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Die Schatten der Vergangenheit lasten noch immer auf der Familie Rising. Davina, die schüchterne Tochter von April, versteht die Welt nicht mehr, als ihr Verlobter sie ohne ein Wort des Abschieds verlässt. Victor, Mays künstlerisch begabter Sohn, zieht in den Krieg, ohne jemals zuvor eine Waffe in der Hand gehabt zu haben. Und auch Albert, der Sohn von March, versucht beim Militär die schockierenden Geheimnisse seiner Familie zu vergessen. Werden alle den Krieg heil überstehen und trotz der Verwicklungen ihr Glück finden?
Die bewegende Geschichte der Familie Rising - eine Familiensaga voller Träume, Mut und Hoffnung, aber auch voller Schicksalsschläge:
Band 1: Die Kinder des Morgentaus
Band 2: Von der Sonne geküsst
Band 3: Der Duft der Herbstzeitlosen
Band 4: Knospen im Schnee
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Seitenzahl: 641
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Impressum
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Die Schatten der Vergangenheit lasten noch immer auf der Familie Rising. Davina, die schüchterne Tochter von April, versteht die Welt nicht mehr, als ihr Verlobter sie ohne ein Wort des Abschieds verlässt. Victor, Mays künstlerisch begabter Sohn, zieht in den Krieg, ohne jemals zuvor eine Waffe in der Hand gehabt zu haben. Und auch Albert, der Sohn von March, versucht beim Militär die schockierenden Geheimnisse seiner Familie zu vergessen. Werden alle den Krieg heil überstehen und trotz der Verwicklungen ihr Glück finden?
Die bewegende Geschichte der Familie Rising – eine Familiensaga voller Träume, Mut und Hoffnung, aber auch voller Schicksalsschläge:
Band 1: Die Kinder des Morgentaus
Band 2: Von der Sonne geküsst
Band 3: Der Duft der Herbstzeitlosen
Band 4: Knospen im Schnee
Susan Sallis
Knospen im Schnee
Aus dem Englischen von Sandra Leibrich
Es war der erste richtige Alarm, seit der Krieg erklärt worden war. Die drei Frauen trommelten hastig die Kinder zusammen, packten Thermoskannen, Gasmasken, Fläschchen fürs Baby und Taschenlampen zusammen. Sie hätten den Ablauf kennen müssen; es hatte in den vergangenen Wochen genügend Luftschutzübungen gegeben. Dabei hatten sie die Kinder damit bei Laune gehalten, ihnen vorzumachen, wie sie mit erhobenen Fäusten dem pulsierenden Nachthimmel entgegenstehen und sich dem alten Hitler und seinem schlimmsten Grauen widersetzen sollten. Doch der Ernstfall raubte ihnen fast den Verstand. Von Gegenwehr konnte kaum die Rede sein. Sie glichen vielmehr einer Gänseschar, die schnurstracks auf einen Teich zulief und schließlich eine nach der anderen hineinfielen.
Es herrschten raue Kriegszeiten. Sie hatten sich in dem großen Haus in Bedford Close zusammengefunden, während ihre Ehemänner bei einer Versammlung waren, um Maßnahmen der Feuerbekämpfung zu besprechen. Es war fast wie in alten Zeiten; sie waren wieder die drei Rising-Mädchen, im ganzen Ort von jeher als Schönheiten – mit dem gewissen Extra – bekannt. Der Krieg war grausam, und zwei ihrer Kinder steckten bis zum Hals mittendrin. Und dennoch, es war eine Katastrophe, die sie teilen konnten; die sie verband; die ihnen etwas gab, was nichts mit der Familie zu tun hatte ... etwas Rechtmäßiges ... etwas, was sie gemeinsam fürchten und wogegen sie gemeinsam ankämpfen konnten. Die Ereignisse, die sie in der Vergangenheit gespalten hatten, die inneren Dämonen, waren vorübergehend besiegt.
Die Schwestern March, May und April saßen um eines von Marchs lodernden Kaminfeuern – sie hatte in diesen Zeiten immer ein großes Holzfeuer im Kamin brennen, weil es kaum oder gar keine Kohlen zum Heizen gab – und unterhielten sich, als sei dies das Normalste der Welt. Belangloses, unverfängliches Geplauder und teilweise doch von so großer Bedeutung. Ihrer eigenen Hellsichtigkeit sollten sie sich jedoch erst Jahre später bewusst werden.
March Luker, siebenundvierzig und steif wie ein Besenstiel, saß neben ihrer Lieblingsnichte, Davina Daker. May Gould, mit ihrem für ihre sechsundvierzig noch verdächtig golden schimmerndem Haar und ihrer leicht rundlichen Figur, stillte ihr zweites Kind, die achtzehn Monate alte Gretta; das Baby, ein absoluter Nachzügler, wurde achtzehn Jahre nach Mays Sohn Victor geboren. Flora, Aprils zweite Tochter, beugte sich über das Baby und beobachtete fasziniert, wie die winzigen goldenen Wimpern die Pausbäckchen berührten. April selbst, ausgesprochen ausgeglichen und warmherzig, lehnte sich zurück und dachte daran, dass sie vier, falls David rechtzeitig zurückkommen sollte, in die Winterditch Lane zurück radeln und für Tante Sylv die Fensterläden dichtmachen sollten. Tante Sylv, weit über siebzig, wurde zwar mit den schweren Vorhängen in der Küche fertig, doch die Fensterläden, die David aus Dachpappe und Brettern zusammengezimmert hatte, waren ihr zu viel.
