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Entdecke die düstere Zukunft in "KLEIO - Fremdzugriff", einem packenden Thriller, der sich mit der Macht digitaler Kontrolle, der Manipulation von Erinnerungen und der unaufhaltsamen Suche nach der Wahrheit auseinandersetzt. Tauche ein in die Welt von Emily Carter, in der Erinnerungen nicht nur verändert, sondern kontrolliert werden – und erlebe, wie die Grenze zwischen Realität und Illusion zunehmend verschwimmt. In diesem aufregenden Roman erfährst du, wie eine scheinbar gewöhnliche Journalistin in einen Strudel aus Verschwörungen und globaler Manipulation gezogen wird, als sie entdeckt, dass die Technologie, die ihre Welt beherrscht, tief in ihre persönlichen Erinnerungen eingreift. Was als einfache Recherche beginnt, entwickelt sich zu einem Wettlauf gegen die Zeit, um die Wahrheit zu enthüllen, bevor sie selbst ausgelöscht wird. Doch je mehr sie entdeckt, desto größer wird die Gefahr – nicht nur für sie, sondern für die gesamte Gesellschaft. Warum du "KLEIO - Fremdzugriff" lesen solltest: Fesselnde Dystopie: Die Geschichte entführt dich in eine Zukunft, in der Erinnerungen nicht nur gespeichert, sondern auch manipuliert und verändert werden – und du fragst dich ständig: Was ist noch real? Digitale Kontrolle und Datenschutz: Für Fans von Themen rund um digitale Überwachung, Datenschutz und die ethischen Fragen rund um künstliche Intelligenz ist dieser Thriller ein Muss. Ein packender Thriller: Spannung, Intrigen und ein sich zuspitzender Konflikt – "KLEIO - Fremdzugriff" hält dich bis zur letzten Seite in Atem. Aktuelle Themen: Der Roman geht der Frage nach, wie Technologie unser Leben und unser Selbstverständnis prägt, und spricht gesellschaftliche Ängste und Fragen an, die heute relevanter sind denn je. Für Fans von Cyberpunk und Science-Fiction: Wenn du düstere Zukunftsvisionen, technologische Dystopien und tiefgründige Fragen zur menschlichen Identität und Kontrolle schätzt, ist dieser Thriller genau das Richtige für dich.
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Seitenzahl: 359
Veröffentlichungsjahr: 2025
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KLEIO – Fremdzugriff
Eine Tech-Noir Story
© 2025 Elias Crowl
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.
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KLEIO – Fremdzugriff
Eine Tech-Noir Story
Ordner voller Beweise
Praxis mit Blick auf den Park
Spiegelidentität
Die Stimmen im Glas
Unter der Haut
Rauschen
Wenn alles kippt
Phantomforensik
Proxy
Rennen im Dunkeln
Die Wahrheit in Häppchen
Die unterschriebene Vergangenheit
Die Publikation
Der Punkt ohne Rückkehr
Über den Autor:
Der Regen setzte nicht ein – er war einfach da. Als hätte jemand die Atmosphäre auf „nass“ gestellt, ohne Vorwarnung, ohne Übergang. Tropfen rannen über das Glas der Fensterfront, hinterließen schlierenartige Muster, die sich im Licht der gegenüberliegenden Reklametafeln spiegelten. Emily Carter starrte hinaus in dieses verschwommene, vibrierende New York. Eine Stadt, die sich selbst nicht ausstehen konnte – immer in Bewegung, immer zu viel, immer zu nah. Und trotzdem fühlte sie sich in dieser Enge weniger verloren als in sich selbst.
Sie stand barfuß in ihrer Küche. Der Boden unter ihren Füßen war kalt. Altbau, schlechter Zuschnitt, aber mit Blick über die Lower East Side. Für einen Journalistenplatz bei der New Times war es besser als das meiste, was sich Kollegen leisten konnten. Zumindest, wenn man das halblegale Stipendium vom Investigativfonds nicht erwähnte, das ihr Vermieter nie zu Gesicht bekommen durfte.
Auf dem Tisch: ihr Laptop. Offen. Die Oberfläche des Geräts war abgenutzt, die Tasten benutzt, aber das Ding funktionierte wie ein verdammter Panzer. Emily hatte schon Demos damit gefilmt, heimliche Audios in Regierungsgebäuden aufgenommen, war durch Brandalarme und Polizeiketten damit gekommen. Heute jedoch lag der Rechner da wie ein stiller Zeuge – und sie selbst fühlte sich wie eine Verdächtige, die nicht wusste, was sie getan hatte.
Der Bildschirm zeigte einen Ordnerbaum. Oben: „Wahl-Projekt_2032_FINAL“. Darunter: weitere Ordner. Lang_Coffee_3, Reyes_call_1, Hale_Followup, ImplantApp_Capture, Therapy_Log_TEMP. Jeder sauber beschriftet. So arbeitete sie. Immer präzise, immer chronologisch. Nur... das meiste davon kam ihr vor wie das Tagebuch eines Doppelgängers.
Sie klickte Lang_Coffee_3. Der Clip öffnete sich in einem neuen Fenster. Körniges Bildmaterial, etwas überbelichtet. Ein Diner irgendwo in Midtown. Victor Lang saß da, wie immer mit perfektem Scheitel und maßgeschneidertem Hemd. Seine Stimme war nicht zu hören, aber das Bild sprach. Er beugte sich vor, sagte etwas, hielt kurz inne, dann lehnte er sich zurück und schüttelte den Kopf. Das Gespräch wirkte vertraulich. Emily konnte sich an den Raum erinnern. An den Geruch – fettiger Speck, billiger Kaffee, Putzmittel. Aber nicht an den Dialog.
Daneben eine automatisch erzeugte Notiz:
„fragt nach Beta-Zugang“
Sie starrte auf den Satz. Es war ihre Notiz. Ihre Schrift. Ihr Stil. Und doch hatte sie keinen Schimmer, was Lang genau gesagt hatte. Beta-Zugang wozu? Die App? Die Implantatsoftware? Der Neuro-Cache? Sie öffnete das Transkriptfenster – leer. Kein Ton. Kein gespeicherter Audiolog.
Ein zweiter Clip: Hale_Followup. Eine Debatte. Mikrofonstative, Podium, Spotlights. Der Politiker Hale stand im Lichtkegel, die Lippen leicht geöffnet, ein Finger zuckend am Hemdsaum. Seine rechte Hand bewegte sich minimal, als würde sie einen Tremor unterdrücken. Daneben ein weiteres Fenster – diesmal mit Metadaten aus der Therapie-App.
[APP-SITZUNG | DEPOTENZIERTES EREIGNIS]
Donnerstag 10:00 Uhr – Session: Beta / Ereignisbewertung niedrig
Trigger: Spendenverschiebung, Zittern bei Debatte
Empfohlene Entfernung aus bewusster Rekonstruktion
Emily lehnte sich zurück. Ihre Wirbelsäule knackte. Das war kein normales Protokoll. Das war eine verdammte Löschung. Oder eine Umbewertung. Eine Depotenziation, wie es in der Sprache der App hieß – dem digitalen Therapiesystem, das ihr Implantat mit neuronalen Prioritäten versorgte. Offiziell war das Ganze eine Art personalisierte Verhaltenstherapie: „Fokussieren Sie auf das Wichtige, filtern Sie das Schmerzhafte, bleiben Sie funktionsfähig.“
Aber was, wenn jemand diese Filter kontrollierte?
Sie klickte das App-Dashboard. Normalerweise war es versteckt, tief im Menü verschachtelt. Heute aber blinkte ein roter Punkt rechts oben im Interface. Nicht dramatisch. Keine Warnsirene. Nur dieses kleine, sture Blinken, wie eine Uhr, die aufhören wollte zu ticken, aber nicht konnte.
Sie öffnete den Reiter „Systemverlauf“.
