Klosterschüler in Dachsberg - Walter Weinberg - E-Book

Klosterschüler in Dachsberg E-Book

Walter Weinberg

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Beschreibung

Für den zehnjährigen Bauernbub Walter war es ein harter Schritt, in ein streng religiöses Klosterinternat zu ziehen. Das Internatsleben war geprägt von der Gefahr, von älteren Schülern geschlagen oder von Erziehern bestraft zu werden, wenn die strikten Regeln übertreten wurden! Walters Kindheit war schlagartig zu Ende! Um nie wieder wehrlos verprügelt zu werden, beschloss Walter, hart zu trainieren. Weil er sich plötzlich gegen Schikanen zur Wehr setzte, verbesserte sich seine Situation schlagartig! Ungerechte Bestrafungen wollte Walter keinesfalls länger ertragen und wandelte sich zum Rebellen, der sich nichts mehr gefallen ließ! Mit seinen Freunden erlebte er aufregende Abenteuer und hatte Spaß. Verbotenes hatte dabei einen besonderen Reiz! Überraschend erhielt Walter eine Liebesbotschaft und verliebte sich Hals über Kopf ...

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Seitenzahl: 415

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Walter Weinberg

Klosterschüler in Dachsberg

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung / Vorwort

Brief einer Mutter

Abschied von zu Hause

Hartes Leben im Internat

Resignation

Herausforderndes zweites Jahr

Außenseiter

Selbstbewusst ins dritte Jahr

Aufregendes letztes Jahr in Dachsberg

Liebeskrank

Rebell im Internat

Überraschendes Wiedersehen

Wiederkehrender Traum

Der Autor

Impressum neobooks

Widmung / Vorwort

Walter Weinberg

KLOSTERSCHÜLER

in

Dachsberg

Mein bester Freund im Internat, Thomas

hat sich leider das Leben genommen.

In dankbarer Erinnerung an unsere Freundschaft

in dieser bewegten Zeit widme ich ihm dieses Buch.

Copyright © 2024 Walter Weinberg.

Alle Rechte vorbehalten. E-Mail: [email protected]

Viel Zeit ist vergangen, seit ich in den 1980er-Jahren im Klosterinternat Dachsberg gelebt habe. Jetzt, viele Jahre später, hat bereits meine Nichte Viktoria hier maturiert, und ihre jüngere Schwester Helena besucht zurzeit das Gymnasium. Einige in diesem Buch vorkommenden Mitschüler sind Lehrer in Dachsberg geworden.

Mein bester Freund im Internat, Thomas, hat sich leider das Leben genommen. In dankbarer Erinnerung an unsere Freundschaft und an seine Unterstützung in dieser schwierigen Zeit widme ich ihm dieses Buch! Der Brief auf der nachfolgenden Seite wurde von seiner Mutter verfasst. Leider ist mein Held im Kloster, Bruder Josef „Josy“ ebenfalls verstorben. Als meine Nichte Viktoria 2011 ihre Schulzeit in Dachsberg begann, bot ich ihr an, falls sie Hilfe jeglicher Art brauche, könne sie sich jederzeit an Josy wenden. Ich hoffte, dass er auch ihr ein guter Freund sein würde und sie einiges von ihm lernen könnte. Leider ist er in Viktorias erster Schulwoche völlig unerwartet verstorben. Durch meine vielen Besuche nach meiner Schulzeit wusste ich, dass Josy im Kloster sehr einsam war und immer weniger Sinn im Leben fand. Die Schulleitung nahm ihm fast alle seiner Aufgaben weg, und das Kloster wurde mangels Klostereintritte immer leerer. Josys Todesursache war Herzversagen, und das mit 63 Jahren! Vielleicht ist sein Herz langsam zerbrochen, weil er keinen Kontakt mehr zu den Schülern hatte, den er Jahrzehnte lang liebend gerne gepflegt hatte!

Als mein Vater tödlich verunglückte und wir die Beerdigung vorbereiten mussten, wurden wir von meinem ehemaligen Erzieher Wolfgang Froschauer betreut, der mittlerweile Leiter meiner Heimatpfarre ist. Meine Mutter nutzte die Gelegenheit, ihm von diesem Buch zu erzählen. Er war überrascht, dass ich alles aufgeschrieben habe. Nach dem Lesen bat er mich um Verzeihung für seine Fehler als Erzieher. Er war lange im Gymnasium als Lehrer tätig, hat aber die Arbeit als Erzieher schon kurz nach meiner Zeit aufgegeben.

Dobi, einer meiner besten Freunde, liest seit 30 Jahren mit seiner Frau jeden Abend vor dem Einschlafen ein paar Seiten der Urfassung dieses Buches. Auch ihn lässt diese Zeit nicht los!

Brief einer Mutter

Lieber Walter!

Mit großer Begeisterung habe ich Dein Manuskript gelesen, oft bis weit in die Nacht hinein.

Ich bewundere Deine Wahrnehmungs- und Merkfähigkeit! Das Brechen von Tabuthemen und wie Du Deine Gefühle ausdrücken kannst.

Wenn ich gewusst hätte, wie es Thomas dort wirklich gegangen ist, hätte er nicht bleiben brauchen. Von P. Angleitner sind meine Anfragen, wie es ihm geht und wie er sich nach Rückkehr ins Internat verhält, stets heruntergespielt worden. So glaube ich zumindest jetzt!

Vielleicht hat Dich Deine harte Zeit so herausgefordert, dass Du doch auch etwas mitnehmen konntest und so ein Stück Weg zu Dir gefunden hast und dadurch gestärkt hervorgegangen bist. Ich habe nämlich den Eindruck, dass Du eine starke Persönlichkeit bist!

Auch wenn die äußere Freiheit eingeschränkt ist, wünsche ich Dir, dass Du Dir Deine innere Freiheit stets bewahren kannst und Dein Leben weiterhin gelingt.

Danke fürs Lesenlassen. Würde mich freuen, wenn Du uns wieder einmal besuchen könntest.

Herzliche Grüße,

Margarete Obermüller!

Abschied von zu Hause

10. September 1985: Es war ein schwüler, bewölkter Spätsommertag, an dem meine Mutter und ich Bettzeug, Kleidung und Schulsachen packten. Ich war ein zehnjähriger Junge vom Bauernhof, der die Natur liebte und bevorzugt im Freien spielte. An diesem Tag verließ ich widerwillig mein Zuhause, um in das Internat Dachsberg zu ziehen.

Im Winter desselben Jahres hatte ich mit meinen Eltern das Gymnasium und Internat Dachsberg zum ersten Mal besucht, um es zu besichtigen und angemeldet zu werden. Wir hatten damals einen Termin mit dem Heimleiter Pater Prinz vereinbart. Es war ein sehr kalter Sonntagnachmittag mit Schneefall. Wir fuhren von zu Hause durch St. Thomas, wo mein Onkel lebte. Schon ein paar Minuten später erreichten wir Dachsberg. Es war überhaupt nicht weit von zu Hause!

Wir betraten das Internatsgebäude, das wir glücklicherweise sofort fanden, in diesem unüberschaubaren Gebäudekomplex. Auch das Präfektendienstzimmer konnten wir auf Anhieb finden. Dort telefonierte gerade ein älterer Herr: „Tut mir leid, unser Heimleiter Pater Prinz ist heute leider nicht hier. Bitte rufen Sie morgen wieder an! Auf Wiederhören!“ Mein Vater fragte trotzdem: „Grüß Gott, wo finden wir Herrn Pater Prinz?“ „Ja“, antwortete Pater Elias: „Der ist heute nicht da, aber ich kann Sie zu unserem Direktor bringen!“

Mir flößte das monströse Gebäude wegen seiner enormen Größe große Angst ein! Wir schritten die langen Gänge, geführt von dem hageren Pater entlang, bis wir über die Stiege und einen weiteren endlosen Gang in das Schloss gelangten, wo sich das Büro des Direktors befand. Mich innerhalb eines derart hohen und langen Bauwerks zu befinden, bereitete mir Unbehagen. Irgendwie war es wie ein Bienenstock, nur in Menschengröße. Als Kind vom Land war das für mich eine völlig andere Welt!

