Knochendiebin (Die zwölf Kasten von Sabor 1) - Margaret Owen - E-Book
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Margaret Owen

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Beschreibung

Das atemraubende Fantasy-Debüt aus den USA – so atmosphärisch wie Die rote Königin, so spannend wie Throne of Glass und so eindringlich wie Das Lied der Krähen. Die junge Magierin Stur aus der Krähen-Kaste kennt nur ein Gesetz: Beschütze die Deinen! Denn von den übrigen Kasten werden die Krähen geschmäht. Dabei versorgen sie Sterbende und Tote, ein wichtiger Dienst in einem Land, in dem die Sündenseuche wütet. Als Sturs Familie für eine Bestattung zum Königspalast gerufen wird, geschieht Unerwartetes: Der angeblich tote Prinz Jasimir will ihre Hilfe! Um die böse Herrscherin zu stürzen, müssen er und sein Leibwächter Tavin Verbündete treffen – unter Sturs Obhut. Aber kann sie dem Prinzen und seinem besten Freund wirklich trauen?  Eine Geschichte über Verlust und Vergeltung, über Verzicht und Veränderung, über den Willen zu überleben – und zu lieben! »Üppig, aufwühlend und … perfekt für Fans von Leigh Bardugo und Tomi Adeyemi.«, Kirkus Reviews

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Margaret Owen

Knochendiebin

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

Stur, die junge Hexe aus der Krähen-Kaste, kennt nur ein Gesetz: Beschütze die Deinen! Denn von den übrigen Kasten im Königreich werden die Krähen geschmäht. Dabei versorgen sie Sterbende und Tote, ein wichtiger Dienst in einem Land, in dem seit Generationen die Sündenseuche wütet.

Als Sturs Krähen-Rotte für eine Bestattung zum Palast gerufen wird, geschieht Unerwartetes: Der angeblich tote Kronprinz verlangt ihre Hilfe! Um eine Intrige zu verhindern, müssen er und sein Leibwächter Tavin heimlich Verbündete treffen – unter Sturs Obhut. Aber kann sie dem Prinzen und seinem besten Freund wirklich trauen?

Eine Geschichte über Verlust und Vergeltung, über Verzicht und Veränderung, über den Willen zu überleben – und zu lieben!

Band 1 der zweiteiligen Serie »Die zwölf Kasten von Sabor«.

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Leseprobe

Für alle, die von Zähnen träumen, obwohl ihre Barmherzigkeit gefordert ist.Und für meine Eltern: Nein, ihr kommt in diesem Buch nicht vor. Dieses Vorrecht gebührt der Katze.

Auf die eine oder andere Art mästen wir alle die Krähen.

Saborisches Sprichwort

In den Nächten, in denen du Sünder verbrennst, schlaf in deinen Sandalen.

Rat für junge Flügelherren der Krähen

Die Kasten

Phönix

Geburtsrecht: Feuer

HEHRE KASTEN

Pfau

Geburtsrecht: Glanz

Schwan

Geburtsrecht: Verlangen

Taube

Geburtsrecht: Kunstfertigkeit

JAGENDE KASTEN

Habicht

Geburtsrecht: Blut

Kranich

Geburtsrecht: Wahrheit

Eule

Geburtsrecht: Erinnerung

Geier

Geburtsrecht: Jagd

GEWÖHNLICHE KASTEN

Möwe

Geburtsrecht: Wind

Pirol

Geburtsrecht: Glück

Spatz

Geburtsrecht: Schutz

Krähe

Geburtsrecht: keines

TEIL EINS

Sünder und Königinnen

EINS

Der leere Thron

Pah brauchte viel zu lange, um den beiden Jungs die Kehle durchzuschneiden.

Mindestens zehn Minuten waren verstrichen, seit er in der Quarantänehütte verschwunden war, und sieben davon hatte Stur damit verbracht, die vergoldete Tür anzustarren und einen losen Faden an ihrem zerschlissenen, schwarzen Mantel zu ignorieren. Eine Minute bedeutete, dass die Sündenseuche die Jungs in der Hütte schon erledigt hatte. Drei Minuten, dass Pah Barmherzigkeit zeigen und jemanden von seinen Qualen erlösen musste.

Aber zehn Minuten, das war zu lange. Zehn Minuten, das hieß, dass etwas faul war. Und das Getuschel, das über die blitzblanken Fliesen des Innenhofes fegte, verriet ihr, dass auch die Schaulustigen langsam misstrauisch wurden.

Stur knirschte mit den Zähnen, bis das Kneifen in ihrem Bauch nachließ. Pah war ein alter Fuchs. Er wusste, was er tat, bei allen zwölf Höllen. Erst gestern hatte er ihre Rotte zu einem Seuchensignal geführt, Leichen und Lohn einkassiert und sie vor dem Mittag wieder auf den Weg gebracht.

Und in der Stadt, in der sie gewesen waren, hatte kein Mangel an Gaffern geherrscht. Ein Mann, der durch die Fäden auf seinem Webstuhl lugte, eine Frau, die ihre Ziegenherde direkt an der Sündenhütte vorbeiführte, um sie von Nahem betrachten zu können, Kinder, die sich dem Griff ihrer Eltern entwanden, um die Krähen zu begaffen und zu fragen, ob sich unter den Schnabelmasken und schwarzen Mänteln Ungeheuer verbargen.

Die Antwort, dachte Stur, hing wohl davon ab, ob eine Krähe mithörte oder nicht.

Aber Stur war vertraut mit den Gaffern und mit Schlimmerem. Sie kannte das schon fast ihr ganzes Leben lang. Als Angehörige der einzigen Kaste, die immun gegen die Sündenseuche war, hatten die Krähen die Pflicht, auf jedes Signal hin zu erscheinen.

Und als Pahs Lehrling und zukünftige Flügelherrin konnte sie sich kein weiches Herz leisten. Nicht einmal hier. Nicht einmal jetzt.

Die zwei Jungs, die sie heute Abend wegschaffen mussten, unterschieden sich in keiner Weise von all den anderen Leichen, bei deren Verbrennung Stur im Laufe ihrer sechzehn Lebensjahre geholfen hatte. Da zählte es auch nicht, dass unter den Hunderten von Toten kaum jemand von so hohem Stand gewesen war wie diese beiden. Da zählte es nicht, dass man die Krähen zuletzt vor fünfhundert Jahren in den Königspalast von Sabor befohlen hatte.

Die brennenden Blicke der Krieger und Adeligen verrieten Stur aber, dass für die Hehren Kasten an diesem Abend die Sündenseuche zählte.

Pah wusste, was er tat. Sie wiederholte die Worte noch einmal im Stillen.

Und Pah brauchte viel zu lange.

Stur riss ihren Blick von der Tür los und ließ ihn forschend über die Menschen gleiten, die sich auf den Galerien entlang des königlichen Quarantänehofes drängten. Die Suche nach möglichen Unruhestiftern war ihr zur Gewohnheit geworden, seit sie einmal von dem wutschnaubenden Angehörigen eines Seuchentoten verfolgt worden waren. Wie es schien, standen ausschließlich Pfauen-Höflinge – alle mit üppiger Trauerbemalung und Jammermiene – an den Holzgeländern und gafften aus sicherer Entfernung.

Stur zog unter der Maske eine Grimasse, als sie das übliche Getuschel hörte: »… so eine Schande …«, »… sein Vater?« und die allzu vertrauten Wörter »Knochenschröpfer« und »Knochendiebe.« Uralte, fast langweilige Beleidigungen, nichts, das für Ärger sorgen würde. Die skandalsüchtigen Pfauen waren einfach nur wie gebannt vom Anblick der dreizehn Krähen, sie rechneten mit einem Spektakel.

Ärger mit den Habichten war da um einiges wahrscheinlicher. König Surimir bevorzugte Kriegshexer als Palastwachen, jene Habicht-Krieger, die ebenso problemlos Wunden heilten, wie sie ihre Gegner von innen zerfetzten. Hochgefährlich und, da sie sich ihrer Macht bewusst waren, sehr leicht zu provozieren.

Die Kriegshexer hatten ihre Schwertgriffe fester gepackt, als die Krähen mit ihrem Karren durch das Tor gekommen waren. Und sie hatten sich seither nicht gerührt.

Stur konnte in ihren starren Blicken keine Trauer erkennen. Die Habichte lauerten auch nicht auf ein Spektakel. Sondern darauf, dass die Krähen patzten.

Sie ertappte sich dabei, noch einen Faden zwischen den Fingern zu zwirbeln. Das schmerzhafte Kneifen im Bauch machte sich wieder bemerkbar; sie heftete den Blick auf die Tür. Diese war noch unheilvoll zu.

Links von ihr eine huschende Bewegung. Galgenstrick, Pahs zweiter Lehrling, hatte sich neben dem Karren anders postiert. Fackelschein flackerte über seine Silhouette, säumte den zerschlissenen Mantel und den langen, krummen Schnabel der Maske mit leuchtendem Orange. Die Neigung seines Kopfes verriet, dass er die Patschuli-Brenner beäugte, die die Hütte umgaben.

Stur rümpfte die Nase. Sie hatte eine Handvoll wilder Minze in den Schnabel ihrer Maske gestopft, um sich vor dem Gestank der Sündenseuche zu schützen. Verständlich, dass man ihn auch in diesem piekfeinen Palast übertünchen wollte. Aber sich dazu für Patschuli zu entscheiden war schlichtweg unverzeihlich.

Galgenstrick schob seine Sandale langsam und unverfänglich in Richtung eines Brenners.

Überall sonst hätte Stur das Patschuli selbst aus Versehen umgestoßen. Galgenstrick konnte sich bestimmt kaum zurückhalten, angesichts der vielen Angehörigen aus den Hehren Kasten. Denn die lauernden Adeligen auf den Galerien verdienten eine böse Überraschung.

