Knietief im Paradies - Judy Markey - E-Book

Knietief im Paradies E-Book

Judy Markey

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Beschreibung

Ein Buch wie Harry und Sally Was passiert, wenn eine Frau, die ihre Freiheit haben will, einen Mann trifft, der sich nach wahrer Zweisamkeit sehnt, der treu sein will – und Windelnwechseln für das Größte hält? Eine urbane romantische Komödie über zwei Menschen, die füreinander geschaffen sind, sich aber zur falschen Zeit begegnen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Judy Markey

Knietief im Paradies

Roman

Aus dem Amerikanischen von Sonja Schuhmacher

FISCHER Digital

Inhalt

SeptemberAm nächsten TagAm folgenden TagSpäter am selben AbendAnfang OktoberEnde OktoberAnfang FebruarMärzVier Tage späterMaiAnfang JuniAm WochenendeNachmittag und AbendAm nächsten MorgenSpäter am Sonntag12. JuniMitte JuliEine Woche späterAn diesem WochenendeAn diesem WochenendeEine Woche späterAugustSeptemberEnde SeptemberOktober – NovemberDezemberFebruarFebruar – MaiFebruar – MaiVatertag

Charlie

September

Eins sag ich Ihnen, es war ein toller Busen.

Da saß ich, gierig in diesen Anblick vertieft, und genau in dem Augenblick kam meine Mutter.

Klar war es nur ein Phantasiebusen an der Phantasiefrau meines Traums. Aber als Sophie mich an der Schulter rüttelte und flüsterte: «Chuckie, Papa will uns jetzt sehen», riß ich mich nur ungern von ihr los.

Es zeugt von schlechten Manieren, wenn man im Wartezimmer der Intensivstation schmutzigen Phantasien nachhängt, während der eigene Vater in Lebensgefahr schwebt. Allein schon die Vorstellung, die Gedanken an diesem Ort derart spazierengehen zu lassen, ist sträflich. Doch angesichts meines brachliegenden Sexuallebens war nicht auszuschließen, daß dieser flüchtige Augenblick für mich den Höhepunkt der Herbstsaison darstellte.

Durch die Rouleaus des Wartezimmers fiel das erste Morgenlicht herein. Die gelbbraunen Vinylsofas und die blaßgrünen Wände verbreiteten Katerstimmung. Das Gestern hatte hier überdeutliche Spuren hinterlassen. Zeitungen von gestern, Kaffeetassen von gestern, die Wartenden von gestern, die damit beschäftigt waren, auf und ab zu gehen, zu schlafen oder mit mürrischer Miene auf den Fernseher zu starren.

«Chuckie», drängte meine Mutter, «komm endlich!»

Himmel, ich hasse es, wenn man mich Chuckie nennt. Ich bin vierundvierzig Jahre alt und heiße Charlie. Charlie Feldman. Niemand darf mich mehr ungestraft Chuckie nennen. Niemand außer der wunderbaren Sophie. Die, wie alle Mütter, nur unter Zwang einräumt, daß ich erwachsen bin. Vor ihrem inneren Auge sieht sie mich immer noch als Dreikäsehoch in braunen Cordjeans mit Cowboyhosenträgern.

Eigentlich sollte schon ein flüchtiger Blick auf die Wirklichkeit ausreichen, um unserer Sophie klarzumachen, daß ich inzwischen ausgewachsen bin. Zum Beispiel bin ich einsachtzig groß (okay, eins-achtundsiebzig), wiege achtzig Kilo und werde in einer Weise grau, die ich nicht gerade als distinguiert bezeichnen würde. Ein weiterer Nachweis für meinen Erwachsenenstatus ist die Tatsache, daß ich seit nahezu zwanzig Jahren Sportberichte für die Chicago Sun-Times schreibe. Leider haben mir die Idioten, die sich als meine Vorgesetzten aufspielen, die Kolumne verweigert, auf die ich, wie alle Sportreporter, Anspruch zu haben glaube. Dennoch habe ich einige nationale Journalistenpreise gewonnen und bin für die Leser kein Unbekannter mehr.

Außer für Sophie. Mein Name ist ihr zwar bekannt, aber nicht aus der Zeitung. Sophie kann sich mit dem Sportteil nicht recht anfreunden. Abe dagegen, der momentan am Sauerstoffgerät hängt und vielleicht zum letzten Mal meinen Namen unter einem Artikel gesehen hat, liest jedes Wort, das ich schreibe. Zweimal. Vielleicht sogar dreimal. Der alte Herr kann von meiner brillanten Prosa gar nicht genug kriegen. Das liegt auch daran, daß mein jüngerer Bruder Roger Fußpfleger ist. Niemand stellt Fragen, wenn man erzählt, der Sohn sei Fußpfleger. Aber die Andeutung, der Sohn sei Sportreporter, sorgt tagelang für Gesprächsstoff.

Abe und Sophie sind seit siebenundvierzig Jahren verheiratet. Den Großteil dieser Zeit haben sie hinter der Ladentheke von Feldman’s Children’s Shop verbracht, einem Spielzeugladen, ehemals in Rogers Park, später in Skokie, derzeit erloschen. Seither verbringen sie vergnügt und froh den Winter in Florida und den Sommer in Chicago, was Abe Anlaß zum Staunen gibt: «Wer hätte je gedacht, daß ich das ganze Jahr über weiße Schuhe tragen kann?»

Im Augenblick war Abe jedoch der einzige im Raum, der keine weißen Schuhe trug. Als Sophie und ich eintraten, wurde er von drei Schwestern überwacht. Es war halb sieben, Sonntag morgen; Sophie und ich befanden uns seit Samstag nachmittag, vier Uhr, im Krankenhaus. Roger und seine Frau Elaine waren am Samstag abend um zehn zu ihren drei Kindern nach Hause gefahren.

Auf mich wartete zu Hause niemand, und ich hatte nichts zu tun. Wenn ich den Samstagabend im Krankenhaus verbrachte, leisteten mir wenigstens ein paar Leute beim Nichtstun Gesellschaft. Es stellte sich das in Wartezimmern übliche Problem, wer die Kontrolle über das Fernsehprogramm an sich reißen konnte, aber glücklicherweise spielten die Cubs, die Baseballer von Chicago, so daß man sich darauf einigte, gemeinsam zu leiden. Für jemanden, der einen Verwandten auf der Intensivstation liegen hat, ist eine weitere verpfuschte Cubs-Saison auch nur noch halb so schlimm.

Ich hatte den Alten Herrn seit vier Uhr morgens nicht mehr gesehen und wünschte mir sehnlichst, daß er nicht mehr so wächsern und grau aussehen möge. «Dad. Hallo, Dad», flüsterte ich ihm vom Fußende des Bettes zu, «du siehst glänzend aus. Wie fühlst du dich?»

Abe machte den Eindruck, als versuchte er angestrengt, sich gut zu fühlen. Leicht fiel ihm das nicht. Bestimmt wollte er sich einfach nur so fühlen wie vorher. Zum Beispiel so wie am Freitag, bevor er den Herzinfarkt hatte. Oder so wie vor drei Jahren, als er und Sophie die Bar-Mizwa-Feier von Rogers Sohn besuchten. Oder so wie vor dreißig Jahren, als er und Roger und ich uns aus dem Geschäft davonstahlen, um mit der Hochbahn nach Wrigley Field zu fahren und uns vor der Arbeit zu drücken. Ich wette, Abe wäre es gleich gewesen, in welches «Vorher» er zurückversetzt wurde, wenn er nur dem Jetzt entfliehen konnte. Jetzt saß ihm bestimmt die Angst in den Knochen. So wie mir.

