, so wie ihr Mann Johann.

Vom Schwarzen Heinrich, der zwar viel Boden besaß, aber auch recht viele Kinder, bekam Christina vier Hektar Land und seinen Segen mit auf den Weg. Das war ihre ganze Mitgift. Seien wir doch ehrlich, eine Gräfin war sie nicht.

Johann bekam von seinen Eltern ein wenig Bargeld und eine Ausbildung zum Zimmermann.

Aus der Perspektive des Sterbebettes bekommen die Lebensbilder eine eindringliche Klarheit. Johann sieht vor seinem geistigen Auge Christinas schelmisches, warmes Lächeln. Hört ihr lautes, herzliches, hemmungsloses Lachen, sieht ihre energischen, sprunghaften Bewegungen. Und ihre Wutausbrüche. Denn sie konnte impulsiv sein, und er höllisch eifersüchtig, manchmal auch boshaft, fies. Einmal verpasste sie ihm während des Mittagessens, erzürnt über seine Eifersucht, mit dem Holzlöffel einen Hieb auf den Mund und schlug ihm ein Stück vom Zahn ab. Vielleicht ging es auch gar nicht um Eifersucht, vielleicht hatte er irgendeine böse Andeutung über den Schwarzen Heinrich gemacht. Das hatte sie bestimmt tief getroffen. Und sie dachte: HALT! Finger weg vom Vater!

Nach Johanns Tod wird sich Christina ihr Leben lang an diesen Zahn erinnern und sich mit Schuldgefühlen herumschlagen. Die Zähne werden ihr ständig weh tun. Sie wird sie vor allem dann spüren, wenn sich alles um sie herum in Schweigen hüllt. Der reinste Albtraum.

*

60er, 70er Jahre

Die Enkel hatten nicht die leiseste Ahnung, warum Oma Krystyna manchmal ja, ja seufzte, und was das eigentlich bedeutete, zumal sie ja nicht über Hühner- oder Ostereier redete, die im Polnischen »jaja« heißen. Wie gemütlich war es doch auf ihrem Schoß, die Enkelin auf dem einen Knie, der Enkel auf dem anderen, der Gerechtigkeit halber. Zuzanna hasst es, dass die Oma so früh gestorben ist, dass sie überhaupt gestorben ist. Sie hasst es, dass sie in einem so jungen Alter von ihnen gegangen, oder wie manche sagen, eingeschlafen ist, mit ihrem langen, grauen Zopf. Von Haare färben konnte für sie damals keine Rede sein, dabei verjüngt uns eine Haarfarbe um mindestens zehn Jahre! Eingesperrt in einer kleinen Erdgeschosswohnung in Stettin, eingepfercht in zwei winzigen Zimmern ohne Bad, schaute sie, die doch an weite Räume und endlose Wälder und Felder gewöhnt war, stundenlang aus dem Fenster auf die Straße, als hätte sie jemand in einen Holzrahmen gesteckt und darin zu einem traurigen Bildnis erstarren lassen. Die Wohnung lag in einem Stadtteil mit dem schönen Namen »Pogodno«, was so viel wie »Wolkenlos« bedeutet, in einer dieser kleinen Arbeitersiedlungen mit Gärten, die in den 30er Jahren von den Deutschen errichtet wurden.

Nur einmal, als sie das Mittagessen für ihren zweiten Mann Staszek zubereitete, öffnete sie nicht das Fenster, sondern stand lange in den Dunstschwaden am Küchenherd. Keine so gute Idee, in einem so stickigen Raum zu brutzeln. Solche Aktionen sollte man sich lieber verkneifen.

Zuzanna hatte davor nicht einmal etwas Besonderes geträumt, nur von einem Teller, auf dem es von Wespen wimmelte.

In der schmalen, verrauchten Küche, in der ein grün gestrichener Holztisch mit Besteckschublade stand, hinterließ die Oma auf einem großen Teller um die zwanzig runde Fleischklopse, die Kinder und Enkel dann beim Leichenschmaus unter Tränen herunterschluckten. Zuzanna schaut sich die Fotos von der Beerdigung an. Der Leichenzug schreitet gemächlich über die Alleen des Stettiner Zentralfriedhofs. Sie sieht sich selbst als elfjähriges Mädchen, mit von der Mutter straff geflochtenen Zöpfen und einem mit Spucke glattgestrichenen Pony neben ihrem kleinen Bruder im weißen Hemd und V-Ausschnitt-Pullover. Sie betrachtet dieses Mädchen – in seinem kurzen, von einer Schneiderin genähten, bescheidenen Kleidchen, wie es mit gesenktem Kopf lange Schritte macht, wie es hinter dem Sarg, Opa Staszek, Onkel Heniek und Onkel Jacek herläuft. In der kalten Kapelle treten die Familienangehörigen einer nach dem anderen an den Sarg, um der Verstorbenen die Hand zu küssen. Genau dort hat Zuzanna das erste Mal den Tod gesehen.

Und die Tränen in den Augen des Vaters.

Das war das Allerschlimmste.

