Krähenzauber (Die zwölf Kasten von Sabor 2) - Margaret Owen - E-Book

Krähenzauber (Die zwölf Kasten von Sabor 2) E-Book

Margaret Owen

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Beschreibung

Ein Königreich in Flammen, eine Liebe in Gefahr Die Krähen-Hexe Stur ist jetzt offiziell Anführerin ihrer schutzbedürftigen Rotte. Darum hofft sie, dass Prinz Jasimir Wort hält und endlich für die Sicherheit der Krähen-Kaste sorgt. Denn erst dann kann Stur eigene Wege gehen, vielleicht zusammen mit Habicht-Krieger Tavin. Aber als Jasimirs machtgierige Stiefmutter den König tötet und den Krähen die Schuld gibt, scheint jede Chance auf eine gute Zukunft verloren. Stur sieht nur einen Weg: Sie braucht Jasimir und Tav an ihrer Seite – und genügend Phönix-Zähne, um ein Feuer zu entfachen, das das Königreich in seinen Grundfesten erschüttert.   Abschlussband der düster-magischen Fantasy-Serie – eindringlich erzählt, leidenschaftlich erlebt!

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Margaret Owen

Krähenzauber

Aus dem Englischen von Ulrike Brauns und Birgit Maria Pfaffinger

Die Krähen-Hexe Stur ist jetzt offiziell Anführerin ihrer schutzbedürftigen Rotte. Darum hofft sie, dass Prinz Jasimir Wort hält und endlich für die Sicherheit der Krähen-Kaste sorgt. Denn erst dann kann Stur eigene Wege gehen – vielleicht zusammen mit Habicht-Krieger Tavin.

Aber als der König stirbt und Jasimirs machtgierige Stiefmutter den Krähen die Schuld gibt, scheint jede Chance auf eine gute Zukunft verloren. Stur sieht nur einen Weg: Sie braucht Jas und Tav wieder an ihrer Seite – und genügend Phönix-Zähne, um ein Feuer zu entfachen, das das Königreich in seinen Grundfesten erschüttert.

Eine Geschichte voller Magie und Gefühl – eindringlich, aufwühlend, leidenschaftlich!

Abschließender Band der zweiteiligen Serie »Die zwölf Kasten von Sabor«.

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Leseprobe

Für alle, die sich erheben, obwohl sie eigentlich brennen sollten.

Und für meine Freunde: Ihr kommt wieder nicht vor. Die Katzen sind das Einzige, was sie mir erlauben.

Die Sonne wird sich erheben, und sei es aus unserer Asche.

Credo der Schwarzen Schwäne

Vergeude keine Waffen, am allerwenigsten die deiner Feinde.

Sprichwort der Habichte

TEIL EINS

Könige und Geächtete

EINS

Die tausend Eroberungen

Stur brauchte viel zu lange, um dem Mädchen die Kehle durchzuschneiden.

Es war nicht der Akt, der ihr Schwierigkeiten bereitete – in den drei Wochen, seit sie Flügelherrin ihrer Rotte war, hatte sie über ein halbes Dutzend Mal Barmherzigkeit walten lassen. Vergangenen Mond hatte Tavin ihr erklärt, dass das Töten mit der Zeit leichter werden würde, obwohl es das nicht sollte. Seitdem hatte Stur genug Leben mit ihrer Klinge beendet, um zu wissen, dass daran etwas Wahres war.

Der Grund, weshalb sie jetzt damit haderte, war die Sünderin.

Sie hatte auf der Pritsche gesessen, als Stur die Quarantänehütte betrat, ihre dunklen Augen gebieterisch, der Mund ein unnachgiebiger Balken, gleich dem draußen vor der Tür. Ihr kurzärmeliges Leinenhemd war von feinster Qualität, wenn auch ungewöhnlich schlicht für die einzige Tochter einer Pfauen-Oberherrin. Das schwarze Haar war zu einem ordentlichen, glänzenden Zopf geflochten und noch nicht brüchig und stumpf vom Fieberschweiß. In ihrem Schoß lag eine halb geöffnete Schriftrolle und durch das mit Segeltuch verhangene Fenster drang gerade so viel Mittagssonne herein, dass das Licht zum Lesen reichte.

Stur schätzte, dass die Sünderin etwa in ihrem Alter war, aber näher an siebzehn als an sechzehn. An ihren Schläfen hatten sich feine, dunkel geäderte Kreise gebildet – noch schwach und erst wenige Stunden alt, dennoch ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Pfauenmädchen nicht mehr lange zu leben hatte. Kürzer noch seit Sturs Ankunft.

Meist waren die Sünder, zu denen sie gerufen wurde, fiebrig, benommen und mitunter sogar schon tot. Wen die Sündenseuche einmal in den Fängen hatte, den ließ sie nicht mehr los, sie raubte ihren Opfern jede Würde. Noch nie hatte ein Sünder Stur so angesehen wie dieses Mädchen – als wäre die Flügelherrin ein Wolf, der einer Weide zu nahe kommt.

Eigentlich hätte sie die Maske aufbehalten müssen, aber sie nahm sie ab.

Eigentlich hätte sie das geborstene Schwert ziehen müssen, aber sie ließ es stecken.

Eigentlich hätte sie dem Pfauenmädchen befehlen müssen, die Augen zu schließen, aber sie deutete mit dem Kinn auf die Schriftrolle und fragte: »Was liest du da?«

Das Mädchen lehnte sich zurück und betrachtete sie hochmütig aus zusammengekniffenen Augen. »Das geht dich nichts an – du kannst ohnehin nicht lesen.« Mit diesen Worten warf sie Stur einen kleinen Beutel hin, in dem etwas klackerte. »Da. Mach schnell und sauber.«

Der Beutel war voller Milchzähne. Als Stur einen davon herausnahm, sang er laut und harsch in ihren Knochen. Niemi Navali szo Sakar, erklärte er, Tochter von …

Stur riss die Hand zurück. Der Zahn stammte von Niem… – von der Sünderin und würde erst nach ihrem Tod leiser werden. Manche der Zähne in dem Beutel gaben keinerlei Ton von sich, doch irgendwo dazwischen konnte Stur das Lied mehrerer Pfauenhexen ausmachen. Die dem Tod geweihte Tochter der Oberherrin wollte sie bestechen.

Stur befestigte den Beutel an ihrem Gürtel. »So funktioniert das nicht«, sagte sie. »Aber ich betrachte das mal als Trinkgeld.«

»Tu endlich, wofür du gekommen bist.«

Stur zuckte mit den Schultern und schlüpfte dabei aus ihrem Mantel, dann zog sie die Schwerter, die sie um die Hüfte trug. Eines stammte von Tavin, dem jungen Habicht, den sie zurückgelassen hatte: ein elegantes Kurzschwert aus feinstem Stahl, das in dem trüben Sonnenlicht schwach glänzte. Das andere Schwert hatte den Namen eigentlich nicht verdient: Es war alt, ramponiert und seine geborstene Klinge endete in ungleichmäßigen Zacken. Das Schwert einer Flügelherrin, einzig dazu geeignet, Barmherzigkeit walten zu lassen. Stur hatte es von Pah bekommen, den sie schon bald ebenfalls würde zurücklassen müssen.

Doch daran wollte sie jetzt lieber nicht denken. Stattdessen hielt sie beide Klingen vor die Sünderin und sagte: »Such dir eines aus.« Das Gesicht der Sünderin wurde aschfahl. Stur trat näher, damit das Mädchen besser sehen konnte … und sie selbst ebenfalls. Die Buchstaben auf der Schriftrolle ordneten sich vor ihren Augen zu Wörtern, dank regelmäßigen Übens ging das jetzt viel schneller als früher. »Ah. Die tausend Eroberungen. Das ist doch bloß ein Haufen Mist.«

Das Pfauenmädchen drückte die Rolle an sich und knurrte: »Kein Wunder, dass du das denkst. Krähen haben bekanntlich keinen Geschmack.«

»Ich bin ungefähr bei Eroberung … zweihundert«, sagte Stur gedehnt. »Von tausend? Bis jetzt sind alle Krähen dreckige, diebische Einfaltspinsel. Oder Ungeheuer. Die Pfauen dagegen scheinen Ambrosia zu pissen, zumindest wenn es nach dem Gelehrten Sharivi geht, ich kann also nachvollziehen, was dir daran gefällt.«

»Es ist die Wahrheit«, zischte die Sünderin. »Die Pfauen sind zum Herrschen geboren. Euch hat die Korona zur Strafe erschaffen.«

Das hörte Stur nicht zum ersten Mal, vermutlich dachten die meisten Saborer so. Jede Kaste kam mit einem Geburtsrecht zur Welt, einem Geschenk der toten Götter. So vermochten die Kraniche Lügen zu erkennen und die Spatzen konnten Blicke von sich abwenden. Manche Menschen galten sogar als die Wiedergeburt toter Götter, die in die Kasten zurückkehrten, die sie begründet hatten. Dies traf beispielsweise auf Kranichhexer zu, die Lügnern die Wahrheit entlocken konnten, oder auf Spatzenhexen, die die Gabe hatten, sich unsichtbar zu machen.

Nur den Krähen hatten die toten Götter kein Geburtsrecht zugestanden. Ihre Hexen und Hexer vermochten lediglich die Geburtsrechte anderer Kasten aus deren Knochen zu ziehen, solange diese noch einen Lebensfunken enthielten. Und weil die Krähen als einzige Kaste gegen die Sündenseuche immun waren, fiel ihnen die Aufgabe zu, Kehlen durchzuschneiden und Leichen zu entsorgen.

Gemessen an alldem zweifelte Stur nicht im Geringsten daran, dass ihr Leben einer Pfauen-Adligen wie eine Strafe erscheinen musste. Die meisten Saborer hielten die Krähen für wiedergeborene Sünder, die zur Buße für ebenjene Verbrechen verurteilt waren, die ihnen die Seuche überhaupt erst eingetragen hatten.