Völlig unerwartet sagte March: »Ich habe so ein Gefühl, Albert könnte versuchen, zu deinem vierzehnten Geburtstag nach Hause zu kommen, meine Liebe.« Sie sagte dies zu Davina. Das Mädchen kniete vor ihr auf dem Boden und regte sich nicht, und doch schien sie innerlich in Aufruhr versetzt. Sie schaute ihre Tante mit ihren blauen Augen, die eben noch gedankenverloren ins Feuer gestarrt hatten, durchdringend an. Ihr Hals bewegte sich heftig, als sie schluckte.
»Warum ... was veranlasst dich dazu, das zu glauben ... hast du einen Brief bekommen?«
»Nein.« Näher ging March nicht darauf ein. Und April, die wusste, wie sehr es ihre Schwester verletzte, dass Albert, ihr einziges Kind, starrsinnig nichts von sich hören ließ, sagte mit sanfter Stimme: »Davie, schau dir Gretta an. Sieht sie nicht aus wie ein kleiner Engel?«
Davie blickte gehorsam in Richtung des schlafenden Babys und lächelte. Es freute sie wirklich, dass mit der kleinen Gretta noch ein weiteres helles Kind in der Familie war. Sie und Albert waren beide farblos, im Vergleich zu Victor und Flo mit ihren dunklen Haaren und ihrem lebhaften, intelligenten Wesen. Mit Gretta waren sie jetzt in der Mehrzahl. Gretta war hübsch; und wenn sie hübsch war, dann konnte Davina selbst doch bestimmt nicht so nichtssagend aussehen, wie ihr ihr Spiegelbild beständig einzureden versuchte.
May lachte. Sie war selig, trotz der Siegfried-Front und des alten Hitlers und der Tatsache, dass Victor in dieser verdammten Infanterie war, was verdammt lächerlich war, wo er doch so ein begabter Künstler war. Es war aber auch nicht verwunderlich, dass sie so vollkommen zufrieden und glücklich war. Sie war eine äußerst selbstbewusste Frau. Ja, sie war sich ihrer selbst bewusst; ihrer selbst als reife, hübsche, vollkommene Frau. Geliebt ... nein, vergöttert ... von ihrem attraktiven Mann, Monty. Sie war Mutter, war triumphierend mit vierundvierzig zum zweiten Mal Mutter geworden und hatte einen begabten, gut aussehenden Sohn, der sie aus der Ferne bewunderte und verehrte.
Sie gluckste: »Meine Lieben, ist euch eigentlich bewusst, dass sich unsere Geschichte in unseren Töchtern fortsetzt? Wir, als die drei Rising-Mädchen. Jetzt gibt es drei weitere. Davie, Flo und Gretta.« Sie legte ihren freien Arm um ihre neunjährige Nichte. »Meine liebe Flo, ist es dir recht, in unsere Fußstapfen zu treten? Wir hatten eine schöne Jugend und viel Spaß miteinander, weißt du?«
April lächelte ebenfalls, sagte aber schnell: »Geschichte wiederholt sich niemals. Nicht wirklich. Ähnlichkeiten vielleicht –«
Flora meinte: »Der Krieg. Ihr habt den »Großen Krieg« erlebt, Mummy. Als ihr kleine Mädchen wart.«
March lachte. »Ich war zweiundzwanzig, als dieses kleine Drama passiert ist. Ich kann mich erinnern, wie Pa uns Mr Asquiths Rede vorgelesen hat.«
»Damals haben wir Belgien befreit«, sagte May. »Jetzt befreien wir Polen. Es gibt eine ganze Menge Ähnlichkeiten, April.«
Überraschenderweise nickte March sogar; sie war so selten mit May einer Meinung. Doch dann erinnerte sie sich an ihren Bruder Albert und ihre tiefe, nie vergessene Liebe zu ihm. Kurz nach seinem Tod in Mons war ihr eigener Sohn, Albert Frederick, gezeugt worden. Und sie nährte nun schon seit vielen Jahren die Hoffnung, dass ihre eigene, tote Liebe in ihm und seiner Cousine Davina weiterleben würde. Die Vergangenheit wiederholte sich freilich nicht exakt; die beiden waren Cousin und Cousine, nicht Bruder und Schwester; doch das war nahe genug.
