Knisternde Schädel - Roger Van de Velde - E-Book

Knisternde Schädel E-Book

Roger Van de Velde

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Beschreibung

Es gibt keinen Unterschied zwischen Wahnsinn und Normalität

Roger Van de Velde war ein belgischer Journalist, einer der engagiertesten Humanisten seiner Zeit und hochgradig süchtig nach Schmerzmitteln. Als er begann, täglich sechzig Tabletten statt der verschriebenen vier zu nehmen und Rezepte zu fälschen, endete er im Maßregelvollzug. Viele Jahre seines kurzen Lebens verbrachte er in psychiatrischen Anstalten, wo er heimlich seine »Kompagnons der Misere« porträtierte.
In zwanzig humorvollen, bissigen und brillanten Geschichten erfahren wir, wie Jules Leroy seine heißgeliebte Katze meuchelt, weil sie sein noch heißer geliebtes wöchentliches Roastbeef gefressen hat; wie »Haut-und-Knochen« im Adamskostüm durch die Anstalt flitzt oder wie ein Neuankömmling, der sich den ominösen Spruch »Margaritas ante porcos« auf den Unterarm tätowieren ließ, Van de Velde vom Tablettenmissbrauch heilen möchte.

Roger Van de Veldes wortgewandte Porträts seiner Leidensgenossen in der psychiatrischen Anstalt sind, bei allem schwarzen Humor, Zeugnisse des Mitgefühls. In seiner Doppelrolle des Beobachters und Betroffenen weiß er, dass es keinen Unterschied gibt zwischen Wahnsinn und Normalität. Und er schafft es, inmitten dieser menschenfeindlichen Umgebung Menschlichkeit aufzudecken.

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Seitenzahl: 129

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Cover

Titel

Roger Van de Velde

Knisternde Schädel

Erzählungen

Aus dem belgischen Niederländisch von Annette Wunschel

Suhrkamp Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 1969 unter dem Titel De knetterende schedels bei Manteau, Brüssel/Den Haag.Die Veröffentlichung dieses Buches wurde von Flanders Literature unterstützt. Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfondsfür die großzügige Förderung ihrer Arbeit am vorliegenden Text im Rahmen des Programms »Neustart Kultur«.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der Bibliothek Suhrkamp 2024.

Erste Auflage 2024Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024All rights reservedAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-518-77841-8

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort

Weiß war der Kater

Gefrorenes Wasser

Der entzauberte Fetisch

Schreiberamt

Nackt

Die Anweisungen des Prometheus

Homilie

Antwort auf eine Frage

Heringe im Glas

Mosche Scheronim

Monsieur Delcourt und die Würmer

Brief an den König

Lektion in Philosophie

Die Regeln des Spiels

Kniender Herkules

Margaritas ante porcos

Der Kunstmaler

Abschied von Livinus

Trompete

Die verbotenen Gegenstände

Kurzglossar

Nachwort

Not eines Lebens

Werk und Kontext

Knisternde Schädel

Fußnoten

Informationen zum Buch

Life is a tale told by an idiot

Macbeth

Für Frans de Bruyn,

als Zeichen der Dankbarkeit

Vorwort

Anfangs hatte ich die Absicht, diese Seiten den sonderbaren Gesellen zu widmen, die ich, mal amüsiert und dann auch wieder erschreckt, diese ganze Zeit beobachtet habe, ähnlich wie ein Kind in sprachlosem Staunen dem ungenierten Herumtoben und den sinnlosen Zankereien der Paviane im Zoo zusieht. Doch was hätten sie mit ihren knisternden Schädeln von einer solchen Zueignung? Die meisten würden sich aus den Druckbögen Papierhüte basteln, und kein Zweifel, manch einer würde sie mit Appetit verdrücken. Was eigentlich gar nicht so unsinnig ist. Die seltsamsten und wahrscheinlich besten Geschichten stehen nicht in diesem Buch, denn irgendwo liegt eine Grenze, wo das Unbegreifliche auch unaussprechlich wird. Immer wenn ich diese Grenze überschreiten wollte, erlebte ich, dass die Worte in ihrer Kraftlosigkeit ihren Inhalt verloren.