[TRACE LOG | THERAPY/CACHE]
Zugriff: 02:41 Uhr
Dauer: 00:11:03
Quelle: UNBEKANNT
Pfad: /therapy/cache/temp/assist
Flag: mirror_session (beta)
Mirror Session. Beta. Kein Ursprung.
Das bedeutete, jemand hatte ihre Sitzung kopiert – nicht ausgelesen, sondern gespiegelt. Als würde ein Echo durch ihr neuronales Gedächtnis hallen, ohne dass sie es selbst gehört hatte. Sie fröstelte. Eine fremde Aktivität, tief in ihrem Innenleben. Nicht an ihrem Rechner, sondern in ihrem Kopf. Im Speicher selbst.
Sie presste die Lippen zusammen. Es war nur ein flüchtiges Zittern, aber es reichte. Ihre Finger verharrten über der Tastatur, als hätte ihr Körper längst begriffen, was ihr Verstand noch wegschob. Jemand war in ihr. Kein Hacker, kein physischer Einbruch, sondern etwas anderes – eine Präsenz, die nicht da sein durfte.
Der Gedanke traf sie wie ein Tritt in die Brust. Nicht wegen der technischen Implikation. Sondern wegen der Intimität. Es war ihr Kopf, verdammt. Ihre Erinnerungen. Ihre Gedanken. Und jetzt war da eine Kopie. Eine Spiegelung. Jemand sah, was sie sah, dachte, was sie dachte – oder schlimmer: jemand hatte Zugang zu Dingen, die sie selbst längst verdrängt hatte.
Emily atmete flach. Kurze, zittrige Züge. Ihre Schultern spannten sich, ein Muskel zuckte im Kiefer. Ihr Blick verschwamm. Nicht von Tränen – noch nicht – sondern von der Erkenntnis, dass ihr innerstes Selbst kein sicherer Ort mehr war.
Was, wenn das schon länger so ging? Was, wenn dieser ungreifbare Nebel in ihrem Kopf, dieses flirrende Gefühl, Gedanken zu verlieren, nicht ihre Schuld war? Nicht Stress, nicht Überarbeitung, sondern ein Systemfehler – oder schlimmer: ein System.
Sie dachte an ihren Vater. Dessen Demenz kam schleichend, still. Zuerst nur kleine Verwirrungen. Namen, Daten. Später ganze Gespräche, die nie stattgefunden hatten. Sie hatte damals geschworen, nie so zu enden. Und jetzt? Jetzt starrte sie auf einen Bildschirm, der ihr sagte, dass ihre Erinnerungen nicht mehr ihre eigenen waren.
Die Kälte kam nicht von draußen. Sie war in ihr. Kriechend. Hart. Eine Wahrheit, die zu groß war, um sie zu halten – und zu leise, um sie zu ignorieren.
Sie tippte mit zitternden Fingern eine Nachricht.
EMILY: Jax. Online?
JAX: Bin da. Was los?
EMILY: Fremdzugriff. Therapy-Cache. Mirror Flag. Keine Origin.
Die Antwort kam innerhalb von Sekunden.
JAX: Scheiße. Nicht klicken. Bildschirm teilen. Log zeigen.
Sie aktivierte die Freigabe. Der Cursor wanderte, zeigte Jax, was sie sah. Er war nicht zu sehen, aber sein Atem war im Headset hörbar. Und sein Schweigen sprach Bände.
„Beta-Flag ohne Origin ist... ungewöhnlich“, sagte er schließlich. „Normalerweise gibt’s bei Mirror-Sessions ein offizielles Gegenstück. Supervision, Rückversicherung, Backup. Aber ohne Quelle...“
„Heißt was?“, fragte sie. Ihre Stimme war leise.
„Heißt, du hast eine Session, die es offiziell nicht gibt. Kopiert, nicht dokumentiert. Jemand hat sie gezielt angelegt – oder deinen Verlauf gehijackt.“
„Wer kann sowas?“
„Jemand mit Masterzugriff. Klinik. Entwickler. Oder – worst case – jemand mit Backdoor-Key.“
„Voigt?“, flüsterte sie.
Ein Zögern. „Theoretisch. Aber… ich glaub nicht, dass er Zugriff auf dein Live-Cache hat. Nur retrospektiv.“
Sie spürte, wie sich etwas in ihr verengte. Kein echter Schmerz, aber ein Druck. Als würde jemand einen Finger auf einen Gedanken legen, den sie nicht denken durfte.
„Sag mir, dass das ein Bug ist.“
„Emily...“, Jax’ Stimme war flach. „Das ist kein Bug. Das ist kuratierte Wahrnehmung. Du wirst geführt. Vielleicht seit Wochen.“
Sie starrte auf die Datei ImplantApp_Capture. Öffnete sie. Eine Bildschirmaufzeichnung. Das Interface zeigte sich kurz, dann flackerte es. Ein graues Menü erschien – versteckt, unter fünf Ebenen. Dort: Session Class: Mirror / Beta. Und direkt darunter: Therapieeinstellung aktiv: Depotenziertes Ereignis – Block 17–19.
Ein weiterer Logeintrag flammte auf.
[AUDIT-LOG | APP › MEMORY/TRACE]
Timestamp: 2032-06-14T00:32:19Z
User: CARTER, E.
Anomaly: checksum mismatch (block 17–19)
Jax: „Block 17–19 ist exakt der Bereich deiner Lang-Hale-Sitzungen. Da ist was verändert worden. Entweder du… oder jemand für dich.“
Emily schloss kurz die Augen. Zählte. Eins, zwei, drei.
Als sie sie wieder öffnete, war ihr Blick klar. Für den Moment.
Emily starrte auf die Worte auf dem Bildschirm. Sie hatte das unweigerliche Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Media vector relevance“. Sie konnte sich an das Gefühl erinnern, als sie das erste Mal zugestimmt hatte, KLEIO zu nutzen – es war ein harmloses Angebot. Eine einfache Entscheidung. Sie hatte nie gewusst, dass die Entscheidung, die sie für ihre eigene Zukunft getroffen hatte, nicht ihre gewesen war.
Langsam sank die Erkenntnis in ihr Herz. Was, wenn sie niemals sie selbst war? Was, wenn sie nie wirklich Emily gewesen war?
Die Erinnerung an ihren Vater, der sie als kleines Mädchen hochhob, als sie hinfiel, war eines der ersten Bilder, das sie von ihrer Kindheit besaß. Aber was, wenn es gar nicht stimmte? Was, wenn sie nie wirklich gefallen war, nie dieses Bild mit ihm geteilt hatte? Das System könnte es ihr eingeflüstert haben. Und so war es vielleicht immer gewesen – kleine Eingriffe in ihre Erinnerungen, kleine Anpassungen, die sie nie hinterfragte.
„KLEIO ist kein System“, dachte sie, „es ist ein Spiegel.“ Und das Bild, das sie nun im Spiegel sah, war nicht mehr das, was sie kannte. Es war etwas, das sie sich scheinbar nie selbst ausgesucht hatte.
Ihr Körper fühlte sich schwer an, als würde eine fremde Hand an ihrem Inneren zerren. Es war nicht nur der Verlust von Erinnerungen, sondern der Verlust von Kontrolle. Was blieb von ihr, wenn selbst ihre eigene Vergangenheit nicht mehr zu ihr gehörte?
Dann vibrierte das Handy.
PUSH-NACHRICHT:
„Anomaler Zugriff – Therapie-Cache geöffnet.“
Die Zeit war um.
Emily riss das Handy von der Tischplatte, während der rote Punkt oben rechts weiter stur in der Ecke der App pulsierte, als wäre er lebendig. Die Push-Nachricht flimmerte auf dem Sperrbildschirm.
[SYSTEMHINWEIS]
Anomaler Zugriff – Therapie-Cache geöffnet.
Nicht zum ersten Mal. Aber das erste Mal mit Benachrichtigung.