Aber nicht hier, nicht jetzt. Stur zupfte an der Kapuze ihres Mantels, ein Zeichen, das nur andere Krähen deuten konnten. Baut keinen Mist.

Galgenstricks Fuß näherte sich dem Brenner um eine weitere Zehenlänge. Stur konnte das Grinsen unter seiner Maske förmlich riechen.

Sie war als Hexe, er als Hexer geboren worden, was bei den Krähen auch bedeutete, dass man zum Flügelherrn oder zur Flügelherrin bestimmt war. Immer, wenn Stur daran dachte, drehte sich ihr der Magen um … Galgenstrick hingegen verschwendete bestimmt keinen Gedanken daran, was diese Anführer-Rolle bedeutete. Pah nannte ihn ein »kurzsichtiges Schlitzohr« – er war so darauf aus, andere übers Ohr zu hauen, dass er nicht merkte, wenn er selbst reingelegt wurde.

Stur betrachtete die Soldaten, danach Galgenstrick und beschloss, ihn zu skalpieren, falls ihr die Habichte nicht zuvorkamen.

Die selten benutzten Türscharniere knarrten, als Pah endlich aus der Hütte trat.

Stur beruhigte sich wieder und ließ den Faden los. Pahs Mantel war voller Blutspritzer. Er hatte Barmherzigkeit walten lassen.

Quälend langsame Barmherzigkeit, dachte Stur.

Ihre Erleichterung währte nur einen halben Herzschlag, dann war an der Wand hinter ihnen ein metallisches Schaben zu hören.

Jede Krähe kannte das Sirren, mit dem erstklassiger Stahl gezogen wurde. Aber Pah war der Einzige, der sich umdrehte, und die Augenschlitze seiner Maske, durch Glasschwarz geschützt, glitzerten im Fackelschein. Dann wartete er ab.

Stille legte sich wie eine Eisschicht über den Innenhof, als sogar die Pfauen verstummten.

Auf den Straßen der Städte, auf den Hirsefeldern, überall zwischen den Buchten im Westen, wo sich die Handelszentren Sabors befanden, bis zum unwirtlichen Gebirge im Osten durften die Hehren Kasten die Krähen erschlagen, und dazu brauchten sie nicht mal einen triftigen Grund. Brüder, Tanten, Geliebte, Freunde – jede Krähe war von den Narben solcher Verluste gezeichnet. Sturs eigene Mutter war vor Jahren auf einem finsteren Weg verschwunden.

Aber noch zügelten sich die Habichte. Die Sündenseuche griff rasant um sich, sobald eines ihrer Opfer gestorben war. Ein einziger Toter, und so manche Stadt bestand ein Jahr später nur noch aus verwaisten Gebäuden. Hier auf dem Quarantänehof, angesichts zweier toter Jungen, die den Palast ganz sicher in weniger als einem halben Mond leer fegen würden … hier auf dem Quarantänehof waren die Krähen unantastbar.

Noch ein metallisches Sirren, als die Klingen zurück in ihre Scheiden glitten. Stur wagte es nicht, sich umzudrehen. Sie konzentrierte sich stattdessen auf Pahs heisere Brummstimme: »Ladet sie auf.«

»Ich übernehme die toten Hosenscheißer«, sagte Galgenstrick und setzte sich in Bewegung.

»Aber nicht allein.« Pah schüttelte den Kopf und winkte Stur. »Sie sind eine Nummer zu schwer für dich.«

Stur blinzelte. Der Truchsess hatte die Sünder als »Jungen« bezeichnet, als er die Krähen hierher geführt hatte. Sie hatte Rotznasen erwartet, keine fast erwachsenen Lordlinge.

Sie wollte die Tür öffnen, als Pah nach ihrer Schulter griff. Sie drehte sich zu ihm um. »Was ist, Pah?«

Die Maske verbarg sein Gesicht, aber sie merkte, dass er hektisch atmete, sah auch, dass er den Schnabel ein klein wenig zur Seite bewegte, um deutlicher auf die Habichte zu weisen.

»Schafft sie … einfach raus«, sagte Pah.

Stur erstarrte. Irgendetwas war faul, das hätte sie auf das Grab eines Gottes geschworen. Aber Pah war ihr Flügelherr, und er hatte sie schon aus brenzligeren Situationen gerettet.

Meist jedenfalls.

Sie nickte. »Gut, Pah.«

Die Tür war kaum zu, da verpasste sie Galgenstrick einen Klaps auf den Kopf.

»Was, bei allen zwölf Höllen, hast du dir bloß gedacht?«, zischte sie. »Die Habichte hätten Pah fast den Bauch aufgeschlitzt, nur weil er aus der Tür getreten ist, und du stellst ihre Geduld mit deinen Faxen auf die Probe?«

»Mein Gedanke war, dich zu ärgern.« Dieses Mal konnte sie Galgenstricks Grinsen in der stockdunklen Hütte förmlich hören. »Die Scheißkerle werden unserem Flügelherrn schon nicht die Gedärme rausreißen. Wenn sie das täten, würden sie nämlich allesamt mit uns zusammen vermodern.«

»Du bist der Einzige, der es unbedingt darauf ankommen lassen will«, zischte sie und verstummte abrupt.

Ihre Augen hatten sich an den schwachen Fackelschein gewöhnt, der durch die Segeltuchvorhänge drang. Die jungen Lords, auf rot befleckte Lager gebettet, waren schon fest in die Leinentücher eingeschlagen. Auf Höhe ihrer Kehlen hatte das Blut den Stoff durchtränkt.

Die Toten einzuwickeln war ihr Job, nicht der von Pah.

»Vielleicht hat er ja gedacht, dass wir hier Mist bauen würden.« Galgenstrick klang, als wäre ihm das Grinsen vergangen.

Das war Unsinn. Sie hüllten seit fünf Jahren, seit Galgenstrick zu ihrer Rotte gestoßen und Pahs Lehrling geworden war, zusammen Leichen ein und transportierten sie dann ab.

»Pah wird seine Gründe schon noch nennen«, flunkerte sie. »Je schneller die Drecksäcke auf dem Karren liegen, desto schneller entkommen wir diesem verdammten Patschuli.«

Ein kurzes, dumpfes Lachen, als Galgenstrick einen Toten bei den Schultern packte. Stur ergriff die Füße und ging dann rückwärts durch die Tür, spürte, wie sich auf dem Hof alle Blicke auf sie richteten – und dann zu dem blutigen Bündel zuckten.

Ein leiser Aufschrei ging durch die Reihen der Pfauen, als Stur die Leiche auf den Karren wuchtete. Galgenstrick gab dem Toten einen Extrastoß. Er polterte auf die Scheite, brachte dabei einen Berg Kleinholz ins Rutschen. Auf den Galerien rangen alle gleichzeitig um Atem.

Stur hätte Galgenstrick am liebsten getreten.

Pah räusperte sich und murmelte scharf: »Barmherzigkeit. Seid barmherzig, Krähen.«

»Wir sind nett wie üblich«, sagte Galgenstrick, als sie wieder in die Hütte gingen. Und als er den zweiten Toten bei den Füßen packte, fügte er hinzu: »Jede Wette, dass jemand aus den Latschen kippt, wenn wir den hier fallen lassen.«

Stur schüttelte den Kopf. »Pah kann dein Fell gern an einen Haut­hexer verscherbeln, meines aber nicht.«

Sie luden die Leiche zur anderen, und auch diese wurde mit lautem Schluchzen bedacht. Doch als die Krähen ihren Karren zum Ausgang des Innenhofes zogen, vergaßen die Pfauen-Höflinge ihre Trauer wie durch ein Wunder und rangelten am Geländer um den besten Blick.

Dieser ganze verzückte Seelenschmerz fühlte sich falsch an. Die toten Jungs mussten Lieblinge der königlichen Phönix-Kaste gewesen sein, anders war nicht zu erklären, wie sehr die Pfauen um den Ausdruck tiefster Trauer wetteiferten.

Stur lief ein Schauder über den Rücken. Von allen Leichen, die sie je zum Verbrennen abgeholt hatte, hasste sie diese plötzlich am meisten.

Nach ihrem Eintreffen hatte man die Krähen regelrecht zum Quarantänehof geschmuggelt, durch eine Vielzahl enger, kahler Gänge; nun wurden sie von einer Habicht-Kriegerin mit versteinerter Miene auf dem schnellsten Weg durch den Palast gelotst. Je länger die Leichen blieben, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Sünden­seuche ein neues Opfer suchte.

Jedes Wunderwerk, an dem sie vorbeikamen, schürte Sturs Groll. Der Karren klapperte über Fliesen, die man in verschlungenen, sinnesbetörenden Mustern verlegt hatte, vorbei an Gärten mit Amberbäumen, deren Blütenduft an diesem Spätfrühlingstag die Abendluft sättigte, und durch Flure mit Gewölben aus Bronze und Alabaster. Jede Säule, jeder Alkoven und jede Fliese zollten den königlichen Phönixen Tribut: eine Sonne, eine goldene Feder, ein Flammenwirbel.

Die Habicht-Kriegerin stieß eine wuchtige Doppeltür aus Ebenholz auf und zeigte mit dem Speer hindurch. »Ab hier kennt ihr den Weg.«

Pah befahl ihnen weiterzugehen, und der Karren rumpelte in einen gewaltigen Raum, bei dem es sich nur um die sagenumwobene Halle der Morgendämmerung handeln konnte. Sie waren auf der Kopfseite eingetreten, die von einem Podest beherrscht wurde. Der Ausgang war ein ganzes Stück entfernt, er befand sich am Ende eines prunkvollen, von weiteren Galerien gesäumten Korridors. Mächtige schwarze Eisensäulen, jede nach dem Ebenbild eines verstorbenen Phönix-Herrschers geformt, stützten das Hallengewölbe. Sie dienten gleichzeitig als Laternen, und Stur spürte die Hitze ihres Feuers schon in der Tür auf den Armen.