Sie sagte: »Tatsache ist, Davie, als Victor uns einen Brief geschrieben hat, um uns mitzuteilen, dass Albert im Lande stationiert sei, er ihm aber versprochen habe, seinen Aufenthaltsort im Dunkeln zu halten, hat Onkel Fred einige Fäden gezogen und herausgefunden, wo Albert steckt. Er würde mir den Ort nie sagen, doch er wird sich mit ihm treffen und sehen, ob die ganze leidige Angelegenheit jetzt nicht aus der Welt geschafft werden kann.«
Davie sagte nichts. Sie war von den Knien ihrer Tante abgerückt und umklammerte jetzt eng ihre eigenen. April und May lächelten unsicher. Alberts Flucht war jetzt zwei Jahre her. Soviel sie wussten, hatte er Schwierigkeiten mit einem Mädchen in Birmingham gehabt, als er seinen Mechaniker-Lehrgang bei den Austin-Werken absolviert hatte. Er war nach Spanien gegangen, um für die Internationale Brigade zu kämpfen. Als er Kontakt zu Victor aufgenommen hatte, um ihm mitzuteilen, dass er nach England zurückkehren und der Royal Air Force beitreten würde, hatten sie alle erwartet, dass er nach Hause kommen würde. Doch er war nicht nach Hause gekommen.
April sagte zögernd: »Das war gut von Fred. Sehr gut, March.«
March nickte. Sie und Fred hatten ihre Höhen und Tiefen erlebt, doch die vergangenen zwei Jahren hatten sie zusammengeschweißt. Sie sagte in ihrer typischen Knappheit: »Ja.«
Davina wurde munter. »Schau, Tante March. Onkel Fred sollte Albert nicht darum bitten, zu meinem Geburtstag nach Hause zu kommen. Ich meine, das klingt so – ich meine –, ich will nicht, dass Albert dass Gefühl hat, irgendetwas tun zu müssen, was vielleicht ... was vielleicht ...«
March verstand nur zu gut. Sie beugte sich vor und schlang ihre langen Arme um die zierlichen Schultern des Mädchens.
»Das würde er nicht tun, mein Schatz. Glaube mir. Aber wenn er Albert von all den Neuigkeiten in der Familie erzählt ... nun, ich glaube einfach, dass er dann wirklich nach Hause kommen möchte. Und dein Geburtstag wird der ideale Zeitpunkt dafür sein.«
May meinte sentimental: »Wo wir gerade davon sprechen, wie sich die Geschichte selbst wiederholt. Erinnert ihr euch daran, wie unser Albert damals auf Fronturlaub nach Hause kam – das war kurz vor deinem Geburtstag, March –« Und dann hielt sie inne, weil ihr einfiel, dass ihr Bruder dann umgekommen war, nachdem er wieder zurückgegangen war.
April war noch auf der Suche nach einem unterhaltsamen Thema, das sie alle ablenken könnte, als Chattie anklopfte und den Teewagen hereinschob.
»Schon dunkel«, sagte sie. »Und Sie sitzen hier und haben nicht einmal die Fenster verdunkelt!« Sie eilte zu der hohen Terrassentür und begann an den schweren Samtvorhängen zu zerren.
April stand auf und rollte den Teewagen heran.
»Wir hatten aber kein Licht an«, stellte sie klar.
»Das Kaminfeuer da reicht aus, um Hitlers Luftwaffe den Weg zu leuchten.« Chattie marschierte zur Tür zurück und machte das Licht an. Sie schielten und blinzelten alle und May hielt eine schützende Hand über Grettas schlafendes Gesicht.
Als Chattie sie eine nach der anderen musterte, wich ihr vorwurfsvoller Gesichtsausdruck einem Lächeln. Sie war erst seit fünf Jahren bei March und Fred Luker angestellt, doch sie gehörte jetzt zur Familie. Sie hatte mit ihnen gelitten, als Master Albert nach Spanien gegangen war, und sie hatte loyale Tränen geweint, als sich Fred eine Geliebte genommen hatte. Wenn es nach ihr ginge, würde die ganze Familie hier einziehen und das Haus gegen jegliche Angreifer verbarrikadieren.
Sie sagte: »Ich habe ein paar von den verdünnten Eiern in die Scones da getan. Sie sind köstlich, auch wenn ich das von meinem eigenen Backwerk nicht sagen sollte. Und dieser Mann kam mit den Holzscheiten und hat sie ganz sauber und ordentlich an der Garagenwand entlang aufgestapelt. Der wollte sie erst in den Luftschutzbunker bringen – meinte, wir könnten den Raum genauso gut anderweitig benutzen. Aber ich habe ihm gesagt, dass er das lassen soll, weil unsere Mädchen dort gerne Haus spielen.«
»Gute alte Chattie«, sagte Flo.
Und April rügte sie: »Sei nicht frech zu Chattie, Flo.
Und Davie lachte – zu ihrer aller Überraschung.
Es war untypisch, dass Chattie auf eine Erklärung wartete. Als keine kam, lachte sie ebenfalls, wenn auch nur, um Davie Gesellschaft zu leisten. Dann ging sie in die Küche zurück, um dem Hasen, den Mr Luker an jenem Nachmittag von Robinswood Hill mitgebracht hatte, das Fell über die Ohren zu ziehen. March, May und April wussten, warum Davie gelacht hatte, und waren eine jede auf ihre Weise besorgt darüber. March, weil sie ihren Sohn und ihre Nichte endlich vereint sehen wollte und ihre intimsten Hoffnungen niemals Früchte zu tragen schienen. May, weil sie dachte, Albert sei nach Spanien geflohen, um sich einer äußerst schwierigen, intensiven Beziehung mit Davie zu entziehen. Und April ... April betete nur inständig: »Lass nicht zu, dass er ihr noch einmal wehtut. Nicht noch einmal.«
Dann, als die Teekanne über der ersten Tasse schwebte, heulten die Sirenen los.