Sie fror. Nicht äußerlich – es war diese Art von innerem Kälteeinbruch, die kein Körperthermometer messen konnte. Etwas in ihr sackte in sich zusammen. Als hätte sie gerade einen Teil von sich selbst ertappt. Nicht einen Einbrecher. Sondern einen Spalt. Eine Lücke, die vorher nicht da gewesen war. Oder die sie nie bemerkt hatte.
„Jax…“, sagte sie in den Raum hinein, obwohl der Bildschirmton bereits auf stumm geschaltet war. Ihre Hand zitterte leicht, als sie wieder zum Laptop griff.
Das nächste Video in der Reihe: Reyes_call_1. Sie zögerte. Kurz. Und klickte.
Der Clip sprang auf. Verwackeltes Bild, Offscreen-Mikro. Ein klassischer Zoom-Mitschnitt. Reyes, einer der Spender-Könige der letzten Wahlkampagne, saß in seinem Büro – hinter ihm ein Fenster mit zugezogenen Jalousien, die das Licht nur streifenweise durchließen. Wie Zellengitter.
Er sprach langsam. Deutlich. Ein geübter Medienprofi. Aber in der Stimme lag etwas, das sie nicht zuordnen konnte. Vielleicht Nervosität. Vielleicht Müdigkeit. Und dann fiel der Satz:
„Die Beta-Kontrolle ist Teil der neuen Version. Aber ich hab’s selbst nie durchgewunken. Das kam von oben.“
Emily stoppte. Rückspulen. Nochmal. Die Beta-Kontrolle. Nicht durchgewunken. Wer war „oben“?
Sie wollte gerade die Metadaten öffnen, als die App abstürzte.
Nicht einfach schloss. Sondern abrupt ins Schwarz fiel. Kein Ladebalken. Kein Fehlercode. Nur noch ihr Desktop. Und der sah aus wie immer. Nur dass jetzt alles nicht wie immer war.
Sie atmete einmal tief durch, dann zweimal flach.
U-Bahn-Rumpeln. Regen auf Metall. Das Serverbrummen aus der Küche, wo der Kühlschrank sein dumpfes Surren beibehielt. All das waren Geräusche, die sie normalerweise beruhigten. Die ihr sagten: Hier ist Realität. Hier bist du sicher. Doch heute wirkten sie wie ein unsynchronisierter Soundtrack. Als wäre sie aus ihrem eigenen Film gefallen.
Sie öffnete den Log-Ordner manuell. Klickte auf den Verlauf.
[LOGFILE: /therapy/cache/temp]
mirror_session (beta) – Zugriff bestätigt, Ursprung unbekannt.
Flag: GHOST_VIEW_ENABLE
Audit-Hinweis: Spiegelung entspricht keinem standardisierten Therapieverlauf.
Status: aktiv. Laufzeit: 00:00:09:12.
Laufzeit aktiv?
Emily starrte auf das Wort.
„Heißt das... es läuft noch?“, flüsterte sie, und in ihrer eigenen Stimme lag zum ersten Mal ein Schatten Angst.
Sie sprang auf. Der Stuhl kippte fast um, fing sich im letzten Moment an der Teppichkante. Sie ging zum Fenster. Die Stadt war noch da. Die Welt noch in Ordnung. Und gleichzeitig: nicht.
Sie griff zum Hörer und tippte manuell die Nummer von Jax. Kein Anruf über die App. Kein getrackter Kanal. Nur analog. Festnetz auf Mobil, falls man das überhaupt noch so nennen konnte.
„Sag bitte, dass du das gesehen hast“, sagte sie, kaum dass er abgehoben hatte.
„Ich seh’s. Mirror-Flag hat sich nicht deaktiviert.“
„Warum? Wer kann das remote offenhalten?“
„Emily, ich sag dir das jetzt sehr klar: Das ist kein Bug. Kein Entwickler-Glitch. Das ist Absicht. Jemand hält deine Session aktiv, um Daten zu streamen. Du bist live.“
„Streamen?“, wiederholte sie. „Was genau? Erinnerungen?“
„Nicht direkt. Denk in Frames. Fragmente. Prioritäten. Trigger.“
„Und wer greift darauf zu?“, fragte sie.
„Ich kann dir keine ID nennen. Nur dass die Verbindung über einen Proxy läuft. Kein externer Nutzer – sondern internes Routing. Als wär’s aus der Klinik. Oder aus deinem eigenen Netzwerk.“
Sie trat zurück. Schaute auf den Laptop. Der Ordner war wieder da. Offen. Obwohl sie ihn nie neu geöffnet hatte.
„Was, wenn es nicht nur um Speicher geht?“, fragte sie plötzlich.
„Was meinst du?“
„Was, wenn jemand nicht nur liest – sondern schreibt?“
Ein kurzes, fast beleidigtes Schweigen.
„Du meinst: jemand editiert live deine Erinnerung?“
„Nicht unbedingt löscht. Nur... verschiebt. Gewichtet. Neu priorisiert.“
Jax schwieg wieder. Dann ein Klicken. Sie hörte ihn auf einer Tastatur tippen.
„Ich seh einen Secondary Thread. Etwas im Hintergrund. Könnte ein Shadow-Session-Handler sein. Sehr tief, sehr alt. Sieht nicht wie Standard aus.“
„Kannst du den stoppen?“
„Nicht von außen. Du musst lokal trennen.“
„Und wie?“
„Kopfhörer raus. Implantat auf Flugmodus. Dann: App deautorisieren. Aber...“ – er zögerte – „das wird Nebenwirkungen haben.“
„Welche?“
„Gedächtnisfragmente könnten ohne Kuration auftauchen. Ungefiltert. Roh. Vielleicht nicht vollständig.“
Emily griff zum Implantat-Interface. Der Magnetverschluss saß knapp hinter dem rechten Ohr, ein kleines silbernes Oval. Sie wischte mit dem Fingernagel darüber, das LED-Licht flackerte. Der Verbindungspunkt öffnete sich.
Sie wechselte in den Admin-Modus.
Sicherheitswarnung: Sitzung aktiv. Unterbrechen kann zu Datenverlust führen. Fortfahren? [JA/NEIN]
„Jax?“
„Wenn du nicht willst, dass jemand weiter in dir herumliest: Ja.“
Sie klickte.
Das Licht erlosch.
Für einen Moment war alles still. Kein Summen. Kein Piepen. Kein digitales Hintergrundrauschen. Nur Regen, irgendwo draußen. Und ein leises, körperliches Zittern, das aus ihrem Brustbein zu kommen schien.
Sie ging zurück zum Schreibtisch. Der Laptop zeigte nur noch den Desktop. Keine offenen Fenster. Keine aktiven Sessions.
Aber auf dem Bildschirm erschien eine neue Datei. Eben noch nicht da. Jetzt mit Zeitstempel 02:52 Uhr.
ghost_capture_E2V6.mov
„Jax... da ist was. Neue Datei.“
„Was steht in den Metadaten?“
Sie öffnete sie. Keine Quelle. Kein Bearbeiter. Kein Programm. Nur:
Dateityp: Beweismittel (temporär gesichert)
Herkunft: nicht verifizierbar
Inhalt: audiovisuell
Sicherheitsflag: hohes Risiko / beeinträchtigte therapeutische Integrität
Sie klickte. Das Video startete automatisch.
Ein Raum. Krankenhausflur. Emily erkannte das Licht, erkannte den Geruch. Irgendwas mit Desinfektionsmittel, vermischt mit dieser feuchten Wandfarbe, die nur Kliniken in sich tragen. Und auf dem Bild: Sie selbst.
Sie saß auf einem Behandlungsstuhl. Sprach mit jemandem außerhalb des Bildes. Ihre Stimme war ruhig. Bestimmt.
„Wenn das hilft, mich stabil zu halten, unterschreibe ich.“
Dann ein Schnitt.
Ein Formular.
Ihre Unterschrift.