Und dennoch …

Stur hockte sich hin und legte die Schwerter zwischen sich und dem Mädchen auf den schmutzigen Boden. »Schon komisch, denn wenn ich mir überlege, wer von uns beiden gerade in der Gunst der Korona steht …« Sie tippte sich gegen die Wange. »Da gehen die Meinungen von mir und dem Gelehrten Sharivi wohl auseinander.«

Stur erwartete, dass das Pfauenmädchen widersprechen und sie verspotten würde.

Doch Niemi schloss die Augen und strich sich über das von Sündenbrand versehrte Gesicht. Ihre Stimme klang brüchig. »Da … da hast du wohl recht.«

Stur fühlte Schuld in sich aufkeimen und ihr Magen zog sich zusammen. Ja, sie verachtete dieses zarte, saubere Mädchen, und nicht nur, weil Niemi sie verachtete. Aber so oder so würde nur eine von ihnen dieses Zimmer lebend verlassen.

Pah hätte sie ermahnt, es nicht noch länger hinauszuzögern.

Scheusal hätte sie ermahnt, nicht mit dem Essen zu spielen.

Doch Stur fragte: »Weißt du, warum die Korona dich ausgewählt hat?«

Das Mädchen presste die Lippen zusammen, dann zeigte sie mit zitterndem Finger auf das Habicht-Schwert. »Ich will das da.«

»Die Reichen wählen immer das prachtvolle. Du hast mir noch nicht geantwortet.«

»Mach einfach.«

Stur nahm Die tausend Eroberungen und rollte das Schriftstück langsam zusammen. »Wie lange ist es her, dass Krähen das Land der Oberherrin Sakar betreten haben? Fünf Jahre?« Das Pergament knisterte fast wütend. »Angeblich hat diese letzte Krähen-Rotte es nicht mehr verlassen. Die meisten von ihnen zumindest nicht.«

Das Pfauenmädchen schwieg.

»Ein Junge konnte fliehen. Eine Flügelherrin hat ihn aufgelesen und zu meinem Pah gebracht. Der Junge hieß Galgenstrick.«

Hieß. Vor zwei Monden hatte er sein Dasein als Krähe aufgeben wollen. Vor zwei Monden war er auf den Stufen einer Pfauen-Feste gestorben.

Als Stur alt genug war, hatte Pah ihr erzählt, was Galgenstricks erster Rotte widerfahren war. Galgenstrick selbst hatte ihr gegenüber nur ein einziges Mal davon gesprochen.

»Er hat mir erzählt, dass ein reiches Mädchen in ihr Lager gekommen ist. Sie haben ihr den Scheiterhaufen gezeigt, haben sie eine Maske aufsetzen lassen und ihr das Schwert des Flügelherrn vorgeführt, denn Pfauen schlägt man nichts aus, nicht mal ihren Kindern … Und dann, in derselben Nacht, hat das Mädchen die Oleander-Junker in das Lager geführt.«

Die Sünderin ballte die Fäuste um den Stoff ihres makellosen Leinenhemds. Auf ihrem Unterarm ließ der Sündenbrand eine neue Knospe erblühen.

Die meisten Saborer vertraten die Meinung, dass die Korona die Krähen durch die Oleander-Junker bestrafen wollte. Doch wie Stur es sah, hatte die Korona nichts damit zu tun. Die Junker hatten sich selbst zu ihren Henkern erklärt.

Niemi Navali szo Sakar funkelte Stur wütend an. »Und ich würde es wieder tun.«

Stur bedachte sie mit einem bitteren Lächeln und steckte Die tausend Eroberungen in ihren Gürtel. »Darum ruft die Korona dich also zu sich. Leg dich hin.« Das Mädchen rührte sich nicht. Demonstrativ hob Stur das Habicht-Schwert. »Ich kann nicht dich und die Klinge festhalten.«

Das Mädchen tat wie geheißen.

Auf ihrem Gesicht bildeten sich Schweißperlen. »Wird es wehtun?«

Stur hatte mittlerweile Tausende von Leben gesehen, Geister, die wie kleine Fische durch ihren Kopf schossen, wenn sie ihren trockenen Knochen Geburtsrechte entzog. Sie hatte das Leben von Königen und Geächteten gesehen, von Liebenden und Feinden, Eroberern und Dieben. Manche hatten blutig geendet, andere friedvoll. Manche dieser Menschen waren durch Pahs Hand gestorben, der Barmherzigkeit walten ließ und sie von den Qualen der Sündenseuche erlöste, indem er ihnen die Kehle durchschnitt. Solche Leben, und mehr noch solche Tode, sah sie am häufigsten.

»Nein«, log sie jetzt und setzte der Sünderin die Klinge an die Kehle.

Der blanke Stahl zitterte durch das Pochen von Niemis Halsschlagader, stärker vor Wut, schneller vor Angst.

Das Pfauenmädchen rang nach Luft und sah Stur in die Augen. »Die Oleander-Junker werden heute Nacht über euch kommen.«

Das war ein Versprechen. Eine Drohung. Eine Erinnerung, welche Kasten die Korona bevorzugte – selbst unter diesen Umständen.

Und damit verdarb Niemi es sich.

Stur schenkte ihr ein letztes Lächeln, das ebenso kalt und wohlwollend war wie die Klinge am Hals des Mädchens. »Sollen sie ruhig.«

In Wahrheit war es nie leichter geworden, Barmherzigkeit walten zu lassen.

Aber bei manchen Sündern fiel es ihr immerhin weniger schwer.

In den vergangenen drei Wochen hatte Stur einen praktischen neuen Trick zum Verhandeln des Viatiks gelernt.

Als Pah noch derjenige war, der den Sündern die Kehle durchschnitt, hatte er sich danach stets gründlich die Hände gewaschen. Das Blut würde den Angehörigen Angst einjagen, hatte er erklärt. Das führte zwar manchmal dazu, dass sie besser zahlten, um die Krähen schneller loszuwerden, meistens sorgte es jedoch dafür, dass sie ihre Geldbörsen noch fester verschlossen hielten als ohnehin schon.

Stur sparte sich die Mühe. Stattdessen entledigte sie sich möglichst auffällig der blutigen Stofffetzen, die um ihre Unterarme gewickelt waren, während der Familienvorstand ihr das Viatik überreichte. Niemand wollte Münzen in eine Hand abzählen, die noch rot und feucht von Barmherzigkeit war.

Und genau darauf spekulierte sie.

Die Sakars hatten eine Spatzen-Dienerin geschickt, die Stur abfertigen sollte. Eine Frau in der schlichten, aber eleganten Tracht der Hausangestellten, eine Frau, deren rot geränderte Augen verrieten, dass sie dem toten Mädchen nahegestanden hatte. Höchstwahrscheinlich ein Kindermädchen. In der einen Hand hielt sie einen prall mit Naka gefüllten Beutel, mit der anderen klaubte sie ein paar spärliche Münzen daraus hervor.

Die Erfahrung vieler Jahre hatte Stur gelehrt, dass es immer einen gab, der versuchte, sie beim Viatik übers Ohr zu hauen.

Manche Leute dachten, die Krähen könnten nicht zählen und würden es deshalb gar nicht mitbekommen. Andere wollten sie ganz bewusst merken lassen, dass sie übers Ohr gehauen wurden, um sie daran zu erinnern, dass sie nicht auf faire Bezahlung pochen konnten, ohne das Schicksal herauszufordern. Wahrscheinlich hatte die Spatzenfrau dieselbe Anweisung bekommen wie viele der Diener, mit denen Stur es zu tun gehabt hatte. Jedes einzelne Mal gab man ihnen eine dicke Börse und dazu den Befehl, den Krähen so wenig Geld wie möglich auszuhändigen.

Doch in den letzten paar Wochen hatte sie gelernt, sie damit nicht durchkommen zu lassen.

Beim Anblick von Sturs blutigen Armen zuckte das Kindermädchen zusammen, sie hatte Tränen in den Augen. Stur schüttelte den Kopf, Schweißtropfen flogen aus ihrem Haar. Sie waren schon den Großteil des Krähen-Mondes hier im Norden, doch mit dem Mittsommer hatte die hohe Luftfeuchtigkeit selbst in diesem Teil des Landes Einzug gehalten. »Keine Angst. Du kannst das Viatik auch meinem Freund Khoda geben.«

Stur konnte förmlich sehen, wie es im Kopf des Kindermädchens ratterte, doch als sie endlich bei dem Ergebnis anlangte, dass es sich bei Khoda um keinen Krähen-Namen handelte, war es bereits zu spät. Ein schlaksiger Habicht mit eisernem Blick hatte sich vor sie gestellt und streckte ihr die Hand hin, den Speer entspannt gegen die Schulter gelehnt.

Der Trick, so wusste Stur inzwischen, bestand darin, dafür zu sorgen, dass sie das Viatik jemandem geben mussten, den sie nicht zu betrügen wagten.

Als hinter ihr Seide raschelte, wandte Stur den Blick zur Veranda. Dort standen zwei Pfauen, noch im Nachtgewand, und umklammerten einander mit starrer Miene. Die Spatzen-Dienerin sah die Oberherrin und ihren Mann fragend an, während die Tür der Quarantänehütte knarrte.

Gestern Abend hatten sie noch eine Tochter gehabt.

Jetzt luden Hallodri und Scheusal den in blutiges Leinen gehüllten Leichnam auf den Karren der Krähen.

Oberherrin Sakar machte eine schroffe Geste mit dem Kinn, dann verbarg sie das Gesicht in den weiten Ärmeln ihres Seidengewands.

Das Kindermädchen schluckte, und mit einem glockengleichen Klingeln landete der Naka-Beutel sicher und wohlbehalten in Khodas Hand.