Zunächst nahmen sie den Alarm gar nicht ernst. Sie fanden die Abendausgabe des Citizen und durchforsteten sie nach der Ankündigung einer Luftschutzübung.
Davie fragte: »Haben wir die Gasmasken zusammen mit unseren Mänteln in Tante Marchs Zimmer liegen lassen?«
May stöhnte leise auf. Sie hatte das monströse Atemgerät, das speziell für Babys konstruiert worden war, auf dem Küchentisch in der Chichester Street liegen lassen.
»Das ist kein richtiger Luftangriff«, winkte April ab. »Das kann gar nicht sein. Die ARP hätte Warnungen über Flugzeuge in der Gegend erhalten, und der Luftschutzwart wäre gekommen und hätte uns Bescheid gesagt. Außerdem wären David, Fred und Monty in diesem Fall umgehend nach Hause gekommen.«
In diesem Moment flog auch schon die Tür auf, und Chattie stand im Raum.
»Der Zahnarzt und seine Frau von gegenüber, Mrs Luker ... sie sind schon in ihren Bunker hinuntergegangen. Und irgendwo droben in der Barnwood Road schlägt jemand eine Rassel.«
»Ach, du lieber Gott«, May schnappte nach Luft. Rasseln waren das Warnsignal für Gasbomben.
»Wir gehen am besten in den Garten hinunter.« Chattie begann damit, Überwürfe von den Sesseln zu ziehen. Davie und April rannten los, um die Mäntel zu holen. Flo hielt das Baby, während March und May in die Küche gingen und die Thermosflaschen holten. Sie schafften es irgendwie den dunklen Pfad hinunter. Weil sie ihre Taschenlampen mit den Händen abdunkelten, nützten sie ihnen kaum etwas. Suchscheinwerfer stachen in den Himmel. Und drüben auf der Hunderennbahn donnerten die ersten Dumdumgeschosse los, und ihre grellen Schweife erhellten den Garten. Auf dem Tennisplatz neben dem Grundstück brannten die Flutlichter: Mit seinem hohen Maschendrahtzaun sah der Platz jetzt aus wie ein Gefängnishof. Wie ein dunkler Schlund lag die Luke des Luftschutzbunkers vor ihnen.
April rief: »Steigt hinunter. Schnell. Schrapnelle.«
Sie stürzten praktisch die Treppen hinunter und in die Liegestühle, die ordentlich entlang der Wände aufgestellt waren. Das Baby schluchzte hysterisch. In den Pausen, wenn es Luft holte, war Mays beruhigendes »Ist ja gut ...« zu hören. April und March ertasteten sich im Dunkeln den Weg zur gegenüberliegenden Wand. Chattie zündete die Sturmlaternen an; sie verteilten Decken, Mäntel und Gasmasken. Als Gretta vom Schluchzen Schluckauf bekam, wurde aus ihrem Weinen ein Quengeln.
»Solange diese verdammten Geschosse nicht wieder losgehen, wird sie sich beruhigen«, sagte May mit einer eigenartigen Singsang-Stimme, die wahrscheinlich beruhigend hatte klingen sollen. »Mein Gott, das hat gereicht, um bei uns allen einen Herzstillstand zu verursachen.«
March sagte: »Schau May, falls es tatsächlich Gasalarm geben sollte, dann habe ich noch ein übriges Atemgerät – Fred hat seines nicht mitgenommen.«
»Schwesterherz, Babys haben eine großartige Veranlagung. Sie können sich in sich selbst zurückziehen.«
»Ich weiß. Aber falls es zum Schlimmsten kommt –«
Flo sagte mit zitternder Stimme: »Chattie hatte recht. Wir haben den deutschen Flugzeugen den Weg direkt nach Gloucester geleuchtet. Das ist alles unsere Schuld.«
»Wir haben nichts dergleichen getan.« April versuchte so zu tun, als habe Flo einen Scherz gemacht. »Ist euch etwas aufgefallen? Oder besser, nicht aufgefallen?«
»O Mummy. Soll das wieder eines von deinen Rätseln sein?«
»Da sind keine Flugzeuge. Weißt du noch, wie Daddy uns das Geräusch beschrieben hat, das deutsche Flugzeuge machen? Nun, da waren keine solchen Geräusche. Eigentlich war außer unseren eigenen Stimmen überhaupt nichts zu hören, seit die Geschosse losgegangen sind!«
»Wir haben sie alle vom Himmel geschossen!«, triumphierte Flora.
Gretta wachte aus ihrem Tiefschlaf auf, in den sie sich geheult hatte, und gluckste ihre Cousine an. May lachte, küsste das winzige Ohr und drückte das Baby in einem Anflug unerschöpflicher Liebe an sich.