In unserer Familie ist nie viel vom Sterben die Rede gewesen. Aber falls wir das hier jetzt hinter uns brachten, ohne daß es ernst wurde mit dem Sterben, würden wir den Gedanken daran nie wieder verdrängen können. Das war uns allen klar.

«A-bey», wisperte Sophie, «Chuckie ist da.»

«Mom, das weiß er doch. Stimmt’s, Dad? Sie kann einfach nicht glauben, daß sie endlich das erreicht hat, was sie immer wollte. Denn mit den ganzen Schläuchen im Hals kannst du wirklich keine miesen Witze mehr erzählen.»

Abe versuchte zu lächeln. Aber das ging über seine Kräfte. Er schloß sofort die Augen. Sophie und ich verbrachten den Rest der uns zugestandenen fünf Minuten wortlos neben seinem Bett. In der Hoffnung, daß wir, wenn wir das nächste Mal hineindurften, ihn noch ein bißchen mehr ins Leben zurückholen konnten.

Im Lauf des Vormittags wurde es dann richtig sonntäglich auf der Station. Familien, vor und nach dem Gang zur Kirche, strömten herbei und brachten die unvermeidlichen zellophanverpackten Nelken frisch aus dem Supermarkt mit. Die einen besuchten ihren sterbenden Vater, die anderen ihre sterbende Großmutter … Was mir am meisten auffiel, war, daß sie alle in Gruppen auftauchten. Sonntag war von jeher ein Tag der Gruppen. Für den Einsamen ist der Sonntag schwer zu verkraften. Noch schwerer als der Samstagabend. Wenigstens ist es Samstag abends dunkel. Man kann sich verstecken. Oder sich mit einem Kumpel einen schönen Abend machen. In meinem Fall sind die Kumpel ein paar Typen mit Helm und Gesichtsschutz an einem Eishockeyfeld. Zumindest seit drei Jahren. Damals wurde ich vom Baseball abgezogen und fing an, über die Blackhawks zu berichten. Aber auch im Sommer, wenn ich freihabe, ist das Single-Dasein sonntags am deutlichsten spürbar. Alle rotten sich an diesem Tag zu Gemeinschaften zusammen: Kleinfamilien, Großfamilien, geschiedene Väter mit Kindern, geschiedene Mütter mit Kindern, geschiedene Väter mit Kindern und Freundin, geschiedene Mütter mit Kindern und Freund, Ehepaare ohne Kinder, Schwulen- und Lesbenpaare ohne Kinder und Teenie-Pärchen, von denen man nur hoffen kann, daß sie genug Grips haben, keine Kinder in die Welt zu setzen. Demographische Mutationen aller Art treten an Sonntagen ungehemmt an die Oberfläche.

Außer den Singles. Zumindest den männlichen.

Alleinstehende Frauen treffen sich am Sonntag. Aber wir Männer nicht. Es fiele mir nicht ein, einen Freund anzurufen und vorzuschlagen: «Treffen wir uns zum Brunch und sehen uns das Spiel an der Bar an.» Um Himmels willen, ich bin vierundvierzig. Meine Freunde haben keine Zeit für Sportsendungen. Meine Freunde sind verheiratet. Oder geschieden. Aber am Sonntag stehen sie alle im Dienst von Familie oder Vaterschaft.

Zum Beispiel Bobby. Bobby Tuckerman war seit den letzten High-School-Jahren mein bester Freund. Nach dem College, als wir wieder heimkehrten, ich von Michigan, er von Madison, haben wir zwei Jahre lang zusammengewohnt. Er studierte Zahnmedizin, und ich arbeitete nachts im City News Bureau; so rechneten wir uns aus, daß wir uns mit unserem berufsbedingt unterschiedlichen Schlafrhythmus eine billige Einzimmerwohnung in Belmont teilen konnten. Bis sich uns drei Probleme gleichzeitig stellten. Ich wechselte in die Tagschicht, Bobby verliebte sich in Sherry Lowenberg, und Sherry wollte bei ihm einziehen. Die Lösung lag auf der Hand. Tschüs, Charlie. Mir war das recht. Ich hatte nicht viel für Sherry übrig. Sie war Weltmeisterin im Jammern und Wehklagen. Also zog ich aus, Sherry zog ein, sie haben geheiratet und sind jetzt stolze Eltern von Jennifer, Joshua und Jason Tuckerman, siebzehn, vierzehn und acht Jahre alt.

Als Onkel Charlie wurde ich ein gerngesehener Gast bei ihren Kindern. Aber seit Bobby mit der Familie in die Vorstadt nach Deerfield gezogen ist, verspüre ich nur noch selten die Neigung, sie zu besuchen. Bobby und ich telefonieren immer noch regelmäßig, aber die Treffen zu zweit haben Seltenheitswert. Das liegt unter anderem daran, daß man nach Deerfield eine halbe Stunde fährt und ich so oft beruflich unterwegs bin. Aber es gibt noch andere Gründe: seine Ehefrau, die die Freizeitplanung übernimmt, die Sportwettkämpfe der Kinder und Bobbys Engagement als Fußballtrainer. Nicht, daß ich Bobby all das mißgönne, aber es erschwert die Aufrechterhaltung der Beziehungen. Der Beziehungen zu diesem Club der Eltern, dem er und fast alle anderen angehören. Alle außer mir.

Himmel, ist mir das zuwider! Ich hasse Männer, die herumlamentieren. Ich komme mir vor wie einer dieser Jammerlappen, die um einen Platz in der Ruhmeshalle der Einsamen und Verlassenen wetteifern. Aber in Wartezimmern kommen nicht gerade die vorteilhaftesten Eigenschaften eines Menschen zum Vorschein. Eher stellt man sich trübselige Fragen wie: «Wer wird einmal für mich im Wartezimmer sitzen?» Der Gedanke ist schwer zu verdrängen, wenn man auf die Fünfzig zusteuert und offenbar der einzige Sohn im Raum ist, der sich noch nicht als guter Vater beweisen durfte.

Ich warf einen Blick zu Consuela und Romero Gomez hinüber. Sie saßen seit Mitternacht im Wartezimmer; da war ihr zehnjähriger Sohn nach einem Autounfall eingeliefert worden. Wahrscheinlich kam er durch, aber sein Leben hatte die ganze Nacht an einem seidenen Faden gehangen. Ich fragte mich, wie es wäre, die nackte Angst zu spüren, die ich seit elf Stunden auf ihren Gesichtern sah. Mein Gott, ich beneidete sie darum, daß sie etwas Wichtigeres im Leben hatten als die Sorge um sich selbst. Und ich fragte mich, wie es wäre, aus Liebe zum gemeinsamen Kind an einen anderen Menschen geschmiedet zu sein.

Als ich die Eltern Gomez beobachtete, die einander in ihrer Angst nicht loslassen wollten, kam ich mir vor, als säße ich allein im Autokino. Wie schwer war es, sich in eine Frau zu verlieben, mit dieser Frau ein Kind zu machen, zu streiten, ein gemeinsames Kind aufzuziehen, ohne daß die Liebe in die Brüche ging? Wie schwer war es doch, diesen chronischen Schwebezustand zu beenden.