Hallodri stieß ein unterdrücktes Juchzen aus, das er schnell mit einem Husten kaschierte. Noch vor drei Monden wäre eine solche Summe undenkbar, wenn nicht gar eine Bürde gewesen – bloß ein weiterer Grund für die Oleander-Junker, Jagd auf sie zu machen. Doch jetzt …

Khoda war einer von fünf Habichten, die sich bereit erklärt hatten, Sturs Rotte auf ihrer Wanderung von Seuchensignal zu Seuchensignal zu begleiten. Seit sie mit dieser Eskorte unterwegs waren, hatte sich ein kleines Wunder vollzogen. Nicht nur bekamen sie plötzlich überall ein angemessenes Viatik, zum ersten Mal konnten sie es auch behalten. Die Oleander-Junker überfielen ihr Lager nicht mehr, und auch die Habicht-Wachen wagten es nicht länger, Bestechungsgelder von ihnen zu verlangen. Und obwohl Stur an jedem Schrein großzügige Spenden hinterließ, hatten sie immer noch mehr als genug, um die Zeit bis zum nächsten Viatik zu überbrücken.

Und jetzt hatten sie einen mit Münzen gefüllten Beutel, der fast so groß wie Sturs Kopf war. Und das ganz ohne Mammon-Tanz.

»Das reicht«, sagte Stur und befeuchtete sich die Lippen, um den Marschbefehl zu pfeifen.

»Moment!« Die Spatzen-Dienerin zeigte auf die Schriftrolle an Sturs Gürtel. »Das … das war ihre Lieblingsgeschichte.«

Die tausend Eroberungen. Wo die Hehren Kasten schön und weise waren, die Jagenden Kasten mutig und treu und die Phönixe gottgleich.

Und die Krähen nichts als Diebe, Dummköpfe und Ungeheuer.

»Wir verbrennen sie mit ihr«, erklärte Stur zur offensichtlichen Erleichterung des Kindermädchens. Dann fügte sie leise hinzu: »Das ist für alle ein Gewinn.«

Die Dienerin blinzelte sie verwirrt an. »Wa…«

Stur pfiff den Marschbefehl und setzte sich in Bewegung, ehe die Frau einen weiteren Gedanken fassen konnte.

Ein vertrautes Geräusch verriet ihr, das Korporal Lakima ihren selbst gewählten Posten eine Schrittlänge hinter ihr eingenommen hatte. Jeder ihrer Schritte klang, als wäre er genau bemessen, um den Hunger der gierigen Straße zu stillen. Anfangs hatten das knarzende Leder und der Schatten in ihrem Gefolge Stur Unbehagen bereitet. Genauso wie sie jedes Mal erschrocken war, wenn Korporal Lakima sie nach ihrem Befehl fragte.

Inzwischen hatte sie sich an beides gewöhnt, mehr oder weniger. Sie gaben einen merkwürdigen Leichenzug ab, wie sie so die staubige Straße entlangmarschierten: ein drahtiges Mädchen mit Schnabelmaske als Anführerin, dahinter der bedrohliche Schatten einer Habichtfrau, neun weitere Krähen, die den Karren mit der toten Sünderin zogen, und drei Habichte als Schlusslicht. Pah und die beiden anderen Habichte warteten mit dem zweiten Karren am Ebenen Weg.

Dieser war an sich schon ein unglaublicher Luxus. Nie zuvor hatten sie so viel besessen, um einen zu rechtfertigen, oder genug Leute oder Tiere gehabt, um ihn zu ziehen. Doch jetzt, wo sie Habichte mitverpflegen mussten und über reichlich Viatik verfügten, verhielt es sich anders. Jetzt hatten sie einen Karren für ihre Vorräte und einen für die Sünder.

»Gab es Probleme mit dem Mädchen?« Korporal Lakimas Stimme war beinahe so rau wie der Kies zu ihren Füßen.

Stur schüttelte den Kopf. »Nur mit ihrem Mundwerk. Aber damit wird sie nie wieder jemanden behelligen.« Sie zog an den verschwitzten Riemen ihrer Maske, hauptsächlich um ihren Händen etwas zu tun zu geben. Sie würden die Masken erst abnehmen, wenn das Pfauen-Herrenhaus außer Sichtweite war. »Sie hat gesagt, die Oleander-Junker werden heute Nacht Jagd auf uns machen.«

Korporal Lakima war zehn Jahre älter und anderthalb Kopf größer als Stur, eine ernste, unbeugsame Habichtfrau, die sich von nichts erschüttern ließ. Ordnung und Regeln waren ihr wichtig, albernes Getue lag ihr fern. Daher glaubte Stur zuerst, das wütende Schnauben, das Lakimas »Verstanden, Flügelherrin« vorausging, stamme vom Karren. Dass ein totes Pfauenmädchen murrte, erschien ihr wahrscheinlicher als die Habichtfrau.

»Hast du gerade gestöhnt?«, fragte sie ungläubig.

Lakima räusperte sich. »Hat sie gesagt, wann?«

»Nur heute Nacht. Hätte ich sie nach Einzelheiten fragen sollen, bevor ich ihr die Kehle durchgeschnitten habe? Du hast gestöhnt.«

»Diese Flachländer haben wohl zu viel Zeit.«

Stur wandte sich unauffällig um. Lakimas Gesicht war ausdruckslos, ihr Blick fest auf die Straße gerichtet, lediglich eine Furche zwischen ihren Brauen verriet, dass sie verärgert war. Die Junker verhießen eine lange Nacht für sie und ihre Habichte.

Vor drei Monden, bevor sie Prinz Jasimir durch Sabor geschmuggelt hatten, war jedes Aufeinandertreffen mit den Oleander-Junkern ein Spiel mit dem Schicksal gewesen. Hätte jemand Pah einen Besuch der maskierten Reiter angekündigt, hätte er seine Rotte durch die Nacht getrieben und nicht einmal angehalten, um die Sünderin zu verbrennen, bis das Morgengrauen die schützende Decke der Dunkelheit von den Straßen hob.

Doch jetzt war Stur Flügelherrin. Jetzt hatte Stur Habichte. Und Pah …

Vor einer Woche hatte er sie gebeten, nach Nordwesten zu ziehen, zum Rachen, und da hatte sie gewusst, dass seine Zeit gekommen war.

Das war eine Sorge, die Sturs Habichte ihr nicht nehmen konnten.

Sie schob den Gedanken beiseite und sagte an Lakima gewandt: »Vielleicht kommen sie ja zeitig und bringen es noch vor dem Abendessen hinter sich.«

Korporal Lakima hob den Speer zum Salut. Stur brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die Geste nicht ihr galt, sondern den Habichten oben auf dem Signalturm des Phönix-Anwesens. Als sie den Blick hob, rissen die Wachen ihre behelmten Köpfe über die Brüstung zurück. Von dem Signalfeuer, das sie entzündet hatten, um die Krähen zu rufen, stieg noch ein dünner Rauchfaden in die Höhe.

Wahrscheinlich konnten die Soldaten sich nicht erklären, weshalb ihre eigenen Leute eine Rotte Krähen begleiteten. Stur konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. Sie hatte sich ihre Habichte bei Oberkriegsherrin Draga ehrlich verdient, und – was noch wichtiger war – wenn erst Prinz Jasimir auf dem Thron saß, würde sie außerdem so viele Habichte bekommen, wie nötig waren, um die gesamte Krähen-Kaste zu beschützen. Vielleicht würden die Soldaten von eben ja schon bald selbst mit einer Krähen-Rotte durchs Land ziehen.

Die Gerüchte waren Stur schon vorausgeeilt. Gerüchte über Kronprinz Jasimir, der wie seine legendäre Vorfahrin Ambra die Sündenseuche überlebt hatte, und Berichte über Oberkriegsherrin Dragas aufsehenerregenden Heerzug, mit dem sie den Prinzen in die Hauptstadt Dumosa eskortierte. Über Königin Rhusana verlor niemand ein Wort, doch Jasimir war stets überzeugt gewesen, dass ihr erster Schritt zur Machtübernahme darin bestehen würde, König Surimir aus dem Weg zu schaffen. Und bisher schien der König noch zu leben.

Angesichts der Tatsache, dass der Kronprinz – den Rhusana mehrfach zu ermorden versucht hatte – von der Anführerin von Surimirs Armee persönlich nach Hause begleitet wurde, wollte die Königin wohl kein Aufsehen erregen.

»Warum hast du die Schriftrolle mitgenommen?«, fragte Korporal Lakima.

Darauf hatte Stur eine ganze Reihe von Antworten: weil es ihr dadurch leichter gefallen war, einem Mädchen in ihrem Alter die Kehle zu durchschneiden. Weil diese Geschichte den Adeligen erzählte, sie seien immer gut, während sie Stur zu verstehen gab, dass sie zeitlebens ein Ungeheuer bleiben würde. Weil niemand in dem noblen Herrenhaus hinter ihr wusste, dass in den Geschichten und Liedern der Krähen die Ungeheuer üblicherweise in feine Seide gekleidet waren.

»Sie hätten sie sowieso verbrannt«, antwortete sie. »So kann ich wenigstens dabei zusehen.«

Lakima räusperte sich erneut. »Verstehe. Dann handelt es sich wohl um Die tausend Eroberungen.«

Als der Weg sie in den Wald führte, nahm Stur die Maske ab, hielt den Blick jedoch weiter fest auf den Boden gerichtet. Nur gelegentlich schaute sie zurück, um sicherzugehen, dass sie nicht von rachsüchtigen Trauernden verfolgt wurden. Nach fünf Jahren hatte die Natur den Lagerplatz, an dem Galgenstricks Rotte den Tod gefunden hatte, bestimmt mit friedlichem Grün überzogen, aber jede Krähe lernte von klein auf, mögliche Schlafstätten sofort zu erkennen, und Stur hatte keinerlei Verlangen, die traurige Lichtung zu sehen.