»Vielleicht war es letzten Endes doch nur eine Übung.«
March sagte: »Wenn es tatsächlich nur eine Übung war, werde ich dem Bürgermeister schreiben. Wir hätten hinfallen und uns etwas brechen können. Oder einen Herzstillstand erleiden, wie du gesagt hast, May!«
»Lasst uns den alten Adolf an seiner eigenen Siegfried-Front aufhängen ...«, trällerte May und wiegte Gretta dazu im Takt. Herzstillstände und Atemgeräte waren in der plötzlichen Euphorie vergessen. Es war, als seien sie selbst in die Schlacht gezogen und hätten gesiegt.
Flora stimmte in den Refrain ein. »Seht, wie er baumelt, und hört, wie er sein kleines Lied singt.«
Sie sangen jetzt alle mit heiseren Stimmen: »Oh, lasst uns den alten Adolf an seiner Siegfried-Front aufhängen ...«
Und von der Luke her antwortete Montys unverkennbarer Tenor: »Und hört euch nur diese Schnulze an.« Und Fred rief: »Was ist da los? Feiert ihr Mädels da unten eine Party?« Und David – April war so dankbar, dass David bei ihnen war – lachte nur und lachte.
Gestützt und geführt von den Männern krabbelten sie aus dem Bunker. Und als sie den Gartenweg entlangstolperten, erloschen die Suchscheinwerfer, und das Entwarnungssignal heulte mit seinem konstanten Ton über die Dächer des aufgeschreckten Gloucesters.
*
Sie hatten im Schreck weder die Hintertür geschlossen noch den Ofenschirm vor das Kaminfeuer gestellt.
»Wenn die Einbrecher erst einmal schnallen, wie das abläuft, werden sie ihren Gefallen am Luftalarm finden«, brummte Fred verdrossen und beugte sich über das Feuer, um es anzufachen und Holz für die schlotternden Frauen nachzulegen.
Chattie jammerte: »Alles meine Schuld, Mr Luker. Dieser Schrecken hat mir einfach den Verstand geraubt.«
»Er hat uns allen den Verstand geraubt. Koch uns eine Kanne Tee und schmier uns noch ein paar Scones, sei so gut.« March, die Fred vor zwei Jahren vielleicht noch angeschnauzt hätte, ging hinter seinem Rücken vorbei und berührte sachte seinen Kopf. Sein strohblondes Haar war dünn geworden und vereinzelt schon weiß. Und es fühlte sich feucht an.
»Wo ist deine Mütze?«, fragte sie ihn in ihrem alten, harten Ton. »Ich habe dir gesagt, du sollst bei diesem Sauwetter nicht ohne Mütze rausgehen!«
Und er, der ihrem Groll früher vielleicht mit eiserner Gleichgültigkeit begegnet wäre, griff nach ihrer Hand, zog sich daran hoch und hielt sie für einen Moment dicht an seiner Seite.
»Sie haben Stahlhelme ausgeteilt«, sagte er grinsend. »Aber die sind auf dem Nachhauseweg heruntergefallen, also haben wir sie eben unterm Arm getragen.«
Monty holte den seinen hervor und stülpte ihn über seine öligen Haare. »Mr Chamberlain sagte mir, ich müsste in die ARP eintreten, wenn ich meinen Stahlhelm umsonst haben wollte.« Er schnappte das Baby und marschierte mit ihm um den Flügel, auf dem ein Bild von Max Miller stand. Flora lachte aus vollem Herzen, und selbst Davie genehmigte sich ein Lächeln.
»Dummkopf«, bemerkte May liebevoll.
David erklärte ihnen alles.
»Die Versammlung fand oben in Northgate statt, wo das Überwachungskorps sein HQ hat. Und so kam es, dass wir von der streunenden Heinkel erfahren haben, bevor die Sirenen losgingen. Alle, die Familie haben, haben sich umgehend auf den Rückweg gemacht. Wir waren oben unterm Dach, als die Sirene losheulte.«
April sagte nichts; die Männer mussten den ganzen Weg gerannt sein, und in Davids Oberschenkel steckten noch Schrapnelle von 1916. Davie stand auf und setzte sich zu ihrem Vater auf die Armlehne.
»Was ist also passiert? Wird es eine neue Versammlung geben?« March öffnete Chattie die Tür und nahm ihr den Teewagen ab. Das Geklapper der Teetassen, die schrägen Töne, die Gretta auf den Tasten den Flügels anschlug, und das leise Knistern der Holzscheite im Kaminfeuer waren wie ein Orchester, das aufspielte.
Fred grinste. »Ich glaube nicht. Es war zwar ein rechtes Durcheinander, aber wir haben doch ein ordentliches Übungsprogramm für Feuerwachen und Löschtrupps auf die Beine stellen können. Es wird wohl so aussehen, dass jede Straße ihren Feuerwart hat. Und dieser Feuerwart ist dafür verantwortlich, dass alle Fenster ordentlich verdunkelt und die Leute sicher in den Bunkern und ausreichend mit Gasmasken versorgt sind. Während der Dunkelheit müssen immer zwei Feuerwachen im Dienst sein.«
»Mein Gott«, sagte March matt; sie hatte schon befürchtet, dass sie Feuerwache schieben müsste.