Vor kurzem hat sie noch gedacht, der Vater wäre allmächtig. Edek auch. „Papi, mach, dass es Sonntag ist!“, quälten sie ihn, wenn sie montags keine Lust hatten, in den Kindergarten zu trippeln. Denn der Kindergarten war damals kein Zuckerschlecken. Als wäre es nicht schlimm genug, dass die Kindergartentanten den Kindern das Mittagessen in den Mund stopften, sie packten sie obendrein mittags noch ins Bett. Und so lag man dann gefangen da, zappelte und wand sich als hätte man Hummeln im Hintern.

Den Sonntag konnten sich die Kinder jedenfalls abschminken.

Denn Waldek konnte keinen Sonntag machen und ebenso wenig Tote wiederauferstehen lassen.

*

30er Jahre

Der kleine Willi rannte blindlings durch das Dorf. Er war ganz außer Atem.

Währenddessen zog Johann auf dem Sterbebett Bilanz seiner Fehltritte und Erfolge. Zu den Letzteren gehörte eindeutig die Veranda, de Hausdeel. Am Anfang, gleich nach der Hochzeit, wohnten er und Christina zusammengedrängt bei seinen Eltern, in einer kleinen Kammer. Kurz darauf baute er jedoch ein schickes Häuschen aus Holz und Lehm mit besagter Veranda, die im Dorf eine Neuheit war, eine Sensation. Es gab kaum jemanden, der sich mit so etwas rühmen konnte.

Das Haus baute Johann mit eigenen Händen, zusammen mit seinem Vater und dem jüngeren Bruder. Beim Hausbau halfen sich die Dorfbewohner gegenseitig. Mit vereinten Kräften hievten sie die schweren Balken hoch. Johann schonte sich nicht. Wenn er baute, dann mit Leib und Seele, rund um die Uhr. Er schlief nur ein bis zwei Stunden, malochte wie ein Ochse. Oh, welch unverwüstliche Kräfte, welch zähe Ausdauer und Hartnäckigkeit in den Galiziendeutschen doch steckten!

Ein himmlischer Platz wurde der jungen Familie zuteil. Hundert Meter vom Wald entfernt, direkt an einem kleinen Hügel, wie ein Motiv aus einem Feng-Shui-Ratgeber. Etwas tiefer war ein kleiner, etwa drei Meter breiter Bach, dessen reißende Strömung den darüber führenden Steg glucksend umspülte und ihn sanft hin und her wiegte. Die Jungs plantschten und badeten dort. Oben der Wald, unten der Bach.

Um zu Johanns Eltern zu gelangen, musste man nur über eine kleine Brücke laufen, weshalb Christina und Johann sie auch Zamostyki, also Hinterbrückenwäldler, nannten.

Als sie in das Haus zogen, war Willi zweieinhalb Jahre, Georg vier und Hans gerade mal ein paar Monate alt. Das Haus beeindruckte Willi. Es roch so gut. Und nicht zu vergessen ‒ die Veranda …

In Zukunft wird Willi selbst große Häuser bauen, Häuser so hoch wie Kathedralen, und er wird das Gefühl haben, dass die Hand des Vaters ihn lenkt. Er wird sich irgendwann, viele Jahre später, an der Fachhochschule für Bauwesen einschreiben, als seine militärische Karriere einen Knick bekommt.

Willi überschritt damals als Erster die Schwelle – an Vaters Hand. Es folgten: Mutter, Brüder, ein Kälbchen, ein paar Hühner, Enten und Gänse. Und noch drei Kühe zogen in den Stall. Es fehlte nur ein Pferd.

Johann kann all das auf seinem Sterbebett gut sehen. Die Dielen des nagelneuen Bodens knarren unter seinen Füßen, zum ersten Mal lodert das Feuer im Ofen. Als wäre die Welt neu erschaffen worden. Dazu der Duft frischen Holzes und frischgebackenen Brotes … Strahlende, erwartungsvolle Gesichter der Jungs. Glück.

Ja, das ist Glück.

Das Brot in Steinfels war heilig. Wenn ein Stück davon zu Boden fiel, hob man es auf, küsste es und nahm es dann andächtig in den Mund. Vor der jährlichen Aussaat vergrub man eine dicke, in ein Tuch gewickelte Brotscheibe in die erste Erdfurche, damit Gott den Acker segnen und eine reiche Ernte gedeihen lassen möge. Nach der Zeremonie grub man das Brot allerdings wieder aus und verzehrte es, um es nicht zu verschwenden.

Ein merkwürdiger Brauch. Das ist so, als würde man ein Opfertier kurz vor der Schlachtung vom Altar nehmen, als würde man A, aber nicht B sagen. Aber so waren nun mal die Menschen in Steinfels, pragmatische Protestanten. Sie übertrieben es nicht mit dem Mystizismus.

Johann lässt sich noch einmal in Gedanken Christinas Leckerbissen schmecken, Holobtjer, Kartoffelbrötchen, Stampes und Kraut, russische Piroggen und die berühmte Pilzsuppe. Lecker! Und erst die Kartoffelpuffer! Jedes Kind bekam drei Stück davon, auf einem Blech gebacken, ohne Fett. Und nur einen einzigen, der in Butter gebraten wurde. So als Bonus.

*