Sie wollte auch nicht an Galgenstrick denken.

Die Angst hatte ihn zum Verräter gemacht. Die Angst, wohin seine Reise als Flügelherr ihn führen würde. Die Angst, dass sie für ihn genauso enden würde wie für den Rest seiner Rotte. Daraus konnte Stur ihm keinen Vorwurf machen.

Aber sie konnte ihm vorwerfen, dass er keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als sie zu verraten.

Stur konnte den Ebenen Weg fühlen, noch bevor er in Sicht kam. Die Luft war zunehmend heiß und staubig, der Boden wurde flacher, und immer öfter stach Sonnenlicht durch das grüne Kronendach. Schließlich traten sie auf die breite, ebene Sandstraße hinaus. Pah und die beiden anderen Habichte warteten mit dem Vorratskarren auf der anderen Straßenseite, im Schatten einer von Efeu überwachsenen Schierlingstanne.

Pahs Anblick versetzte Stur einen vertrauten Stich ins Herz, wie so oft, seitdem er sie gebeten hatte, den Weg zum Rachen einzuschlagen. Dann bemerkte sie seinen Gesichtsausdruck, und das Stechen verwandelte sich in tiefe Besorgnis.

Diese Miene trug er äußerst selten, und Stur konnte sich nur allzu deutlich erinnern, wann sie sie zum letzten Mal gesehen hatte: als Pah ihr das Schwert, die Zähne und den Prinzen anvertraut und sie und die Lordlinge über den Rand der Brücke in Cheparok geschickt hatte.

Diese Miene besagte, dass etwas schiefgelaufen war, so schief, dass es kein Entrinnen gab.

»Was ist passiert?«, fragte Stur und überquerte die Straße. Doch in dem Augenblick, als sie ins Sonnenlicht trat, sah sie es selbst.

Zu ihrer Linken, etwa eine halbe Fernmeile entfernt, zerfaserte ein schwarzer Rauchfaden den Horizont. Zu ihrer Rechten spannte sich ein weiterer auf. Dahinter fädelten sich noch mehr schwarze Striche wie Zinken empor, sodass der Mittagshimmel dem Kamm eines Riesen ähnelte.

Dergleichen hatte Stur erst zweimal gesehen, trotzdem wusste sie ohne jeden Zweifel, was endlose Reihen schwarzer Signalfeuer bedeuteten.

Obwohl Prinz Jasimir mit seiner Armee im Anzug war, hatte Rhusana ihren nächsten Schritt unternommen.

Der König war tot.

ZWEI

Gestohlen

»Willkommen auf unseren Wegen, Base.«

Stur warf eine Handvoll Salz auf den Scheiterhaufen, trat einen Schritt zurück und sah zu, wie die Flammen das Leichentuch des toten Pfauenmädchens fraßen. Im Geiste sprach sie ein kurzes Gebet zur Knochenfresserin, der Krähen-Göttin, die die Seuchentoten zu sich rief. Die meisten Saborer glaubten, dass das Mädchen in seinem nächsten Leben als Krähe wiedergeboren würde, um für die Sünden zu büßen, um derentwillen die Korona sie diesem so plötzlich entrissen hatte.

Stur wusste nicht, ob das stimmte, aber wenn, dann würde das Mädchen hoffentlich lernen, weniger gehässig zu sein.

»Das klang nicht so, als würdest du es ernst meinen«, sagte Pah neben ihr.

Sturs andere Hand ballte sich um Die tausend Eroberungen. Obwohl Stur sich mit Seifenmuscheln und Salz gewaschen hatte, hoben ihre Finger sich im Schein des Feuers noch immer rot gegen das blasse, zerknitterte Papier ab. »Tue ich auch nicht.«

»Sie wird ein Baby sein, wenn sie als Krähe zu uns kommt.«

»Dann kommt sie besser zu einer anderen Rotte.«

»Stur.« Pah legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es ändert doch nichts.«

Damit meinte er nicht das Mädchen auf dem Scheiterhaufen.

»Der König ist am letzten Tag des Krähen-Mondes gestorben. Sie werden uns die Schuld geben, Pah.«

Pah strich sich über den Bart. »Es sind zwei Monde vergangen, seit wir dort waren. Jeder, der uns die Schuld in die Schuhe schiebt, sucht nur einen Vorwand, um den Krähen etwas anzuhängen. Und wahrscheinlich reitet er sowieso schon mit den Junkern.«

»Aber das Ganze ergibt keinen Sinn.« Stur schüttelte den Kopf. »Echte Phönixe werden zur Sonnenwende gekrönt, und die ist erst in zwei Wochen. Bis dahin ist Jas längst beim Königspalast angekommen, um seinen Anspruch auf den Thron geltend zu machen. Außerdem hat er eine ganze Armee hinter sich. Und das halbe Land glaubt, dass er Ambras Wiedergeburt ist und gesandt wurde, um uns in ein glorreiches neues Zeitalter zu führen … Seit wann lässt jemand wie Rhusana sich auf einen Kampf ein, den sie nicht gewinnen kann?«

Das Feuer flackerte über die vernarbte Stelle an Pahs Hand, wo einmal sein kleiner Finger gewesen war. Er hatte ihn bei einem solchen Kampf verloren. »Du hast recht«, sagte er. »Es ergibt wirklich keinen Sinn. Und was ist jetzt deine Aufgabe?«

»Was?«

»Du bist eine Flügelherrin, unzählige Fernmeilen von Dumosa entfernt. Was ist deine Aufgabe?«

Stur drehte die Schriftrolle in den Händen. Sie kannte die Worte nur zu gut, doch heute Abend fühlten sie sich wie Fesseln an. »Für die Meinen zu sorgen.«

Pah drückte kurz ihre Schulter. »Lass die Adligen mit Schicksalsknochen werfen. Wir haben mit ihren Spielen nichts zu tun. Wie ihre Knochen auch fallen, wir sind und bleiben Flügelherren. Du musst für die Deinen sorgen. Und ich habe einen Schrein zu hüten.«

Stur zuckte zusammen. Am liebsten würde sie auf dem schnellsten Weg in den Süden nach Dumosa jagen, dort so viele Zähne verbrennen, wie nötig waren, um Rhusana ins nächste Leben und Jas auf den Thron zu befördern, und dann mit Tavin an ihrer Seite ihre eigenen Wege beschreiten. Auf diese Weise könnte sie auch Pah noch länger bei sich behalten.

Aber er hatte recht. Die Krähen brauchten so viele Schreine wie möglich, aber keine Rotte brauchte zwei Flügelherren. Im Rachen befand sich der Wachturm der toten Göttin Kleine Zeugin. Seine Hüterin führte Buch über alle Schreine, die toten Krähen-Göttern gewidmet waren, sie würde wissen, welche leer standen.

Wenn eine Krähe zu alt war, um weiter durchs Land zu ziehen, verbrachte sie den Rest ihrer Tage in einem der Schutz-Schreine, die auf den Grabstätten der Götter errichtet worden waren. In der Nähe eines toten Gottes vermochte jede Krähe den Zahnvorrat am Brennen zu halten und den Schrein so vor anderen Kasten zu verbergen. Ein Hexer wie Pah konnte ihn sogar so gut wie unsichtbar machen. Zweifellos würde er einen Schrein übernehmen, der als Zufluchtsstätte dringend benötigt wurde.

Stur würde ihn dorthin begleiten und anschließend ohne ihn ihrer Wege gehen.

Und so wie es aussah, würde sie das tun, während Rhusana den Sieg sicher in der Tasche zu haben glaubte. Rhusana, die den Oleander-Junkern versprochen hatte, sie könnten nach Herzenslust Jagd auf die Krähen machen, wenn sie erst auf dem Thron saß. Rhusana, deren bloßes Versprechen dazu geführt hatte, dass in den letzten drei Monden mehr Junker hinter Stur her waren als in all den Jahren zuvor. Und das sogar noch nachdem sie den Prinzen sicher bei Oberkriegsherrin Draga abgeliefert hatte.

»Was, wenn es noch schlimmer wird?«, flüsterte sie. »Was, wenn ich sie alleine nicht beschützen kann?«

»Du hast sechs Habichte, Stur«, sagte Pah bestimmt. »Zwei Schwerter. Tausende Phönix-Zähne, um dir den Weg freizubrennen. Wenn all das nicht ausreicht, dann ist dies kein Kampf, den ein Mensch gewinnen kann.«

Genau das war es ja, was sie so beunruhigte. Keine Krähen-Rotte hatte je so viel Schutz gehabt, und trotzdem hatte Stur nicht das Gefühl, dass ihre Krähen wirklich in Sicherheit waren. Am Horizont braute sich ein Sturm zusammen, und sie konnte nur versuchen, ihm auszuweichen.

Vor zwei Monden hatte sie zusammen mit Galgenstrick vor zwei leeren Scheiterhaufen gestanden, kurz nachdem sie mit dem Kronprinzen einen Eid geschlossen hatte. Jasimir hatte behauptet, dass er als Einziger das Überleben der Krähen sichern konnte, doch Galgenstrick hatte das als Augenwischerei abgetan.

Jetzt stand sie wieder vor einem Scheiterhaufen, aber diesmal ohne Galgenstrick. Die Signalfeuer sagten ihr, dass der Letzte, der noch zwischen dem Thron und der Königin der Oleander-Junker gestanden hatte, nicht mehr lebte.

Allmählich roch es vom Scheiterhaufen her nach brennendem Fleisch, Stur verzog das Gesicht und trat einen Schritt zurück. Ein warnendes Jaulen ließ sie zusammenzucken. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf Würg, die graue Katze aus dem Königspalast. Sie lag der Länge nach ausgestreckt auf dem Boden.