Wir begrüßten den Direktor Pater Biregger. Meine Eltern sprachen mit ihm über mein mittelmäßiges Halbjahreszeugnis von der Volksschule: „Ob Walter mit einem Dreier in Mathematik überhaupt aufgenommen werden kann?“ Direktor Biregger meinte: „Leider sind wir ja schon ziemlich voll für das nächste Schuljahr, aber wenn jemand ausfällt, werden wir ihn aufnehmen. Es fallen tatsächlich jedes Jahr welche aus!“ Der wohlbeleibte Pater bot uns eine Führung durch das Innere von Dachsberg an. Wir gelangten durch einen dunklen, fensterlosen Gang zur Kapelle, als mich plötzlich ein totes Zebra, dessen Fell an der Wand hing, erschreckte. Die ausgebreiteten schwarzen Streifen an der Wand empfand ich als besonders gruselig! Ich war regelrecht erschaudert, was Pater Biregger bemerkte: „Ich muss mich entschuldigen, es brennt kein Licht, weil ja am Sonntag kein Schulbetrieb ist!“ Vorm Eingang zur Kirche war eine dicke Betonsäule und ein großes Kreuz mit einem lebensgroßen, von Schmerz und Wunden gezeichneten Christus.

Zur Kapelle musste man durch eine schmale Schiebetür die Stiege hinuntersteigen. Unten war es eiskalt! Biregger erklärte: „270 Personen finden hier Platz!“ Später als Schüler erkannte ich den Mangel an Plätzen, weil die meisten dem langen Gottesdienst im Stehen beiwohnen mussten! An der Altarwand hing eine übergroße, sehr ungewöhnliche Jungfrau Maria mit ausgestreckten Armen, die mir vorkam wie ein Jüngling. Der Direktor erklärte zur Statue: „Das ist unsere Sonne!“ Er meinte allerdings nicht die Jungfrau Maria, sondern den Heiland Jesus Christus. Der hatte hier überraschenderweise keinen Bart und war für mich keinesfalls ein echter Jesus! Die ganze Kapelle wirkte ausgesprochen seltsam und distanziert in ihrer Siebzigerjahre-Architektur. Es gab kein Gold, keine Verzierungen und vor allem weder schöne Gemälde noch Statuen!

Wir gingen zu den kleinen Seitenaltären. Pater Biregger fragte mich: „Walter, wer ist denn der Mann, der da im Seitenaltar dargestellt ist?“ Ich sah das bunte Glasbild an und antwortete zögernd: „Das weiß ich nicht!“ Der Pater war über mein Unwissen überrascht: „Das ist der Heilige Josef mit dem Jesuskind!“ „Aber der Josef hat doch einen Bart?“, entgegnete ich. Anscheinend hatte in dieser Kirche keiner der Heiligen einen Bart! Wir besichtigten anschließend den Festsaal mit einer schön verzierten Theaterbühne und den imposanten Speisesaal, der einzige Raum, der mich schließlich doch überzeugen konnte, dass Dachsberg tatsächlich ein Schloss ist! Nach dem barocken Speisesaal, der mir auch zu Hause noch imponierte, zeigte uns Biregger den Bastelraum. Die offenen Fenster des Bastelraumes, durch die man in den Turnsaal blicken konnte, gefielen mir besonders. Das war das Ende der Tour durch Dachsberg. Schlafzimmer oder Spielzimmer wurden uns keine gezeigt!

Am Weg zum Auto faszinierte mich ein Übergang mit Fenstern direkt über der Straße, ähnlich der Seufzerbrücke in Venedig. Mir war wirklich zum Seufzen zumute, als ich mir vorstellte, hier leben zu müssen!

Als wir von Dachsberg nach Hause kamen, teilte ich meiner Mutter unmissverständlich mit: „Mama, mir gefällt es dort nicht. Ich will da nicht hin!“ Sie meinte: „Das wird schon! Wenn Du erst einmal dort bist, wird es dir sicher gefallen!“ Ich dachte, weil vermutlich eh kein Platz frei wird, nehmen sie mich sowieso nicht! Ich versuchte Dachsberg wieder zu vergessen und freute mich, am Montag meine Freunde in der Volksschule wiederzusehen. Mit keinem Wort erwähnte ich meinen schrecklichen Ausflug vom Sonntag!

Mehr als ein halbes Jahr war vergangen und ich musste gegen meinen Willen noch mal mit meiner Mutter nach Dachsberg fahren, aber dieses Mal musste ich tatsächlich dortbleiben! Vor den Sommerferien meldete mich meine Mutter aufgrund eines frei gewordenen Platzes endgültig in Dachsberg an. Ein Schüler mit den besten Schulnoten hatte abgesagt und somit den Platz für mich frei gemacht. Katastrophales Pech gehabt, dachte ich und übte mich den ganzen Sommer über in Realitätsverweigerung!

Am Vorabend meines Umzuges ins Internat fing im Fernsehen die neue Serie „Der Leihopa“ an. Ich wusste, die zweite Folge werde nicht mehr sehen können. Mein Vater schenkte mir am Abend vor meiner Abfahrt eine Armbanduhr, damit ich nie zu spät zur Schule oder zu den Studierzeiten komme. Im Internat bemerkte ich als Erstes, wie viele Uhren es überall an den Wänden gab, aber ich freute mich trotzdem über die Uhr von Papa!

Am nächsten Tag war der Kofferraum des Autos gefüllt und ich musste einsteigen, ob es mir passte oder nicht! Meine Mutter fuhr mich nach Dachsberg, was mir lieber war angesichts des Umstandes, dass ich keinesfalls dort hin wollte! Die Autofahrt dauerte nur 10 Minuten, bis wir plötzlich das Schild „Ausfahrt Schule“ erblickten und kurz darauf den riesigen Gebäudekomplex von Dachsberg. Angst und Bange erfassten mich! Die Realität hatte mich eingeholt. Wir gingen durch den Internatseingang zum Präfektendienstzimmer und begrüßten dort tatsächlich den Heimleiter Pater Prinz. Als wir damals nach der Besichtigung nach Hause fuhren, verband ich den Namen Prinz mit dem sympathischen Direktor Biregger. Jetzt war es schwierig für mich, den Namen Prinz mit diesem fremden Mann in Verbindung zu bringen! Er teilte uns meine Zimmernummer mit: 24 im zweiten Stock. Oben angekommen, schritten wir den langen Gang hinter der Glaswand entlang bis zum letzten Zimmer. Es war jener Stock mit den orangen Türen. Im ersten Stock waren die Türen grün.

Bevor wir das Zimmer betraten, sah ich aus dem Fenster am Ende des Ganges. Ich hatte nicht gedacht, dass ich dermaßen hoch oben wohnen würde! Im Zimmer erblickte ich meinen Freund aus der Volksschule, Christoph, der einzige meiner Freunde, den ich überreden konnte, mit mir nach Dachsberg zu kommen. Christoph hatte offensichtlich bereits einen neuen Freund gefunden, mit dem er Fußballspielen wollte. Ich fragte ihn, weil ich nicht alleine bleiben wollte: “Hast du denn einen Fußball mit?“ „Nein, aber der Herr unten hat gesagt, er gibt uns einen!“ Jedenfalls wusste ich jetzt, dass Christoph und sein neuer Freund mit mir das Zimmer teilen. Es fehlten noch zwei Burschen, die ebenfalls mit mir im Zimmer schlafen würden.

Eine zarte Frau betrat mit ihrem wohlbeleibten, stark aussehenden Sohn das Zimmer. Er kam mir vor, als würde er sich gerne prügeln! Meine Mutter plauderte mit der Frau, während ich den starken Buben musterte. Meine Mama fragte, ob sie mit uns einen Rundgang durch das Internat unternehmen will. Der starke Junge war natürlich auch dabei. Wir sprachen kein Wort miteinander, vor allem weil ich Angst vor ihm hatte! Ich musste dringend auf die Toilette, aber wir kamen an keiner vorbei. Ich traute es mir wegen der Frau und dem Jungen meiner Mutter nicht zu sagen, aber auf einmal musste ich wirklich dringend! Wir mussten schnell zurück ins Erdgeschoß, um dort den Heimleiter zu fragen, wo eine Toilette zu finden ist. „Einfach nach einer Tür mit einem „H“ Ausschau halten!“, erklärte Pater Prinz. Später fand ich eine Tür mit „D“ wie Dame. Ich hatte es begriffen!