Roger Van de Velde, unveröffentlichtes Vorwort zu De knetterende schedels

Weiß war der Kater

Wie er da breitbeinig in der Türöffnung zum Treppenhaus stand, so groß und drohend mit vorquellenden Augen und blutverschmierten Händen, erinnerte er mich an den geblendeten Ödipus in seinem Zorn.

Beklommenes Schweigen legte sich wie ein nasses Laken über den Saal, und alle blickten mit angehaltenem Atem auf Jules Leroy, der den schlaffen Kadaver wie eine scheußliche Trophäe grinsend in die Höhe hielt. Es war der weiße Kater Puschkin, den wir alle ins Herz geschlossen hatten. Sein Schädel war zu Brei zerquetscht. Hirnmasse floss weiß und schleimig aus der Schale, während das schwarze Maul über den spitzen Fängen zu einem langen Strich auseinandergezogen und wie zu einem letzten Schrei erstarrt war; ein geronnenes Auge – ein murmelartiges Gebilde – hing an einer blauen Sehne, und schwarzes Blut tropfte zäh und dickflüssig auf die Fliesen vor Jules' Füßen. Das angerichtete Gemetzel war abstoßend, der Pelz hingegen war makellos geblieben.

Mit einem einzigen, mächtigen Schwung hatte Jules Leroy den Kopf des Katers an der Wand zerschmettert, weil das Tier seine Scheibe Grillfleisch gestohlen und gefressen hatte. Es geschah an einem Sonntag. Sonntags gab es zu Mittag zuverlässig eine dünne Scheibe Grillfleisch zu den Kartoffeln. Um dieses Grillfleisch machte Jules jedes Mal ein gewaltiges Tamtam. Er wickelte das Fitzelchen Fleisch behutsam in Zeitungspapier, verbarg es unter seinem Hemd und stopfte die Kartoffeln samt Gemüseberg hastig in sich hinein. Später am Nachmittag verspeiste er die Scheibe Grillfleisch mit großem Appetit und einer Hingabe, als handelte es sich um eine seltene Delikatesse. Er bestreute das Fleisch sorgfältig mit Salz, und manchmal durfte er sich im Tausch für einen Apfel oder eine halbe Tafel Schokolade das begehrte Fläschchen Worcestersauce von Kerhofs borgen. An diesem Sonntagmittag aber hatte Puschkin die Scheibe Grillfleisch tollkühn aus dem Henkelmann unter Jules' Bett geraubt.

Ich war eher verwundert als traurig, dass Jules Leroy den Kater getötet hatte, denn er liebte das Tier mit kindlicher Zuneigung. Oft ging er ostentativ mit Puschkin auf der breiten Schulter umher, und immer freitags sammelte er die Fischreste in einer eigens hierfür vorgesehenen Konservendose; und ein andermal hatte er Grégoire niedergerungen, weil dieser heimlich nach dem Tier getreten hatte. Man konnte noch von Glück sagen, dass er damals nicht Grégoires Schädel gegen die Wand geschleudert hatte. Ich wusste, dass er sich jederzeit für Puschkin geprügelt hätte, aber ich hatte mir nicht vorgestellt, dass er der Scheibe Grillfleisch so viel Gewicht beimaß.

Eine volle Minute, vielleicht länger, stand Jules mit dem blutigen, verstümmelten Kadaver wie angefroren in der Tür zum Treppenhaus.

Da näherte sich, den Kopf ein wenig schief gelegt, widerstrebend und langsam der Aufseher.

»Schmeiß das Tier hinters Brennholz im Garten«, sagte er fast tonlos, aber sehr bestimmt.