»Du musst ja nicht die ganze Nacht Wache halten, Marcie«, beruhigte Fred sie. »Nur, wenn es Alarm gibt. Ich habe einen Stahlhelm für dich mitgebracht.« Er grinste wieder. »Ich wette, der steht dir auch nicht schlecht.«
Zwischen Tee und Scones probierten sie der Reihe nach die Stahlhelme auf. Chattie, die rein- und raushuschte, die Teekanne nachfüllte, noch mehr Scones buk und dafür sorgte, dass niemand verhungerte, verkündete, Flora und Davie könnten mit ihren Gesangskünsten einen Saal füllen. Die beiden Mädchen fingen gleich an, begeistert Pläne für ein Weihnachtskonzert zu schmieden, dass sie zu Gunsten des »Spitfire Fonds« geben könnten.
Schließlich sagte April: »Ich glaube, wir sollten uns jetzt auf den Heimweg machen, meine Lieben. Tante Sylv ist bestimmt schon ganz krank vor Sorge.«
Sie packten sich wieder in ihre Mäntel und Schals, gingen nach draußen und warfen ihre abgedunkelten Fahrradlampen an. Davie blieb kurz im Wohnzimmer zurück, um einen Augenblick mit Fred alleine zu sein.
»Onkel Fred ...«
Er schaute sie mit diesem besonderen Blick an, mit dem er sie manchmal anschaute und der sie stets misstrauisch machte. Albie hatte seinen Stiefvater immer gehasst, und das allein war für Davie Grund genug, ihm mit Vorsicht zu begegnen.
»Onkel Fred, Tante March sagt, dass du dich bald mit Albert treffen wirst.«
Sie versuchte seine kühlen, grauen Augen zu treffen und war überrascht, als er ihrem Blick zuerst auswich. Der kleine Nerv, der manchmal über seinem Wangenknochen zuckte, war nicht zu übersehen.
Er sagte barsch: »Ich habe es in Erwägung gezogen.«
Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Ich habe mich gefragt ... ob du ihm eine Nachricht von mir übergeben könntest?«
Er stand auf, lehnte sich gegen den Kaminsims und starrte ins Feuer.
»Ich werde ihm natürlich Nachrichten von uns allen überbringen. Ich werde ihm erzählen, welch gute Fortschritte du mit deinem Gesangsunterricht machst und wie stolz wir auf dich sind.«
Fred sagte ihr oft, dass die ganze Familie stolz auf sie sei. Das freute sie natürlich; ihr Gesangstalent glich ihre Unansehlichkeit ein wenig aus. Doch das war es nicht, was sie Albert mitteilen wollte.
Sie sagte: »Ich meinte ... würdest du ihn bitte fragen, ob er mir schreibt, Onkel Fred?«
»Ich glaube nicht ... ich bin mir sicher, er hätte dir längst geschrieben, wenn er das für richtig gehalten hätte.«
Sie betrachtete seine Jacke von hinten; auf die Ellbogen waren Lederflicken genäht, und der Saum hatte links und rechts Schlitze, was ihr ein sehr modisches Aussehen verlieh. Onkel Fred war reich und einflussreich und konnte beinahe alles erreichen. Außer Albert nach Hause zurückzubringen.
Sie war von sich selbst überrascht, als sie sich plötzlich fragen hörte: »Warst du froh, als er nach Spanien ausgerissen ist, um Onkel Tolly zu finden?«
Er erstarrte regelrecht und zögerte mit einer Antwort. Dann sagte er erschöpft: »Nein. Nein ich war nicht froh, Davie.«
»Du hättest ihn zurückholen können. Du hättest nach Spanien gehen und ihn finden und nach Hause bringen können.«
»Dort herrschte Krieg, mein Schatz.«
»Ja. Aber Tolly ist auch nach Spanien gegangen. Und Albert ist nach Spanien gegangen. Du hättest leicht auch gehen können, wenn du gewollt hättest.«
Es herrschte kurz Stille; er stützte den Kopf auf den Arm, als sei er zu schwer, ihn zu halten.
»Ich hätte gehen können, gewiss. Nur, er wäre nicht mit mir zurückgekommen.«
Ihre Zweifel verhärteten sich, wurden zu Argwohn.
»Hast du ihn fortgeschickt? Hast du ihm gesagt, er solle mir nie wieder schreiben? Mich nie wiedersehen?«
Sie konnte nicht glauben, dass er das getan hätte; und selbst wenn er es versucht hätte, dann hätte sie nicht glauben können, dass Albert auf ihn gehört hätte. Als er allerdings immer noch schwieg, wurde aus diesem Gedanken eine erschreckende Möglichkeit.
»Hast du das wirklich getan?«, fragte sie noch einmal, diesmal eindringlicher.