Fast die gesamte Halle war in tiefem Lila, in Scharlachrot und Indigoblau gehalten, aber die Geländer der Galerien waren mit prachtvollem, goldenem Gitterwerk verziert, und an der Wand hinter dem Podest hing eine riesengroße, blank polierte Goldscheibe über einem Teich aus goldenem Feuer. Juwelenbesetzte Strahlen zogen sich von der Scheibe bis unter das Gewölbe. Im Feuerschein glitzerten die Edelsteine so stark, dass die Augen wehtaten, wenn man das Podest betrachtete. Der ganze Budenzauber erweckte den Eindruck, als würde die Sonne hinter den Phönix-Thronen aufgehen.

Den leeren Phönix-Thronen.

Stur saugte zischend Luft ein. Weder König noch Königin, weder der ältere noch der junge Prinz waren da, um die toten Lordlinge zu betrauern, und doch jaulten die Adeligen, als hingen Wohl und Wehe von ihrem Geschrei ab. Stur kapierte das nicht. Aber egal, was hier los war, egal, was nicht stimmte, Pah würde sie wie immer sicher hinausbringen.

Sie zogen den Karren in den Korridor und schritten schneller aus.

Stur hasste das Kreischen der glatten Marmorfliesen unter ihren Sandalen, deren Nägel mit jedem Schritt stumpfer wurden. Sie hasste die Duftöle, die die unbewegte Luft verpesteten. Und vor allem hasste sie die in Seidengewänder gehüllten Pfauen-Adeligen, die so geziert erschauderten, als wären die Krähen eine Parade von Ratten.

Aber hinter den Habicht-Wächtern stand eine stumme Legion von Palastbediensteten, alle in den schlichten braunen Tuniken der Spatzen-Kaste. Sie waren zahlreicher als die Höflinge über ihnen, und ihre verhärmten Gesichter verrieten, dass ihre Trauer nicht nur gespielt war.

Stur spürte wieder das Kneifen im Bauch, nun noch schmerzhafter. So beliebt war bestimmt keiner der Pfauen-Adeligen.

Es war immer schlecht, mit Kasten zu tun zu haben, die zu elitär waren, um die Sündenseuche wirklich fürchten zu müssen. Denn das Viatik, das man den Krähen zahlte, war in diesen Fällen oft mager. Gut möglich, dass man sie dieses Mal gar nicht entlohnte.

Dann blieb Pah auf halbem Weg zur Tür stehen, zehn Schritte vor dem Karren.

Stur begriff zunächst nicht, wieso. Ihr Blick glitt zum riesigen Tor des Palastes, der letzten Hürde zwischen ihnen und der Hauptstadt Dumosa. Das Tor war hoch genug für alle Palastparaden, sowohl die von Würdenträgern als auch die von Mammutreitern; es würde die dreizehn Krähen und ihren Karren problemlos ins Freie entlassen.

Dort stand eine einsame Wächterin, die offensichtlich darauf wartete, das Viatik für die Toten zu entrichten.

Die Frau war eine schimmernde Vision, von den losen Kaskaden ihrer Silberhaare bis zum weißen Seidengewand, das sich in der linden Brise kaum bewegte. Das Glitzern ihres Schmuckes im Mondlicht und im Fackelschein verriet schon von Weitem, dass sie genug Gemmen trug, um die ganze Krähen-Rotte – ja, bei allen zwölf Höllen, vielleicht sogar die ganze Krähen-Kaste! – zu Sturs Lebzeiten zu versorgen. Und ein Objekt war kostbarer als alle Juwelen zusammengenommen: ihr Collier.

Zwei Hände aus Gold, eine Sonne umschließend, die über ihren Brüsten aufging. Das königliche Wappen. Stur sah diese Hände oft, sie waren auf jede saborische Münze geprägt und in jede Flagge gewebt. Und nun wusste sie auch, wie es aussah, wenn sie sich um den Hals einer Königin legten.

Diese Frau hatte in die Phönix-Kaste eingeheiratet, aber man nannte sie schon die Schwanen-Königin, da hatte sie noch im Pavillon der Kurtisanen gelebt. Einer der leeren Thronsessel, an denen Stur vorbeigekommen war, gehörte ihr.

Und da begriff Stur, was nicht stimmte.

Der Königspalast war zuletzt vor gut fünfhundert Jahren von der Sündenseuche heimgesucht worden. Vor fünfhundert Jahren hatten die Phönixe zuletzt den Rauch des Seuchensignals aufsteigen lassen. Vor fünfhundert Jahren hatten sie die Krähen zuletzt gerufen.

Aber wenn Königin Rhusana dort stand, um das Viatik zu entrichten, war klar, wer unter einem der Leichentücher lag.

Die Krähen schafften gerade den Kronprinz von Sabor zu seinem Scheiterhaufen.

ZWEI

Mammon-Tanz

Ein toter Prinz lag wie jeder andere Sünder auf ihrem Karren, keine Armlänge entfernt. Stur konnte es nicht fassen. Ein Prinz. Ein Phönix.

Sie stellte sich die etwas morbide Frage, ob Phönix-Jungen wie andere Sünder brannten. Vielleicht langsamer. Sie würde den armen Kerl, der mit dem Prinzen gestorben war, zum Vergleich heranziehen können.

Pah stand immer noch wie angewurzelt da, während der Rest der Rotte den Karren weiterzog. Und dann begriff Stur, wieso.

Die am Tor wartende Königin wollte sie entlohnen, ja; der Truchsess neben ihr hielt das Viatik so, dass alle es deutlich sehen konnten. In der Regel entsprach der Wert des Viatiks den Mitteln der jeweiligen Familie. Ein Spatzen-Bauer gab ihnen einen Sack Salz oder trockenes Fladenbrot; ein Kranich-Magistrat bot ihnen vielleicht Glasschwarz-Scheiben an. Doch das Viatik eines Königshauses … Stur hatte nicht die leiseste Ahnung, was da angemessen wäre.

Aber sie wusste, dass die dreckige Katze, die in den Armen des Truchsesses strampelte, nie und nimmer reichte.

Diese Erkenntnis trieb ihr Tränen in die Augen. Eine streunende Katze. Das war die Entlohnung für einen Bettler, nicht für zwei ­Palastknaben, die mit goldenen Löffeln im Mund aufgewachsen waren. Außerdem hatte ihre Rotte sieben Fernmeilen zurückgelegt, um die Toten abzuholen.

Stur spürte, wie Wut in ihr hochkochte.

Der Palast hatte sie begafft, verspottet und mit Klingen bedroht, und diese Entlohnung war blanker Hohn. Königin Rhusana schien kein Interesse daran zu haben, ihren eigenen Angehörigen mit wenigstens einem Hauch von Würde in das nächste Leben zu schicken. Stattdessen wollte sie offenbar demonstrieren, dass sie in ihrer Position die Macht besaß, den Krähen nur Verachtung mitzugeben, und die Krähen würden das schlucken müssen.

Das durfte kein Flügelherr dulden, nicht mal ein angehender. Nicht mal einer, der sich in Gegenwart einer Königin befand. Sie mussten etwas tun.

Die Krähen waren barmherzig, aber sie waren nicht billig.

Der Karren hatte Pah jetzt fast erreicht. Stur beugte sich vor, sie blinzelte Schweiß und Tränen aus den Augen. »Pah«, flüsterte sie. Der Schnabel seiner Maske senkte sich. »Der Mammon-Tanz?«

Er stand lange reglos da. Dann senkte sich der Schnabel erneut.

Stur grinste zum ersten Mal an diesem Abend.

Sie stieß ihre genagelte Sohle auf den Boden und steckte ihren ganzen Trotz in ein langes, sattes Schaben, ließ den Marmor um Gnade kreischen. Und dann kreischte sie auch.

Ringsumher erwiderte das Dutzend Krähen ihren Ruf. Alle blieben stehen. Dreizehn Fackeln fielen klappernd auf den Boden.

Zum zweiten Mal an diesem Abend verstummten die Menschen auf den Galerien.

Die Krähen kreischten erneut, Stur am lautesten, sie ließ ihre Stimme zum Ende hin immer schriller werden. Die anderen verstanden ihr Signal und warteten reglos ab. Sie zählte die anschließende Stille in ihrem Kopf aus: Vier. Drei. Zwei. Eins.

Aus dreizehn Kehlen erschallte ein Schrei, der das Blut in den Adern gefrieren ließ und dessen blanke Wut weit in die Gänge hallte. Dann trat wieder Schweigen ein.

Das dritte Kreischen fegte den Adeligen das höhnische Grinsen aus dem Gesicht. Alle Blicke waren auf den unbewegten Karren gerichtet.

Beim fünften Kreischen wirkten die Gaffer auf den Galerien, als müsste die Hälfte von ihnen gleich losheulen.

Die meisten piekfeinen Edelleute waren weder den Krähen noch dem Sündenseuchen-Tod jemals so nahe gekommen. Sie hielten die Seuche für ein Problem der Armen.

Sie begriffen nicht, dass es Regeln gab. Dass die Sündenseuche keine Rücksicht auf Seidenstoffe oder Juwelen nahm. Dass sie nur verschwand, wenn die Krähen es wollten.

Aber Stur wettete auf die tausend toten Götter Sabors, dass sie es jetzt kapierten.

Sie entschied, dass sie die Leute lange genug hatten schmoren lassen, und befahl mit einem Triller die Marschformation.

Stampf. Die dreizehn Krähen taten gleichzeitig einen Schritt nach vorn, aber der Karren blieb stehen, die Zugseile ringelten sich wie Vipern auf dem Marmor. Stampf. Jagende Kasten, Hehre Kasten, Gewöhnliche Kasten – egal. Die Krähen würden jeden Saborer in dieser Halle lehren, sich an die Regeln zu halten. Stampf. Zuvor hatten sie mit ihren zerschlissenen, schwarzen Mänteln und den langschnäbeligen Vogelmasken wie ein abergläubischer Witz gewirkt. Stampf. Nun sah Stur Angst in den Blicken, die sich auf den Leichenkarren hefteten.