Der gefürchtete Moment war gekommen, an dem sich Mama von mir verabschieden musste! Ich konnte mir das Weinen nicht mehr verkneifen. Sie begleitete mich noch bis in den Studiersaal, wo wir uns einzufinden hatten, und verließ mich. Ich brach in Tränen aus, als sie wegging! Die fremden Buben im Saal machten mir Angst. Ich schämte mich nicht, dass ich weinte, denn das wäre angesichts meiner Verzweiflung das Geringste meiner Probleme gewesen! Ich konnte ohnehin nicht aufhören zu weinen und meine Tränen flossen in Strömen über mein Gesicht. Meine kindliche Welt war gerade eingestürzt! Ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt ganz auf mich alleine gestellt war.

Plötzlich betrat ein jüngerer Herr den großen Raum und stellte sich vor: „Ich bin Euer Präfekt Pater Angleitner!“ Ein blonder Junge stellte ihm sofort eine Frage: „Herr Lehrer ...“ Ich war überrascht, dass er den Pater „Lehrer“ nannte. Meine Mutter wies mich ausdrücklich darauf hin, die Lehrer und Erzieher in Dachsberg ausschließlich mit „Herr Professor“ anzusprechen! Ich war also nicht der Einzige, dem das komisch vorkam! Ich hatte mich gerade ein wenig beruhigt, als ich durchs Fenster blickte und plötzlich Mama sah, wie sie die Stiege zum Parkplatz hinaufstieg. Mir fiel erst jetzt auf, dass sie das dunkelbraune Kleid mit dem weißen Muster trug, das sie sonst nur zu feierlichen Anlässen anhatte. Vielleicht hatte sie noch mit der kleinen Frau gesprochen, sonst wäre sie sicher schon längst weg gewesen! Ich fing wieder bitterlich zu weinen an. Jetzt war mein Schmerz sogar noch größer als zuvor! Es war aber keine Zeit, hier weinend sitzen zu bleiben, weil uns der Präfekt sofort nach der Begrüßung in den barocken Speisesaal führte. Der Saal war überdimensional und sah aus wie eine Kirche. Später erfuhren wir, dass der Speisesaal tatsächlich früher die Kapelle des Schlosses war. Nach der kargen Jause mit wirklich schwarzem Schwarzbrot, das nur unter der Rinde dunkelbraun war, mussten wir auf unser Zimmer gehen.

In tiefer Trauer schritt ich hinter den anderen Jungs die langen Gänge entlang. Ich fühlte mich ähnlich wie beim Leichenzug anlässlich des Begräbnisses meines Opas vor einigen Monaten! Im obersten und allerletzten Zimmer angekommen, stellten wir uns gegenseitig vor. Christof und Christian sprachen davon, dass einer mit dem Namen „Guido“ fehle. Solch einen Namen hatte ich noch nie zuvor gehört! Wie gerufen betrat Guido das Zimmer: Ein dicker, rothaariger Junge, der sehr gut gelaunt war! Er hatte sich das Eckbett an der Trennwand zu den Waschbecken genommen. In all den Jahren in Dachsberg, egal in welchem Zimmer, beanspruchte er dieses Bett für sich, das mit Abstand das Beste war.

Für mich war kein gutes Bett mehr frei! Ich musste das Mittlere nehmen, wo man von allen Seiten gesehen wurde und das nirgendwo Schutz bot. Ich hatte keine Möglichkeit, mich an eine Wand zu drehen, an der ich unbeobachtet gewesen wäre. Tatsächlich litt ich das ganze Jahr am Mangel an Geborgenheit in diesem exponierten Bett!

Plötzlich betrat Pater Köckeis das Zimmer und bot allen Interessierten an, sich seiner Führung durch das Haus anzuschließen. Diesen älteren Pater sah ich zum ersten Mal: Ein hagerer, großgewachsener Herr mit Brille und schütterem Haar. Mir kam die Möglichkeit, an der Führung teilzunehmen, sehr gelegen. Ich hatte immer noch Angst vor meinen Zimmergenossen und mein Freund Christoph ignorierte mich völlig, was mich sehr schmerzte! Zusätzlich hatte ich enorme Angst, mich in diesem unendlich wirkenden Gebäude niemals alleine zurechtzufinden. Als wir vom Erdgeschoß in das Stiegenhaus des Schulgebäudes geführt wurden, machte mich der Blick in das hohe Stiegenhaus schwindelig. Dieses Schulgebäude war das höchste Bauwerk, das ich in meinem bisherigen Leben gesehen hatte!

Nachdem wir durch alle Räume, die ich schon im Winter gesehen hatte, geführt wurden, mussten wir noch einmal im Studiersaal Platz nehmen. Dort hänselte der große blonde Junge, der den Präfekten mit „Herr Lehrer“ angesprochen hatte, den starken Buben aus meinem Zimmer und verhöhnte ihn: “Gel, du bist mit deiner Mama verheiratet!“ Irgendwie musste er erfahren haben, dass die Mutter des starken Buben alleinerziehend war. Der starke Bub blickte verzweifelt drein und hatte Tränen in den Augen. Das grausame Spiel wurde mit der Aufforderung, uns zur Nachruhe zu begeben, beendet! Bevor wir den Studiersaal verlassen durften, wurde noch das Nachtgebet von Pater Angleitner gesprochen. Im Zimmer zog sich der starke, traurige Bub komplett nackt aus und wusch sich beim Waschbecken mit einem Waschlappen. Während wir ihn dabei beobachteten, mussten wir alle kichern. Sich vor anderen ganz nackt auszuziehen war wegen der konservativen Gesellschaft zu der Zeit ein Tabu! Es fielen auch blöde Bemerkungen wegen der fülligen Figur des starken, nackten Buben. Jetzt wusste ich, dass er gar nicht so stark war. Kaum war das Licht abgedreht, weinte er, so wie auch ich. Diese erste Nacht im Internat war geprägt von unseren abwechselnden Seufzern in der Dunkelheit! Es war viel zu früh für mich, um diese Uhrzeit schlafen zu müssen. Zu Hause durfte ich gewöhnlich noch fernsehen und bekam eine heiße Schokolade. Ich schwelgte in Erinnerungen, als wäre meine Kindheit vorbei und die glücklichen Abende längst vergangen. Ich vermisste es, alleine in einem Zimmer zu schlafen und meine Ruhe zu haben. Irgendwann schlief ich dann doch ein.

Als ich am nächsten Morgen viel zu früh aufwachte, aufgrund des Geplärres der Schweine im Saustall gegenüber, war ich gespannt auf den ersten Schultag in meiner neuen Schule. Ich war guter Dinge trotz des Schmerzes des vergangenen Tages. Für mich hatte ein neuer Lebensabschnitt begonnen! Nach dem Frühstück suchten Christoph und ich unser Klassenzimmer, das wir im zweiten Stock fanden. Alle Möbel waren schön und alles war sauber, nicht zerkratzt, so wie in der Volksschule. Die „externen“ Schüler, die mit dem Bus kamen, befanden sich bereits alle in der Klasse. Christoph und ich setzten uns nach hinten. Er sprach die zwei Buben in der Reihe vor uns an und berichtete mir: “Der eine da vor dir heißt auch Walter!“ Ich war zu ängstlich, um etwas zu dem Fremden zu sagen. Eine Glocke ertönte unüberhörbar und sofort betrat eine große blonde Dame das Klassenzimmer. Es wurde still und wir mussten aufstehen. Nach der Begrüßung sprach sie das Morgengebet. Sie schrieb ihren Namen auf die Tafel: „Frau Professor Söllinger“. Sie forderte uns auf, ihr umgehend in die Kapelle zu folgen.