Lieber Himmel, genau dasselbe war mir durch den Kopf gegangen, als ich das letzte Mal im Wartezimmer eines Krankenhauses saß. Obwohl ich damals Janice in den Armen hielt. Das war fünf Jahre her, Janice und ich waren damals seit drei Jahren zusammen. Sie war eine tolle Frau, aber zu ihren besonderen Reizen zählte zweifelsfrei Timothy, ihr siebenjähriger Sohn. Wenn Janice und ich unsere Schwierigkeiten miteinander hatten, konnte ich mir ohne weiteres ein Leben ohne sie vorstellen. Aber ohne Timothy? Mir war stets klar, daß mir dabei das Herz bluten würde. Das Kind hatte es mir angetan. Und das Tolle dabei war, daß meine Gefühle nicht unerwidert blieben. Obwohl ich mir nicht viel darauf einbilden durfte. Denn Timothys Vater war ein Vollidiot.

Aber wenigstens hielt er Abstand. Nach der Scheidung war er nach Milwaukee gezogen und hatte die Frau geheiratet, mit der er fremdgegangen war. Und als er im Wartezimmer auftauchte, nachdem Timothy mit akuter Blinddarmentzündung eingeliefert worden war, waren Janice und ich wie vom Donner gerührt.

Sie sprang von der Couch auf und rief: «Ben! Du hast nicht gesagt, daß du herkommst! Was willst du hier?»

«Wie geht’s ihm?» fragte der Kerl, ohne auf mich oder ihre Frage zu achten.

«Gut, glaube ich. Er liegt noch auf der Wachstation. Aber sie sagen, er kommt bald zu sich.»

«Wann?»

«Bald», gab Janice patzig zurück, offenbar entnervt durch den Anblick ihres kahlköpfigen Exmanns und nicht in der Lage, uns einander vorzustellen.

Da ich nicht die Absicht hatte, mich in Luft aufzulösen, stand ich auf, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: «Charlie Feldman.»

«Ja, ich weiß», sagte er und warf Janice einen undefinierbaren Blick zu. «Ich lese öfter mal Ihre Artikel. Schreiben Sie noch über die Sox? Fisk ist in Hochform, nicht?»

Herrje! Selbst mir war klar, daß nur die vollkommen Hirnlosen über Sport reden, während das eigene Kind unterm Messer liegt.

«Mrs. Lindsay», sagte der Arzt, der gerade zur Tür hereinkam. «Timothy geht es gut.» Und da ich derjenige war, der seit sechs Stunden mit Janice ausharrte, nickte er mir zu und fuhr fort: «Sie und Ihr Mann können jetzt zu ihm reingehen.»

Janice blieb nicht einmal Zeit, um zu sagen: «Das ist nicht mein Mann.» Ben erledigte das für sie.

«Oh», meinte der Arzt. «Ach ja. Tut mir leid. Dann sind Sie also Timothys Vater?»

«Seit sieben Jahren», behauptete der Kerl, der sich die letzten fünf kaum hatte blicken lassen.

«Ja, dann können Sie beide jetzt reingehen», sagte der Arzt.

Und da stand ich. Überflüssig. Zwischen allen Stühlen. Niedergeschmettert von der Erkenntnis, daß man ein Kind sein halbes Leben lang lieben konnte, aber im Wartezimmer wie Dreck behandelt wurde.

Und da saß ich nun fünf Jahre später und war dem sicheren Hafen nicht näher als zuvor. Ich wartete immer noch darauf, daß es geschah. Die Frau, die Kinder, das Einfamilienhaus mit Doppelgarage. Nicht, daß ich in den letzten fünf Jahren viel dafür unternommen hätte. Janice und ich hatten es noch zwei Jahre miteinander ausgehalten, bis sie auf ein Klassentreffen fuhr und dort ihrem Jugendfreund in die Arme fiel. Sechs Wochen später zogen sie und Timothy nach Los Angeles. Es war brutal. Eine ganze Weile lang war ich völlig am Ende. Aber was wollte ich eigentlich, wo ich doch neun Monate im Jahr wegen Eishockey auf Achse war …

Verflucht. Ich werde nicht alles auf den Job schieben. Dieser Beruf war immer mein Traum. Geld dafür zu kriegen, daß ich Baseballspiele besuche? Das ist der tollste Job, den man sich vorstellen kann. Ich liebe den Sport. Ich liebe den Einsatz der Sportler, die ihr Letztes geben. Und so naiv es klingen mag, mein Beruf hat mir immer das Gefühl gegeben, daß ich es besser habe als die meisten. Zwanzig Jahre lang habe ich in einer Welt gelebt, die nach wie vor einen unwiderstehlichen Reiz für mich hat. Das kann nicht jeder von sich behaupten. Aber ich habe den Preis dafür bezahlt. Zwanzig Jahre auf Achse gehen nicht spurlos an einem vorüber. Zweifellos wird es da noch komplizierter, als es ohnehin schon ist, sich fest an eine Frau zu binden. Den hübschen pflegeleichten Typ einmal ausgenommen. Und die Frauen, die man in Kneipen trifft, nachdem man seinen Artikel losgeschickt hat, gefallen manchen Männern bestimmt, aber die innere Leere, die mich quält, können sie nicht ausfüllen.

 

Da saß ich also. Im Wartezimmer, inmitten der Großfamilien anderer Leute. Und ich faßte einen Entschluß: Es reicht. Ich mußte mein Leben in den Griff bekommen. Was sollten die ewigen Wunschträume, wenn ich nicht bereit war, ein Wagnis einzugehen, um sie zu verwirklichen? Ich wünschte mir Wurzeln. Ich wünschte mir Anhang.

Ich wollte ein Kind. Ein Mädchen, einen Jungen, ein Baby. Jetzt.

Klar, selbst wenn ich auf der Stelle angefangen hätte, selbst wenn ich aus dem Krankenhaus spaziert wäre, mich Hals über Kopf in eine Frau verliebt hätte und wir draußen auf dem Parkplatz ein Kind gemacht hätten, dann wäre ich immer noch um die vierundsechzig, wenn das Kleine seinen High-School-Abschluß machte.

Mein Gott, diese «Selbst-wenn»-Rechnerei war einfach deprimierend. Aber es fiel schwer, damit aufzuhören. Es fällt schwer, sich nicht diese Sinnfragen über das eigene Leben zu stellen, wenn gleichaltrige Zeitgenossen Kinder haben, die aufs College gehen. Oder wenn alle Jahre wieder im Briefkasten Weihnachtskarten mit Schnappschüssen von Kindern liegen, die doch vor höchstens drei Jahren noch Babys waren und heute mit Zahnspange rumlaufen. All das hatte ich erlebt, und es führte dazu, daß diese Zahlenspielereien bei mir etwas Zwanghaftes bekamen.

Ehrlich gesagt, wünschte ich mir nichts sehnlicher als ein Kind. Kein Mensch spricht von der biologischen Uhr des Mannes, aber in mir tickte sie laut und deutlich. Und zwar schon seit Jahren. Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Nicht mit vierundvierzig. Und viele Alternativen hatte ich auch nicht mehr.