Stur trillerte noch einmal.

Die Schritte wurden energischer und setzten mit einem Schlag auf, der höllische Wirbel in die Fliesen kerbte. Noch ein Stampfen. Noch ein rauer Schrei. Noch zwei Schritte, die sie weiter vom Karren entfernten. Die Gaffer auf der Galerie zuckten entsetzt zurück.

Stampf-Kratz-Kreisch. Stur schnaufte unter der Maske. Das war für diesen scheußlichen Palast.

Stampf-Kratz-Kreisch. Das war dafür, dass man gedroht hatte, die Klingen zu ziehen.

Sie trillerte erneut, und die Krähen hielten direkt vor der Türschwelle. Auf den Galerien hatte sich eine unbehagliche Anspannung breitgemacht, Finger krallten sich in Seide.

Die Krähen wirbelten mit einem Ruck herum und eilten in einem bedrohlichen Durcheinander zurück zum Karren. Die Leute auf den Galerien atmeten nervös auf, aber als die Krähen Seile und Fackeln nicht sofort aufhoben, stockte ihr Atem wieder. Stur stellte sich an ihren Platz vorne rechts vor dem Karren und wartete so lange, bis der nächststehende Pfau kurz davor war, in sein Gewand zu pissen.

Dann entließ Stur einen gellenden Pfiff. Die Krähen schnappten sich Fackeln und Seile und tobten wie ein Orkan durch die Halle und in den letzten Hof, brüllend wie zornige Götter.

Höflinge stoben auseinander, stolperten über Seidenschleppen und bemalte Lederschühchen. Stur sah aus den Augenwinkeln, dass sich Galgenstricks Wunsch erfüllt hatte: Mindestens drei Pfauen waren ohnmächtig geworden.

Das, dachte sie, ist für den Versuch, uns mit einer verfluchten Katze zu entlohnen.

Pah nannte das ganze Schauspiel gern den Mammon-Tanz. Stur fand einfach gut, dass es funktionierte.

Kurz vor dem Tor verlangsamten sie ihr Tempo, tanzten aber weiter. Die Königin hatte im Gegensatz zum Hofstaat nicht die Flucht ergriffen, ihr Truchsess stand schlotternd neben ihr. Aus zehn Schritten Entfernung konnte Stur deutlich erkennen, mit wem sie es zu tun hatten.

Unter den blassen Augen, glitzernd wie eisige Monde, schaute Königin Rhusana grimmig drein. Die kunstvollen weißen Schnörkel der Trauerbemalung hoben sich von ihrer Haut ab, die etwas heller war als Sturs Rotbraun. Rhusanas Teint glich polierter Bronze. Stur sah überall verprasstes Geld: der diamantenbesetzte Kopfschmuck in Gestalt eines Phönix; Perlenketten und Diamantenschnüre, die von ihren Armen hingen und über den Boden schleiften; das weiße Tigerfell auf ihren Schultern. Dessen gestreiften Schwanz hatte sie um den Arm geschlungen, eine Hinterpfote war auf der Hüfte befestigt und der ausgestopfte Kopf lag auf den Fliesen. Stur bemerkte angewidert, dass die Augen des Tieres aus Weißgold bestanden und die Klauen mit Diamanten besetzt waren.

Die unausgesprochene Tradition zwang Rhusana, für den toten Sohn ihres Gatten zu zahlen. Aber es war klar, dass die Königin auch eine unausgesprochene Forderung stellte: Ihre strahlende Erscheinung musste im Mittelpunkt stehen.

Es war nie darum gegangen, Geld als Viatik zu bekommen. Aber bei allen toten Göttern – Pah würde jetzt hoffentlich dafür sorgen, dass man sie in klingender Münze entlohnte.

Dann zeigte Pah mit seinem Kinn auf das Tor.

Er wollte, dass sie mit Rhusana verhandelte. Das Viatik benannte.

Stur erstarrte. Schweiß lief ihr über den Rücken. Den Mammon-Tanz zu beginnen, war das eine; von einer Königin Entlohnung einzufordern, etwas ganz anderes. Stur war keine Flügelherrin, noch nicht – eigentlich stand ihr das hier nicht zu –, und was, wenn sie die Sache in den Sand setzte, wenn es ihretwegen allen an den Kragen ginge …

Sie wusste ja nicht mal, was sie verlangen sollte.

Stahl glitzerte im Fackelschein, als die vor der Wand stehenden Habichte ihr Gewicht verlagerten, ein Indiz dafür, dass sie bald die Geduld verlieren würden. Angesichts der Seuchentoten auf dem Karren war das zwar eine leere Drohung, aber trotzdem eine Drohung. Es reichte, um ein paar Krähen zurückzucken zu lassen. Es reichte, um einen Blitz durch Sturs Inneres fahren zu lassen.

Eine leere Drohung, und doch drohten sie, weil das in ihrer Macht stand. Weil ihnen der Anblick zusammenzuckender Krähen gefiel.

Mit Sturs Zorn war es so eine Sache, manchmal war er so kühl und hart wie Stahl, manchmal so wild und stürmisch wie Blut, das aus einer verletzten Ader sprudelte. Nun wallte die kühle, harte Art in ihr auf, aus all den Klingen geschmiedet, die voller Hohn auf sie gerichtet waren. Und es war dieser Zorn, der Stur den Preis eingab.

Als sie vortrat, wurden Schritte und Schreie des Tanzes noch einmal lauter.

Rhusana schaute bewusst gelangweilt drein, schnippte mit ihren eigenen diamantenbesetzten Krallen einen Takt, etwas schneller als der des Tanzes. Stur kannte die Zeichen der Herablassung: Die Königin glaubte immer noch, für ihre Beleidigung nicht zahlen zu müssen.

Der Truchsess war allerdings fast so grau im Gesicht wie das Fell der Katze in seinen Armen.

Die Katze wurde zitternd dargeboten. Stur ignorierte das Tier. Sie wollte ein Viatik, das einer Flügelherrin zustand.

Sie wollte den Hehren Kasten furchtlos in die Augen schauen. Sie wollte, dass die Jagenden Kasten es sich zweimal überlegten, bevor sie das Schwert zogen, um ein paar Lacher zu ernten. Sie wollte ihre Mutter wiederhaben.

Und weil die Königin ihr all das nicht bieten konnte, würde sie das Nächstbeste verlangen, was ihr einfiel.

»Ich will die Zähne«, sagte Stur.

Rhusana warf ihrem Truchsess einen herrischen Blick zu. Er sah aus, als müsste er sich beim Anblick der blutigen Leichentücher auf dem Karren gleich übergeben. »Das geht nicht, Flügelherrin – die Forderung ist zu dreist …«

»Die Zähne«, wiederholte Stur eiskalt. Sie unterdrückte das leise Jauchzen, das sie bei der Anrede »Flügelherrin« in der Brust verspürte. Noch nicht.

Hinter ihr tanzten die Krähen brüllend im Kreis. Rhusana wusste so gut wie Stur, dass sie den Hof noch stundenlang in Schrecken versetzen konnten, während die toten Sünder den Palast mit der Seuche durchtränkten. Auch wenn es die Schwanen-Königin war, die den königlichen Kopfschmuck trug, hier und jetzt beherrschte Stur diesen Hof.

Rhusana blieb stumm.

Und Stur blieb unnachgiebig. Je länger das Ganze dauerte, desto peinlicher für die Königin, weil sie zuließ, dass ihr Krähen auf der Nase herumtanzten.

Das Gesicht des Truchsesses war von Schweißperlen bedeckt. Ein Jammer, dass Stur nicht ihn bezwingen musste, sondern die Königin.

»Ich zähle bis hundert«, sagte Stur voller Zorn, die Vogelmaske direkt auf Rhusana gerichtet. »Danach lassen wir die Jungs hier am Tor liegen und kehren nie wieder in diese Stadt zurück.«

»Aber …«, stotterte der Truchsess, »der König …«

»Eins«, sagte Stur.

»Bitte …«

»Zwei«, sagte Stur.

»Das reicht«, fauchte Rhusana.

Stur wartete. Der Wind riss an ihrem Mantel, flaute wieder ab.

»Fünfzig Naka.« Rhusana verzog höhnisch die Lippen, ihre diamantenbesetzten Finger klickten einen noch schnelleren Takt. »Und wir vergessen eure Anmaßung.«

Dem Truchsess entwich ein befreiter Seufzer. »Ich danke Euch für Eure unermessliche Großzügigkeit, Eure Ho…«

»Drei«, sagte Stur.

Rhusana hörte auf, mit den Nägeln zu klackern, grub sie stattdessen in die Seide auf ihrem Oberschenkel.

Als Stur bei zehn angelangt war, wurde der Diener der Königin losgeschickt. Als sie bei siebzig angelangt war, kehrte er zurück und drückte Stur einen schweren Brokatbeutel in die Hände.

Das Gewicht allein verriet den Inhalt nicht, das leise Summen der Magie in Sturs Knochen aber schon. Jede Familie in Sabor bewahrte Zähne für den Tag auf, an dem sie die Krähen rufen mussten, ohne ihre Dienste entlohnen zu können. Jeder Zahn war Gold wert, wenn auch nur für jene Krähen – die wahren Knochendiebe –, die sein Flüstern hörten. Mancher Zahn war sogar noch kostbarer, bedeutete etwas Pirol-Glück oder Spatzen-Schutz, wenn eine Krähe dies brauchte.

Seit Jahrhunderten hatte kein Angehöriger des Königshauses mehr Viatik bezahlt. Aber heute Abend war Stur da, um es einzustreichen.

Eine ungewöhnliche Ausbeute klapperte und klickte in diesem Brokatbeutel, ganze Phönix-Dynastien an Zähnen, Tausende Milchzähne, und sogar solche, die man Verstorbenen gezogen hatte.