Die kleine Klosterkirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Nachdem die Kirchenglocke geläutet hatte, betraten zehn Patres und zwei Ministranten den Altarraum. So viele Priester um einen Altartisch hatte ich zuvor noch nie gesehen. Priester gab es anscheinend im Überfluss in diesem Kloster! Direktor Pater Biregger begrüßte die Schüler, vor allem die Neuen. Dann sprach er wieder von einer Sonne im Altarraum. Ich wusste nicht, ob er das große runde Glasfenster an der Decke meinte, von dem das Sonnenlicht auf den Altar strahlte, oder die Jungfrau Maria alias Jesus ohne Bart.

Nach der Messe marschierten wir wieder in die Klasse und die blonde Dame teilte die Schulbücher an uns aus. Plötzlich klopfte jemand an die Tür. Eine mütterlich wirkende Frau betrat die Klasse: “Brigitte, teilst du heute schon die Schulbücher aus?“ Söllinger antwortete: “Ja, Ulli!“ Die freundliche Lehrerin meinte darauf: “Dann mach ich das bei meiner Klasse auch heute!“

Wir waren alle überrascht und schockiert zugleich, als wir am ersten Schultag eine umfangreiche Hausübung von Professor Söllinger bekamen. Um elf Uhr entließ sie uns und schickte die Internatsschüler weiter zu Pater Angleitner in den Studiersaal. Er teilte uns mit, dass wir nun zur „Ausgabe“ von Pater Prinz gehen müssen, um uns das Packpapier für das Auskleben unserer Tischschubladen zu holen, die er als Pultladen bezeichnete. Bei dieser Ausgabe erhielten wir auch weiteres Schulzeug wie bunte Leuchtstifte, Lineale, Hefte usw. Alles, was wir dort holten, wurde auf die Internatsrechnung gesetzt, was mir nicht bewusst war!

Danach mussten wir obligatorisch unser Taschengeld bei Pater Köckeis abgeben, der es in einer Eisenkassette verwahrte. Bei der sogenannten „Geldausgabe“ konnten wir Teilbeträge davon bei Pater Köckeis erbitten. Nur 25 Schillinge (1 Euro und 80 Cent) durften wir behalten. Nach dem Auskleben der Pultladen mussten wir die Hefte und Bücher einbinden und danach in das Pult einräumen. Diejenigen, die es schafften, das Pult am schönsten zu ordnen, erhielten nach der Kontrolle von Pater Angleitner eine Waffelpackung oder Schokolade, und das zum Verdruss der weniger Ordnungsbegabten!

Um 13:05 gab es jeden Tag das Mittagessen im Speisesaal. Dort wurde vor und nach dem Essen gebetet. Jeder Internatler bekam einen fixen Platz im Speisesaal für das gesamte Schuljahr zugewiesen. Mein Tisch war nahe am Eingang. Unser „Tischmeister“ war Glas Peter aus der vierten Klasse. Die Aufgabe des Tischmeisters bestand darin, das Essen auszuteilen sowie für Ordnung und Ruhe zu sorgen. Als disziplinarische Maßnahme konnte er „Nachschubverbot“ verhängen. Das bedeutete, man bekam von den besten Speisen keinesfalls Nachschlag! Unser Tischmeister Peter war Gott sei Dank gerecht beim Verteilen des Essens, im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden, die nur ihren Lieblingen genügend von den guten Speisen vergönnten! Jedem Tisch waren in den Kühlregalen zwei Boxen mit der jeweiligen Tischnummer zugewiesen. Darin mussten wir unser mitgebrachtes Essen unterbringen. Die überfüllten und schweren Boxen mussten in den großen Pausen von den eingeteilten Schülern auf die Tische getragen werden. Dabei ging oft etwas zu Bruch, wie zum Beispiel Flaschen, die beim mühevollen Tragen leicht herausfielen. Zusätzlich gab es für jeden Tisch im Kasten ein Fach für Brot und Getränke von zu Hause. Ich wünschte mir die ganze erste Woche, meine Mama hätte mir auch etwas zu essen miteingepackt. Das Essen hier in Dachsberg war höflich formuliert ungenießbar!

Nach dem Essen wollte ich endlich alleine sein, mich im Zimmer ausruhen und an zu Hause denken. Nachdem ich die Stiegen zum zweiten Stock hinter mir gelassen hatte und die Tür zum Gang zu den Zimmern öffnen wollte, stellte ich mit Entsetzen fest, dass sie versperrt war! Ich fühlte plötzlich den Schmerz vom Vortag wieder in meiner Brust. Auf dem Weg in den Studiersaal entdeckte ich eine hölzerne Telefonzelle in der Aula. Dort stellten sich einige Schüler an, um zu telefonieren. Kaum hatte ich mich in die Reihe gestellt, kam Pater Angleitner auf mich zu und teilte mir mit: “Walter, die Neuen dürfen im ersten Monat nicht telefonieren!“ Ich erschrak und war den Tränen nahe. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, warum es verboten war, zu Hause anzurufen. Tränen flossen über meine Wangen, weshalb ich unbedingt allein sein wollte! Nirgendwo fand ich einen Platz, wo ich mich verkriechen hätte können. Zeit war auch keine mehr für meinen Schmerz, weil die lange Studierzeit begann, in der ich die Hausaufgabe erledigen musste!

Um Viertel nach vier nachmittags begann die Freizeit. Ich hörte, wie ältere Schüler den Präfekten fragten, ob sie zum Einkaufen weggehen dürfen. Ich war überrascht, dass es hier mitten in der Einöde ein Geschäft gab. Als Christoph und ich fragten, ob wir auch zum Einkaufen gehen dürfen, entgegnete Pater Angleitner: “Hab ich nicht schon erwähnt, dass die erste Klasse im ersten Monat nicht weggehen und nicht telefonieren darf?“ Für mich machte das alles keinen Sinn! Noch vor Kurzem bin ich mit meinem Fahrrad eine viel weitere Strecke als nach Dachsberg gefahren. Ganz alleine habe ich die Schaunburg besucht und bin durch die Stadt Eferding geradelt. Hier durfte ich nicht rausgehen, nicht telefonieren und auch nicht ins Zimmer gehen! Ich war verzweifelt und sah keinen Ausweg. Am liebsten wäre ich einfach verschwunden, wohin auch immer. Einfach sterben und sich in Luft auflösen, kam mir in den Sinn!

Als wir um acht Uhr ins Bett mussten und das Licht abgedreht wurde, konnte mich endlich keiner mehr beobachten. Ich wollte nicht, dass mich die anderen noch mal weinend sehen. In der Dunkelheit ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf. Im Schutz der Nacht musste ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten! Aber ich litt still, um nicht gehört zu werden. Mein Heimweh war in dieser Nacht mehr als unerträglich! In meiner Brust fühlte ich großen Druck und mein Herz schmerzte. Ich bekam kaum Luft! Ewig lag ich weinend und wach im Bett. Vergeblich hoffte ich einzuschlafen. Die Kirchenglocke, die alle 15 Minuten läutete, um die Uhrzeit zu verkünden, tat ihr Übriges, um mich wachzuhalten! Ich fühlte mich, als wäre ich nur hier, weil ich etwas Schlimmes angestellt hatte, wovon ich aber nichts wusste. Ich empfand diesen Ort, als wäre er sehr weit weg von zu Hause!

Am frühen Morgen nach meiner schlaflosen Nacht zog sich Guido plötzlich an, obwohl es noch vor sechs Uhr war. Er weckte den ebenfalls vom Heimweh geplagten „starken“ Buben und fragte ihn, ob er ihn in die Kapelle begleiten wolle. Ich überlegte, woher Guido wissen konnte, dass man um diese Zeit in die Messe gehen könne?

An diesem Schultag ging der Unterricht richtig los. In Deutsch mussten wir einen Aufsatz schreiben, und in Englisch forderte die blonde Dame unsere Hausaufgabe zur Kontrolle auf ihrem Tisch! Guido und ich sprachen nach dem Unterricht zum ersten Mal miteinander. Am nächsten Morgen begleitete ich ihn in die Frühmesse. Es war endlich Freitag! Am folgenden Tag werde ich endlich nach Hause fahren dürfen. Nach dem Unterricht wurde das Pult wiederholt kontrolliert, und die Ordentlichsten bekamen wieder Süßigkeiten von Pater Angleitner. Dieses Mal war ich auch unter den Glücklichen. In der Freizeit erzählten Guido und ich einander von zu Hause. Ich wünschte so sehr, ich wäre schon dort!