Wenn die Katze sich des Unglücks bewusst war, das tote Könige und düstere Pfade verhießen, so ließ sie sich nichts anmerken. Stattdessen rollte sie schnurrend auf den Rücken und zog die Pfoten zur Brust.

Stur kannte diesen Trick nur zu gut, Pah hingegen ging in die Hocke, um Würg den weißen Bauch zu kraulen. Und wie eine zuschnappende Falle schlug sie ihm die Krallen in den Arm. Er riss die Hand zurück, begleitet von Scheusals gackerndem Lachen.

»Das solltest du inzwischen besser wissen, Dreckskerl«, rief sie. Pahs Name klang noch immer ungewohnt in Sturs Ohren, aber es gab jetzt nur noch eine Flügelherrin in dieser Rotte. »Wenn einem das Vieh den Bauch zudreht, verheißt das nichts Gutes.«

»Ich weiß es auch besser«, brummte Pah. »Ich hatte nur gehofft, dass es diesmal anders ist.«

Es knisterte, als Stur die Faust um Die tausend Eroberungen schloss. Die Rolle war von Schweiß durchweicht. Stur löste ihr Versprechen ein und warf sie auf den Scheiterhaufen.

Das Pergament fing augenblicklich Feuer. Stur kannte den Wert von Schriftrollen, sie wusste, wie viel Zeit und Mühe es die Eulen-Schriftgelehrten kostete, ein Werk wie Die tausend Eroberungen zu übertragen, und dass es jede Kopie wertzuschätzen und zu bewahren galt. Der Gelehrte Sharivi hatte in seinem völlig überflüssigen Vorwort geschrieben, dass die gesammelten Erzählungen der reinen Wahrheit entsprachen. Dass sie die Geschichte von Sabor wiedergaben, die Stärke der Herrscher, die Verschlagenheit der Verräter, die Grundlagen der Nation selbst.

Nach allem, was sie gelesen hatte, fand Stur, dass Sharivis Arbeit höchstens die Struktur eines Kuhfladens gut beschrieb. Allerdings hatte er letztlich auch ihr etwas geschenkt, das sie erfreute: zuzusehen, wie Die tausend Eroberungen im einen Moment noch da waren und im nächsten in Rauch aufgingen.

In dieser Nacht kamen die Oleander-Junker wirklich.

Es lief genauso ab wie in den Wochen zuvor: Als Erstes schlug Würg Alarm. Die Katze hatte eine Abneigung gegen die Junker, seit sie sie einmal fast bei lebendigem Leib verbrannt hatten. Seitdem fauchte sie und stellte alle Haare auf, wenn sie hörte, dass ein Dutzend oder mehr Reiter sich näherten. Und praktischerweise war das immer, mindestens eine Minute bevor Stur sie hören konnte.

Erst maunzte die Katze, dann kamen die Hufschläge auf der dunklen Straße näher und die Krähen scharten sich enger ums Feuer, unternahmen jedoch keinen Versuch zu fliehen. Die drei wachhabenden Habichte stellten sich zwischen Lager und Straße und warteten, während die anderen drei sich aufsetzten, die Speere griffbereit.

Ab da entwickelte es sich jedes Mal anders. In einer Nacht boten die verdutzten Oleander den Habichten an, ihnen bei der Festnahme der Krähen behilflich zu sein. Ein anderes Mal versuchten sie erst, mit Lakima zu verhandeln, dann, sie einzuschüchtern, bis einer der Reiter sie schließlich angriff. Beim Einsammeln der Zähne, die Lakima ihm daraufhin ausschlug, hatte Stur eine besondere Genugtuung verspürt.

Heute drosselten die Oleander-Junker kurz vor dem Lager die Geschwindigkeit, der Anblick der gezückten Speere schien sie zu überraschen. Ihr maskierter Anführer betrachtete die Szene und beschloss dann offensichtlich, dass sie besser daran taten, sich einen anderen Zeitvertreib zu suchen.

Knapp zwei Dutzend Reiter trabten in einer merkwürdigen, beklommenen Prozession an ihnen vorbei, gafften die Wachen an und flüsterten miteinander.

Früher hatten ihre ungebleichten Gewänder und die weiß gepuderte Haut Stur Angst eingejagt. Jetzt hatte sie Feuer. Jetzt hatte sie Stahl. Jetzt hatte sie Habichte. Die Oleander-Junker wirkten im Davonreiten so albern wie Kinder, die Verkleiden spielten.

Stur hatte schon immer gewusst, dass Leute wie die Junker sich nur auf Kämpfe einließen, die sie garantiert gewinnen würden. Sie hatte nur nicht gewusst, wie es sich anfühlte, wenn sie den Schwanz einzogen und das Weite suchten.

»Glaubst du, sie haben sich verlaufen?«, scherzte Khoda und lehnte sich auf seinen Speer. »Soll ich ihnen vielleicht den Weg weisen?«

»Wenn er über den Rand einer Klippe führt, gern«, brummte Stur und schlief weiter.

Anderthalb Tage später erreichten sie den Rachen.

Bei klarem Wetter konnte man angeblich bis zu der kleinen Insel sehen, die hinter Rhunadei das nordwestliche Ende Sabors bildete. Doch selbst im Sommer waren klare Tage dünn gesät, und als sie den Hügel über Domarem erklommen, war die Mittagssonne nicht mehr als ein münzförmiger Schlitz am wolkenverhangenen Himmel. Dichte Nebelschwaden überzogen die Küste, so weit das Auge reichte – was kaum weiter war als bis zum Ufer, denn dahinter wurde der Golf vollständig von Dunst verschluckt. Einzig die Silhouetten zerklüfteter Türme, die aus den Wogen emporragten, waren zu sehen.

Der Legende zufolge hatte ein längst verstorbener Oberherr in einer Zeit, als die Gewässer noch nicht als Rachen bekannt waren, den Ehrgeiz entwickelt, den Golf als Zugang für eine Handelsroute zu nutzen. Möwen, deren Geburtsrecht es ihnen erlaubte, den Wind zu lesen, waren durchaus in der Lage, in wendigen Segelbooten durch den Nebel und die Untiefen zu navigieren; und Schmuggler, die sich im Laufe vieler Jahre mit dem Labyrinth aus Felsen vertraut gemacht hatten, schafften es, hindurchzuschlüpfen wie kleine Fische zwischen den Zähnen eines Hais.

Allerdings vermochten nur Möwenhexer den Wind so zu steuern, dass schwer beladene Handelsschiffe sicher in den Hafen gelangten. Und da es in Sabor nicht einmal hundert solcher Hexen und Hexer gab, hatte die sichere Passage ihren Preis. Die Kaufleute waren selten bereit, diesen zu zahlen, nur um ein hinterwäldlerisches Fischerstädtchen zu beliefern, dessen Bewohner ihnen vermutlich noch über Nacht das Schiff auseinandernahmen.

Der Oberherr meinte jedoch, dass Domarem eine entscheidende Rolle in Sabor einnehmen sollte, und zwar als ebenso wichtiges Handelszentrum im Norden wie Cheparok im Süden. Außerdem war er der Ansicht, dass er dies auch ohne die Hilfe der Möwen schaffen konnte. Und so ließ er auf den Untiefen Dutzende Türme errichten und mit Signalfeuern ausstatten, um den Kapitänen anzuzeigen, welche Stellen sie umschiffen mussten.

Dabei unterlief ihm allerdings ein fataler Fehler. Nachts verrichteten die Signalfeuer einen guten Dienst und leiteten die Schiffe sicher durch den dichten Nebel.

Tagsüber waren sie jedoch zu nichts nutze.

Da der Oberherr die Möwen gegen sich aufgebracht hatte, weigerten sie sich, für ihn zu arbeiten, und Domarem wurde nie das große Handelszentrum, das er sich erträumt hatte. Die Türme zerbröckelten nach und nach wie faulende Zähne, und das Einzige, was übrig blieb, war der Spottname »Der Rachen«. So zumindest wollte es die Legende.

In Sturs Augen hatte Domarem schlicht zu viele Felsklippen, um einen guten Handelshafen abzugeben. Doch sie wusste auch, dass sich ein von seinem eigenen Genie überzeugter Pfau von so etwas nicht abhalten ließ. Die halbe Stadt schien in den Felsen gehauen zu sein, während die andere Hälfte so aussah, als wäre sie die Hänge hinabgerutscht und würde sich am Ufer auftürmen. Im Hafenbecken wimmelte es von Jollen, Ruderbooten und Schiffen, deren Segel in dem leuchtenden Blau gefärbt waren, das sich bei Möwen so großer Beliebtheit erfreute. Die Segel der Möwen aus dem Süden wurden im Laufe der Zeit von der Sonne und dem Salzwasser ausgebleicht, doch hier oben vermehrten sich die Muscheln, die sie zum Färben verwendeten, so üppig, dass der silberne Sand von indigofarbenen Schlieren aus zerstoßenen Muschelschalen durchzogen war.

Als sie sich dem Tor näherten, fragte Korporal Lakima vorsichtig: »Sollen wir euch hineinbegleiten?«

Dieses Spielchen hatten sie in den letzten Wochen perfektioniert, auch wenn es eine Weile gedauert hatte. Die Schreine waren schließlich als Geheimverstecke für Krähen, und nur für Krähen, gedacht. Einen Prinzen und seinen Leibwächter in zwei oder drei davon mitzunehmen, wie Stur es getan hatte, war eine Sache. Aber sechs Habicht-Soldaten schnurstracks zu jedem Krähen-Schrein zu führen, war etwas völlig anderes.