Denn anders als bei einer Frau, die zur Samenbank gehen, den Vater ihrer Wahl aussuchen und sich auf einen Lebensabend als alleinerziehende Mutter freuen darf, haut das bei uns Männern nicht so hin. Ein Möchtegernvater kann sich nicht einfach ein Ei kaufen. Die Sache ist etwas komplizierter. Eizellen kommen aus dem Mutterschoß, und der Mutterschoß ist Bestandteil einer Frau. Und Frauen trennen sich nicht gerne von Babys. Das ist eine der wunderbaren Eigenschaften des weiblichen Geschlechts. Folglich wird ein Mann mit Kinderwunsch in eine etwas tiefere Beziehung zu seiner Zeugungspartnerin treten. Und da man sich sowieso auf eine Beziehung einlassen muß, kann man sich gleich eine Frau suchen, die man gern hat. Oder sogar liebt. Männer wollen nicht einfach nur ein Baby. Sogar wenn sie sich so heftig danach sehnen wie ich. Wir hätten das Ganze gern im Doppelpack. Wir wollen das vollständige Katastrophenszenario, und nicht die Elternschaft ohne Partnerin. Davor hätte ich eine Heidenangst. Kommt nicht in Frage, auf keinen Fall würde ich mich allein auf das Abenteuer des Kinderkriegens einlassen. Aber einlassen wollte ich mich zweifellos. Ich war soweit. Das stand fest. Auf meiner biologischen Uhr war es fünf vor zwölf.

Also, religiös bin ich nicht. Aber eins muß ich zugeben: Als ich in dem Wartezimmer saß, nur durch den Flur getrennt von dem Zimmer, in dem mein Alter Herr mit dem Tod rang, da ertappte ich mich dabei, daß ich Gott ein Geschäft vorschlug. «Okay», sagte ich, «wenn du Abe am Leben läßt, dann strenge ich mich wirklich an, mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Ich werde nichts mehr vor mir herschieben. Schluß mit der Lethargie. Das verspreche ich. Ich weiß, daß ich viele Chancen verpaßt habe. Aber ich weiß auch, daß ich es immer noch schaffen kann. Ehrlich, Gott, ich werde alles tun, was ich seit Jahren versäumt habe. Wenn du Abe am Leben läßt, kaufe ich mir einen Anrufbeantworter. Ich werde mich mit dem Geschmack von Sushi anfreunden. Ich schwöre es, Gott, ich werde mich sogar mit einer Frau verabreden …»

Und dann mußte ich lachen. Was zum Teufel hatte Gott davon, wenn er sich auf das Geschäft einließ?

Am nächsten Tag

Klasse. Ich meine, ich tue wirklich mein Bestes, um Ruhe zu bewahren. Es war erst Viertel vor acht am Montag morgen, und ich stand bereits kurz vor dem Nervenzusammenbruch.

Ich war extra früh ins Büro gekommen, um Ordnung zu schaffen. War nicht drin. Übers Wochenende waren die Abteilungen Kultur und Sport in den zweiten Stock verlegt worden, damit eine Etage höher unsere neuen Computer installiert werden konnten, und nichts, nicht einmal das offizielle Namensschild «Lacy Gazzar» für meinen Schreibtisch war, wo es hätte sein sollen. Mist.

Es herrschte völliges Chaos. Auf allen Schreibtischen stapelten sich Schachteln, und meiner war in eine Ecke verbannt worden, aber immerhin konnte ich von hier aus, auf sechs Telefonbüchern sitzend und mit verrenktem Hals, einen Blick auf den Michigansee erhaschen.

«Mein Gott», grummelte ich, während ich unter den Tisch kroch, um meine Lampe einzustecken, «ein verdammt hoher Preis dafür, daß diese Zeitung technologisch ein bißchen aufgerüstet wird.»

«Verzeihung? Was meinen Sie?» fragte der Sporttyp, dessen Schreibtisch nach unserer höchst provisorischen Redaktionsumgestaltung an den meinen gerückt worden war. Lieber Himmel, ich hätte ihn kennen sollen. Schließlich arbeitete ich schon elf volle Jahre bei der Sun-Times, aber sein Name wollte mir um alles in der Welt nicht einfallen. Harry, Herbie, Charlie oder so ähnlich – irgend so ein typischer Jungenname, den man auch als Erwachsener nicht mehr los wird. Ein bißchen überrascht war ich schon gewesen, als ich ihn bei einer Weihnachtsfeier vor ein paar Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, denn nach dem Namen zu schließen, der unter seinen Berichten stand, hätte ich mir eher einen komischen Kauz mit Haaren in den Ohren vorgestellt, und nicht diesen hageren, gar nicht unattraktiven Typen in Jeans und hellbraunem Jackett.

Ein ähnliches Jackett trug er auch an diesem Tag. «Tut mir leid», sagte ich, «ich meckere nur vor mich hin. Es ist einfach deprimierend. Was heute mit den Telefonen los ist, will ich lieber nicht wissen. Haben Sie Ihres schon ausprobiert?»

«Nur rausgerufen», meinte er.

Er hatte dunkelblondes, graumeliertes Haar wie Harrison Ford, aber über die Farbe seiner Augen war ich mir nicht ganz im klaren. Charlie, so hieß er. Charlie Fineman? Fleckman? Feldman. Genau, Charlie Feldman. Er war mit dem Auspacken auch noch nicht viel weiter als ich.

«Wenn Sie wollen, können wir das Telefon testen», schlug er vor, «welche Durchwahl haben Sie?»

«Prima. Fünf-vier-drei-drei.»

Er drückte die Tasten, und – Wunder über Wunder – mein Telefon klingelte. Ich nahm ab. «Lebensberatung XX …» meldete ich mich mechanisch wie ein Roboter.

Er lächelte mich an. Der Mann hatte tadellose Zähne und auch ein Grübchen.

«Aha. Sie sind also die Kollegin, die die Lebensberatungs-Abteilung leitet.»

«Ja. Aber ‹leitet› trifft es nicht genau – ich meine, dafür werde ich nicht bezahlt.»

«Wofür werden Sie denn bezahlt?»

«Fürs Assistieren natürlich. Ich bin die sprichwörtliche Redaktionsassistentin.»

Ich sagte das ein bißchen hochnäsiger, als ich mich dabei fühlte. Ich meine, Adrienne und Ruthie, die beiden Frauen, für die ich arbeite, sind gar nicht so schrecklich. Im Umgang miteinander sind sie schrecklich, besser gesagt, sie hassen sich – fast so sehr, wie sie die Leserinnen hassen, die sich bei ihnen Rat holen. Aber zu mir sind sie nicht schrecklich. Und obwohl sie für das Erteilen von Ratschlägen ein dickes Gehalt einstreichen, lassen sie mich ab und zu die Briefe schreiben. Allerdings haben wir abgemacht, daß ich mich nicht öffentlich dazu bekenne. Teilweise weil es dabei um die Reputation geht – ihre Beratungskolumne erscheint in siebenundsechzig Zeitungen –, und teilweise weil sie glauben, ich sei viel zu jung, um den Menschen zu erklären, wie sie ihr Leben führen sollen. Nach Jahren gerechnet stimmt das, denn ich bin erst fünfunddreißig. Aber sie haben beide keine Kinder, und so weiß ich in mancher Hinsicht viel mehr über das Leben – wenn man bedenkt, wie lange ich von Beruf Mutter war.

Und um meinen Mutterberuf mußte ich mich kümmern, nun, da ich wußte, daß das Telefon funktionierte. «Danke für den Telefontest. Jetzt kann ich wenigstens meine Tochter anrufen und aufwecken, damit sie rechtzeitig zur Schule kommt.»

«Ihre Tochter?»

Seine Stimme klang sonderbar – so als hätte ich eben gesagt: «Jetzt kann ich meinen Gorilla anrufen», was weiß ich. Jedenfalls meldete sich Jessica nach dem zweiten Klingeln.

«Hallo, Schatz, ich wollte nur fragen, ob du den Zettel gesehen hast, daß du zum Tanken fahren sollst.»

«Hab ich. Danke für den frischen Orangensaft. Für zehn Dollar bleifrei?»

«Nein, Schatz, nimm diesmal das Normale. Super brauchen wir nur jedes zweite Mal.»