Endlich war Samstag: Um Viertel nach elf durfte ich nach Hause fahren! Wir hatten eine Fahrgemeinschaft mit allen Eltern von Schülern aus meinem Heimatdorf. Manchmal fuhren wir auch mit einem Lehrer mit, der aus Pollham war. Rechtzeitig zum Mittagessen war ich zu Hause! Als wir beim Essen saßen, fragten mich meine Eltern, wie es mir in Dachsberg gefalle. Ich überspielte meine Gefühle und antwortete: “Es geht so.“ Ähnlich wie ich es auf der Ansichtskarte formuliert hatte, die alle am ersten Schultag schreiben mussten, um sie nach Hause zu schicken:

Liebe Eltern und Geschwister!

Es gefällt mir gut hier in Dachsberg. Das Essen ist gut, und das Wetter ist auch recht schön. Mein Klassenvorstand heißt Prof. Brigitte Söllinger, und sie ist sehr nett. Ich komme am Samstag heim.

Euer Walter!

Nach dem Essen im Kreis der Familie ging ich sofort nach draußen und setzte mich alleine auf die Bank vorm Haus. Ich betrachtete die Blumen, die Bäume, die Wiesen und die Felder. Ich kannte jeden Baum und jedes Detail unseres Gartens. All das schätzte ich erst jetzt so richtig, weil ich es nicht mehr jeden Tag um mich hatte. Ständig musste ich daran denken, dass ich schon am nächsten Tag um sieben Uhr abends wieder zurück in Dachsberg sein musste. Als meine Mutter im Stall die Kühe molk, schilderte ich ihr meine wirklichen Gefühle und weinte unaufhörlich! Mama konnte mich gar nicht beruhigen. Ich bat sie eindringlich, nicht mehr an diesen schrecklichen Ort zu müssen!

Nachts schlief ich in meinem eigenen Bett endlich wieder gut. Am Sonntag war ich schon die ganze Zeit unruhig, aufgebracht und nervös. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als dass ich um halb sieben wieder wegfahren musste. Diesmal nahm ich viele Packungen Fruchtsaft mit, weshalb meine Tasche sehr schwer war. Als wir nach dem Schild „Ausfahrt Schule“ zum Gebäudekomplex Dachsberg einbogen, wurde mir richtig übel! Das Wochenende war viel zu kurz! Keinen ganzen Tag durfte ich zu Hause sein. Nur eine Nacht durfte ich dortbleiben! Ich wollte von hier entkommen, aber es gab kein Entkommen!

Meine Geschwister und ich 1985: Sabine, Walter, Ulli und Thomas.

Hartes Leben im Internat

Wir mussten in der zweiten Schulwoche einen Klassensprecher wählen. Nach einer Woche kannten wir einander kaum, wodurch diese Wahl absolut keinen Sinn machte. Dementsprechend fiel das Ergebnis aus: Christof Bauer. Die Eferdinger kannten sich schon und wählten alle ihren Anführer aus der Volksschule! Unser Klassenvorstand, Frau Professor Söllinger, nahm es sehr genau mit dieser Wahl. Wir mussten die Wahlzettel in eine Schuhschachtel mit Schlitz im Deckel einwerfen. Die Söllinger machte bei den jeweiligen Kandidatennamen Striche je nach Stimmen. In den Folgejahren wurden nur Schüler mit einem „Sehr gut“ in „Betragen“ als Kandidaten akzeptiert!

Alle Schüler durften bei einem Fußballspiel von Lehrern gegen Lehrer zusehen. Guido und ich amüsierten uns dabei, als Guido plötzlich behauptete, dass Professor Lehner Herr Professor Heinz Söllinger wäre. Er wollte mir keinesfalls glauben, dass der glatzköpfige Lehner nicht der Ehemann unserer Frau Professor Brigitte Söllinger sei. Wir stritten deswegen sogar. Das war unser erster Streit, aber Guide fragte bald danach, ob wir wieder gut miteinander wären! Beim Mittagessen plauderte ich mit Christoph, als ich schroff mit lautem Ton gestoppt wurde: “Weinbergmair! Sei sofort still!“ Ich erschrak und erschauderte! Mir stockte der Atem und ich bewegte mich besser nicht mehr, so angsterfüllt war ich! Pater Prinz marschierte in die Mitte des Speisesaales und begann mit seiner Rede, bei der er jeden Tag Anweisungen und Informationen zum Internatsalltag verkündete. Seine Anrede mir gegenüber mit „Weinbergmair“ beschäftigte mich noch länger! Noch nie zuvor wurde ich mit meinem Nachnamen angesprochen. Nach seiner Verkündigung folgte das Dankgebet, das wie alle anderen Gebete, die wir den ganzen Tag über beten mussten, mit dem Satz: „Heiliger Franz von Sales, bitte für uns!“ beendet wurde. Zum nächsten Mittagessen erschien Pater Prinz in bunter Hippie-Kleidung. Plötzlich war der gestrenge Pater zum Clown mutiert, dachte ich! Der Kragen seines altmodischen Hemdes war überdimensional. Dazu trug er eine Glockenhose, die mit Farbe bekleckert war! In dieser Clown-Kostümierung kam Pater Prinz auf mich zu, um mir mitzuteilen, dass es in einer höheren Klasse einen weiteren „Weinbergmair“ gäbe. Ich wusste nichts von noch einem Verwandten in Dachsberg, abgesehen von Weickinger Hubert, dem Enkel meiner Großtante!

Bei seiner Ansprache gab Pater Prinz bekannt, dass an diesem Nachmittag ausnahmslos alle Internatsschüler bei der Kartoffelernte arbeiten müssen! Ich konnte mir gut vorstellen, dass Dachsberg einen enormen Bedarf an Kartoffeln hatte. Das Kloster wurde von zehn Patres, neun Mönchen, zwei Klosterschwestern und 96 Internatsschülern bewohnt. Viele auswärtige Schüler sowie die meisten Lehrer speisten täglich in Dachsberg.

Die Ernte dafür wurde jedes Jahr den Internatsschülern aufgezwungen! Wir schwitzten enorm in der Spätsommerhitze beim Kartoffelklauben. Das umgepflügte Feld schien endlos und die Arbeit war eintönig. Stundenlang warfen wir die unzähligen dreckigen Kartoffeln, die wir mit der Hand von der Erde befreiten, in die Kübel. Mein Rücken schmerzte vom Bücken. Ich war diese Arbeit zwar von zu Hause am Bauernhof gewöhnt, aber da waren wir zu viert in einer knappen Stunde fertig mit dem Jahresbedarf an Kartoffeln. Nach der Schinderei gab es wenigstens ein besseres Abendessen als sonst!

Mit der Zeit entdeckten wir die Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung im Internat. Entweder vergnügten wir uns im Freizeitraum mit Gesellschaftsspielen oder spielten auf den langen Gängen Fangen, was strengstens verboten war! Im Keller gab es zwei Räume, in denen wir Tischfußball spielen konnten. Mich faszinierte die Wandbemalung, auf der ein lebensgroßer Batman zu sehen war. Den anderen Raum zierten Mini- und Micky-Maus.

Als Guido und ich nachmittags auf dem Weg ins Zimmer waren, kamen uns zwei Zimmerkollegen entgegen, um Pater Angleitner zu holen. Mit dem Pater kamen noch weitere Schüler mit in unser Zimmer. Der „starke“ Bub Thomas weinte unaufhörlich und bitterlich in seinem Bett! Ihn dermaßen aufgelöst und elend kauernd zu erblicken, brachte mich den Tränen nahe. Er hatte starkes Heimweh und war durch nichts zu beruhigen. Ich empfand großes Mitleid, weil es mir in den ersten Tagen ähnlich erging. Jetzt hatte ich das Heimweh bereits etwas überwunden, in Anbetracht der Aussichtslosigkeit, von hier wegzukommen. Ich beschloss, mich bei der nächsten Gelegenheit mit Thomas zu unterhalten. Er war überraschend freundlich und lächelte sogar, als wir einander von unserem Zuhause erzählten. Die Woche darauf verteilte Guido während der Pause „Heimweh-Tabletten“, die nicht nur aussahen wie Dixi-Traubenzucker, sondern auch so schmeckten. Niemand hatte etwas gegen Medizin, die noch dazu gut schmeckte. Bald zeigte der Placebo-Effekt seine Wirkung und allen ging es besser!