Aber Lakima hatte nun mal den Befehl, die Rotte zu beschützen, und reagierte auf die Bitte, wegzusehen, damit die Krähen unbeaufsichtigt in geheime Gassen oder versteckte Schluchten verschwinden konnten, ausgesprochen … widerwillig. Zwar hatte sie, ohne zu zögern, da weitergemacht, wo Tavin mit Sturs Schwertunterricht aufgehört hatte, doch wollte sie nicht glauben, dass Stur ihre Rotte mit nur anderthalb Schwertern verteidigen konnte.

Bis sie eines Nachts Rhusanas Haut-Ghuulen begegnet waren, grausigen, hohlen Marionetten, die aus der Haut von Toten bestanden. Die Schwerter der Habichte konnten ihnen nichts anhaben und stachen einfach ins Leere, doch mit nur einem Phönix-Zahn von ihrer Kette hatte Stur die Ungeheuer im Handumdrehen erledigt.

Seitdem war Lakima bereit, die Krähen in Sturs Obhut zu geben, wann immer sie einen Ort aufsuchten, an den ihnen die Habichte nicht folgen konnten.

Beim Wachturm der Kleinen Zeugin war Stur jedoch noch nicht gewesen, also blickte sie fragend zu Pah und Scheusal.

Pah schüttelte den Kopf und deutete zu einer Gabelung vor ihnen, wo ein schmaler Schotterweg Richtung Klippen abzweigte. »Wir machen einen kleinen Spaziergang.«

»Ohne Karren tun wir uns leichter«, sagte Stur. »Pah, Schuft und Luder – wir gehen zum Schrein. Die anderen bleiben hier und passen auf die Sachen auf. Scheusal, du hast das Sagen.«

»Pelen, Khoda und ich könnten beim Kommandoposten in der Stadt die Vorräte aufstocken.« Korporal Lakima blickte Stur vielsagend an. »Mal hören, was sie dort berichten.«

Damit meinte sie, ob es Neuigkeiten über den Tod des Königs gab, denn noch war nichts über die offizielle Todesursache zu ihnen vorgedrungen – was sowohl Stur als auch Lakima beunruhigte.

»Gut. Wir treffen uns spätestens bei Sonnenuntergang an der Gabelung wieder.« Stur fischte zwei Bündel aus dem Vorratswagen. Sie hatte sie am Morgen selbst geschnürt und bis zum Bersten gefüllt mit Töpfen, Pökelfleisch und anderen Dingen, die sie so schnell nicht brauchen würden. Mit leeren Händen am Grab der Kleinen Zeugin aufzutauchen wäre unhöflich. Eines der Bündel gab sie Pah, das andere nahm sie selbst. Dann zeigte sie auf den Schotterweg. »Geh du vor, Pah.«

»Ein guter Tag für einen kleinen Spaziergang«, sagte Luder fröhlich und hakte sich bei Schuft ein. Dessen Grinsen wurde so breit wie das seiner Zwillingsschwester. Die beiden hatten einen Großteil ihrer knapp zwanzig Lebensjahre darauf verwendet, einander möglichst ähnlich zu werden – sie hatten dieselbe Frisur, verwendeten dieselben Ausdrücke und kleideten sich so gleich wie möglich. Bisher hatten sie Lakima dreimal hereingelegt und die anderen Habichte sogar ganze sieben Mal.

Schuft wickelte sich eine Locke um den Finger. »Ich muss schon sagen, Flügelherrin, ich bin geschmeichelt, dass du uns für diese Mission ausgewählt hast. Das ist ganz schön optimistisch von dir.«

»Ihr habt es geschafft, bis jetzt zu überleben, egal wie leichtsinnig ihr auch wart«, erwiderte Stur. Es war kein Geheimnis, weshalb sie zusätzliche Leute mit zum Schrein nahm: Der Wachturm der Kleinen Zeugin war einer von drei großen Schreinen zu Ehren toter Krähen-Götter und sie konnten es sich nicht erlauben, das Wissen um den Weg dorthin zu verlieren. Es musste in jeder Rotte mindestens einen geben, der hinfand. »Ich denke mal, wenn jemand es hinkriegt, das Wissen um den Weg für eine Weile zu bewahren, dann ihr beide.«

»Schuft wird deine Einschätzung vermutlich auf die Probe stellen«, sagte Luder gedehnt. »Was meinst du, wohin die Hüterin dich schicken wird, Dreckskerl?«

Pah kratzte sich den kahlen Kopf. Offensichtlich nahm ihn das Ganze doch mehr mit, als Stur gedacht hatte. »Hexer werden zu ihrem eigenen Schrein geschickt, das hat mir jedenfalls mein alter Flügelherr erzählt. Wir werden also sehen.«

Stur lief ein kalter Schauder über den Rücken. Wie so viele glaubte auch Pah, dass die tausend Götter als Hexen und Hexer wiedergeboren wurden, um die Kasten anzuführen, die sie zu Lebzeiten begründet hatten. Doch Stur war schon zu oft über ihre eigenen Füße gestolpert, um zu glauben, dass sie einmal ein Gott oder eine Göttin gewesen war.

Und wenn sie daran dachte, fühlte sie sich, als würde sie in einer mondlosen Nacht am Ufer eines Ozeans stehen – etwas Schreckliches, Unermessliches und Unsichtbares lag tosend vor ihr und wartete nur darauf, sie zu verschlingen, sobald sie den festen Boden verließ.

Schon nach kurzer Zeit bogen sie von der Sandstraße ab und setzten ihren Weg auf einem Trampelpfad fort, der sich zwischen dunklen Kiefern und Büscheln aus scharfkantigem Gras hindurchwand und immer wieder verzweigte. »Nach unten«, erklärte Pah ihnen. »Ihr müsst euch immer auf dem Pfad halten, der nach unten führt.« Und das taten sie, bis sie in eine von Basaltklippen umsäumte Bucht kamen.

Als Stur den Strand betrat, wusste sie sofort, dass sie beim Grab der Kleinen Zeugin angekommen waren. Die hellen Sandstreifen waren noch mit Kohlestückchen gesprenkelt – Überreste der Feuer, die in der ersten Nacht des Krähen-Mondes hier gebrannt hatten. Doch selbst ohne diesen Hinweis wäre das Rumoren der Knochenmagie zu ihren Füßen unverkennbar gewesen. Pah hielt direkt auf eine Gruppe großer, mit einer Kruste aus glänzenden schwarzen Muscheln überzogener Felsbrocken zu, die fast im weißen Schaum der Brandung versanken. Stur folgte ihm und als sie den ersten Fuß auf den Stein setzte, schwoll das Summen in ihren Knochen zu einem dumpfen Dröhnen an.

Pah hatte unterdessen den Rand der Felsen erreicht und machte einen Schritt ins Leere. Eigentlich hätte er in die tosende See stürzen und von den Wellen am Basalt zerschmettert werden müssen.

Doch stattdessen verschwand er einfach.

»So verbirgt man also einen Wachturm«, stellte Schuft fest.

Stur zwang sich, ebenfalls über den Rand zu treten. Wie erwartet traf ihr Fuß auf festen Boden, und einen Atemzug später hatte sie den Zauber durchschritten, der den Schrein wie eine Mauer umhüllte. Wo gerade noch Wasser getost hatte, erhob sich jetzt weiterer Basalt und bildete das Fundament des Turms der Kleinen Zeugin.

Im Gegensatz zu den zerfallenen Türmen im Rachen hatte dieser hier acht statt vier Seiten und war höher, robuster und noch älter als die Bauwerke des Oberherrn. Die See hatte einen Großteil der alten Ornamente weggenagt, die beeindruckendsten Überreste waren die hervorspringenden Mauersteine an den Ecken. Sie waren so aufei­nandergestapelt, dass jeder zweite vorstand, und weil Wind und Wasser sie zu runden Knubbeln geschliffen hatten, sah es aus, als würden sich acht unermesslich lange Wirbelsäulen zum Dach des Turmes strecken. In den Mauern waren Fenster in der Form achtzackiger Sterne eingepasst, die zwar Licht einließen, aber nach außen nichts preisgaben.

Stur vermutete, dass man vom Dach aus bis nach Dumosa sehen konnte. Als Göttin hatte die Kleine Zeugin die Gestalt eines Bettelmädchens angenommen, das jedermanns Verfehlungen sah und Buch darüber führte, damit die Korona entsprechend über die Menschen richten konnte. Dazu brauchte es wohl einen Wachturm wie diesen. Wenn die Kleine Zeugin wirklich die Verfehlungen von ganz Dumosa aufgezeichnet hatte, war es kein Wunder, dass sie unverrichteter Dinge gestorben war.

Ein Ächzen ließ Stur zusammenzucken. Die eiserne Tür am Fuß des Turmes öffnete sich, indem die beiden Türhälften auseinanderglitten und hinter den Mauern verschwanden. Im Eingang stand ein kleines Mädchen von höchstens sieben Jahren, mit nackten Füßen und nichts als einem übergroßen Hemd aus schwarzer Krähenseide bekleidet. Ihr Haar war achtlos zurückgebunden und dunkle Strähnen fielen ihr in das runde, braune Gesicht. Der Blick aus ihren schwarzen Augen brannte sich in Stur.

Pah räusperte sich. »Base, wir sind gekommen, um mit der Hüt…«

Das Mädchen deutete geradewegs auf Stur. »Wie nennst du dich?«

Stur zuckte zusammen und wäre fast auf eine Muschelbank gefallen. »Was?«

»In diesem Leben.« Das Mädchen verschränkte die Arme. »Wie nennst du dich?«

Stur warf Pah einen Blick zu, doch der schien genauso verwirrt wie sie und zuckte nur mit den Schultern. »Stur«, antwortete sie schließlich.

»Stur. Du zuerst.« Damit wirbelte das Mädchen herum und marschierte davon.