«Okay. Ich erledige das nach der Schule.»

«Danke, Liebes. Du bist die Beste. Ich hab dich lieb.»

«Ich dich auch. Bye.»

«Bye.»

Charlie starrte mich mit einem seltsamen Ausdruck an.

«Darf ich Ihnen eine Frage stellen», sagte er.

«Sicher.» Ich strich mir das Haar aus der Stirn. Mein Haar ist ein großes Problem. Es ist schwarz und lockig und kaum zu bändigen, und die Kämme, die mir Dolores, das ist meine Mutter, gestern mitgebracht hatte, erfüllten ihren Zweck nicht ganz. Süß waren sie schon, mit Pizzas aus Keramik verziert. Auf jeden Fall schob ich meine Haare nach hinten – damit zu spielen ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen – und sagte: «Fragen Sie nur. Ich bin Lacy Gazzar. Reimt sich auf bizarr.»

Ich werde nie verstehen, warum das den Leuten kein Lächeln entlockt. Nicht, daß es mir etwas ausmachen würde, einen seltsamen Namen zu haben. Es gefällt mir sogar. Auf seinem Gesicht lag der übliche verdatterte Ausdruck, als wollte er seinen Ohren nicht trauen. Dann sagte er: «Charlie Feldman.»

«Ja, ich weiß. Sie sind Sportredakteur – Baseball – stimmt’s?»

«Nicht mehr. Eishockey. Die Hawks. Lesen Sie denn unseren Sportteil?»

«Nicht oft. Ab und zu. Über die Bulls – die Bulls finde ich klasse – nein, meistens lasse ich den Sportteil aus. Nehmen Sie’s nicht persönlich. Lesen Sie unsere Kummerkastenseite?»

«Nein. Aber nehmen Sie’s auch nicht persönlich. Ich habe genug damit zu tun, die Sportseiten der Konkurrenz zu lesen. Zumindest die Eishockey-Berichte.»

«Und was machen Sie den Rest des Jahres?»

«Welchen Rest des Jahres?»

«Wenn es nicht Winter ist?»

Er blickte mich an, als hätte ich schon wieder etwas über Gorillas gesagt. «Das ist ein völliges Mißverständnis. Eishockey ist nicht nur ein Wintersport. Zur Zeit arbeite ich an Berichten über die Vorsaison. Die Hauptsaison fängt in drei Wochen an, am 7. Oktober. Und je nachdem, wie die Entscheidungsspiele laufen, geht’s weiter bis in den Juni. Es bleiben genau drei Monate im Jahr, wo ich mit Eishockey nicht alle Hände voll zu tun habe.»

«Ah.»

Ich war mir nicht sicher, was ich jetzt sagen sollte. Über Eishockey wußte ich nur, daß es meistens von Kanadiern gespielt wird, die keine Schneidezähne mehr haben, aber dazu fiel mir keine passende Frage ein.

Das machte ihm jedoch nichts aus, denn er wollte ja mich etwas fragen.

«Also, ich weiß, es ist eine persönliche Frage. Sie müssen mir also nicht antworten.»

In diesem Augenblick rief jemand quer durch den Raum: «Hallo, Charlie!» Andere Leute aus der Sportabteilung trudelten ein und versuchten, sich in dem Durcheinander zurechtzufinden, das der unfreiwilligen Bürogemeinschaft mit der Kulturabteilung zu verdanken war. Es herrschte eine Stimmung wie am ersten Schultag, weil wir alle in diesem neuen, zum Bersten vollgestopften Klassenzimmer miteinander würden leben müssen. Er winkte dem Kollegen zu und wandte sich dann wieder zu mir.

«Was wollten Sie denn wissen?»

«Na ja, ich weiß, es klingt albern, aber Sie haben doch gerade mit Ihrem Kind gesprochen, stimmt’s?»

«Genau, mit meiner Tochter Jessica – irgendwo in diesem Chaos habe ich ein Foto von ihr», sagte ich und zog meine Schubladen auf, fand aber nichts. «Warum?»

«Nun, es hat sich angehört, als wäre sie schon ziemlich groß. Als könnte sie schon Auto fahren.»

«Kann sie auch. Sie ist achtzehn.»

«Achtzehn?»

Wenn das kommt, habe ich immer gemischte Gefühle – denn an dieser Stelle pflegen die Leute zu bemerken, ich sähe viel zu jung aus, um eine achtzehnjährige Tochter zu haben. Was nicht zu leugnen ist. Ich war zu jung. Und das sagte ich auch zu Charlie. «Stimmt, ich bin jetzt fünfunddreißig, aber ich war erst siebzehn, als ich sie bekam. Ich war eins jener Kinder, über die wir immer berichten – Kinder, die Kinder kriegen. Nur daß ich mich schon für ziemlich erwachsen hielt, weil ich den Vater rumgekriegt habe, mich zu heiraten.»

«Sind Sie immer noch verheiratet?»

Offenbar gehörte er nicht zu den Männern, die auf Ringe und dergleichen achten. «Nein. Tony ist gegangen, als Jessica zwanzig Monate alt war. Sind Sie denn verheiratet?»

«Ich war es. Zwei Jahre lang Ende der siebziger. Sie hat mich verlassen. Wegen eines Proktologen.»

Herrje, das hörte sich an wie der Auftakt zu einem schlechten Witz. Aber Charlie meinte es ernst. «Ach, und haben Sie Kinder?»

Sein Telefon klingelte, während er antwortete: «Nein, keine Kinder», und dann hörte ich ihn sagen: «Wirklich? Er ist über den Berg? Mein Gott, das ist ja prima, Mom! Einfach prima.»

Er sprach noch ein paar Minuten, aber als er auflegte, wirkte er völlig verändert. Geradezu überglücklich.

«Verdammt, das ist prima», sagte er zu niemand Bestimmtem – abgesehen davon, daß ich ihm praktischerweise gegenübersaß. Und dann schüttete er mir sein Herz aus. Er erzählte mir alles über den Herzinfarkt seines Vaters und daß ihm bis zu diesem Augenblick nicht einmal klar gewesen war, welche Angst er ausgestanden hatte; und daß er gestern diesen Handel mit Gott abgeschlossen hatte – nicht, daß er religiös wäre –, aber jetzt würde er sein Leben wirklich in die Hand nehmen …

Dann hielt er inne, sah mich ganz komisch an und sagte: «Lacy? Geben Sie den Leuten wirklich Rat?»

«Ja, schon, gewissermaßen. Aber Sie dürfen das nicht weitererzählen – ich könnte sonst gewaltigen Ärger mit meinen Chefinnen kriegen.»

«Hören Sie.» Er beugte sich vor, so daß ich endlich sah, daß seine Augen blau waren, graublau. «Ich kenne Sie ja gar nicht. Aber vielleicht sind Sie für mich der richtige Mensch, um etwas zu besprechen.»

«Was denn?»

«Es ist ziemlich wichtig, zumindest für mich. Verstehen Sie. Das ist kein Annäherungsversuch. Mit Leuten im Büro lasse ich so etwas. Außerdem bin ich so aus der Übung, daß Sie es gleich merken würden, weil ich mich so blöd anstelle. Aber würden Sie morgen mittag mit mir essen gehen? Heute fahre ich ins Krankenhaus, aber würde es Ihnen morgen gegen eins passen?»