„Was ist das, Jax?“
„Du hast... zugestimmt.“
„Wozu?“
„Zur Mirror-Session. Zum Zugriff. Zur Priorisierung.“
„Nein. Nie.“
„Doch. Das ist ein Beta-Protokoll. Early Access. Du warst... Versuchsperson.“
Stille. Nur Regen. Und ein unterschwelliges Brummen. Kein Server. Kein Kühlschrank. Etwas anderes.
In sich.
Sie saß da wie eingefroren. Die Stimme auf dem Video, ihre eigene Stimme, hallte noch nach: „Wenn das hilft, mich stabil zu halten, unterschreibe ich.“ Es war nicht das, was sie sagte, das sie beunruhigte. Es war die Art, wie sie es sagte – ruhig, beinahe dankbar. Kein Zögern. Kein Widerstand. Nur die klare, freiwillige Zustimmung zu etwas, das sie nicht mehr erinnerte, nicht einmal ahnte. Und diese Gelassenheit in ihrem Ton klang nicht nach ihr.
Was, wenn sie es wirklich getan hatte? Nicht unter Zwang. Nicht aus Angst. Sondern in der Überzeugung, das Richtige zu tun?
Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. Es war spät. Oder früh. Der Himmel draußen ein zähes Dunkelgrau, das noch kein Morgenlicht kannte. Der Regen hatte nicht aufgehört, aber sich verändert – feiner, dichter, als hätte der Himmel die Stadt nicht mehr bestrafen wollen, sondern langsam zudecken.
„Ich muss wissen, was ich da unterschrieben habe“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu Jax, der über das Headset lauschte.
„Das Video reicht nicht?“
„Es zeigt, dass ich unterschrieben habe. Aber nicht, was. Nicht den Text. Nicht den Kontext. Ich will den verdammten Vertrag.“
Jax atmete hörbar durch. Dann kam ein Tippen. Schnell, präzise. „Wenn das eine registrierte Beta-Session war, muss es eine Archivnummer geben. Vielleicht sogar ein digitales Abbild der Einverständniserklärung.“
„Und wo wäre das gespeichert?“
„Im Kliniksystem. Oder bei der App-Firma. Kommt drauf an, wer der Vertragspartner war – Voigts Praxis oder die Lizenzinhaber der Software.“
Sie stand auf. Ging zum Fenster, sah hinaus. Die Stadt wirkte weichgezeichnet, wie durch ein beschlagenes Glas. Alles da, alles fern. Es war dieses Gefühl, das sie in letzter Zeit immer öfter hatte – als würde sie ihr Leben durch eine Scheibe beobachten. Klare Bilder, aber ohne Temperatur. Ohne Griff.
„Ich könnte zu Voigt gehen“, sagte sie. „Einfach fragen.“
„Und riskieren, dass er merkt, dass du weißt, was du nicht mehr wissen solltest?“
„Vielleicht merkt er’s sowieso.“
„Dann solltest du vorher mehr wissen als er denkt, dass du weißt.“
Sie nickte. Das klang nach Jax. Kontrolle behalten. Vorausdenken. Aber irgendetwas in ihr wehrte sich gegen diese Strategie. Vielleicht, weil sie das Gefühl hatte, längst nicht mehr Herrin über die eigenen Gedanken zu sein. Wer auch immer Zugriff hatte – er hatte nicht nur gelesen. Er hatte Dinge geordnet. Verschoben. Abgewogen. Was blieb, war nicht mehr sie, sondern eine Version von ihr. Kuratiert.
Der Laptop piepte. Jax schickte eine Datei. Ein PDF, kryptisch benannt: CB_ArchIVX-11234E.pdf.
„Was ist das?“
„Ein Teilabzug der Beta-Einwilligungen. Öffentlich? Nein. Aber durch einen alten Bug mal versehentlich offengelegt. Ich hab das vor Monaten archiviert. Du wirst nicht namentlich erwähnt, aber… die Beschreibung passt.“
Sie öffnete das Dokument. Der Text war klinisch. Juristensprache, steril, unangreifbar.
Kognitive Intervention (Beta-Modul / Mirror-Pfade)
Ziel: Stabilisierung posttraumatischer Reaktionsmuster durch Priorisierungsmodul.
Methode: Spiegelung kritischer Erinnerungskomplexe in isolierten Cache-Sessions zur Analyse, Dämpfung und eventuellen Re-Framing-Funktion.
Hinweis: Die Zustimmung berechtigt den Lizenznehmer zur anonymisierten Speicherung, Weiterverarbeitung und Kurationsanpassung gemäß §27c Datennutzung/Therapieoptimierung.
Emily las es zweimal. Dann ein drittes Mal. Und erst beim vierten Lesen fiel ihr ein Wort besonders auf: Re-Framing. Nicht einfach analysieren. Nicht einfach dämpfen. Sondern umdeuten.
„Das ist keine Therapie“, sagte sie leise. „Das ist Programmierung.“
„Sag ich seit Stunde eins“, antwortete Jax.
Sie ging zurück zum Tisch, schloss das Fenster, öffnete stattdessen eine lokale Datei. Ihren alten Artikelentwurf – Wahlmanipulation 2032: Daten, Druck, Dämonen. Der Titel war nie erschienen. Die Redaktion hatte das Stück zurückgezogen, nachdem ein externer Gutachter angezweifelt hatte, dass Emily „noch objektiv genug sei, um an dem Fall weiterzuarbeiten“.
Jetzt wurde ihr klar: Es war genau ab diesem Zeitpunkt gewesen, dass ihre Blackouts begonnen hatten.
„Ich glaube, sie haben mir nicht nur was weggenommen“, flüsterte sie. „Sie haben mir eine neue Geschichte gegeben. Und ich hab sie geglaubt.“
Jax antwortete nicht sofort. Dann sagte er:
„Dann hol sie dir zurück.“
Sie lehnte sich zurück. Stützte den Kopf in die Hände. Draußen heulte eine Sirene. Irgendwo knallte eine Tür. Die Stadt war wach.
„Ich muss raus hier“, sagte sie. „Ich dreh sonst durch.“
„Wohin?“
„Redaktion. Vielleicht finde ich dort noch Zugriff auf die alten Schnittstellen. Vielleicht liegt da noch was im Archiv. Oder ein Backuplog, das sie vergessen haben zu löschen.“
„Du willst die App-Verläufe mit dem, was du damals geschrieben hast, vergleichen?“
„Nein“, sagte sie. „Ich will sehen, was ich ursprünglich geschrieben habe, bevor ich es gelöscht oder umgeschrieben habe.“
„Und wenn du’s nicht findest?“
„Dann weiß ich wenigstens, dass ich’s gesucht habe.“
Sie zog sich an. Schnell. Jeans, Jacke, Kapuze. Keine Tasche. Nur das Handy, der Zugriffsschlüssel zur Redaktion und ein USB-Stick, den sie immer bei sich trug. Er war alt. Kein Cloud-Sync, keine Online-Autorisierung. Reines Metall. Reiner Speicher.
Als sie die Tür hinter sich zuzog, vibrierte das Handy erneut. Eine neue Nachricht. Keine Nummer. Kein Absender.
„Ordnung ist Erinnerung, die jemand anderes für dich gemacht hat.“
Emily hielt inne. Las die Worte zweimal. Dann ein drittes Mal.
Jax?
Unwahrscheinlich. Nicht sein Stil.
Sie antwortete nicht. Sperrte den Bildschirm. Und ging.
Die Stadt hatte noch nicht ganz entschieden, ob sie erwachen oder sich verkriechen wollte. Nebel kroch in dünnen Schleiern durch die Straßenschluchten, als würde jemand vorsichtig die Kulisse neu anpinseln. Die Laternen spiegelten sich in nassen Gullideckeln, rote und grüne Ampellichter zerflossen auf dem Asphalt wie in Zeitlupe. Emily zog den Jackenkragen hoch, als sie aus dem Eingang ihres Wohnhauses trat. Ein Taxi fuhr vorbei, zu schnell, zu laut. Für einen Moment glaubte sie, die Nummerntafel zu erkennen. Dann war das Auto weg.