Und nun besaß ihre Krähen-Rotte jeden einzelnen dieser unschätzbar wertvollen Zähne.

Stur lächelte triumphierend unter ihrer Maske. Dass man vom Mammon-Tanz sprach, hatte gute Gründe.

An den Winkeln von Rhusanas perfektem, aber verkniffenen Mund waren rasiermesserscharfe Falten erschienen, was Stur als ganz persönlichen Sieg verbuchte. Sie verneigte sich so übertrieben schwungvoll wie ein Komödiant, trat zurück und übergab den Beutel an Pah.

Der reckte eine Faust. Der Tanz wurde eingestellt; auf dem Hof trat schmerzhafte Stille ein. Die Krähen griffen nach den Seilen und setzten zu einem Trott an, und als der Karren endlich wieder in Richtung Tor rollte, ging ein Seufzen durch die Menge.

Stur verharrte kurz, dann machte sie kehrt und stapfte zurück.

Die Königin wandte sich ihr mit blitzenden Augen zu.

»Was willst du noch?« Rhusana winkte den Wachen. Jeder Habicht war schlagartig kampfbereit, reckte den Speer.

Sturs Blick fiel auf einen der Armreifen, der bei Rhusanas Bewegung im Fackelschein aufgeblitzt hatte: ein kunstvolles Werk aus Silber und Perlen, so geschmiedet, dass er einer Kette aus weißen Oleanderblüten glich.

Stur hatte kurz das Gefühl, als hätten sich die königlichen Finger mit ihren diamantenbesetzten Nägeln um ihren Hals geschlossen.

Sie saugte Luft ein, der Minzgeruch beruhigte sie. Oleanderblüten konnte jeder tragen. Sie hatten nicht unbedingt etwas zu bedeuten, nicht mal als Schmuck einer Königin. Und falls doch … nun, die Krähen hatten den Palast fast verlassen. Und Stur würde dafür sorgen, dass sie sich noch rascher aus dem Staub machten.

Sie riss die Katze aus den Armen des Truchsesses. »Die auch.«

Die Katze wehrte sich nicht, als Stur mit ihr zum Karren eilte, sondern vergrub ihren Kopf murrend in Sturs Armbeuge. Als sie das Tor hinter sich gelassen hatten, begann sie zu schnurren.

Stur beschloss, dass sie die Katze mochte. Jedes Geschöpf, das froh war, den Königspalast zu verlassen, bewies einen guten Instinkt.

Ein langer, stummer Marsch führte die Krähen durch Dumosa, nur erhellt von ihren Fackeln und der gelegentlichen kunstvoll gefertigten Tauben-Laterne im Fenster eines Herrenhauses. Stur nahm an, dass auch die anderen aus der Rotte die Stadtmauern schnellstmöglich hinter sich lassen wollten, weil alle damit rechneten, von den Jagenden Kasten verfolgt zu werden. Jede Krähe wusste, was es hieß, einen Beutel voller Phönix-Zähne dabeizuhaben. Und jede fragte sich, ob man es ihnen tatsächlich gestatten würde, mit den Zähnen aus der Hauptstadt zu verschwinden.

Stur spürte, dass man sie durch Astlöcher oder die Ritzen von Fensterläden beäugte, während sie an den vornehmen Pavillons der Schwanen-Kurtisanen vorbeigingen, dann über die von Granitsäulen gesäumte Magistrats-Meile marschierten und schließlich die Bezirke der Pirol-Kaste durchquerten, wo sich dreckige Gesichter an die Spalten in den Barackenwänden pressten und hinter den Krähen ausspuckten, um Unglück zu verhüten.

Sie achtete auf jeden Schatten und sah mehr als einmal, wie Pah sanft gegen seine Brust klopfte, gleich unter der Kette mit den Zähnen. Wenn die toten Götter heute Abend gnädig wären, würde er sie nicht einsetzen müssen. Aber wenn Stur im Laufe der Jahre irgendetwas begriffen hatte, dann, dass die toten Götter mit ihrer Gnade geizten, wenn es um die Krähen ging.

Es war fast Mitternacht, als sie die Hochbrücke über den Saum erreichten. Der mächtige Strom brauste nur ein paar Meter unter ihnen, aber ein Mörder könnte sie trotzdem in den Tod stürzen. Deshalb setzte Stur ihre Schritte bei der zehnminütigen Überquerung sehr sorgsam.

Sobald ihre genagelten Sohlen nicht mehr auf Kopfsteinen, sondern auf Kies knirschten, hielt Stur den Atem an: Wenn sich das Königshaus die Zähne zurückholen wollte, dann würden die Jagenden Kasten sicher hier zuschlagen.

Alle Krähen rechneten damit, alle waren Auge und Ohr. Das furchtsame Schweigen dehnte sich aus wie eine trügerische, dünne Eisschicht, und Stur rechnete bei jedem Rascheln des Laubes mit einem Hinterhalt.

Nichts geschah.

Vielleicht – ja, vielleicht – hatten sie es doch geschafft.

Jemand holte scharf Luft. Dann erschallte ein ohrenbetäubend lauter Gesang: »Oh, da kam mal’n Kerl aus’m Land hinterm Meer, der hatte ’nen sehr speziellen Verkehr …«

Hallodris Stimme spaltete die Nacht wie eine Axt, er stimmte das zotigste Marschlied an, das Pah in Anwesenheit von Stur duldete. Der Rest der Rotte war in heiseres Gelächter ausgebrochen, sie weinten fast vor Erleichterung.

»Bei allen zwölf Höllen, Stur!« Scheusal klammerte sich an den Karren, als ginge es um das liebe Leben, und klatschte auf ein Knie. Sie war fast so alt wie Pah, aber doppelt so temperamentvoll, und sie gehörte zu den wenigen, die ihn noch aus der Zeit kannten, als er Dreckskerl geheißen hatte und noch kein Flügelherr gewesen war. Sie nahm Stur die Katze ab und kraulte ihre Stirn. »Ich dachte schon, du bittest die Königin auch noch um ihre Krone für all unsere Plackerei!«

»Was bringt denn schon eine Krone?«, knurrte Spitzbube, der hinter Scheusal stand. Er war meist mürrisch, klang jetzt aber etwas heiterer. »Sie hätte ja auch verlangen können, dem König eine kleben zu dürfen. Das hätte Ihrer Majestät sicher weniger ausgemacht.«

Hallodri, eine Krähe, der Würde nicht viel galt, ergriff Sturs Hände und wirbelte schwindelerregend schnell mit ihr auf dem Weg herum, wobei er eine weitere zotige und anatomisch unmögliche Strophe aus »Der Kerl aus’m Land hinterm Meer« röhrte. Stur konnte nicht anders, als lachend den Kopf in den Nacken zu werfen. Ja, sie hatten noch zig Fernmeilen vor sich und mussten obendrein Leichen verbrennen, aber – aber sie hatte es geschafft.

Sie hatte dem Palast tatsächlich das Viatik abgenötigt.

»Aufhören, das reicht«, ächzte Hallodri lachend, die Hände auf den Bauch gepresst. »Sonst muss ich gleich kotzen.«

Beide kamen mit einem trunkenen Schwanken neben Pah zu stehen. Auch er hätte guten Grund zu einem ausgelassenen Tanz gehabt.

Doch er hatte die Maske noch nicht abgesetzt und starrte in Richtung Dumosa.

»Na komm, Flügelherr …«, setzte Hallodri an, aber Pah schnitt ihm das Wort ab.

»Wir haben es noch nicht geschafft. Spart euch das Herumhüpfen für später auf, wenn die Leichen brennen.« Pah gab das Pfeifsignal zum Weitermarschieren.

Scheusal reichte Stur die Katze zurück und schüttelte hinter Pahs Rücken den Kopf. Wieder senkte sich eine Wolke des Unbehagens auf die Krähen. Hallodri summte weiter halblaut vor sich hin, Spitzbube fiel nach ein paar Schritten murmelnd ein, aber davon abgesehen zog man den Karren schweigend weiter.

Die gelegentlichen Hütten und Gottesgräber-Schreine am Wegrand wichen schließlich dem Wald mit seinen knorrigen, von Flechten bedeckten Bäumen. »Der Kerl aus’m Land hinterm Meer« verklang, und man stimmte ein neues Lied an, lauter und fester. Von Dumosa war bald nur noch das Aufblitzen der vergoldeten Dächer jenseits der dunklen Hügel zu sehen, alles andere wurde von den Bäumen verschluckt.

»Hier.«

Pahs Stimme durchschnitt die Dunkelheit, kappte die letzte Strophe des Marschliedes. Er stieß die Fackel in den weichen Matsch am Wegrand. Der Karren kam ächzend zum Halten. Pah setzte die Maske ab und nickte Stur und ihrer Katze zu. »Keine Streuner, die nicht essbar sind, Mädchen.«

»Sie ist keine Streunerin«, erwiderte Stur. »Sie gehört zu mir. Sie ist mein Anteil am Viatik.«

Pah lachte schnaufend. »Sie ist Abschaum der Korona, Stur, aber gut, wir sprechen noch über deinen Anteil. Wie heißt das Biest denn?«

Sie dachte an das kreidebleiche Gesicht des Truchsesses und an Hallodris Tanz und grinste. »Würg.«

»Na, das passt ja.« Pah strich über seinen Kahlkopf. Seine Haare waren schon vor vielen Jahren in seinen grau-schwarzen Bart ausgewandert. »Lasst uns mal über die Jungs hier nachdenken, hm?«

Stur lehnte sich gegen den Rand des Karrens und betrachtete die in Tücher gehüllten Toten, die mitten im Kleinholz lagen. »Ganz schön schwer, die Burschen«, meinte sie. Der Prinz war ein knappes Jahr älter als sie, und beide Jungs waren eindeutig besser ernährt. »Weiß nicht, ob das Feuerholz für beide reicht.«

»Wenn wir sie mit Blitzbrand tränken, wird es schon reichen«, meinte Hallodri, der auf der anderen Seite des Karrens lehnte.