Er sagte: »Ich habe ihm nicht gesagt, er solle nach Spanien gehen, meine Liebe. Ich hatte keine Ahnung ... weißt du nicht mehr, wie ich ganz London nach ihm durchkämmt habe? Das ist erst zwei Jahre her, Davie. Weißt du das nicht mehr?«
»Aber irgendetwas muss doch passiert sein. Etwas wirklich Schreckliches.«
»Ich dachte, Victor hätte es dir erklärt. Albert hat Victor geschrieben, und so, wie ich verstanden habe –«
»Aber das war vor zwei Jahren!«
Sie erinnerte sich an Victors Worte, an diesen schrecklichen Tag im Bluebell-Wald, als er ihr erzählt hatte, dass Albert ihm einen Brief geschrieben hatte. »Davie, liebste Davie, er wird nicht zu dir zurückkommen. Es tut mir leid, so sehr leid. Aber er wird nicht zu dir zurückkommen.« Sie hatte ihm nicht geglaubt; nicht mit ihrem ganzen Ich. Nur mit ihrem Verstand.
»Das ist zwei Jahre her«, wiederholte sie. »Ich weiß, dass es da ein anderes Mädchen gab.« Sie holte tief Luft und ballte die Hände zu Fäusten, bis sich ihre Fingernägel in die Handflächen bohrten. »Ich ... ich vermute, sie war schwanger. Das ist es, was passiert ist, habe ich recht? Das ist schrecklich, das weiß ich. Aber es macht mir nichts aus!« Ihre Scham schnürte ihr fast die Luft ab; niemand sprach über solche Dinge. Aber sie musste es glasklar machen, dass, was immer Albert getan haben mochte, es keinen Unterschied für sie machte.
Fred schien ebenfalls verlegen zu sein. Er versuchte vernünftig zu klingen. »Hör zu, Davie. Sei doch bitte etwas vernünftig. Wir lieben dich sehr, und als das damals passierte, mussten wir mit ansehen, wie sehr verletzt du warst. Und das war nicht leicht. Aber inzwischen ist Zeit verstrichen, und du interessierst dich für deinen Gesang und ... bitte, lass die Dinge so, wie sie sind, meine Liebe. Wenn Albert gewollt hätte ... glaubst du nicht ... hätte er es dich nicht wissen lassen?«
Sie klammerte sich an ihren physischen Mut, bohrte ihre Fingernägel tiefer und tiefer in ihre Handflächen. Sie war nie fähig gewesen, ihre Gefühle auszudrücken, außer gegenüber Victor an diesem Tag im Wald. Wenn sie jemals ehrlich sein konnte, dann jetzt.
»Du meinst, er hatte die Nase voll von seiner kleinen, verliebten Cousine? Die ihm nachgelaufen ist wie ein Dackel? Du meinst, er wollte nicht, dass es wieder so weit kam?«
»Nicht ganz so ...« Er drehte sich um und streckte seinen Arm aus. Sein Gesicht zuckte gequält.
Sie wich zurück. »Nein. Du verstehst überhaupt nichts.« Sie schnappte ihre Gasmaske und schwang sie sich über den Kopf und einen Arm. Es war egal, wie ehrlich sie war, niemand würde sie jemals verstehen können. »Es war nicht so. Ich war seine Schwester, und er war mein Bruder. Er hätte mir alles erzählen können.«
Fred ließ den Arm sinken.
»Was meinst du damit?« Er stellte sich dumm.
»Das spielt keine Rolle«, winkte sie ab. »Es ist nicht gut, darüber zu reden. Sag ihm nur, dass ich ihn nicht belästigen werde. Aber, was immer er getan hat, er kann es mir sagen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das weiß er ohnehin.«
Sie lief aus dem Wohnzimmer, den dunklen Gang entlang. David war zurückgekommen, um nach ihr zu sehen.
»Komm, kleiner Apfel.« Er hielt ihr seine Hand hin, und sie nahm sie und drückte sie ganz fest. Vielleicht hatte sie Unrecht, als sie dachte, niemand würde sie verstehen. Ihr Vater und sie sprachen nie über Albert, aber manchmal glaubte sie, er würde alles verstehen. Alles auf der ganzen Welt.
Sie sagte: »Daddy, ich wünschte, du würdest mich nicht kleiner Apfel nennen. Ich bin jetzt schon fünf Fuß zwei groß, und ich werde einmal riesig sein!«
Er zog scherzhaft die Augenbrauen hoch.
»Tut mir leid, Liebling. Aber weißt du, du bist einfach zum Anbeißen!« Und sie radelten lachend durch die Nacht.
*
Als March schlotternd ins warme Wohnzimmer zurückkam, fand sie Fred gedankenverloren ins Feuer starrend, mit einem Gesichtsausdruck, der ihr Angst einjagte. Sie kniete sich neben seinen Sessel und nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände.
»Wollen wir heute früh schlafen gehen, Freddie?«, fragte sie sanft und küsste seine Nase und Augenlider.