Jules Leroys hervortretende Augen wandten sich dem schiefen, ernsten und auch etwas bekümmerten Gesicht des Aufsehers zu. In diesen Augen lag eher Erstaunen als Schuldbewusstsein, gleichzeitig aber ein düsteres Funkeln nachklingender Wut. Er tat unwillig einen Schritt zurück, und der Kadaver an seinem ausgestreckten Arm geriet so heftig ins Schwingen, dass Blut auf seine Schuhe spritzte.

»Schmeiß diese Katze in den Garten«, wiederholte der Aufseher. Seine Stimme klang in ihrer Resolutheit ruhig, aber er war sehr blass geworden.

Jules trat zwei Schritte näher. Wie seine Augen spiegelte auch sein Grinsen eher Erstaunen als Wut, doch er verstärkte seinen Griff um den Schwanz des toten Katers mit herausfordernder Entschlossenheit.

Im Saal wurde es wieder laut, und in derselben Sekunde schrie Sneyers in schriller Empörung »Salaud«, Dreckskerl. Das hätte er nicht tun sollen.

Eine neue Welle maßloser Wut schwemmte das Erstaunen hinweg, und Jules geriet so außer sich, dass er seine schwere, besudelte Hand nicht mehr zügeln konnte. Er schwang den Kadaver im Kreis über seinem Kopf, sodass Batzen Hirn und dunkles Blut die Tische und geweißten Wände sprenkelten. Selbst der Aufseher trat erschrocken den Rückzug an. Ihm blieb keine andere Wahl, als nach Verstärkung zu läuten.

Fünf Minuten später stürmten fünf Aufseher in den Saal. Sie hatten ihre weißgestärkten Kittel abgelegt, und einer hatte einen dicken, unförmigen Packen unter dem Arm, während ein anderer nervös mit einem Gummiknüppel ins Leere drosch. Die Szene glich einer prähistorischen Malerei an der Felswand von Lascaux: Jules, das zertrümmerte Gerippe Puschkins schwingend, und der den Knüppel schwingende Aufseher. Gegen die Übermacht hatte Jules Leroy keine Chance, denn sie rückten ihm mit vier Mann auf einmal zu Leibe. Er wehrte sich brüllend, stampfend und fluchend, und als sie ihn endlich bezwungen hatten, stand er eingeschnürt in eine Zwangsjacke da, wie ein zitternder, schnaubender Stier in einer viel zu engen Box. Sein linkes Auge war dunkellila angelaufen, die Nase geschwollen, und unter einem Riss in seinem Hemd hob und senkte sich die behaarte Brust wie ein Blasebalg. Einer der Aufseher blutete aus der Unterlippe und betupfte die Wunde mit einem karierten Taschentuch zwischen zwei vorsichtigen Fingern.

Als man Jules, hilflos stolpernd in seiner Zwangsjacke, wegführte, giftete Sneyers ein zweites Mal: »Salaud.« Aber Jules wandte den Kopf nicht zurück. Ein angestrengtes Röcheln drang aus seiner Kehle, und in seinen Augen schimmerte ein feuchter Glanz, wie man ihn manchmal bei trächtigen Kühen sieht.

In einer Ecke unter der Zentralheizung lag der tote Kater ausgestreckt mit allen vier samtigen Pfötchen unter dem makellos weißen Fell.

Gefrorenes Wasser

Séraphin, der taub und stumm war und über dessen Fehltritt auch von den anderen in allen Sprachen geschwiegen wurde, schob auf dem Tisch einen Fetzen Papier in meine Richtung. Darauf stand: »Ist es wahr, dass der menschliche Körper größtenteils aus Wasser besteht?«

Es kam immer wieder vor, dass Séraphin mir derlei Zettel zuschob. Es war sein einziges Kommunikationsmittel, und er hatte manchmal eine intensive Freude an dieser Korrespondenz, bei der er sich nicht auf Bitten um Auskünfte oder Bestätigungen beschränkte. Oft waren es gewöhnliche, naheliegende Feststellungen, und gelegentlich brachte er auch eine persönliche Meinung zum Ausdruck, zum Beispiel: »Tibet ist das Dach der Welt« oder »Dass Josua die Sonne angehalten hat, ist gelogen«.