Sturs Schnabel war jetzt nur noch im Weg. Sie setzte Würg auf den Karren und schob die Kapuze zurück, um die Riemen der Maske lösen zu können, und ließ sie auf ihrem Rücken baumeln, während sie mit einer Hand durch ihre schwarzen, kinnlangen Haare fuhr. Ein Segen, diese frische Nachtluft einzuatmen und nicht mehr das Patschuli im Palast oder den schalen Minzgeruch ihrer Maske.

Sie befürchtete nicht, sich anzustecken. Jede Krähe, so hieß es, hatte in einem früheren Leben irgendeinen Riesenmist gebaut, so schlimm, dass sie von der Korona zuerst mit der Seuche geschlagen und danach dazu verdonnert worden war, diese als Buße ein Leben lang einzudämmen. Jede Krähe musste von Geburt an eine Schuld abbüßen, die sie laut der Sündenregister der Korona schon vorab auf sich geladen hatte. Sie musste diese Schuld erst begleichen, bevor sie ein Nachleben führen konnte.

So hieß es jedenfalls. Stur wusste nicht, ob sie alles für bare Münze nehmen konnte. Die Tatsache, dass die Sündenseuche nur die Krähen verschonte, war aber eine Wahrheit, hart wie Eisen.

Die Jungs stanken noch nicht nach Verwesung, aber Stur schreckte vor den blutigen Flecken auf den Tüchern zurück. Die schwerste Pflicht des Flügelherren bestand in ihren Augen darin, Kehlen durchzuschneiden.

Sie versetzte dem vornehmer aussehenden Bündel ein paar Stöße. »Sind das wirklich Angehörige der Königsfamilie, Pah?«

»Nur einer. Der andere war sein Doppelgänger.«

Stur zog das Leinen zurück, bis das blutbespritzte Gesicht eines Jungen im Fackelschein zu erkennen war. Er sah aus, als würde er schlafen. Wirkte höchstens etwas ängstlich. Vielleicht war er wach gewesen, als Pah ihm das Messer an die Kehle gesetzt hatte.

Sie schürzte die Lippen. »So sieht also ein Sündenprinz aus.«

Der tote Junge richtete sich auf.

»Nein, nicht ganz«, erwiderte er, »aber angeblich fast.«

DREI

Eid bei der Korona

Stur wollte dem Jungen eigentlich keinen Kinnhaken versetzen, tat es aber trotzdem.

Stur wollte auch nicht schreien, aber auch das tat sie, und zwar aus voller Lunge. Sie landete im feuchten Gras auf ihrem Hintern, weil sie beim Zurückweichen über ihre eigenen Füße gestolpert war. Galgenstricks Flüche und Pahs dröhnendes Lachen fachten ihre Panik noch weiter an.

Der tote Junge zerrte die linke Hand aus den Tüchern und rieb sich mit einer Grimasse das Kinn. Das Blut auf seinem langärmeligen Hemd war geronnen, man konnte also nicht genau sagen, ob es frisch war. Stur suchte gerade hektisch nach einem Stein als Wurfgeschoss, da begann sich auch das zweite Bündel zu regen.

»Wartet, langsam«, sagte Pah und wischte sich Tränen aus den Augen. Dann half er den beiden, sich aus den Tüchern zu befreien. »Ihr habt meinem Mädchen ordentlich Angst eingejagt.«

»Halte ich für stark untertrieben«, erwiderte der Junge trocken und warf einen Blick neben sich, wo der zweite Tote sein Tuch wegstrampelte. »Als dein Leibwächter muss ich dich warnen, Jas …« Er zeigte auf Stur. »Die da ist schreckhaft.«

Sturs Gedanken glichen Fliegen, die in ihrem hohlen Schädel sinnlos im Kreis brummten. Die toten Jungs regten sich. Die toten Jungs sprachen.

Die toten Jungs waren gar nicht tot.

»Widerlich.« Der Leibwächter glitt vom Karren und verzog das Gesicht, weil sein langes Hemd steif war vom geronnenen Blut. »Ist Schweineblut immer so scheußlich? Wenn ich das nächste Mal mein Ableben mime, suche ich mir eine glanzvollere Todesart aus. Wie ich höre, ist Vergiften groß in Mode.«

»Pah.« Sturs Stimme klang gepresst. »Haben wir etwa gerade Mitglieder der Königsfamilie entführt?«

Pah grinste bis über beide Backen. Er liebte Späße, aber Stur bezweifelte, dass die Phönix-Kaste die Entführung ihres Erben amüsant fand. »Nur einen, Stur, wie gesagt. Und nur, weil sie nett gefragt haben.«

Ein Prinz und sein Leibwächter. Also ein Phönix und ein Habicht. Stur wusste nicht, ob sie lachen oder schreien sollte. Vielleicht war das Ganze nur ein blutiger Albtraum. Wenn sie Glück hätten …

»Seid ihr sicher, dass wir nicht verfolgt werden?«

Die Stimme gehörte dem Jungen, den der Leibwächter »Jas« genannt hatte.

Jasimir. Jeder kannte den Namen des Kronprinzen. Während der Prinz aus dem Karren stieg, schienen weder er noch sein Begleiter zu merken, dass alle so stumm geworden waren wie Vögel vor einem Sturm. Die Krähen beäugten die Lordlinge, als wären Zwillingsschlangen aus den Tüchern gekrochen. Im Fackelschein sahen sich die beiden blutbedeckten Jungs zum Verwechseln ähnlich: Beide hatten breite Gesichter und ein kräftiges Kinn, ihre schwarzen Haare waren auf dem Kopf zu Knoten gebunden, sie trugen ein weites Leinenhemd und eine Leinenhose. Der Habicht-Wächter strahlte gutmütige Gelassenheit aus, der Prinz dagegen schaute so finster drein, als ginge es tatsächlich um seine Beerdigung.

Doch es brauchte mehr als königliches Geblüt und eine finstere Miene, um Pah aus der Ruhe zu bringen. »Oh ja, man hat uns verfolgt.« Er löste einen Zahn von der Kette und warf ihn weg. Stur konnte nicht glauben, dass er einen ganzen Spatzen-Zahn verbraucht hatte, ohne dass es ihr aufgefallen war. »Zwei Fährtensucher der Königin. Sie haben uns bis zur Brücke beschattet, dann sind sie umgekehrt.«

»Dreckskerl.«

Der Prinz, der Habicht und Pah – alle sahen auf. Scheusal hatte die Maske auch abgesetzt. Stur wusste, dass Ärger bevorstand, wenn sie Pah mit »Dreckskerl« anredete.

»Wie ich sehe, hast du alle Hände voll damit zu tun, dich um die Bedürfnisse dieser royalen Rüpel zu kümmern«, sagte sie und wurde lauter, als sie fortfuhr: »Aber wäre es unter Umständen denkbar, vorausgesetzt, du bist in der passenden Stimmung, deiner Rotte zu erläutern, in welches irrsinnige, selbstmörderische, hirnlose Vorhaben du uns nun schon wieder verwickelt hast?«

Der Habicht-Leibwächter reagierte zuerst, er tat einen Schritt auf Scheusal zu. »Natürlich. Ich bitte um Verzeihung. Das war taktlos von uns.« Er berührte seine Lippen mit der rechten Faust und reckte sie dann grüßend. Die verblüffte Scheusal tat es ihm gleich, und sie gaben sich kurz die Hand. »Ich heiße Tavin. Wer mein Freund ist, habt ihr sicherlich schon erkannt.«

»Wir haben da so eine Ahnung«, brummte der am Karren lehnende Galgenstrick. Seine Stimme hatte den knurrenden Unterton, der Kampfeslust verriet. »War es euch im Palast zu langweilig, Vettern?«

Bei dieser spöttischen Bemerkung wurde der Prinz rot vor Zorn, aber bevor er etwas Bissiges erwidern konnte, winkte sein Leibwächter ab. »Normalerweise begehe ich aus reiner Langeweile keine so maßlose Blasphemie. Mehrmalige Attentate können aber durchaus eine Motivation sein.«

Scheusal zog ein grimmiges Gesicht. »Wenn hier nicht gleich jemand erklärt, was gespielt wird, haue ich ab, und zwar so schnell wie möglich.«

»Gut, ich formuliere es anders«, sagte der Habicht. »Rhusana will unseren Tod.«

»Meinen Tod«, berichtigte Prinz Jasimir. »Das war schon ihr Plan, als sie Vater geheiratet hat, um in die Phönix-Kaste aufzusteigen, aber jetzt, da sie selbst einen Prinzen zur Welt gebracht hat, brennt sie regelrecht darauf. Zuerst war es nur ein Jagdunfall, dann eine Viper im Badehaus, dann zerstoßenes Glas im Wein … und das wird erst aufhören, wenn sie nicht mehr ist. Oder aber ich.«

Scheusal zeigte auf den Weg. »Na, prima! Dann hast du ihren Wunsch ja erfüllt. Wir haben dich in die Freiheit gekarrt, und jetzt können wir Abschied nehmen, was?«

Der Habicht – Tavin, er hatte sich als Tavin vorgestellt – sagte nichts dazu, sondern hielt Stur eine Hand hin: »Tut mir leid, dass wir dich so erschreckt haben.«

Sie ließ sich von ihm auf die Beine helfen, schüttelte seinen Griff aber sofort wieder ab. »Aber mir tut es nicht leid, dass ich dir eine verpasst habe.«

»Das sagst du sicher nicht zum letzten Mal.« Er grinste so breit, dass seine Zähne leuchteten. »Jas und ich werden euch noch ein paar Tage begleiten.«

Pah erstarrte und verschränkte die Arme vor der Brust. »So war das nicht abgemacht.«

Tavin und der Prinz tauschten einen Blick. Dann verzog Tavin den Mund. »Die Sache ist kompliziert«, begann er.