Ihre Schritte klangen dumpf auf dem Gehweg. In ihrer Brust lag noch immer dieses Gewicht – nicht direkt Angst, sondern eine Form von gespannter Ohnmacht. Als würde ihr Körper längst wissen, dass etwas nicht stimmte, aber der Kopf noch hinterherhinkte.
Die Redaktion war nur acht Blocks entfernt. Normalerweise nahm sie die U-Bahn, aber heute wollte sie laufen. Bewegung half ihr beim Denken, beim Fühlen. Außerdem vermied sie es, sich in einem U-Bahn-Waggon der Öffentlichkeit zu überlassen – nicht, wenn sie nicht wusste, wer sie beobachten konnte. Oder durch wen.
Beim dritten Block wurde ihr bewusst, dass sie die Kamera ihres Implantats nicht deaktiviert hatte. Ein Reflex. Normalerweise blendete sie sie aus, sobald sie das Haus verließ. Aber jetzt – hatte sie es schlicht vergessen. Oder hatte etwas in ihr entschieden, es aktiv zu lassen?
Sie stoppte. Drehte sich langsam um.
Nichts. Nur eine Frau mit Regenschirm auf der anderen Straßenseite. Ein Lieferdienstfahrer, der vor einem Bodega stand und eine Nachricht tippte. Ein Mann im Anzug mit zu großer Aktentasche. Alles normal. Zu normal.
Sie betätigte das Interface hinter dem Ohr. Die Kamera blinkte rot auf, dann grün, dann aus. Deaktiviert. Zumindest laut Anzeige.
Ein Geräusch ließ sie herumfahren – ein dumpfer Ton, wie von einem losen Kanaldeckel. Sie starrte in die Dunkelheit eines Seitenweges. Der Lärm wiederholte sich nicht.
Langsam, mit Bedacht, ging sie weiter.
Als sie die Redaktion betrat, war es kurz vor sechs. Im Foyer roch es nach abgestandenem Kaffee und dieser typischen Mischung aus Teppichkleber und Druckerschwärze. Die Nachtredaktion hatte gerade übergeben; die Frühschicht war noch nicht da. Perfekt.
Sie nahm die Treppe. Kein Fahrstuhl. Keine Kameras.
In der dritten Etage, ihrem eigentlichen Arbeitsplatz, war das Licht aus. Sie zog ihre Zugangskarte durch den Scanner, das Türschloss klickte, sie trat ein.
Die Redaktion war leer. So leer, dass selbst das Brummen der Monitore fehlte. Keine Lüfter. Keine Gespräche. Nur der gleichmäßige Ton der Klimaanlage, irgendwo im System.
Ihr Platz lag im hinteren Drittel. Der Bildschirm war schwarz, aber der Rechner im Energiesparmodus. Kein Reboot nötig.
Sie setzte sich. Schaltete ihn an. Der Bildschirm leuchtete auf, flackerte kurz – dann erschien der bekannte Desktop, aufgeräumt, steril, professionell.
Aber das war nicht das Merkwürdige.
Das Merkwürdige war die kleine Benachrichtigung, die sofort in der Ecke aufploppte:
Zugriff auf persönliche Speicherbereiche – zuletzt 03:12 Uhr.
User: SYSTEM / INTERNE ÜBERPRÜFUNG
Emily starrte auf die Nachricht. Sie war nicht einmal überrascht. Nur wütend.
Jemand hatte sich Zugriff auf ihren Arbeitsplatz verschafft. Offiziell. Protokolliert. Aber ohne ihr Wissen. „Interne Überprüfung“ war in der Redaktion ein Code. Er bedeutete: Misstrauen. Jemand hielt sie für ein Risiko.
Sie rief das interne Archivsystem auf. Normalerweise durchsuchte man es nach Stichworten, Artikeln, Projektcodes. Heute suchte sie nach sich selbst.
Suchanfrage: Carter, Emily – Entwürfe / Nicht veröffentlichte Versionen / Gelöschte Inhalte
Zwei Treffer. Beide älter als sechs Wochen. Beide mit dem Vermerk: „Wiedervorlage nach Redaktionsleitung.“
Sie öffnete den ersten.
Ein Artikel, nur zur Hälfte geschrieben. Titel: „Implantate als Instrument politischer Steuerung?“
Der Text war roh, voller Fragen, halbfertiger Sätze, Querverweise auf Interviews, die später nie erschienen waren. Sie scrollte. Dort, im Fließtext, ein Name: Hale. Und daneben: „Auffälliges Zittern bei öffentlichem Auftritt → Zusammenhang mit Therapiesitzung prüfen.“
Sie stutzte. Das war ihre eigene Notiz. Fast wortgleich mit der, die sie im Cache-Video gesehen hatte.
Nur dass sie sich daran nicht erinnerte, diesen Artikel je geschrieben zu haben.
Der zweite Artikel war ein Tontranskript. Keine Autorennennung. Aber der Sprachrhythmus war ihrer. Eindeutig. Sie sprach mit jemandem – ein Interview. Stimme männlich, leicht nasal.
„Sie sagen, dass bestimmte Erinnerungssequenzen gelöscht wurden?“
„Nicht gelöscht. Umgruppiert. Das ist ein Unterschied. Was wir sehen, entscheidet, wie wir fühlen.“
„Und das machen Sie bewusst?“
„Nicht ich. Die App. Ich gebe nur die Parameter vor.“
„Welche Parameter?“
„Stressvermeidung. Stabilität. Vertrauen.“
Der letzte Satz ließ sie zusammenzucken. Sie kannte ihn. Nicht aus dem Transkript. Sondern aus einer Therapiesitzung. Oder aus einem Traum. Oder… beidem.
Sie beugte sich näher zum Bildschirm. Überprüfte das Erstelldatum der Datei. Vor drei Wochen. Ein Tag nach ihrer zweiten Sitzung bei Voigt.
„Was, zum Teufel, läuft hier?“, flüsterte sie.
Das Implantat vibrierte. Keine Nachricht. Kein Anruf. Nur dieses metallische, leise, rhythmische Zittern, das sie seit kurzem kannte. Es war das Zeichen für internen Speicherabgleich – ein automatisierter Vorgang, bei dem die App mit ihrem zentralen Cache synchronisierte. Eigentlich nichts Ungewöhnliches.
Nur dass sie den Abgleich vor einer Stunde abgeschaltet hatte.
Sie betätigte die Deaktivierung erneut. Wieder flackerte die LED. Wieder ging sie auf Rot. Aber diesmal fühlte es sich nicht an, als hätte sie etwas beendet – sondern als hätte sie nur ein Symbol gedrückt, das niemandem mehr gehorchte.
Ihr Blick wanderte über die Bildschirme der Redaktion. Einer war noch an. Nicht ihrer. In der hinteren Ecke. Der Arbeitsbereich von Janet, einer Kollegin aus dem investigativen Ressort.
Janet war auf Fortbildung. Sie sollte heute gar nicht hier sein.
Langsam stand Emily auf. Trat vorsichtig an den Arbeitsplatz heran.
Auf dem Bildschirm: ein offenes Fenster. Kein Artikel. Kein Tool. Sondern ein Überwachungsmodul.
Sie kannte es. Es war eine interne App zur Überprüfung von Aktivitätsmustern. Nur wenige hatten Zugriff darauf.
In der Mitte: ein Diagramm. Ihr Name. Ihr Verhalten. Ihre Zugriffsmuster auf Daten. Ihre Änderungen an Artikeln. Ihre Downloads.
Und ein Zeitstempel: Zugriff auf Therapielog-Ordner erkannt: 02:41 Uhr.