»Ich bin nicht …«, stotterte Stur, während zu ihren Füßen eine Welle gegen den Felsen klatschte und sie mit Schaum und Salzwasser bespritzte. »Wir sind wegen Pah hier, nicht meinetwegen.«

Das Mädchen streckte den Kopf aus der Türöffnung, zwinkerte Pah zu und verschwand wieder. »Gen-Mara, der Bote. Wir unterhalten uns gleich.«

»Er soll Gen-Maras Schrein hüten?« Luder klopfte Pah auf die Schulter. Die Haine von Gen-Mara zählten ebenfalls zu den großen Schreinen. »Das nenn ich mal einen Ruhesitz.«

»Der Bote bewacht seinen eigenen Schrein«, rief das Mädchen aus den Tiefen des Turmes. »Ihr wartet drinnen – alle außer dir, Stur oder Sebiri oder wie du dich gerade nennst. Du kommst mit mir.«

»Das ist die Hüterin?«, flüsterte Schuft.

Doch Pah schüttelte langsam den Kopf. Stur hatte ihn noch nie mit so weit aufgerissenen Augen gesehen. »Junge … das ist die Kleine Zeugin.«

Die Flüche, die Schuft und Luder daraufhin ausstießen, waren gleichermaßen einfallsreich und ehrfurchtsvoll. Stur dagegen erstarrte, während ihre Gedanken sich überschlugen. Sie waren nicht ihretwegen hier. Worum auch immer es ging – es war zu früh dafür, zu früh für sie.

Pah stieß sie an. »Geh schon.«

Um sie herum rauschte das Meer. »Aber, Pah …«

»Eine tote Göttin lässt man besser nicht warten«, sagte er und betrat den Turm. Stur blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Das Innere war ganz anders, als sie erwartet hatte. Das Licht, das durch die offenen Fenster strömte, zeigte Wände voller Räder, Riemen und Hebel und Regale voller Schriftrollen und Pergamentstapel. Die meisten Schreine besaßen eine Statue der toten Gottheit, auf deren Grab sie errichtet worden waren. Der Schrein der Kleinen Zeugin bildete da keine Ausnahme, doch offensichtlich waren ihre letzten Inkarnationen wohl der Meinung gewesen, dass die Figur auch einen praktischeren Zweck erfüllen konnte. Und so trug das grob aus Stein gemeißelte Bildnis des Bettelmädchens nun Holzbretter auf den ausgestreckten Armen, die mit staubigen Einmachgläsern, unordentlich gefalteten Decken und Krähenseide-Ballen bestückt waren. Zwischen ihren Fingern spannten sich Wäscheleinen mit Kleidern, die aussahen, als wären sie schon seit Wochen trocken und einfach nicht abgenommen worden.

Als alle vier Krähen eingetreten waren, quietschte und knackte es wieder, und dann schlugen die Hälften des Eisentores hinter ihnen zusammen. Eine winzige Gestalt huschte zu einer Holzplattform, die so lang und breit war wie der Karren der Krähen und an deren Ecken sich dicke Seile nach oben in die Dunkelheit spannten.

Die Kleine Zeugin deutete auf die Plattform und befahl Stur: »Steig auf.«

Stur schluckte, dann betrat sie die Bretter.

Die Kleine Zeugin sprang hinterher und legte einen Hebel um. Wasserrauschen erklang, dann setzte die Plattform sich zu Sturs Erstaunen in Bewegung und stieg nach oben. »Fasst nichts an!«, rief die Kleine Zeugin den anderen zu. »Und wenn ihr euch hinsetzen müsst, dann auf den Boden.«

Während sich die Plattform aufwärtsbewegte, sahen sie eine Treppe, die sich spiralförmig an den Wänden nach oben schraubte. Sie passierten mehrere Ebenen. Eine, die komplett mit Pritschen bestückt war, zweifelsohne als Schlafstatt für Zuflucht suchende Krähen-Rotten; eine andere enthielt den größten Viatik-Vorrat, den Stur je gesehen hatte. Ein ganzes Stockwerk war reihenweise staubigen, mit Zähnen gefüllten Gläsern vorbehalten – hauptsächlich Spatzen-Zähne, um den Wachturm zu verbergen, und Pfauen-Zähne, die an seiner Stelle ein Trugbild erzeugten. Diese Ebene ließ Sturs eigene Zähne schmerzhaft vibrieren, und sie war froh, als sie sie hinter sich gelassen hatten.

»Wer hat den Wasseraufzug hier eingebaut?«, fragte sie und hielt sich an einem der Seile fest, bemüht, nicht nach unten zu schauen.

»Ich selbst«, erwiderte die tote Göttin kurz angebunden.

Stur blickte demonstrativ zu den Seilen, die bis zum Dach des Turms zu führen schienen. »Ich hätte nicht gedacht, dass du groß genug dafür bist.«

»Das war ich mal. Vor zehn und acht Leben bin ich die Treppe hi­nuntergestürzt und gestorben. Deshalb habe ich mich im darauffolgenden Leben bemüht, eine Alternative zu finden. Und ich habe ja jede Menge Zeit.« Sie schnitt eine Grimasse, als hinter einem der Fenster Domarem vorbeizog. »Ich war die Göttin der Erinnerung. Vom Augenblick meiner Geburt an kann ich mich an alles erinnern – in jedem Leben und aus allen Leben davor. Das sag ich dir, ob nun Huwim oder Tunichtgut oder Stur.«

»Abgesehen von meinem Namen«, murmelte Stur.

»Du hattest viele Namen«, konterte die Kleine Zeugin. »Du hattest viele Leben. Vor zehn und sieben Leben hast du mich diese Treppe hi­nuntergestoßen.« Sie blickte Stur an, ihre Augen waren die einer Greisin im Gesicht eines Kindes. »Siehst du? Wenn du mich jetzt wieder stößt, reiße ich dich mit.«

Doch Stur sah nur, dass es inzwischen ein ziemlich tiefer Sturz wäre. Sie umklammerte das Seil noch fester. »Mir ist heute aber nicht danach, eine tote Göttin zu töten.«

»Die letzten drei Mal, als wir uns getroffen haben, hast du mir auch nichts getan.« Die Kleine Zeugin lächelte ein Lächeln, das müde, liebevoll und entsetzlich zugleich war. »Da warst du aber auch jedes Mal eine Krähe.«

»Jedes Mal?«

Sie erreichten das obere Ende der Treppe und die Kleine Zeugin sprang, ohne zu antworten, von der Plattform. Stur folgte ihr.

»Jedes Mal?«, wiederholte sie. »Ich bin eine Hexe. Wenn … wenn wir wiedergeborene Götter sind, muss ich da nicht eine Krähen-Göttin gewesen sein?«

»Bist du das nicht auch?« Die Kleine Zeugin führte sie fünf Stufen hinauf in ein Zimmer, wenn man es denn so nennen konnte. Es erstreckte sich über die gesamte Breite des Turmes, und die Wände waren von achtzackigen Sternenfenstern so gut wie durchlöchert. Durch die Lücken pfiff der Wind und vom bedeckten Himmel fiel schwaches Licht herein, das den Raum in einen unwirklichen, zinnfarbenen Schein tauchte.

»Es kommt nicht darauf an, was du warst.« Die Kleine Zeugin steuerte auf einen Stoß abgewetzter Kissen zu und ließ sich darauf nieder. »Es kommt darauf an, was du bei dir trägst. Als Erstes: Was lässt du mir für meinen Viatik-Vorrat da?«

Stur stellte das Bündel auf den Boden und ging daneben in die Hocke. »Lebensmittel, Kochutensilien – Pah hat den Rest …«

»Ich nehme die Zähne.« Die Kleine Zeugin deutete auf den Beutel an Sturs Gürtel.

Einen Moment lang setzte Sturs Herzschlag aus. Sie hatte eine schreckliche Ahnung, wohin das führen würde, trotzdem schnürte sie mit zitternden Fingern den Beutel auf – ein wunderschönes Stück aus geprägtem Leder mit mehreren Fächern und Einsätzen, sodass sie ihre Zähne sortieren konnte und nicht lange nach dem richtigen suchen musste. Tavin hatte ihn ihr geschenkt, bevor sie aus Trikovoi aufgebrochen war. In ein Geheimfach war eine besondere Gabe eingenäht: einer von Tavins Milchzähnen, den seine Mutter aufbewahrt hatte.

In ihren dunkelsten Momenten, wenn sie daran zweifelte, dass sie Tavin je wiedersehen würde, tastete sie nach diesem Zahn und dem Funken, der nach wie vor in ihm loderte. Dann wusste sie, dass sie ihren Habicht noch finden konnte.

»Nicht den«, sagte die Kleine Zeugin jetzt, als Sturs Fingerspitzen zu dem Milchzahn wanderten. Sie zeigte auf das größte Fach, in dem Stur die Phönix-Zähne aufbewahrte. »Die.«

Stur zuckte unwillkürlich zusammen.

»Wo ist das Problem?«, fragte die Kleine Zeugin. »Du benutzt sie doch ohnehin nicht.«

Tausend Widerreden gellten in Sturs Ohren. Sie sorgen für unsere Sicherheit. Sie sorgen dafür, dass man uns fürchtet. Ich habe sie verdient.

Ich brauche sie.

Das schiefe Lächeln der toten Göttin verriet Stur, dass sie ganz genau wusste, was sie da von ihr forderte. Und das verärgerte sie umso mehr.

»W-wie viele?«, presste sie hervor und öffnete das Fach.

»Wie viele kannst du entbehren? Du hast zwei Schwerter, sechs Habichte, Tausende von Feuerzähnen. Wie viel ist genug für dich?«

Stur erstarrte.