Es war mir schon öfter aufgefallen, dass seine Fragen oder Mitteilungen, die meistens auf etwas Bezug nahmen, was er in Zeitungen oder alten Zeitschriften gelesen hatte, im Allgemeinen eine argumentierende, rationale Tendenz zeigten. Es kam selten vor, dass er eine völlig unsinnige Frage stellte, aus der sich nicht schlau werden ließ. Und immer, selbst wenn es nur um eine gewöhnliche Mitteilung ging, erwartete er von mir eine prompte Antwort in Form einer schriftlichen Bestätigung, Verneinung oder Erklärung. Zwischen seiner geschlossenen und meiner vereinsamten Welt gab es eine unausgesprochene Verbindung, die ich immer wieder faszinierend fand, obwohl er es mir zum Teil ungemein schwer machte. Wie das eine Mal, als er fragte: »Was ist der Unterschied zwischen der Musik von Bach und der von Beethoven?« Man kann einen Blinden lehren, mit den Fingern zu lesen; aber wie, mit welchen unzulänglichen Hilfsmitteln, soll man für einen Gehörlosen das subtile Wunder einer Fuge zum Klingen bringen?

Diesmal war das Problem weniger kompliziert, wenn ich auch nicht begriff, worauf er hinauswollte. Ich schrieb auf die Rückseite des Zettels: »Es ist tatsächlich richtig, dass der menschliche Körper größtenteils aus Wasser besteht. Ich weiß den genauen Prozentanteil nicht aus dem Kopf, aber wenn du willst, kann ich nachschlagen. Es ist übrigens wissenschaftlich erwiesen, dass alles Leben ursprünglich aus dem Meer kommt.«

Seine Reaktion erfolgte spontan. Er riss aufgeregt eine Seite aus dem vergilbten Jahrgang des Soir Illustré, in dem er bis eben gelesen hatte, kritzelte eilig etwas drauf und gab die Botschaft an mich weiter.

Es war ein etwas altmodisches, aber immer noch anziehendes Farbfoto der Schauspielerin Dorothy Lamour im aufreizenden Blumensarong. Darunter fragte er in markigen Fettbuchstaben: »Und das hier?« Lächelnd setzte ich meinen Kommentar auf dieselbe Seite: »Das auch; das scheint mir sogar ein ganz herrliches Wasser zu sein. Da würde ich zu gern drin schwimmen, Himmelarsch nochmal. Du nicht?«

Das »Himmelarsch nochmal« hatte ich eigens dazu geschrieben, denn ich wusste aus Erfahrung, wie versessen er auf anschauliche Kraftausdrücke war. Für jemanden, der weder sprechen noch hören kann, muss die plastische Ausdruckskraft des Fluchens wohl auch eine Art Ventil bedeuten.

Aber anders als von mir erhofft, schien er nicht begeistert über die klärende Antwort. Er starrte eine Zeitlang finster auf das Foto, knüllte es dann langsam zu einem Geschoss zusammen und blätterte schließlich lustlos weiter in der Zeitschrift. Fürs Erste erhielt ich von ihm keine weitere Post mehr.

Ich fragte mich, was Séraphin an der chemischen Zusammensetzung des menschlichen Körpers so wurmte. Schön, aus ästhetischer Sicht ist es schon kurios, dass eine verführerische Gestalt wie die Lamour in ihren besten Jahren überwiegend aus einer so banalen Substanz wie Wasser besteht. Aber war dieses Wissen ein Grund, eingeschnappt zu sein?

Ich war mir sicher, es musste noch einen anderen, verwandten Grund für seine üble Laune geben. Aber da Séraphin den ganzen restlichen Abend über keinen schriftlichen oder sonstigen Annäherungsversuch mehr machte, ging ich der Sache nicht weiter nach. Es kam öfter vor, dass er sich plötzlich und ohne ersichtlichen Auslöser in den unzugänglichen Bunker seiner Gehörlosigkeit einschloss. Einmal hatte er tagelang geschmollt, weil ich ihm auf eine seiner Fragen nach Wahrheit oder Lüge geantwortet hatte, dass es meines Wissens keinerlei stichhaltigen Beweis oder ein stichhaltiges Beispiel für eine Auferstehung nach dem Tod gebe.