Mittwoch Abend, so erfuhren wir bei Pater Prinz‘ Verkündigung, war Filmabend. Alle zwei Wochen wurden im barocken Festsaal in die Jahre gekommene Kinofilme auf die Leinwand auf der Theaterbühne projiziert. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie im Kino und deshalb war diese Möglichkeit, Filme auf einer Leinwand zu sehen, etwas ganz Besonderes für mich. Das Rattern des Filmprojektors, der die Filmstreifen durchzog, faszinierte mich!

Wir hatten unseren ersten Wandertag, der uns ausgerechnet zu Fuß durch Pollham führte! Zuerst wanderten wir zusammen mit der B-Klasse durch St. Marienkirchen, wo wir bei den Eltern einer Schülerin unseren Durst löschen konnten. Danach erreichten wir Egg nahe Pollham, wo wir bei meinem Freund Christoph Halt machten und von seiner Mutter ebenfalls Getränke serviert bekamen. Es dauerte ungefähr zwei Stunden, von Dachsberg nach Pollham zu marschieren. Das war eine beruhigende Erfahrung für mich zu wissen, dass ich zu Fuß so schnell nach Hause gehen könnte! Wir kehrten in der Jausenstation „Wirt in der Pfleg“ ein, wo es große „Wizeln“ gab, die auch meine Oma gern machte, allerdings viel kleiner! Unser Marsch führte uns schließlich über den Magdalenaberg nach Bad Schallerbach. Dort war die Sportlehrerin unserer Mädchen, Professor Rosenauer zu Hause, die uns zusammen mit Frau Professor Söllinger und Professor Geidl begleitete. In Bad Schallerbach wartete bereits ein Bus, der uns zurück nach Dachsberg brachte, um dort das dürftige Mittagessen einzunehmen.

Im Unterrichtsfach Religion hatten wir einen jungen Professor, von dem ich beeindruckt war. Der Unterricht von Frater Thomas war äußerst interessant! In der Volksschule las der Pfarrer in Religion meistens etwas Langweiliges vor, aber hier erfuhren wir viel über die Biografien von Heiligen. In Biologie fand der Unterricht aufgrund des schönen Wetters draußen statt. Dabei betrachteten wir die Pflanzen im Garten des Maierhofes, in dem die Patres und die übrigen Ordensleute zu Hause waren. An diesem Tag freundete ich mich mit Thomas, dem von Heimweh geplagten Zimmerkollegen, an. Die meiste Zeit verbrachte ich aber nach wie vor mit Guido.

In der vierten Schulwoche hatten wir zum ersten Mal Spaß mit den externen Schülern während einer Pause. Isabell Landl schrieb auf gelbe Klebezettel Sprüche wie „Du dumme Sau“ oder „Du blöder Affe“. Diese Zettel klebten abwechselnd auf den Rücken von Mitschülern, die diese entfernten, um sie anderen auf den Rücken zu kleben. Guido entfernte gerade einen Zettel mit der Aufschrift „Ich bin so blöd“ von seinem Rücken und überlegte, wer sein nächstes Opfer sein könnte. Er stand am Tisch des Lehrers und beobachtete die Klasse. Guido berührte mit seiner Hand samt Zettel unbewusst den Lehrertisch. Nikola, die stellvertretende Klassensprecherin, rief plötzlich: “Habt ihr das gesehen? Guido klebt den Zettel „Ich bin so blöd“ auf den Katheder von Frau Professor Söllinger!“ Als alle Blicke auf Guido gerichtet waren, drohte sie: „Guido, das melde ich!“ Klassensprecher Christof Bauer war auch dafür zu melden, dass Guido die Söllinger angeblich für blöd hält. Die Eferdinger wollten anscheinend anhand von Guido ihre Verachtung gegenüber den Internatsschülern kundtun! Seither gab es eine Kluft zwischen den Externen und den Internatlern.

Als nach der Pause die Söllinger die Klasse betrat, stürmten Christof Bauer und Nikola nach vorne und berichteten: “Frau Professor, der Guido hat einen Zettel auf Ihren Tisch gelegt, auf dem steht, dass Sie blöd sind!“ Umgehend zog Nikola den verhängnisvollen Zettel aus ihrer Hosentasche und reichte ihn der Söllinger. Isabell bestätigte den Vorfall. Die Söllinger richtete ihren tötenden Blick auf Guido und fällte sogleich das Urteil: “Guido, du bekommst eine Mahnung nach Hause geschickt!“ Sie wurde etwas lauter und verkündete: „Bei der dritten Mahnung wirst du von der Schule gegangen!“ Den Ausdruck „von der Schule gegangen“ hörten wir noch öfter in diesem Schuljahr!

Das war der erste Skandal in unserer Klasse! Der völlig unschuldige Guido musste sich schrecklich gefühlt haben. Aus Angst konnte er keinen Ton von sich geben, aber die Söllinger gewährte ihm ohnehin keine Gelegenheit dafür! Ahnungslos, wie es sich wirklich zugetragen hatte, unterschrieb Direktor Pater Biregger die Mahnung. Diese Ungerechtigkeit sollte nicht die einzige bleiben für den armen Guido. Eltern, die eine dieser Mahnungen bekamen, mussten denken, aus ihren Kindern wären kleine Monster geworden! Monatlich wurde ein Internatsbericht voll mit Übertreibungen bezüglich kindlicher Streitigkeiten an die Eltern verschickt. Ich bekam deswegen mehrmals Probleme mit meinem Vater, weil ich so ein schlimmes Kind geworden war!

Nach dem Ende des ersten Schulmonats durften wir endlich von der Indoor-Telefonzelle nach Hause telefonieren. Voller Freude nutzte ich diese Möglichkeit und rief jeden Tag nach dem Mittagessen meine Mama an. Jetzt durften auch wir ins zehn Minuten entfernte Geschäft, um einzukaufen. Der Greißlerladen „Pucher“ war der beliebteste Treffpunkt in der Vier-Uhr-Freizeit. Der alte Pucher hatte die Buben gerne und plauderte oft lange mit uns. Es fiel ihm auf, wenn einer länger nicht kam. Dann fragte er, ob derjenige krank wäre. Guido und ich hatten in der Freizeit aber auch Freude, den Dachsberger Wald zu erkunden. Die anderen spielten meistens Fußball oder Tennis.

Im Sportunterricht mussten wir am Beginn der Doppelstunde meistens kilometerweit joggen. Es wurde immer kälter, und das Joggen wurde langsam unerträglich! Schließlich mussten Guido und ich wegen des feuchten Wetters auch unsere Waldspaziergänge einstellen. Im Oktober war es abends schon früh dunkel. Wir konnten daher die Abendfreizeit nur noch im Gebäude verbringen. Uns blieb bald nichts anderes mehr übrig, als auch nachmittags drinnen zu spielen. Wenn wir hinaus wollten, mussten wir ohnehin jedes Mal die Erlaubnis des diensthabenden Präfekten einholen, auch um einkaufen gehen zu dürfen. Am meisten Spaß machte uns in der kalten Jahreszeit das Fangenspielen auf den langen Gängen im Schulgebäude. Dabei fassten wir allerdings umfangreiche Strafen aus, wenn wir erwischt wurden!