»Nein, ist sie nicht. Ich habe Wort gehalten. Wir sind quitt.« Pah klang höflich und eisig zugleich. Stur schnaubte. Das war typisch für die Hehren Kasten, sie glaubten, die Spielregeln nach Belieben ändern zu können. Aber da waren sie an den falschen Flügelherrn geraten.

»Ihr versteht nicht.« Prinz Jasimir wurde lauter. »Wir sind …«

»Aus Dumosa entkommen«, erwiderte Pah sachlich, aber entschieden. »Und wir haben unser Viatik. Das war die Abmachung. Nicht mehr und nicht weniger.«

Der Habicht-Wächter schaute grimmig drein. »Du musst uns anhören.«

Stur erwog, ihm noch eine zu verpassen.

»Wir sind hier nicht im Palast, Jungs.« Pah bückte sich nach einem Zugseil. »Wir müssen gar nichts.«

»Sie werden versuchen, euch zu töten«, stieß Prinz Jasimir hervor.

Kurzes Schweigen, dann schallendes Gelächter. Hallodri wieherte so laut, dass er sich auf den Karren lehnen musste. Sowohl der Prinz als auch der Habicht stutzten.

»Ach, sie wollen uns töten?« Scheusal lachte heiser. »Na, das ist ja mal was Neues. Das ist dreist. Oh, das gefällt mir.«

Prinz Jasimir legte die Stirn in Falten. »Kannst du mir verraten, warum du das so lustig findest?«

»Sie haben schon immer versucht, uns zu töten. Das ist unser Alltag. Sie versuchen das seit Jahrhunderten.« Stur verneigte sich ebenso spöttisch vor ihm wie vor Königin Rhusana. »Bedaure zutiefst, Euer Hochwohlgeboren, aber wenn du uns Angst machen willst, damit wir dir helfen, musst du schon schwerere Geschütze auffahren.«

»Sind die Oleander-Junker schwer genug?«

Stur erstarrte und sah Tavin an. Das Gelächter erstarb. Die Oleander-Junker waren nicht irgendein »sie«. Die Oleander-Junker waren das Schwert, das über dem Haupt einer jeden Krähe hing.

»Ist schon lustig, wisst ihr?«, fuhr der Habicht fort, und sein scharfer Unterton verriet, dass er ganz und gar nicht scherzte. »Die Königin scheint viele neue, sehr bedrohliche Freunde zu haben. Angesichts der Situation denke ich, dass sie in etwa einem Monat versuchen wird, den Thron an sich zu reißen. Und wenn sie das schafft, hätte sie diesen Erfolg hauptsächlich ihren treuesten Verbündeten zu verdanken: den Oleander-Junkern.«

Einerseits hätte Stur ihm jetzt gern noch eine verpasst. Andererseits wäre sie am liebsten sofort aus Sabor verschwunden.

Jede Krähe trug Narben, die diese Junker geschlagen hatten. Deshalb mieden die Krähen viele Dörfer nach Sonnenuntergang. Denn das war die Zeit, wenn die Junker im Sattel saßen, mit weißen Oleandern auf der Brust, die Gesichtszüge unter einer blassen Bemalung versteckt und in ungefärbte Stoffe gehüllt, damit man sie keiner Familie oder Kaste zuordnen konnte.

Die meisten Saborer hielten die Krähen für wiedergeborene Sünder, die zu der Buße verurteilt waren, zeitlebens im Schweiße ihres Angesichts die Seuche einzudämmen. Die Oleander-Junker glaubten nur den Teil, der ihnen in den Kram passte – nämlich, dass die Korona die Krähen für ihre Untaten bestrafen wollte. Sie unterstellten den Krähen, selbst für die Ausbreitung der Seuche verantwortlich zu sein. Und daher widmeten sich die Junker der Aufgabe, die Bestrafung für die Korona zu vollziehen. Die Korona war einfach nur eine weitere Maske für sie, und Stur wusste sehr wohl, welche Monster sich dahinter verbargen.

Die Junker waren sowohl reich als auch arm, sowohl unbekannt als auch berüchtigt, sie waren zahlreich, und sie waren unbarmherzig. Ihre Jagden wurden nur dann als Mord gewertet, wenn man sie dabei erwischte. Und weil sie nur Jagd auf Krähen machten, hatten es die regionalen Oberherren nicht eilig, sie zu erwischen.

Wenn die Junker Krähen in die Finger bekamen, überlebten höchstens ein paar Glückliche.

Sturs Mutter hatte nicht zu den Glücklichen gehört.

Sie dachte an die dunkle Straße, jene, die ein Dutzend Jahre hinter ihr lag. Damals hatte sie nicht mal bis zu Pahs Knien gereicht, aber sie konnte sich an die Spur aus Fingern erinnern, die die Oleander-Junker gelegt hatten.

Sie griff wieder nach dem losen Faden ihres Mantels und drehte ihn straff auf.

»Ich verlange keinen Gehorsam von euch.« Fackelschein tanzte über das blutige Gesicht von Prinz Jasimir. »Aber wenn Rhusana auf dem Thron sitzt …«

»… werden die Oleander-Junker reiten, wann und wo es ihnen gefällt«, ergänzte Stur. Galgenstrick klammerte sich so fest an den Karren, dass seine Knöchel aussahen, als wollten sie aus der Haut platzen. Sie konnte nur erahnen, welche furchtbaren Erinnerungen in ihm aufkeimten.

Tavin nickte. »Und man wird sie durch bewaffnete Habichte verstärken.«

Nach ihren eigenen Erinnerungen musste Stur nicht lange kramen: Weit entfernt und vor langer Zeit hob ein kleines Mädchen eine krumme, fleischige Raupe von einer kalten, staubigen Straße auf und fand dann weitere neun in einer Blutspur.

Stur hatte die Finger ihrer Mutter mit der kleinen Hand so oft umklammert, dass ihr jeder Kratzer und jede Schwiele daran vertraut war und auch die Narbe auf dem Knöchel. Und als Stur die Fingerstümpfe auf ihrer Handfläche gespürt hatte, da hatte sie auch den Funken gespürt, der aus den Knochen zu ihr sang. Das Lied ihrer Mutter würde sie immer und überall erkennen.

Jene Straße hatte Stur in den Bann geschlagen, wie es nur Straßen vermögen. Ihr Flügelherr – damals hatte sie ihn noch nicht Pah genannt – war der Blutspur gefolgt, eine Klinge in der bebenden Faust. Er wusste, dass er eine aus seiner eigenen Rotte erlösen musste. Und Stur – damals noch keine zukünftige Flügelherrin – hatte wie versteinert dagestanden. Sie wollte ihre Mutter noch einmal sehen, aber sie wusste auch, dass die ihr stets die Augen zugehalten hatte, wenn diese Klinge gezückt worden war.

Jene kalte Straße hatte Stur fest im Griff gehabt, bis sie von Scheusal weggeführt worden war. Denn Stur hatte schon damals gewusst, dass ihr nur zwei Möglichkeiten blieben: Entweder sie schlug den Weg der Flügelherrin ein oder sie kehrte ihm den Rücken.

Und auf dieser Straße hier, in der von Fackeln erhellten Dunkelheit, hätte Stur nicht sagen können, was von beidem schlimmer war.

Aber wenn die Königin den Junkern die Habichte zur Seite stellte – wenn die Krähen nicht mal mehr tagsüber in Sicherheit wären –, dann würden all ihre Wege und Straßen in Leid und Schmerz münden.

Die Furchen in Scheusals Gesicht schienen sich noch tiefer in die Haut zu graben. »Falls ihr Jungs darauf hofft, dass die Krähen den Palast stürmen und Ihre Majestät niederkämpfen, dann habe ich schlechte Neuigkeiten für euch.«

»Die Oleander-Junker sind nicht allmächtig.« Prinz Jasimir wirkte selbstsicherer, als er über Politik sprach. »Und das Volk nennt Rhusana nicht ohne Grund weiterhin Schwanen-Königin. Sie stützt ihren Machtanspruch auf die Stellung ihres Sohnes als Thronfolger, aber noch braucht sie die regionalen Oberherren, um das Königreich zusammenzuhalten. Mein Vetter Kuvimir ist Oberherr der Region Fan. Er hat geschworen, uns bei sich aufzunehmen und die anderen Oberherren auf meine Seite zu ziehen. Das sollte Rhusana in ihre Schranken verweisen. Wenn wir uns beeilen, können wir seine Feste in Cheparok erreichen, bevor sie im nächsten Schritt meinen Vater absetzt.«

»Dann schmuggeln wir dich also zu deiner Sippe in Cheparok, und dort bejubelt man dich dann, um zu demonstrieren, dass man dich der Königin vorzieht, und wenn du irgendwann auf dem Thron sitzt, hast du uns in rosiger Erinnerung.« Stur nickte in Richtung des Karrens mit dem Feuerholz. »Du hast offenbar vergessen, dass fast alle Saborer glauben, du wärst auf einem Scheiterhaufen in Rauch aufgegangen.«

Der Prinz zögerte; doch der Habicht mischte sich ein. Tavin grinste so wölfisch wie ein Spieler, der weiß, dass er alle Muscheltrümpfe in der Hand hält. »Genau das ist der Teil des Plans, der mir am besten gefällt. Ich muss zwar eine Weile in Deckung bleiben, aber Jas … Sagen wir einfach, dass Königin Ambra gezeigt hat, wie Phönixe wundersam von den Toten auferstehen können.«

Stur staunte nicht schlecht. Sie hatte an diesem Abend jede Menge Quatsch gehört, aber was Tavin da andeutete, war eindeutig am schwachsinnigsten.

In der gesamten Geschichte Sabors hatte es nur eine einzige Seele gegeben, die der Sündenseuche hatte trotzen können: die unbezwingbare Ambra, Herrin der Phönix-Kaste, Königin der Tage und der Nächte. Laut Legende war sie auf Tigern in die Schlacht geritten, in jeder Hand einen Speer; sie war unversehrt durch Feuersbrünste gewandelt; die Sonne hatte sie so geliebt, dass sie auf ihr Geheiß hin aufgegangen war. Die Legende besagte auch, dass eine neue Ära des Wohlstands und des Friedens begänne, wenn sie in die Phönix-Kaste wiedergeboren wurde.