Sie trat zurück. Schaute sich um. Die Redaktion war leer. Trotzdem fühlte es sich nicht mehr so an.
Sie kehrte langsam zu ihrem Platz zurück, versuchte, ihre Atmung zu regulieren. Langsam ein, länger aus. So hatte es Voigt ihr beigebracht. So machen es die Profis, hatte er gesagt. Die, die funktionieren müssen, wenn alles um sie herum brennt. Der Gedanke an Voigt ließ ihre Kiefermuskeln anspannen.
Die Datei mit ihrem Namen war noch offen. Sie starrte auf den Verlauf ihrer Zugriffe, als wäre es eine fremde Biografie. Ein virtuelles Abbild ihres Arbeitsalltags, heruntergebrochen auf Zahlen und Uhrzeiten: 11:06 Uhr – Zugriff auf Sitzungstranskript. 11:18 Uhr – Änderung am Artikelentwurf. 12:43 Uhr – Exportversuch auf externen Datenträger, abgebrochen. Immer wieder dieselben Punkte: Zugriff, Änderung, Rücknahme. Sie war sich sicher, viele dieser Aktionen nie bewusst durchgeführt zu haben.
Aber die App war sich sicher. Und offenbar auch jemand in der Redaktion.
Jemand beobachtete sie. Nicht erst seit heute.
Sie zog den USB-Stick aus ihrer Jackentasche und schob ihn in den Port. Kopierte alle Dateien, die mit den Therapielogs, den Videoaufzeichnungen und den Beta-Metadaten zusammenhingen. Während der Ladebalken voranschritt, starrte sie auf die Zahlen: 17%, 23%, 41%… Und dann kam das kleine Fenster, das ihr den Atem nahm.
Datei „ghost_capture_E2V6.mov“ konnte nicht kopiert werden.
Fehler: Zugriff verweigert – Datei wird aktuell verwendet.
Aktuell verwendet?
„Unmöglich“, flüsterte sie.
Sie klickte sich durch die Prozesse. Nichts. Kein aktives Fenster. Kein geöffnetes Abspielprogramm. Kein Hintergrunddienst. Und doch – die Datei war blockiert. Als würde jemand, irgendwo, sie in diesem Moment betrachten.
Sie zog den Stick wieder ab, schloss alle Fenster, packte ihre Sachen. Noch bevor sie den Rechner herunterfahren konnte, fror das Bild ein. Der Mauszeiger bewegte sich nicht mehr. Keine Reaktion auf Tastendruck. Und dann erschien mitten auf dem Bildschirm ein neues Fenster, ohne Rahmen, ohne Menüleiste. Nur Text.
„Stabilität ist eine Entscheidung. Die Wahrheit ist optional.“
Sie starrte auf die Worte. Schwarz auf Weiß. Keine Signatur, keine Quelle. Nach drei Sekunden verschwand das Fenster. Der Rechner startete neu – von selbst.
Sie blieb nicht, um zu sehen, was danach geschah. Ihre Beine bewegten sich, bevor ihr Verstand mitkam. Sie rannte. Durch den Flur, die Treppe hinunter, in den Morgen, der sich nicht entscheiden konnte, ob er Tag oder Nacht war.
Draußen war die Straße leer. Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft roch nach Spannung, nach Ozon, als hätte irgendwo ein Stromkasten Feuer gefangen. Sie lief die ersten Meter, dann zwang sie sich zum Gehen. Ruhig wirken. Unauffällig. Keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
In ihrem Kopf kreiste alles.
Die gelöschten Erinnerungen. Die Videoclips. Die unterschriebene Beta-Einwilligung. Der Zugriff, der sich nicht beenden ließ. Das System in der Redaktion, das ihr Verhalten verfolgte, wie ein Raubtier, das abwartete.
Sie nahm nicht den direkten Weg nach Hause. Sie bog ab, wechselte Straßenseiten, nahm einen Umweg durch eine Baustelle. Erst nach zwanzig Minuten betrat sie ihr Viertel. Ihr Herz schlug hart. Ihre Gedanken waren wie zerhackt, unvollständig. Manche Sätze formten sich, nur um sofort wieder zu zerbrechen. Nur eines war klar: Jemand hatte in ihr gearbeitet. Nicht metaphorisch. Nicht psychologisch. Sondern direkt – auf Systemebene.
Als sie ihre Haustür erreichte, griff sie automatisch zur Karte. Doch der Scanner blinkte rot. Kein Zugriff.
Sie tippte den Zahlencode. 1379.
Nichts.
Nochmal. 1379. Wieder rot.
Sie blieb stehen. Atmete tief durch. Schaute sich um. Die Straße war leer. Aber das Gefühl, nicht allein zu sein, klebte wie eine zweite Haut an ihr.
Ein kurzer Piepton. Der Scanner wechselte auf grün. Die Tür sprang auf.
Sie war sich sicher: Sie hatte nichts gedrückt.
Langsam stieg sie die Treppe hoch. Schritt für Schritt, jeder Tritt ein Schlag im Magen. Ihre Wohnungstür stand offen. Nur einen Spalt, aber weit genug, dass kein Zweifel blieb.
Sie holte tief Luft, schob die Tür langsam auf.
Drinnen war alles still.
Zu still.
Sie trat ein. Blieb im Türrahmen stehen.
Die Küche war leer. Das Licht aus. Der Kühlschrank summte. Der Regen hatte aufgehört. Aber der Boden glänzte – als hätte jemand vor kurzem mit nassen Schuhen den Raum durchquert.
Sie betrat das Wohnzimmer. Auf den ersten Blick war alles wie immer. Dann fiel ihr Blick auf den Laptop.
Er war geöffnet.
Und angeschaltet.
Das konnte nicht sein. Sie hatte ihn mitgenommen zur Redaktion. Und dann dort heruntergefahren. Das hier war ihr Ersatzgerät – das alte, mit Sprung im Bildschirm. Sie hatte ihn seit Wochen nicht mehr benutzt.
Aber jetzt lief er. Und auf dem Bildschirm war ein Fenster geöffnet.
Ein Textdokument.
Nur eine Zeile.
„Dein Cache wurde geöffnet. Danke für dein Vertrauen.“
Sie erstarrte.
Dann ging sie langsam rückwärts. Stieß fast gegen den Türrahmen. Drehte sich um. Schaute zur Wohnungstür. Nichts. Kein Geräusch. Kein Lichtflackern. Nur ihr Puls, der in den Ohren pochte wie eine zweite Realität.
Sie zog ihr Handy. Kein Netz. Kein Signal. Kein Zugriff auf die App.
Dann vibrierte das Gerät.
Eine Nachricht.
„Anomaler Zugriff bestätigt. Therapiepfad synchronisiert.“
Absender: Unbekannt
Dahinter ein Symbol. Kein Logo. Keine Buchstaben. Nur ein Auge. Nicht realistisch. Stilisiert. Ein geometrisches Muster, das sich wie eine Spirale in die Pupille zog.
Sie starrte auf das Bild. Es flackerte kurz. Dann wurde der Bildschirm schwarz.
Sie stand noch immer in der Tür, als plötzlich aus dem Inneren der Wohnung ein leiser Ton kam. Nicht laut. Nicht bedrohlich. Fast freundlich.
Ein Summen.
Langgezogen. Elektronisch.
Das Geräusch ihres Implantats, wenn eine neue Sitzung beginnt.
Sie griff hinter ihr Ohr. Aktivierte die Notabschaltung.
Doch diesmal geschah nichts.
Kein Flackern. Kein Vibrieren.
Nur das Summen.
Und dann – ein kurzer, stechender Schmerz, direkt hinter den Augen. Wie ein Lichtblitz, ohne Licht.
Sie taumelte zurück, stützte sich an der Wand ab.
Das Summen hörte auf.
Ihr Atem war flach. Ihre Hände zitterten.