Der Tagesablauf im Internat war bereits Routine geworden:

06.15: Aufstehen

06.35: Morgengebet, anschließend Morgenstudierzeit oder Besuch der Heiligen Messe

07.10: Frühstück

07.30: Gebet und Schulbeginn

13.05: Gebet und Mittagessen, danach die Verkündigungen und Dankgebet

13.35: Beginn der Freizeit oder Nachmittagsunterricht

14.30: Gebet und Nachmittagsstudierzeit

16.10: Zweite Freizeit und Möglichkeit, im Speisesaal Mitgebrachtes zu essen

17.30: Studierzeit

18.30: Gebet und Abendessen

18.50: Freizeit

19.30: Abendstudierzeit

19.45: Abendgebet in der Kapelle, danach Bettruhe

Jeden zweiten Mittwoch mussten wir uns verpflichtend nach dem Abendessen die altmodischen und langweiligen Kinofilme von Pater Prinz ansehen. Wir hätten die vergeudete Zeit weitaus besser nutzen können, weil mittlerweile die Studierzeiten nicht mehr ausreichten, um mit dem Lernen des enormen Unterrichtsstoffes nachzukommen! Oft brauchte ich während der Studierzeit Guidos Hilfe bei der Mathematik-Hausübung und flüsterte deswegen mit ihm. Ich wurde erwischt! Wer beim Flüstern ertappt wurde, musste eine ganze Seite vom Lesebuch abschreiben. Mehr Sinnhaftigkeit bei Strafen wäre wünschenswert gewesen! Um nicht noch mal bestraft zu werden, gingen wir ab jetzt kurz hintereinander auf die Toilette und vereinbarten dort, was ich zur Bewältigung der Hausaufgaben brauchte. Sogar wenn man auf die Toilette musste, war die Erlaubnis der Aufsicht erforderlich!

Internatsschüler aus höheren Klassen verwendeten bedenkliche Handzeichen, wie zum Beispiel das Hochstrecken des Mittelfingers, des sogenannten „Fuck-Fingers“. Auch mein Jahrgang eignete sich diese sexuelle Zeichensprache an. Ich konnte den „Fuck-Finger“ lange nicht richtig zeigen, weshalb mich die anderen auslachten. Ich wusste einfach nicht, welchen Finger ich als „Mittelfinger“ hochstrecken sollte!

Als ich am Nachmittag auf dem Weg durch den Festsaal in den Speisesaal war, kam mir ein Zweitklassler entgegen. Er stoppte plötzlich, blickte auf meine Hose und griff gleichzeitig in meinen Schritt! Mit seiner Hand packte er meine Genitalien und drückte zu! Ein unerträglicher Schmerz breitete sich bis in meinen Bauchraum aus und erreichte sogar meine Gurgel. Mir stockte der Atem und ich riss den Mund nach Luft ringend auf.

Der Junge ging einfach weiter, als wäre nichts geschehen! Ich befand mich im Schock, der sich anfühlte, als würde ich neben mir stehen. Mein Herz pochte derart, als wollte es aus meiner Brust springen! Nach einem tiefen Seufzer schossen mir Tränen in die Augen! Ich stand da wie angewurzelt und konnte meine Beine keinen Schritt vorwärts bewegen. Ich war benommen und mein Kopf brummte. Vor Schmerz musste ich mich zusammenkrümmen. Ich verstand überhaupt nicht, was gerade passiert war! Ich fühlte mich leer und wollte am liebsten meinen Körper verlassen! Ich zitterte am ganzen Leib. Immer noch spürte ich den Druck auf meinen Genitalien. Noch nie hatte mich jemand an dieser Stelle berührt! Langsam fasste ich mich. Ich wusste nicht, dass man jemanden auf diese Weise berühren kann und darf! Ich hatte dem Jungen doch überhaupt keinen Anlass gegeben, mich zu verletzen! Warum hat er das gemacht? Ich konnte es nicht verstehen. Ich fühlte mich allein und hilflos. Etwas wurde mir gerade gestohlen. Ich hatte Angst! Der Schmerz war immer noch unerträglich. Mein Atem war schwer und ich konnte nicht begreifen, was mir widerfahren war.

Ich meldete den Übergriff umgehend meinem Präfekten Pater Angleitner, der darauf überhaupt nicht reagierte! Am nächsten Tag passierte mir dasselbe noch mal. Diesmal meldete ich den schmerzhaften Vorfall dem Heimleiter Pater Prinz, der mich zwar besorgt ansah, aber keine Reaktion von sich gab.

Obwohl ich erst zehn Jahre war, musste ich das fürchterliche Zusammendrücken meiner Genitalien von Internatsschülern mehrmals täglich ertragen! Ich wollte nur noch weg von hier und fühlte mich diesen Übergriffen nicht nur ausgeliefert, sondern war es auch! Es schmerzte zusätzlich, wie sehr ich meine besten Freunde aus der Volksschule vermisste. Sie besuchten alle die Hauptschule in Grieskirchen. Dort wollte ich auch hin! Leider war das meinen Eltern völlig egal. Ich erzählte voll Scham Guido und Thomas, was mir Schreckliches widerfahren war! Sie mussten beide dasselbe ebenso ständig erdulden. Es wurde „Ausgreifen“ genannt. Mit der Zeit wurde es tatsächlich normal für uns. Plötzlich machten das auch einige aus meinem Jahrgang und wir waren nirgendwo mehr sicher! Weil die Patres diese fürchterlichen Übergriffe ignorierten, erzählte ich meiner Mutter auch nichts davon, obwohl ich ihr sonst fast alles berichtete.

Eines Nachmittags rannte Christian am Gang auf unser Zimmer zu. Ich wollte ihn mit meiner ausgestreckten Faust erschrecken. Er landete leider mit seinen Genitalien genau in meiner Faust! Er gab einen gequälten Schrei von sich und krümmte sich vor Schmerz. Mir war dieser Vorfall äußerst peinlich, sodass ich es nicht schaffte, mich zu entschuldigen! Christian richtete sich auf und ging ohne Reaktion ins Zimmer. Wegen des Ausgreifens empfand er den Vorfall offensichtlich als nicht besonders schlimm. Ich fühlte mich elend, weil ich dachte, jetzt auch zu den Ausgreifern zu gehören! Es erfuhr niemand davon.

Wenn abends das Licht abgedreht wurde, waren wir alle noch viel zu wach, um zu schlafen. Wir konnten uns wegen der Kälte draußen nicht mehr körperlich verausgaben und waren überhaupt nicht müde. Plötzlich drehte Christian das Licht über seinem Bett an, setzte sich auf und zog sich langsam aus. Als Letztes entledigte er sich seiner Unterhose und spielte mit seinem Penis. Wir mussten alle kichern. Christian amüsierte sich dabei am meisten! Ein anderes Mal entblößten wir uns alle fünf im Zimmer und betrachteten uns nackt. Das war der Beginn unserer Pubertät. Ich kannte dieses Wort bisher nicht, aber das Thema wurde gerade im Biologie-Unterricht von Professor Zimmerer behandelt. Meine Kindheit war zu Ende, das fühlte ich eindeutig. Professor Zimmerer beließ es im Unterricht nicht bei der Erklärung der Genitalien, sondern startete einen peinlichen Aufklärungsunterricht anhand von Overheadfolien. Aufklärungsunterricht brauchte ich eigentlich keinen mehr! Am ersten Tag der Sommerferien, bevor ich ins Internat musste, drückte mir meine Mutter ein bestimmtes Buch in die Hand, das ich ohne Pause durchlesen sollte. Darin ging es um die körperliche Liebe eines Paares und um die Empfängnis. All meine romantischen Vorstellungen waren dahin, und ich musste schockiert die Realität zur Kenntnis nehmen! Ich empfand das Gelesene und Abgebildete als ekelhaft! Ein persönliches Gespräch mit meiner Mutter hätte sicher geholfen, aber sie zog es vor, das einem Buch zu überlassen, und sprach kein Wort mit mir darüber. Mein Vater wäre für ein derartiges Gespräch ebenfalls auf keinen Fall geeignet gewesen!

Im Internat wurden äußerst bedenkliche Schimpfwörter verwendet, die man eindeutig als pervers bezeichnen konnte. Einigen Schülern wurden schlimme Spitznamen verpasst, die sie bis zum Ende ihrer Schulzeit nicht loswurden! Lehrer und Erzieher hörten zwar davon, aber ignorierten es völlig.