Also, ich fand es ziemlich verrückt, daß dieser Sporttyp, den ich noch keine halbe Stunde kannte, mich zum Essen einlud. Ich meine, wenn ich mit ihm geflirtet hätte, das wäre was anderes gewesen, aber ich hatte mich vollkommen sachlich verhalten. Doch offensichtlich hatte er etwas auf dem Herzen. Also stimmte ich zu: «Sicher doch. Ja. Ist alles okay mit Ihnen?»

«Warum? Lädt Sie sonst nie jemand zum Essen ein?»

«Was soll die Bemerkung. Natürlich. Ich frage nur, weil Ihnen offenbar etwas auf der Seele brennt.»

«Sie sagen es. Ich bin an einem Wendepunkt in meinem Leben angelangt. Natürlich, ich kenne Sie nicht, aber Sie machen den Eindruck, als wüßten Sie, wovon Sie reden. Als wären Sie praktisch veranlagt. Ich glaube einfach, es würde mir guttun, mit Ihnen zu reden.»

«Das stimmt, manchmal bin ich eine tolle Gesprächspartnerin – also gut, gehen wir essen. Aber Sie haben mich neugierig gemacht. Ich wüßte ganz gern, worauf ich mich einlasse – ein kleiner Hinweis wäre nicht schlecht.»

«Wie meinen Sie das?»

«Ich wollte nur sagen, wenn Sie ein Problem haben, über das Sie reden wollen, dann hätte ich gern eine Vorschau, verstehen Sie, wenigstens ein Stichwort. Ich meine, vielleicht bin ich nicht die richtige Ansprechpartnerin für Ihr spezielles Problem, und dann haben Sie sechs, sieben Dollar fürs Essen verschleudert. Denn falls es um Drogenmißbrauch oder so was geht … ich halte überhaupt nichts von diesen Zwölf-Schritte-Programmen. Ich glaube, da wird nur eine Sucht durch eine andere ersetzt, und jeder empfindet sich als armes Opfer und …»

«Es geht nicht um Drogenmißbrauch. Es ist etwas anderes.»

«Was denn?»

«Ich möchte ein Baby.»

«Ein Baby? Wie alt sind Sie?»

«Vierundvierzig.»

«In Ihrem Alter möchten Sie noch mit Kindern anfangen?»

«Ehrlich gesagt, würde ich lieber in Ihrem Alter damit anfangen. Aber leider habe ich nicht die Wahl. An meinem Alter ist nicht zu rütteln. Geht es morgen um eins?»

Ich antwortete ohne Umschweife: «Besser wäre halb eins. Sie wollen mit vierundvierzig noch ein Baby? Anscheinend haben Sie nicht viel Erfahrung mit Babys.»

Ich brauchte noch geschlagene vier Stunden, bis ich meinen verdammten Schreibtisch aufgeräumt hatte.

Charlie

Am folgenden Tag

Luigis Vorderzimmer war gerammelt voll und laut. In solchen Lokalen landete ich immer. Wenig Dekor. Viel Ambiente. Warme Töne, vor allem Rot. Weinrot. Weinroter Teppichboden, weinrote Barhocker und diese rot-weißen Wachstuchdecken auf den Tischen. Ein Laden mit Patina. Und in den zwanzig Jahren, die ich hier verkehrte, hatte Angie, die die besten Manicotti diesseits von Neapel machte, es noch immer geschafft, einen Tisch für mich zu finden.

«Carlo-mio», sagte sie und schloß mich in die Arme, sobald wir zur Tür hereinkamen, «come stai?»

«Bene, Angie, bene. Tu?E come vanno i bambini?»

Lacy sah mich staunend an. «Sind Sie ein italienischer Jude?» fragte sie.

«Nein. Nur ein jüdischer Manicotti-Süchtiger. Aber das dürfen Sie meiner Mutter nicht erzählen.»

Sie lachte. Heute wirkte sie ganz anders. Weniger gestreßt. Weniger in Stimmung loszulegen, wenn jemand etwas Falsches sagte. Nicht, daß ich etwas Falsches gesagt hätte. Bis jetzt jedenfalls noch nicht. Aber Lacy sah aus, als ginge sie ziemlich leicht in die Luft. «Reden wir lieber nicht über Mütter – nicht, wenn Ihre Jüdin ist und meine Italienerin.»

«Ich mag meine Mutter», erklärte ich. «Aber sie könnte die Winterolympiade im Sich-Sorgen-Machen gewinnen.»

«Tatsächlich? Wie kommen Sie auf die Idee, daß das ein Wintersport ist?»

«Da findet man mehr Anlaß, sich Sorgen zu machen.»

Angie hatte Ausschau nach einem freien Tisch gehalten und führte uns nun zu einer Sitzecke im Hinterzimmer. «Hier hinten ist es besser. Ruhiger», meinte ich. Für ruhig war es immer noch ziemlich laut, aber da ließ sich nichts machen. Über unseren Köpfen raste die Hochbahn vorbei, die es zu übertönen galt, wenn man sich verständlich machen wollte. Lacy machte es sich auf der Kunstlederbank bequem. Die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster hereinfielen, fingen sich in ihren glänzenden blauschwarzen Haaren. Sie hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und sah aus wie neunzehn. Toll. Einfach toll. Ich will eine Frau, die aussieht, als dürfte sie sich noch kein Bier bestellen, um Rat bitten, wie ich mein Leben auf die Reihe kriege. Richtig.

Nicht, daß es schlimm gewesen wäre, dieser Frau gegenüberzusitzen. Sie glich einer Schwimmerin – toller Körper, jede Bewegung anmutig und kraftvoll. Ihre Beine waren lang, und sie wußte offensichtlich um ihre Qualitäten, denn sie schien nicht das Bedürfnis zu haben, sie mit einem besonders langen Rock zu bedecken. Ich weiß, als Mann sollte man zuerst auf die Augen achten, aber wenn eine Frau einem solche Beine präsentiert, fällt es schwer, das Protokoll zu beachten. Lacy war auch hübsch. Zu stark geschminkt, aber hübsch. Grüne Augen, helle Haut und ein breites, entwaffnendes Lächeln. Ihren Busen konnte ich nicht beurteilen. Sie trug ein hautenges kastanienbraunes Unterhemd oder dergleichen unter ihrer Kostümjacke. Das habe ich nie ganz kapiert. Gleichzeitig mit der Frauenbewegung ist es in Mode gekommen, daß die Unterwäsche vorguckt. Nicht, daß es mich stören würde. Es leuchtet mir nur nicht ganz ein.

Außerdem wußte ich nicht recht, wie ich das Gespräch beginnen sollte. Einleitungen sind noch nie meine Stärke gewesen. Aber sie schien auch nicht scharf darauf, gleich loszulegen. «So?» sagte sie und faltete ihre Serviette auseinander.

«Ähm … Möchten Sie vielleicht einen Drink?»

«Danke. Nur den Haussalat und einen Eistee. Und Sie?»

«Die Manicotti. Und ein Bier.»

Dann herrschte dröhnendes Schweigen.

«Das ist doch ziemlich komisch, oder? Daß ich Sie zum Essen einlade und alles.»

«Ein bißchen, ich weiß nicht. Mag sein, daß es komisch ist – aber nett.»

«Ja. Hm.»

«Charlie? Vielleicht fangen Sie einfach an zu erzählen. So wie gestern», schlug sie vor und rückte ihr Besteck zurecht, da sie mit der Anordnung offenbar nicht zufrieden war. «Ich will Sie ja nicht drängen, aber ich muß in einer Stunde wieder im Büro sein.»