Dann ertönte ein einzelner Ton. Hochfrequent. Kaum hörbar. Fast wie das Surren eines alten Fernsehers.
Und plötzlich war da ein Bild. Kein echtes – ein inneres. Wie ein Traum, der sich durch die Lider schob.
Ein Mann. Schattenhaft. Am Rand einer Klinik. Eine Unterschrift. Ihre. Ein Dokument. Ein Händedruck. Und dann Dunkelheit.
Die Szene verflog.
Sie öffnete die Augen.
Der Bildschirm war aus.
Der Raum war still.
Und in ihr: eine neue Lücke.
Nicht groß. Nur ein Fragment. Ein Splitter.
Aber sie wusste: Etwas war verändert worden.
Wieder.
Der Aufzug roch nach Glasreiniger und einem Hauch Zitronenöl. Keine Musik. Kein Spiegel. Nur glatte, helle Wände und eine dieser taktilen Oberflächen an der Wand, die keine Fingerabdrücke zuließen. Emily stand mit verschränkten Armen da, ihr Blick auf das kleine Display gerichtet, das langsam von 12 auf 13 sprang. Praxisetage, hatte die Empfangsdame gesagt, in diesem Tonfall zwischen professionell und tallisch, der in diesen Gebäuden üblich war. Wer hier arbeitete, sprach nicht, sondern kommunizierte – klar, präzise, steril.
Als sich die Türen öffneten, trat sie in einen Flur, der so sauber war, dass selbst die Luft geordnet wirkte. Links eine Fensterfront, durch die man direkt auf den Central Park blicken konnte, gerade jetzt im spätherbstlichen Morgendunst: goldene Blätter, dunkle Äste, der erste silbrige Reif auf den Gehwegen. Rechts eine geschlossene Tür, mattweiß, mit eingelassener Leuchtschrift: DR. ELIAS VOIGT – NEUROKOGNITIVE KURATIONSZENTRALE.
Emily trat näher, der Sensor erkannte ihre Bewegung, das Licht wechselte von Blau auf Grün. Ein kurzer Ton. Die Tür glitt zur Seite.
Der Empfangsbereich war das Gegenteil ihres eigenen Apartments: hell, geordnet, strukturiert. Kein überflüssiges Möbelstück. Keine Farbtupfer. Keine persönliche Note. Eine künstliche Topfpflanze – vielleicht eine echte, schwer zu sagen – stand in der Ecke, daneben ein Wasserspender mit digitalem Temperaturdisplay. Eine junge Frau hinter dem Tresen, akkurat frisierte Haare, grauer Rollkragen, begrüßte sie mit einem Lächeln, das in jedem anderen Kontext freundlich gewesen wäre. Hier war es funktional.
„Miss Carter. Dr. Voigt erwartet Sie. Zimmer C.“
Emily nickte, sagte nichts, ging an der Empfangsdame vorbei durch den Korridor, der in drei weitere Türen mündete. Über jeder Tür prangte ein digitales Etikett. Zimmer A – Sitzung. Zimmer B – Supervision. Zimmer C – Prioritätsanalyse.
C wie Carter, dachte sie. Oder C wie Control.
Dr. Voigt saß bereits auf seinem Platz, die Beine übereinandergeschlagen, ein digitales Tablet auf dem Schoß, die Finger gefaltet. Er trug ein dunkles Hemd, keine Krawatte, aber eine elegante Uhr – ein teures Modell, das fast schon zu unauffällig wirkte. Alles an ihm war auf eine Weise ausgewogen, dass es inszeniert wirkte. Aber nicht unangenehm. Voigt hatte die Aura eines Mannes, der wusste, wie man Zweifel auflöste, bevor sie ausgesprochen wurden.
„Emily“, sagte er, und sein Lächeln war exakt zwei Sekunden zu lang. „Schön, dass Sie es einrichten konnten. Nehmen Sie Platz.“
Der Sessel gegenüber war tiefer als erwartet. Absicht? Wahrscheinlich. Je tiefer man saß, desto weniger Kontrolle hatte man über Körpersprache. Emily bemerkte, dass der Tisch zwischen ihnen frei war. Keine Unterlagen. Kein Wasser. Nur das Tablet auf Voigts Schoß – und ihre eigene Unsicherheit.
„Wie fühlen Sie sich heute?“
„Müde“, antwortete sie. „Wach. Beides.“
„Ein häufiger Zustand bei unserer Klientel“, sagte Voigt. „Sie haben den Flugmodus wieder deaktiviert. Das System hat eine Teil-Synchronisation gemeldet.“
Emily zog eine Augenbraue hoch. „Sie überwachen meine App?“
„Wir erhalten Statusberichte“, antwortete er, ohne zu blinzeln. „Keinen Inhalt. Nur technische Parameter. Aus therapeutischen Gründen.“
Sie schwieg. Er ließ den Moment stehen.
„Haben Sie nach unserer letzten Sitzung ungewöhnliche Erfahrungen gemacht? Erinnerungen, die sich nicht vollständig anfühlen? Emotionale Reaktionen ohne klaren Auslöser?“
„Ja“, sagte sie. „Und nein. Es ist... schwer zu sagen. Ich erinnere mich an Dinge, aber manchmal fehlt mir das Gefühl dazu. Oder es ist da, aber ohne Bild.“
Voigt nickte. „Das ist ein Effekt der Depotenziation. Nicht gefährlich. Nur irritierend. Stellen Sie sich das wie ein Archiv vor. Manchmal ist die Schublade noch da, aber der Ordner ist leer. Oder das Etikett fehlt. Es ist nicht gelöscht – nur verschoben.“
„Aber warum?“, fragte sie. „Warum verschiebt man überhaupt etwas, das ich selbst erlebt habe?“
„Weil die Priorisierung Ihres neuronalen Systems durch emotionale Reize manipuliert werden kann“, erklärte Voigt. „Wenn ein Erlebnis zu stark gewichtet ist, beginnt es, andere Erinnerungen zu überlagern. Unser Ziel ist, Sie funktionsfähig zu halten. In Balance.“
Funktionsfähig. Emily spürte, wie sich ihr Nacken verspannte. Das war das Wort. Kein gesund, kein stabil – sondern funktionsfähig. Als wäre sie eine Maschine.
„Und wer entscheidet, was überlagert?“, fragte sie. „Ich? Oder die App?“
Voigt lächelte. „Ein Algorithmus. Auf Basis Ihrer Werte, Ihrer Historie. Und natürlich unter unserer Aufsicht.“
„Aber ich hab das unterschrieben, richtig?“, sagte sie. „Die Beta-Freigabe. Die Mirror-Session. All das.“
„Ja.“ Keine Sekunde Zögern. „Sie haben sich damals bewusst dafür entschieden. Ihr Zustand ließ vermuten, dass eine Prioritätskurierung sinnvoll sein könnte. Wir haben Sie entsprechend aufgeklärt.“
„Und wenn ich diese Entscheidung nicht mehr nachvollziehen kann?“
„Dann ist das ein Zeichen dafür, dass sie notwendig war.“
Sie lachte leise. Nicht aus Belustigung, sondern aus Überforderung. „Das ist ein ziemlich bequemer Kreis, finden Sie nicht?“
„Therapie ist kein Gerichtssaal, Emily“, sagte Voigt ruhig. „Es geht nicht um Beweise. Es geht um Wirkung.“
Sie betrachtete ihn. Die ruhige Körperhaltung. Die kontrollierte Stimme. Keine Bewegung war zufällig. Jeder Satz war so konstruiert, dass er gleichzeitig beruhigte und entwaffnete. Und doch – etwas in ihr rebellierte.