Die Legende verriet aber nichts darüber, dass ihre Wiedergeburt vorgetäuscht und für politische Zwecke ausgenutzt werden sollte, und Stur fand es auch sehr unwahrscheinlich, dass ein solcher Plan den Segen der Korona erhielte. Außerdem war es schwer vorstellbar, dass dieser schmalbrüstige Prinz etwas Wilderes reiten würde als einen Gaul, den man mit Schlafmohn ruhiggestellt hatte.

Tavin schien ihr die Zweifel anzusehen, denn er schwenkte wieder eine Hand. »Wir können Jas natürlich nicht so ganz überzeugend als König der Tage und der Nächte verkaufen. Aber seine mirakulöse Genesung von der Sündenseuche würde dafürsprechen, dass viel von Ambras Blut in seinen Adern fließt. Schon das wird die Hälfte des Landes auf seine Seite ziehen.«

»Die verblödete Hälfte«, brummte Scheusal.

»Wenn es einen anderen Ausweg gäbe, würden wir ihn wählen.« Prinz Jasimir ließ den Blick über eine Krähe nach der anderen gleiten. Stur hatte keine Ahnung, wonach er suchte. »Aber so viel ist klar: Wenn Rhusana auf den Thron kommt, wird sie euch alle an die Oleander-Junker ausliefern. Ich bitte euch deshalb, uns dabei zu helfen, sie aufzuhalten. Andernfalls hat keiner von uns eine Chance.«

»Wenn das wirklich stimmt …« Pah rollte einen der Zähne an seiner Kette zwischen den Fingern. Stur hätte einen Zahn der Kranich-Kaste ausgewählt, weil er verraten hätte, ob die beiden Lordlinge logen. Pah ließ die Hand aber wieder sinken. Er sah die anderen Krähen an. »Wir kennen nur eine Regel. Ich denke, wir sollten sie befolgen.«

Sorge für die Deinen. Stur hatte diese Regel fast täglich gehört. Sobald sie Flügelherrin wäre, müsste sie sie mit Leben erfüllen. Aber sie würde immer nur die Sicherheit ihrer eigenen Krähen-Rotte gewährleisten können, denn die Kaste war über ganz Sabor verstreut.

Wenn die Oleander-Junker freie Hand bekämen, würde jeder Weg enden wie der ihrer Mutter.

Sie reckte das Kinn. Es war wirklich die Pest: Obwohl sie mit Schweineblut besudelt waren, sahen diese Lordlinge aus, als gehörten sie in einen Palast.

Das hier war kein faires Angebot, sie taten nur so, als hätten die Krähen eine Wahl. Das verrieten die gebieterisch gespitzten Lippen des Prinzen und Tavins erhobenes Kinn und auch, wie sie mit den Fingern trommelten, während sie auf Zustimmung warteten, denn mit nichts anderem rechneten sie.

Genau wie Rhusana mit ihrem elenden Oleander-Armreif. Selbst wenn die Lordlinge Rhusanas Machtgier übertrieben, standen die Junker in ihrer Gunst. Natürlich hatten die Krähen keine Wahl.

Von allen Leichen, die Stur zum Verbrennen abgeholt hatte, hasste sie diese beiden eindeutig am meisten. Die Lordlinge klangen zwar, als wären sie am Schicksal der Krähen interessiert, aber sie verhandelten so, als stünden sie alle in der elenden vergoldeten Halle – und den Krähen blieb wieder mal nichts anderes übrig, als den Mammon-Tanz einzusetzen, um ihren gerechten Lohn zu bekommen …

Ihr kam eine Idee.

»Nein«, sagte sie. »Wir machen nicht mit.«

Ringsumher verblüffte Gesichter. Galgenstrick schnaubte. Prinz Jasimir verengte die dunklen Augen. »Wir wollen helfen …«

»Oh, ihr wollt helfen«, äffte sie ihn nach. »Haben Eure Hoheit einen extra Diener, der all den Dung aufsammelt, der aus Eurem Maul fällt, oder ist das sein Job?« Sie wies mit dem Daumen auf Tavin. Man musste dem Leibwächter zugutehalten, dass er nur die Augenbrauen hochzog, aber in seinen Augen funkelte wieder der Rasierklingen-Blick. »Ihr habt euren Tod vorgetäuscht. Ihr habt versucht, die Abmachung mit Pah zu ändern. Und nun wollt ihr ganz Sabor belügen. Warum sollten wir euch trauen?«

»Weil eure Leben auf dem Spiel stehen«, fauchte Prinz Jasimir etwas panisch. »Glaubt ihr wirklich, die Oleander-Junker ließen mit sich verhandeln?«

Stur verkniff sich ein Lachen. »Passt ja wunderbar, dass eure Herzen so fürchterlich wegen der Krähen bluten, jetzt, da ihr uns braucht. Ihr habt das ganze Leben im Stillen um uns geweint, wie?«

»Das ist unfair«, protestierte Tavin.

Der vertraute, alte Zorn peitschte die Worte aus ihrem Mund. »Unfair? Unfair? Du willst mir sagen, was fair ist, Palastbürschchen? Wir können uns jetzt also aussuchen, ob die Oleander-Junker uns auch tagsüber jagen dürfen oder ob sie dies weiterhin im Dunkeln tun müssen, damit es euren Kasten möglich ist, die Augen davor zu verschließen? Wie nett!« Sie spuckte den beiden vor die Füße. »Das kannst du ›Hilfe‹ nennen, wenn du willst. Dein Habicht wird das mit deinem anderen Dung aufsammeln.«

Hätten ihre Krähen geglaubt, sie wäre zu weit gegangen, dann hätte sie jetzt ein Murren gehört. Aber es herrschte angespannte Stille, alle Blicke waren auf sie gerichtet.

Sie erkannten den Mammon-Tanz auf Anhieb: Hier wurde gefeilscht.

Tavin reagierte als Erster, er rieb seine Hände, eine Geste, die so harmlos wie bedrohlich war. »Du hast nicht ganz unrecht«, gab er schulterzuckend zu. »Jedenfalls, was eure Optionen angeht. Um zum königlichen Kothaufen-Kehrer aufzusteigen, müsste ich allerdings noch weitere zehn Jahre im Palast dienen. Was aber die Oleander-Junker betrifft, kann ich dir nur raten, uns zu glauben.«

»Was ist euer Wort wert, wenn ihr so gut wie tot seid?« Der Zorn in Galgenstricks Stimme verriet, dass nicht nur gefeilscht wurde. »Wenn wir alle so gut wie tot sind?«

»Na schön.« Prinz Jasimir kniff sich in den Nasenrücken. »Gold? Juwelen? Land? Wie lautet euer Preis?«

Stur äffte Tavins wegwerfende Handbewegung nach. »Das ist nur Tand und Flitter. Und wenn uns die Oleander-Junker das nicht wegnehmen, tun es die anderen Adeligen.«

»Was willst du dann?«, fragte Prinz Jasimir.

Dieses Mal wusste Stur den Preis, der einer Flügelherrin würdig war.

Sorge für die Deinen. Sie hatte längst einen Fuß auf diesen Weg gesetzt, und alle Blicke ruhten auf ihr. Es gab kein Zurück; sie konnte weder dafür sorgen, dass ihrer Mutter Barmherzigkeit gewährt wurde, noch dafür, dass Galgenstrick im Schlaf nicht mehr schrie. Aber sie konnte dafür sorgen, dass keine weitere Krähe so ein Schicksal erleiden musste.

Sie holte tief Luft und sah Prinz Jasimir in die Augen. »Ich will die Oleander-Junker nie wiedersehen. Die Habichte, die Rhusana den Junkern versprochen hat? Sie beschützen uns. Du wirst bei der Korona schwören, das mit dir als König allen Kasten eins bewusst ist: Die Krähen sind es wert, beschützt zu werden. Das ist mein Preis.«

Der Prinz war jetzt genauso grau im Gesicht wie der Truchsess.

Pah dagegen hatte die kleinen Falten um die Augen, die nur erschienen, wenn er ein Lächeln unterdrückte. Stur deutete das als gutes Zeichen.

»Krähen«, rief Pah, bevor einer der Lordlinge etwas sagen konnte. »Seid ihr mit dieser Bedingung einverstanden?«

Noch eine Wendung des Tanzes. Ein Chor zustimmender Rufe. Noch eine Drehung des Messers. Tavins schneidender Blick hätte einen Stein halbieren können.

»Ist dir klar, was du da verlangst?«, fragte Prinz Jasimir. »Keine Kaste stand jemals unter einem solchen Schutz.«

Spitzbube hustete. »Dann sind deine Palast-Habichte also nur bestens gedrillte, gut bewaffnete Gäste, hm?« Noch ein Wirbel und ein Stampfen, noch eine Kerbe im Boden.

Der Prinz öffnete den Mund, schloss ihn wieder und dachte nach. »Das ist etwas anderes«, sagte er langsam. »Angehörige des Königshauses sind die bevorzugten Ziele von Attentaten und Putschversuchen …«

»Ja, und wir sterben tatsächlich daran.« Stur verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast Hilfe angeboten. Rhusana scheint der Meinung zu sein, Habichte erübrigen zu können. Wir haben unsere Bedingungen formuliert, Prinz. Entweder du schwörst oder du lässt uns in Ruhe.«

Das Beste am Mammon-Tanz, fand Stur, war, dass er immer funktionierte.

Tavin strich über seine dunklen Haare. »Sie hat schon recht, Jas. In mehr als einer Hinsicht. Das alles ist so messerscharf kombiniert, dass ich allmählich glaube, sie besteht nur aus Klingen und Schneiden.«