«Gut», begann ich, «es ist nicht ganz leicht, einfach draufloszureden, aber wie gesagt, stört es mich sehr, daß ich keine Kinder habe. Ich bin mir sicher, daß es auch etwas mit dem Herzinfarkt meines Vaters zu tun hat, aber andererseits läßt sich nicht leugnen, daß ich schon ziemlich lang diese Gefühle mit mir herumschleppe.»

«Wie lange denn?»

«Keine Ahnung. Sehr lange. Vermutlich gehen Menschen immer davon aus, daß sie irgendwann … eben heiraten, Kinder in die Welt setzen, eine Familie gründen. Auch wenn sie es nicht tun, so glauben sie doch mit dreißig oder fünfunddreißig oder sogar mit vierzig daran, daß sie es noch schaffen. Aber wenn man erst einmal auf die fünfundvierzig zusteuert, ist man schon verdammt überrascht, daß es immer noch nicht geklappt hat. Und da fragt man sich, ob vielleicht nichts mehr draus wird. Man wird traurig, und ehrlich gesagt, kriegt man eine Heidenangst.»

Ich rede selten so offen. Aber die Gefühle lagen verdammt dicht unter der Oberfläche. Da war kaum noch Haut drüber.

«Ich weiß nicht einmal, ob ich das in Worte fassen kann. Aber es ist eine Sehnsucht. So ein starkes Gefühl im Bauch. Daß ich soviel Wunderbares habe, Liebe zum Beispiel und Wissen und Einsichten, und ich brenne darauf, das mit jemandem zu teilen. Ich möchte jemanden nach Strich und Faden verwöhnen, mit ihm leben und ihm eine Menge geben.»

Ich verstummte. Himmel. Wo kam das alles her? Am Nebentisch ertönten zwei Piepser. Du meine Güte, die neunziger Jahre konnten einem wirklich auf den Geist gehen! «Mein Gott», meinte Lacy, die das Gepiepse überhörte und den Blick nicht von mir wandte, «ich habe noch nie einen Mann über dieses Thema reden hören, was nicht heißt, daß Sie der einzige sind, der so empfindet – da bin ich mir sicher – es ist nur …»

«Hören Sie, ich weiß, daß andere Männer so empfinden wie ich. Nur, daß wir nie darüber reden. Meinen besten Freund kenne ich seit der High-School, und jetzt sitze ich hier und rede mit Ihnen darüber. Nicht mit ihm. Es fällt schwer, das zuzugeben. Man liest doch ständig das Zeug in den Illustrierten über Frauen und ihre biologische Uhr, aber eins sage ich Ihnen, auch bei Männern tickt sie schrecklich laut. Es wundert mich nur, daß Oprah noch keine Talk-Show über das Thema gemacht hat.»

«Vielleicht hat sie ja.»

«Wenn ja, hätte meine Mutter sie für mich aufgezeichnet.»

«Warum? Haben Sie mit Ihrer Mutter darüber gesprochen?»

«Nicht nötig. Bei ihr tickt längst eine biologische Großmutteruhr der Spitzenklasse. Ungeachtet der Tatsache, daß mein Bruder drei Kinder hat.»

In den letzten Tagen hatte ich viel über Sophie nachgedacht. Auch wenn sie gelegentlich eine überfürsorgliche Nervensäge war, hatte sie mich nie bedrängt, endlich ein nettes Mädchen kennenzulernen und eine Familie zu gründen. Und das hatte ich ihr noch nicht einmal besonders hoch angerechnet.

«Glauben Sie, das hat damit zu tun?» fragte Lacy. «Daß Sie Ihre Eltern glücklich machen wollen?» Sie nahm sich ein Stück Brot aus dem Korb und schob ihn mir zu.

«Eigentlich nicht. Und es geht mir auch nicht um die Verbreitung des Familiennamens. Es kommt mehr von innen. Diese Bilder machen mich einfach fertig.»

«Was für Bilder?»

Gott, war es schwer, darüber zu reden. Vor allem mit jemandem, der so jung war. Und so eigenartig. Was war das für eine Marotte – diese langen Fingernägel mit den Rheinkieseln an der Spitze? Und das pinkfarbene Zeug um die Augen? War Lidschatten nicht normalerweise blau?

«Charlie? Was für Bilder?»

«Oh, tut mir leid. Ich werde einfach diese Bilder nicht mehr los. Die Vorstellung vom Leben mit einem Kind, die immer wiederkommt und mir einen Stich im Magen versetzt. Ich meine jetzt keine Zeitlupenszene aus Der Unbeugsame, in der ich meinem Sechsjährigen Baseball beibringe.»

«Was ist dagegen einzuwenden?»

«Nichts. Es ist nur so verdammt typisch. Ein Vater-Sohn-Klischee. Ich kenne die Entsprechung bei Müttern nicht – der Augenblick, in dem sie ihre Töchter in die weiblichen Geheimkünste einweihen. Ich will nicht behaupten, daß Mädchen nicht werfen können, aber ich meine so einen Augenblick zwischen Mutter und Tochter, wo sich ein Mann nicht einmischen kann. Gibt es das bei Frauen?»

Lacy lächelte. «Sicher. Beim Beinerasieren.»

«Was?»

«Ich weiß nicht, ob das für alle Amerikanerinnen gilt», sagte sie und beugte sich zu mir vor, «aber eine meiner Lieblingserinnerungen ist der Abend, an dem ich Jessica gezeigt habe, wie frau sich die Beine rasiert. Es war ihr sehr ernst damit – sie war vielleicht elf –, und wir haben eine richtige Zeremonie daraus gemacht mit Schaumbad und Rasiercreme. Nur, daß wir dann völlig albern geworden sind und eine riesige Rasiercremeschlacht veranstaltet haben. Ich bin dabei ganz sentimental geworden, weil mir klar wurde, daß sie, obwohl sie unbedingt erwachsen werden wollte, einfach noch ein Kind war, und ich irgendwie auch, und daß … Ach, Mist, tut mir leid. Wahrscheinlich finden Sie es ziemlich taktlos, daß ich Ihnen von den schönsten Augenblicken im Elterndasein erzähle.»

«Nein, nein, ist in Ordnung. Ich habe Sie ja gefragt. Ich bin Ihnen nicht böse, weil Sie ein Kind haben. Das ist aus Ihrem Leben nicht wegzudenken», sagte ich und winkte dem Kellner, damit er unsere Bestellung entgegennahm. Ich konnte jetzt ein Bier vertragen.

«Ja. Das läßt sich nicht leugnen. Ich war mehr als die Hälfte meines Lebens Mutter. Das können nicht viele Fünfunddreißigjährige von sich behaupten. Es wird komisch sein, wenn sie nächstes Jahr weggeht.»

«Wohin geht sie denn?»

«Aufs College. Sie ist bald mit der High-School fertig.»

Eine angehende Studentin. Lieber Himmel, ich hatte wirklich den Anschluß verpaßt. Diese Frau war, was Kindererziehung anging, ein alter Hase, und ich noch nicht einmal Anfänger. Sie hatte ihr Leben im Schnellgang abgespult, während sich meines in Zeitlupe abspielte.

«Weiß sie schon, wo sie studieren will?»

«Kommt drauf an, wo sie ein Stipendium bekommt.»

«Hat sie was auf dem Kasten?»

«Absolut – das heißt, sie ist guter Durchschnitt. Das Stipendium, auf das wir hoffen, bekommt sie für Softball. Jessica ist eine Sportskanone. Letztes Jahr war sie Co-Kapitän ihrer Mannschaft. Und das wird sie dieses Jahr auch wieder. Die Trainer meinen, sie könnte ein volles Stipendium bekommen.»