Zwei Tage nach der unerklärlichen Verwerfung der Lamour bastelte ich ungeschickt an meinem kaputten tragbaren Radio, als Séraphin mir wieder anlasslos einen Zettel zuschob. Mit einem gewissen Unbehagen las ich: »Glaubst du, dass Gott existiert?«

Er hatte mir dieses tiefgründige Problem, an dem sich die Menschheit seit sechs Jahrhunderten die Zähne ausbeißt, schon früher gelegentlich vorgelegt. Aber ich hatte es immer peinlich vermieden, Farbe zu bekennen, denn ich hielt das Thema in seiner erschreckenden Komplexität für viel zu gefährlich.

Diesmal schrieb ich ziemlich leichtfertig und vereinfachend: »Ich glaube, was ich weiß und sehe und verstehe. Von Gott weiß und sehe und verstehe ich nichts.«

Wieder starrte er eine Zeitlang mit finsterer Miene auf die nichtssagende Antwort. Dann kam eine neue Frage: »Angenommen, Gott existiert, warum hat er dann das Wasser in meinem Mund und in meinen Ohren gefrieren lassen?«

Ich blickte nachdenklich auf die gelben und roten Drähte im Innenleben meines Radios. Um nicht antworten zu müssen, stand ich mit einem Frösteln im Rücken langsam auf. Im Vorbeigehen legte ich kurz die Hand auf seine Schulter.

Der entzauberte Fetisch

Ich hatte lange gezögert, bevor ich mich entschloss, mir von Evarist den Bart schneiden zu lassen. Nicht nur, weil er so hundsmiserabel rasierte, dass es jedes Mal ein Abenteuer war, sich in seine Hände zu begeben, sondern auch und vor allem, weil ich wusste, dass er einen unversöhnlichen Hass auf mich hatte. Der Mann war imstande und schnitt mir die Kehle durch!

Solche Dinge passieren im Irrenhaus. Einige Jahre zuvor hatte ein wütender Barbier einem vorlauten Kunden mit seinem Schermesser eine hässliche Wunde beigebracht; damals hatte der Aufseher gerade noch rechtzeitig eingreifen können, um das Schlimmste zu verhindern. Eigentlich war es in höchstem Maße unverantwortlich, dass man sich nach einer solchen Erfahrung nicht scheute, ein delikates Handwerk wie das Bartscheren einem Patienten aufzutragen, aber Evarist stand nun mal im Ruf, völlig ungefährlich zu sein, obwohl ich mir da nicht so sicher war.

Ich hätte ein Gesuch an die Direktion richten können, mich »aus persönlichen Gründen« von jemand anderem rasieren zu lassen. Aber dann hätte man mich auch um eine nähere Erläuterung der Art und Berechtigung dieser persönlichen Gründe gebeten, und womöglich überschätzte ich ja seine Hassgefühle aus kindischer Furcht.

Außerdem konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, sein Temperament ein wenig auf die Probe zu stellen. Es war zwar ein arges Wagnis, für dieses Experiment einen aufgeschlitzten Hals zu riskieren, aber die Gefahr und das Glücksspiel haben mich – oft zu meiner Schande – immer schon gereizt.

Außerdem wollte ich mir beweisen, wie mutig ich war. Auch da bin ich mir immer noch nicht so sicher. Evarists Hass hatte etwas mit sexueller Verdrängung und wahrscheinlich auch mit verletztem Stolz zu tun. Eines Tages hatte er mir strahlend ein zerknittertes Foto eines üppigen weiblichen Akts präsentiert. Es war ein nu artistique, ein professioneller Akt aus einer der unzähligen Pariser Revuen, die seit Jahr und Tag bei Pubertierenden und Greisen Absatz finden.