Guido, Thomas und ich starteten einen letzten Versuch, die Präfekten über das unerträgliche Ausgreifen zu informieren. Unternommen wurde dagegen von den katholischen Priestern, die unsere Erzieher waren, absolut nichts. All diese Belastungen gehörten nach einiger Zeit auch für mich zum Alltag in Dachsberg. Trotzdem nahm ich an, man hätte wenigstens beim Besuch der Toilette seine Ruhe. Einmal, als ich auf der Schüssel saß, hörte ich etwas an der Toilettentrennwand. Plötzlich blickte ein Gesicht von oben auf mich herab, während ich meine Notdurft verrichtete. Ein Zweitklassler zog sich die Trennwand hoch und beobachtete mich. Nachdem ich laut geschrien hatte, verschwand er zu meinem Glück!

Resignation

Immer noch musste ich sonntags weinen, bevor ich von zu Hause abgeholt wurde, um nach Dachsberg zu fahren. Jedes Mal wurde mir schlecht, als wir nach dem Schild „Ausfahrt Schule“ abbogen. Am Internatseingang stand üblicherweise Heimleiter Pater Prinz zusammen mit einem Erzieher und begrüßte Eltern und Schüler. Genauso wurden wir samstags verabschiedet.

Am Sonntagabend war ich immer ganz still im Internat und wollte mit niemandem sprechen. In dieser Nacht ließ ich meistens gedanklich das Wochenende Revue passieren, um das Schöne der kurzen Zeit besser behalten zu können. Wir mussten spätestens um halb acht Uhr abends in Dachsberg eingetroffen sein, weil wir pünktlich zur Abendstudierzeit erscheinen mussten. Dieser entkam man nur, wenn man stattdessen die Sonntagabendmesse besuchte.

Hin und wieder wurde ich noch von Heimweh geplagt, weshalb mir Guido regelmäßig seine Heimweh-Medizin verabreichte. Es war zwar in Wirklichkeit nur Traubenzucker, aber der erfüllte seinen Zweck! Trotzdem vermisste ich meine Freunde aus Pollham unendlich! Dienstag nach dem Abendessen hatte mein Jahrgang den verpflichtenden Duschtag. Manche fanden es amüsant, während ich duschte, mein Handtuch verschwinden zu lassen. Aber ich bekam es immer rechtzeitig zurück, um den langen Gang zum Zimmer nicht nackt überstehen zu müssen! Oft wurde es lustig beim Duschen, vor allem, wenn wir uns gegenseitig anspritzten. Danach mussten sich ausnahmslos alle Internatsschüler in der Kapelle zum Internatsgottesdienst einfinden. Dabei wurden moderne rhythmische Kirchenlieder aus dem Buch „Das Lob“ gesungen. Der Schulalltag wurde immer herausfordernder. Wir hatten eine Schularbeit nach der anderen, jede Menge Tests und ständig unangekündigte mündliche Prüfungen. Mir machten die Anforderungen des Gymnasiums im Vergleich zur Volksschule sehr zu schaffen, vor allem im Fach Deutsch. Ich durfte in Aufsätzen keinen Satz mit „Danach“, „Nachdem“, „Dann“ oder „Nachher“ beginnen. Ich verlor jegliche Freude, mich schriftlich auszudrücken! Unser strenger Deutsch Professor Lehner hatte jeden Donnerstag Aufsicht in der Nachmittags-Studierzeit. Ich hatte richtig Angst vor ihm. Er sprach immer in einem herablassenden Ton mit mir und führte mich gern vor der gesamten Klasse vor! Die Lehner-Studierzeit immer Donnerstags waren die zwei schrecklichsten Stunden der ganzen Woche!

An einem herbstlichen Sonntag im Oktober machte meine Familie einen Ausflug in den Wildpark Altenfelden. Sogar meine Oma kam mit uns. Mit sieben Leuten im Auto war es eindeutig zu voll! Seit meine Schwester Sabine und ich größer wurden, mussten wir uns auf der Rückbank ziemlich zusammenquetschen. Die vielen Wildtiere wie Hirsche, Leoparden, Strauße und viele andere im weitläufigen Wildparkareal zu bestaunen, beeindruckte mich sehr! Leider mussten wir jeden Sonntag einplanen, früh nach Hause zu fahren, weil ich einige Zeit brauchte, um mich für das Internat fertigzumachen. Das machte mich jedes Mal richtig traurig! Ich musste Kleidung, Handtücher, Getränke und einiges zum Essen einpacken, um nicht noch dünner zu werden, als ich bereits war! Manche Eltern unserer Fahrgemeinschaft holten mich schon um halb sieben ab!

Ich dachte immer mehr über den Grund nach, weshalb mich meine Eltern nach Dachsberg geschickt hatten. Als wir letzten Winter die Besichtigung in Dachsberg hatten, teilte ich meinen Eltern unmissverständlich mit, dass ich auf keinen Fall in dieses Internat möchte! Aber die Suppe hatte ich mir ursprünglich selbst eingebrockt. In der Volksschule hatte ich den Wunsch, Priester zu werden. Das war mein Traumberuf, so wie für andere Schiffskapitän oder Feuerwehrmann. Ich war von unserem Pfarrer Jan Pulchny begeistert, wie generell vom Zeremoniell der katholischen Kirche! Aus diesem Grund ministrierte ich sehr gerne während der Heiligen Messe.

Ich war sieben, als ich meiner Mutter im Stall beim Kühemelken offenbarte, dass ich Priester werden möchte! Meine Mutter war hoch erfreut und dachte, die Prophezeiung eines verwandten Priesters würde sich erfüllen! Meine Eltern beschlossen, um meinen Wunsch in die Tat umzusetzen, dass ich nach Dachsberg gehen müsse.

Mit nur fünf Jahren, als wir jeden Tag mit dem Bus vom Kindergarten nach Hause gebracht wurden, verkündete ich stolz: “Zuerst werde ich Pfarrer, dann Bischof und später sogar Papst!“ In der Volksschule wettete ich sogar mit meinem Freund Pepi um eine Million Schilling, dass ich ganz sicher Bischof werde. Durch das reale Leben mit den Patres des Klosters Dachsberg wollte ich schon bald nichts mehr davon wissen, Priester zu werden. Ich war maßlos enttäuscht von den ungerechten, uns ständig bestrafenden Patres! Bei meinem ersten Besuch in Dachsberg, bei dem uns Pater Biregger herumgeführt hatte, erwähnten meine Eltern, dass ich Priester werden möchte. Pater Biregger reagierte mit einem Lächeln, das mir vermittelte, dass er meinen kindlichen Wunsch nicht ernst nahm!

Donnerstags konnten wir während der Studierzeit um halb sechs freiwillig zur Beichte gehen. Einige nutzten das als Gelegenheit, der Studierzeit zu entkommen. Ich suchte den Beichtstuhl vielmehr wegen meines schlechten Gewissens auf. Vor allem, wenn wir uns nachts voreinander entblößt hatten, wollte ich meine „schwere Sünde“ loswerden! Zwei Jahre später wurde eine Beichtgelegenheit während der Dienstagsmesse eingeführt und jene am Donnerstag gestrichen.

In Biologie lernten wir den Aufbau des menschlichen Körpers, wofür dem Lehrer zur Veranschaulichung ein echtes Skelett zur Verfügung stand. Dieses Skelett stammte laut Pater Köckeis von einem ehemaligen Schüler, wie er uns beim Rundgang am ersten Internatstag glaubhaft versicherte. Ich dachte, würde ich hier in Dachsberg sterben, ende ich ebenfalls als Anschauungsobjekt! Ein paar Tage später fand ein Lehrerstreik in ganz Oberösterreich statt, dem sich auch unsere Lehrer anschlossen. Der Unterricht entfiel, weshalb sich Guido und ich auf einen freien Vormittag im Internat freuten. Nach dem Frühstück rannte ein Viertklässler auf Guido zu und wollte ihn schlagen! Guido flüchtete so schnell er konnte und versteckte sich. Es war sicherer, es uns im Zimmer gemütlich zu machen. Seltsamerweise wurde Guido auf einmal von allen „Fido“ gerufen. Ich konnte nicht nachvollziehen, warum! Diesen Namen wurde er seine gesamte Zeit in Dachsberg nicht mehr los.