Die tote Göttin beugte sich vor, ihr Blick war viel zu wissend für ihr kindliches Gesicht. »Du hängst zu sehr an deinem Feuer, das war schon immer so. Du hast jeden Phönix-Zahn im Land eingefordert. Hat das deine Probleme gelöst? Du hast das Schwert eines Habichts in deinen Besitz gebracht. War das genug? Du hast einem Prinzen einen Eid abgenommen, der Sabor von Grund auf verändern wird. Fühlst du dich jetzt sicher?«

Der Wind pfiff durch den Turm. Stur umfasste ihren Beutel noch fester und erwiderte den Blick der Kleinen Zeugin. »Keine einzige Krähe wird sicher sein, wenn es Rhusana gelingt, den Thron zu besteigen.«

»Aber es geht nicht nur um Rhusana, stimmt’s?«

Stur verspürte ein Ziehen im Magen und hörte die Stimme eines toten Pfauenmädchens: Euch hat die Korona zur Strafe erschaffen.

»Gibst du die Feuerzähne her, wenn der Prinz auf dem Thron sitzt?«, fragte die Kleine Zeugin. »Ist es dann genug?«

»Du weißt genau, dass es das nicht ist«, blaffte Stur, ehe sie sich davon abhalten konnte. »Es geht nicht nur um Rhusana, sondern auch um die Leute, die für sie reiten. Die Leute, die wissen, dass sie bei ihr damit durchkommen. Es geht um jeden, der denkt, dass Krähen nichts weiter sind als Sünder, mit denen sie umspringen können, wie sie wollen. Und warum auch nicht? Du bist doch diejenige, die sich seit Anbeginn der Zeiten an alles erinnern kann, sag du mir, warum uns die Götter so geschaffen haben. Warum haben Krähen kein Geburtsrecht?«

Die Kleine Zeugin lehnte sich mit zusammengekniffenen Augen zurück, sie wirkte ebenso selbstzufrieden wie Würg, wenn sie eine Maus in den Klauen hatte.

»Wer sagt das?«, fragte sie.

Einen schrecklichen Moment lang fühlte Stur ganz genau, wie es dieser Maus gehen musste.

»W-was?«

»Es nagt jedes Mal an dir«, erklärte die Kleine Zeugin und wirkte fast traurig. »Du fürchtest, je mehr du willst, desto weniger verdienst du. Dabei willst du nur, was euch gestohlen wurde. Du hast recht! Es geht nicht nur um Rhusana. Sie ist lediglich die jüngste Diebin auf dem Thron.«

Stur starrte sie fassungslos an. »Warte. Vergiss Rhusana. Wir hatten ein Geburtsrecht?«

Die Kleine Zeugin wackelte mit dem Zeigefinger. »Wenn du Rhusana vergisst, stirbst du bloß wieder, dann schaffst du es in deinem nächsten Leben niemals rechtzeitig hierher.«

»Es reicht.« Stur wusste nicht, ob ihr Herz vor Wut oder Überraschung so raste, aber sie wusste, was jetzt Besitz von ihr ergriff. »Ganz Sabor glaubt, dass wir für nichts anderes gut sind, als Sündern die Kehlen durchzuschneiden. Und du erzählst mir, wir hätten die ganze Zeit über ein Geburtsrecht gehabt?«

»Du kannst nicht …«

»Es sind Krähen gestorben, während du in diesem verdammten Turm gehockt hast!« Stur sprang auf und Phönix-Zähne hüpften klackernd über den Boden. Die Galle kam ihr hoch, wenn sie an jeden einzelnen Scheiterhaufen dachte, den sie für ihresgleichen entzündet hatte – angefangen mit ihrer Mutter. »Und du hast es bis jetzt nicht für wert befunden, irgendwem zu sagen, dass wir ein Geburtsrecht hatten?«

»Es hätte nichts geändert.«

»SAGDASMEINERMUTTER!«, brüllte Stur.

»Ich hoffe nur, du bringst mich diesmal nicht um. Ich bin jetzt grade groß genug, um den Aufzug ohne Schemel zu bedienen.«

Stur ballte die Hände zu Fäusten. »Wenn du dich nicht gleich deutlich ausdrückst, dann …«

»Habe ich doch, zumindest was den Schemel angeht.« Die Kleine Zeugin seufzte. »Ich kann nicht viel deutlicher werden, nur so viel: Ja, wir Krähen hatten ein Geburtsrecht. Es wurde uns gestohlen. Wenn du es zurückgewinnen willst, musst du deinen Eid erfüllen.«

Stur erstarrte. »Meinen Eid? Meinen Eid vor der Korona?«

»So ist es.«

»Prinz Jasimir ist bei seiner Tante und in Sicherheit. Ich habe ihn zu seinen Verbündeten gebracht. Zwei Mal, um genau zu sein. Wir haben unseren Teil erfüllt.«

Wenn nicht – irgendwie …

Pah hatte den Eid mit dem Prinzen geschlossen. Und ein Eid vor der Korona begleitete einen von Leben zu Leben, so lange, bis man ihn einlöste.

»Warum hat das nicht gereicht?«, fragte Stur.

»Sag du’s mir. Sechs Habichte, zwei Schwerter, alle Phönix-Zähne im ganzen Land, und das reicht dir noch immer nicht.« Die Kleine Zeugin löste ihren Pferdeschwanz und machte sich daran, ihre langen schwarzen Locken zu einem Zopf zu flechten. »Erfülle deinen Eid, dann findest du auch unser Geburtsrecht. Aber erst dann. Das ist alles, was ich dir sagen kann.«

»Und was ist unser Geburtsrecht?«

»Tja.« Die Kleine Zeugin schenkte Stur wieder ihr schreckliches Lächeln. »Es wäre unlauter, dir das zu verraten.«

»Du hast Pah vor nicht mal einer halben Stunde gesagt, dass er Gen-Mara war.«

Die Göttin in Gestalt des Mädchens schüttelte den Kopf. »Gen-­Mara hat seit Hunderten von Jahren nie seine Pflicht verfehlt. Was man von dir nicht behaupten kann.«

»So langsam verstehe ich, warum ich dich immer wieder töte«, murmelte Stur und stopfte die Zähne zurück in den Beutel. Als sie aufsah, hielt die Kleine Zeugin ihr die ausgestreckte Hand hin.

»Ich habe dich um Zähne gebeten.«

»Und ich habe dich gefragt, was für ein Geburtsrecht ich für uns finden soll. Sieht aus, als würden wir beide leer ausgehen.«

Das Lachen der Kleinen Zeugin war noch schlimmer als ihr Lächeln. »Oh, wie ich das vermisse. Du und ich. Wie grausam, dir einen derartigen Funken zu verleihen und dir gleichzeitig zu sagen, dass du das Feuer nicht lieb gewinnen sollst.« Sie öffnete die Hand. »Ich will zwölf. Für die Flügelherren, die nächsten Mond hierherkommen. Wir alle wissen, dass sich ein Sturm zusammenbraut. Und nur ein Narr wartet, bis es blitzt, ehe er Schutz sucht.«

Dagegen ließ sich kaum etwas sagen. Stur zählte ein Dutzend Phönix-Zähne ab, wobei ihr das Gewicht jedes einzelnen wie Blei im Magen lag.

Ein Dutzend Zähne, mit denen sie die Ihren nicht länger verteidigen konnte.

Ein Dutzend Zähne, die stattdessen anderen Flügelherren helfen können, mahnte ihre Flügelherrinnen-Stimme sie.

Es machte ihr zu schaffen, dieses Gefühl: Bis vor drei Monden hatte sie noch nie einen Phönix-Zahn in Händen gehalten und jetzt konnte sie sich kaum von ihnen trennen.

Nichtsdestotrotz ließ sie die Zähne in die Hand der toten Göttin fallen. Die Kleine Zeugin schloss die Faust.

Dann blickte sie Stur in die Augen, plötzlich bitterernst. »Ich kann dir deine Geschichte nicht erzählen, kleine Göttin. Ein Leben ums andere hast du versagt, und es war stets am schlimmsten, wenn ich dir gesagt habe, wonach du suchen sollst. Genau darum braucht die Korona eine Krähe, um deinen Part zu spielen, verstehst du? Dein Geburtsrecht, dein Eid, das sind Wahrheiten, die niemand dir geben kann. Du musst sie selbst finden.«

»Und was ist mit Rhusana?«, fragte Stur verärgert. »Kannst du mir wenigstens zu ihr etwas sagen? Oder soll ich mich auf eine Selbstfindungsreise begeben, während sie uns ins Grab bringt?«

Die Kleine Zeugin begann, die Zähne ordentlich aufzutürmen. »Nur so viel: Sie nährt ein Monster, das jeden Tag größer wird, und jeden Tag macht sie sich vor, dass sie seine Zähne beherrscht. Sie wird Sabor in den Untergang treiben, wenn du sie nicht daran hinderst. Aber wenn du dein Grab suchst, so findest du es im Palast.«

Stur funkelte sie wütend an. Sie hatte keine Geduld mehr für Rätsel. »Ich hatte mehr auf etwas wie ›So sieht der Plan aus, mit dem sie die Krähen töten will‹ gehofft.«

»Das weißt du bereits.« Die Kleine Zeugin legte den Kopf schief. »Unten wartet ein junger Mann auf dich. Er ist keine Krähe.«

Da platzte die bisher schlimmste Frage aus Stur heraus, ehe sie etwas dagegen tun konnte. »Bin ich denn eine?«

Die Kleine Zeugin blinzelte. »Was solltest du denn sonst sein?«

»Ich habe anderthalb Monde damit verbracht, anderthalb als Krähen verkleidete Prinzen durch Sabor zu schmuggeln«, erwiderte Stur. »Sie haben unsere Kleider getragen, unser Essen gegessen und sind unseren Wegen gefolgt, aber das hat sie noch lange nicht zu Krähen gemacht. Bin ich anders?«

»Ja.« Die Kleine Zeugin stand auf und klopfte sich den Staub von den Kleidern. »Wir sind tote Götter. Und du, du gehst, wohin man dich ruft. Und jetzt komm, der junge Mann muss mit dir reden.«