«So gut ist sie? Wie viele Spiele hat sie gewonnen?»

«Letztes Jahr acht von zehn.»

«Im Ernst? Das ist beeindruckend. Wo möchte sie studieren?»

«Am liebsten North Carolina. Vanderbilt wäre auch nicht schlecht. Vielleicht auch die Northwestern University – obwohl sie nicht gerade begeistert wäre, wenn uns nur zwanzig Stationen mit der Hochbahn trennen.»

«Und was wird dann aus Ihnen?»

«Aus mir? Am besten bestelle ich erst mal», sagte sie, als der Kellner auftauchte. Er brachte uns das Bier und den Eistee, während sie weitersprach. «Ich werde auch aufs College gehen. Ehrlich gesagt, haben Jessica und ich die Aufnahmeprüfung für die Uni gemeinsam gemacht. Sie war mir in Mathe über, aber in Englisch war ich besser. Ich habe einen sagenhaften Wortschatz.»

«Sie haben die Prüfung noch einmal abgelegt?»

«Nicht ‹noch einmal›. Meinen High-School-Abschluß habe ich erst nachgeholt, als Jessica vier war. Ich habe immer gerne gelernt … nur konnte ich mir keine Ausbildung leisten – keine Zeit, kein Geld.»

«Und jetzt?»

«Jetzt? Jetzt habe ich beides. Sobald Jessica auszieht, habe ich abends jede Menge Zeit. Und auch etwas Geld, wenn das mit dem Stipendium klappt.»

«Und wohin gehen Sie?»

«Weiß ich noch nicht. DePaul. Loyola. Kommt drauf an. Ich möchte Psychologie studieren. Als Kummerkastentante bekommt man Appetit auf Weiterbildung.»

Ich wollte mich gerade nach ihrer Arbeit erkundigen, als sie einwarf: «Charlie, haben Sie mich zum Essen eingeladen, um meine Lebensgeschichte zu hören, oder haben wir uns vom Thema ablenken lassen?»

«Ablenken lassen», erwiderte ich und dachte, wie es möglich ist, daß man jahrelang mit Menschen unter einem Dach arbeitet und nicht einmal darüber nachdenkt, was sie alles erlebt und zu erzählen haben. Wenn man sich diese Frau ansah – einsfünfundsechzig, schätzte ich, und nicht mehr als siebenundfünfzig Kilo –, hätte man nicht im Traum an nachgeholte High-School-Abschlüsse, achtzehnjährige Kinder und Softball-Stipendien gedacht. Wirklich erstaunlich.

Als der Kellner das Essen brachte, kam Lacy wieder auf mich zu sprechen. «Sie haben mir von diesen Bildern erzählt, diesen Vater-Augenblicken.»

«O Gott, keine Ahnung, ich komme mir jetzt ziemlich albern vor.»

«Nein, es interessiert mich wirklich.»

«Also, es sind sehr viele Bilder. Ich weiß nicht recht. Bei einem geht es um den Eisschrank.»

«Den Eisschrank?»

«Den Kühlschrank. Entschuldigung. Jedenfalls, immer wenn ich in der Küche bin, kommt er mir so nackt vor. Da fühle ich mich wie im Hotel. Bei anderen Leuten, die ich besuche, ist der Eisschrank mit Zeichnungen und Fingermalerei und Fußballterminen bedeckt. Ich mag es nicht, daß mein Eisschrank so nackt ist.»

«Stimmt. Ich glaube, darüber habe ich nie nachgedacht. Meiner ist voller Zettel, die mit Jessica zu tun haben. War Ihrer immer so kahl?»

«Einmal hatte ich eine Zeichnung von meinem Neffen aufgehängt. Er muß damals fünf gewesen sein. Die Überschrift lautete ‹unsere Familie›, und da standen diese Strichmännchen in Reih und Glied. Er in der Mitte, links und rechts mein Bruder und meine Schwägerin, dann kamen seine Schwester und sein Bruder, je ein Großelternpaar auf beiden Seiten, der Hund, die Wüstenspringmäuse, die Goldfische, und dann muß jemand gesagt haben: ‹Und was ist mit Onkel Charlie?› Weil ich ganz am Rand noch reingeflickt wurde. Direkt nach den beiden Goldfischen.»

«Du meine Güte. Wie haben Sie sich da gefühlt?»

«Ich war froh, daß sie nicht drei Goldfische haben.»

Lacy lachte. «Wie haben Sie es ausgehalten, das Bild aufzuhängen?»

«Keine Ahnung. Er hat es mir geschenkt. Von der Frau, mit der ich ein paar Jahre zuvor zusammen war, hatte ich so einen Brokkoli-Magneten bekommen, und so hatte ich endlich mal Verwendung dafür, um die Zeichnung festzumachen.»

«Hängt sie immer noch da?» fragte sie und tunkte das Olivenöl auf ihrem Salatteller mit Angies Kräuterbrot auf.

«Nein. Jetzt ist alles weg. Sogar der Magnet. Der Eisschrank ist wieder vollkommen kahl. Bestimmt ist es ein ganz blödes Bild für meinen unerfüllten Kinderwunsch, aber es paßt.» Als Lacy nichts erwiderte, fügte ich hinzu: «Außerdem geht es nicht nur ums Kind. Ich habe auch so ein Schuldgefühl, weil ich mein Leben nicht auf die Reihe gekriegt habe und nicht rechtzeitig die Beziehungen eingegangen bin, die ich wollte. Und jetzt, wo ich das nachholen will, habe ich den Eindruck, daß einem das Leben gar nicht so viele Chancen bietet.»

«Haben Sie dafür auch ein Bild?»

«Ja. Mein Bruder und ich haben das ‹Kinder-Sandwich› genannt. Ich frage mich oft, wie es wäre, mit einer Frau – einer Ehefrau – und einem Kind in der Mitte im Bett zu liegen. Verstehen Sie, einfach ein Kind im Schlafanzug, das zwischen uns geborgen schlummert, vielleicht weil es einen Alptraum gehabt hat oder so.»

«Charlie, darf ich Sie unterbrechen? Ich meine, Beziehungen sind schön und gut, aber haben Sie schon einmal an ein aufgeklapptes Sandwich gedacht?»

«Was soll das heißen?» fragte ich und legte die Gabel weg; die Manicotti auf meinem Teller hatte ich kaum angerührt.

«Ich will nur sagen – und das hat sicher viel damit zu tun, daß ich alleinerziehende Mutter bin –, Sie brauchen nicht unbedingt eine Ehefrau, wenn Sie Vater, ein guter Vater, sein wollen. Sie können das auch allein schaffen.»

«Sind Sie verrückt?» Ich hatte mich fast an meinem Bier verschluckt. «Ich habe einen Freund, beim Studium in Columbus war er mein Zimmergenosse, der ist geschieden. Wie Sie. Nur daß er das Kind bekommen hat, und nicht die Frau. Und es war nicht nur schwierig. Es hat Jahre gegeben, da war es beinahe unmöglich für ihn. Einmal mußte er sogar mit einem Magengeschwür ins Krankenhaus. Auf keinen Fall will ich das allein machen. Nichts gegen Sie, ich bin mir sicher, Sie sind eine tolle Mutter, aber offen gesagt, jagt mir die Vorstellung, allein mit einem Kind zu sein, eine Heidenangst ein. Das geht über meine Kräfte. Mein Gott, ich kann gar nicht glauben, daß Sie es überhaupt vorschlagen. Klar, Sie haben es gemacht, aber mal ehrlich, es war nicht ganz freiwillig.»