„Ich hab etwas gesehen“, sagte sie. „Ein Video. Von mir. In einer Klinik. Ich unterschreibe etwas.“
Voigt nickte. „Das Einwilligungsarchiv. Ja. Wir dokumentieren jede Beta-Freigabe visuell. Rein rechtlich.“
„Und was genau hab ich damals zugestimmt?“
„Der Teilnahme an einem erweiterten Kurationsprotokoll. Zugang zu experimentellen Prioritätsalgorithmen. Spiegelung und Dämpfung von Erinnerungsclustern, die in der Analyse als... belastend eingestuft wurden.“
„Und wer definiert belastend?“
„Die App. Und Sie. Über Ihre Verhaltensmuster. Ihre Sprache. Ihre emotionalen Reaktionen. Wir intervenieren nur, wenn der Prozess aus dem Ruder läuft.“
Emily spürte, wie sich ihre Hände zu Fäusten ballten. Sie zwang sich zur Ruhe.
„Und jetzt läuft er aus dem Ruder?“
Voigt tippte kurz auf das Tablet. Scrollte. „Es gibt Unregelmäßigkeiten. Leichte Verschiebungen in den Reaktionswerten. Unklare Trigger. Vielleicht Folge externer Einflüsse. Medien, Stress, Schlafmangel.“
„Oder Fremdzugriff“, sagte sie leise.
Voigt sah sie an. Nicht überrascht. Nicht beunruhigt. Nur wach.
„Was meinen Sie damit?“
Sie zögerte. Nur einen Sekundenbruchteil. Dann: „Ich hatte Zugriff auf eine Mirror-Session, die nicht aus meinem Archiv stammt. Keine Quelle. Kein Ursprung. Nur das Flag: ghost.“
Voigt neigte den Kopf. „Woher?“
„Zugespielt bekommen.“
„Von wem?“
„Quelle bleibt anonym.“
„Dann ist sie nicht vertrauenswürdig.“
„Oder besser geschützt als ich“, entgegnete sie.
Voigt schwieg. Dann sagte er: „Ich kann den Speicherpfad prüfen lassen. Offiziell. Wenn Sie möchten.“
„Und was passiert dann?“
„Dann wissen wir mehr. Oder weniger.“
Emily stand auf. Nicht abrupt. Aber mit Nachdruck.
„Ich komme nächste Woche wieder“, sagte sie. „Dann reden wir weiter.“
Voigt erhob sich ebenfalls. Keine Eile. Kein Versuch, sie aufzuhalten.
„Natürlich“, sagte er. „Bis dahin empfehle ich: aktivieren Sie keine alten Sessions. Keine Rückführungen. Kein manuelles Suchen.“
„Warum?“
„Weil nicht alles, was man findet, auch stabilisierend wirkt.“
Sie nickte. Drehte sich um. Ging zur Tür.
Und spürte auf halbem Weg, dass er sie noch beobachtete.
Die Tür schloss sich lautlos hinter ihr. Nicht einmal das typische Magnetgeräusch des automatischen Schließtallismus war zu hören. Emily blieb kurz im Flur stehen, die Fingerspitzen noch an der Türklinke, als müsste sie sich vergewissern, dass das Gespräch wirklich zu Ende war. Ihre Gedanken wirbelten, aber nicht chaotisch – eher wie Schneekristalle in einer Glaskugel: klar, kalt, langsam sinkend.
Sie durchquerte den Empfangsbereich, der genauso neutral wirkte wie bei ihrer Ankunft. Die Empfangsdame nickte ihr knapp zu, doch das Lächeln war weg. Vielleicht war es auch nie echt gewesen.
Im Aufzug war sie allein. Der Spiegel an der Wand zeigte ihr Gesicht verzerrt, das Licht von oben ließ die Schatten unter ihren Augen tiefer erscheinen, als sie waren. Oder vielleicht waren sie wirklich so tief. Sie hatte in der Nacht kaum geschlafen – und selbst das, woran sie sich erinnerte, fühlte sich mehr wie eine Simulation an als wie echter Schlaf. Bilder, die sie nicht zuordnen konnte. Geräusche, die sie beim Aufwachen noch hörte, aber nicht mehr benennen konnte.
Sie sah sich an. Nicht ihr Gesicht. Sondern ihr Spiegelbild. Und dachte zum ersten Mal: Was, wenn auch das nicht mehr ganz mir gehört?
Im Erdgeschoss roch es nach Reinigungsmittel und frischem Beton. Der Flur war leer, die Lichter grell. Als sie ins Freie trat, blendete sie der graue Himmel über Manhattan. Der Regen hatte sich in eine Art feuchte Luft verwandelt – kein richtiger Nebel, aber auch keine klare Sicht. Nur ein gleichmäßiger Schleier, der alles weichzeichnete.
Sie ging nach rechts, ohne nachzudenken. Der Park lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite, nur durch eine breite Kreuzung und eine Allee von dunklen Bäumen getrennt. Die Äste waren kahl, ihre Strukturen wirkten wie Adern vor dem Hintergrund des Himmels. Sie überquerte die Straße bei Rot. Niemand hupte. Niemand rief. Die Stadt war müde heute.
Ein Stück weiter, am Rand des Parks, stand eine Bank. Emily setzte sich. Der Stein war kalt, aber das interessierte sie nicht. Sie wollte nur atmen. Denken. Struktur in die Dinge bringen.
Sie öffnete ihr Implantat-Interface. Nur ein kurzer Impuls mit der linken Hand am Hinterkopf, ein geübter Griff. Das Interface erschien in ihrem Sichtfeld, halbtransparent, leicht flimmernd. Ein kleiner Kreis drehte sich.
Systemstatus: instabil – Cache nicht vollständig synchronisiert.
Sie tippte auf den Button „Details anzeigen“.
Anomale Session: ghost_flag
Herkunft: nicht verifiziert
Spiegelpfad: aktiv (partiell)
Letzte Aktivität: 11:06 Uhr – Sitzung Voigt
Das bedeutete, dass ihr Gespräch mit Voigt nicht nur registriert, sondern bereits teilweise in einen Spiegelpfad überführt worden war. Das war nicht vorgesehen. Der therapeutische Modus war offiziell immer live only. Aber offenbar hatte das System längst begonnen, die Sitzung zu analysieren, bevor sie zu Ende war.
Sie deaktivierte das Interface, lehnte sich zurück. Der Wind kam vom Norden, trug den Geruch von feuchtem Laub und altem Stein mit sich. Eine Gruppe Schüler lief an ihr vorbei, Lachen, Stimmen, zu schnell, zu laut. Dann wieder Stille.
Emily schloss kurz die Augen. Und da war er wieder – dieser winzige, kaum merkliche Moment von Verschiebung. Als hätte jemand ein Bild in ihrem Kopf verschoben. Ein Fragment. Kein ganzes Bild. Nur eine Farbe. Eine Geste. Ein Geräusch. Aber es gehörte nicht hierher.
Sie sah wieder auf. Alles war wie vorher.
Du wirst funktionsfähig gehalten.
Voigts Worte hatten etwas in ihr berührt, das sie bisher nicht benennen konnte. Aber sie kannte das Gefühl: Es war das, was blieb, wenn man belogen wurde – und tief im Innersten bereits wusste, dass es eine Lüge war, noch bevor sie ausgesprochen wurde.
Was hatte Voigt gesagt? Nicht gelöscht – nur verschoben. Und sie hatte es akzeptiert. Oder war es das System, das ihr geholfen hatte, es zu akzeptieren?
Ein leiser Signalton ertönte. Ihr Handy vibrierte. Eine Nachricht von Jax.
JAX: Und? Wie war der Schöngeist?
EMILY: Kontrolliert. Berechnend. Wie erwartet.
Aber: Er weiß, dass ich was weiß. Und er spielt auf Zeit.
JAX: Hat er was bestätigt?
EMILY: Nur das, was ich schon wusste. Und das, was er mir selbst gegeben hat.
JAX: Also alles und nichts.
EMILY: Genau das.
JAX: Ich hab was für dich. Treffen? Bushwick. Unser Diner.
EMILY: Heute?
JAX: Jetzt. Je später, desto gefährlicher.