»Du Vampir«, versuchte er auf sie einzugehen. Doch dann sagte er: »Ich wünschte, du hättest Davie nicht erzählt, dass ich Albert treffen werde. Es hat wieder Hoffnungen in ihr geweckt.«
March stand auf und nahm eine Zigarette aus der Packung auf dem Kaminsims. Dies war in diesen Zeiten beinahe das einzige Thema zwischen ihnen beiden, über das sie noch immer unterschiedlicher Ansicht waren.
»Und warum nicht? All dieser Zorn vor zwei Jahren ... er sollte inzwischen darüber hinweg sein. Ich sehe wirklich keinen Grund, warum die beiden nicht – endlich – zusammenfinden könnten. Sie sind wie füreinander geschaffen.«
Er schloss die Augen. »Marcie. Als ich Albert gesagt habe, dass ich sein Vater bin, habe ich ihm etwas Schlimmes angetan.«
Sie weigerte sich, daran zurückzudenken, es sich vorzustellen. Es war ein Teil ihres Lebens gewesen, von dem sie sich für immer losgerissen hatte; Freds Aufbruch nach Frankreich, ihre Schwangerschaft und dann die hastige Heirat mit ihrem so viel älteren Onkel. Die Vorstellung, dass ihr geliebter Albert Frederick jetzt die Wahrheit kannte, war schrecklich, Angst einflößend. Sie hatte akzeptiert, dass dies für immer einen Keil zwischen sie getrieben hatte. Doch Davie könnte die Wunden heilen. Davie könnte beinahe alles wieder gutmachen.
Sie lachte leise auf. »Offensichtlich. Er konnte uns nicht mehr ins Gesicht sehen. Er ist fortgegangen und nie wieder zurückgekommen.« Sie atmete schwer ein. »Ja, wir haben ihm offensichtlich etwas Schlimmes angetan. Das ist mir durchaus aufgefallen.«
Er kniff die Augen fest zusammen, als würde er einen plötzlichen Schmerz verspüren. Doch seine Stimme war völlig ruhig, als er zu sprechen begann.
»Mehr als das, Liebling. Es hat ihn ... um seine Ehe gebracht.«
Sie blickte durch den Rauch ihrer Zigarette auf ihn hinunter und wünschte sich zum millionsten Mal, er hätte Albert nicht die Wahrheit gesagt. Dann beugte sie sich hinunter und küsste ihn wieder.
»Ich weiß, was du meinst, Freddie. Ich weiß. Du meinst Sex. Und insbesondere Sex mit jemandem wie Davie, so unschuldig und süß.« Sie strich ihm über die Wange und spürte das leichte Zucken unter ihren Fingerspitzen. Es schien, als wollte sie es glattstreichen. »Liebling, glaubst du nicht, dass – von allen Menschen auf der Welt – gerade ich das verstehe?«
Er erlaubte sich ein Lächeln. So viele Jahre ihrer Ehe waren frigide gewesen. Dass March dies nun zugeben konnte, dass sie so frei darüber sprechen konnte, war wundervoll. Er schob seine Hand unter ihr Kinn und hielt ihren Mund lange an seine Lippen.
Als Chattie zehn Minuten später an die Tür klopfte, um den Teewagen zu holen, fand sie die beiden auf dem Kaminvorleger und kehrte hastig wieder um, ihr Gesicht puterrot, aber lächelnd. Sie hatte gedacht – und das war noch gar nicht lange her –, die beiden könnten es nie wieder ertragen, einander zu berühren.
Fred flüsterte: »Das war Chattie.«
»O Liebster, wirklich? Sollen wir aufhören?«
»Wir können nicht mehr aufhören, nicht wahr?«
»Nein.«
Doch hinterher sagte er: »Marcie, mein Liebling. Kannst du mir verzeihen?«
Sie fragte schläfrig: »Warum fragst du mich das immer und immer wieder, Freddie? Du weißt, dass ich dir schon vor langer Zeit vergeben habe. Du weißt, dass zwischen uns beiden jetzt alles in Ordnung ist.«
Doch Freddie hatte ebenso vor langer Zeit akzeptiert, dass es so etwas wie Sicherheit nicht gab. Er ließ seine Hosenträger schnalzen, knöpfte sich die Hose zu und rief durch die geschlossene Tür nach Chattie. Und als sie mit immer noch geröteten Wangen hereinspaziert kam und verschämt ihren Blick von March abwandte, die sich halb entblößt auf dem Kaminvorleger räkelte, dachte er plötzlich an Albert und empfand tiefe Erleichterung. Albert hasste ihn, hasste ihn um seiner selbst willen und dafür, dass er sein Vater war. Doch Albert kannte die ganze Wahrheit. Er würde mit Albert reden können, ihn verletzen, aber auch Schmerz nehmen können. Aber alles würde mit vollkommener Ehrlichkeit ablaufen.
Albert Tomms schaute sich in der Kantine um. Er musterte seine Kameraden, alle Piloten wie er. Er dachte bei sich, wenn er etwas zum Lachen bräuchte, hätte er hier die beste Gelegenheit dazu.
Auf dem Stützpunkt waren hauptsächlich Saisonflieger stationiert. Mindestens zwei von ihnen waren Dozenten von der Navigationsschule in Prestwick, andere waren Zivilpiloten mit vielen Stunden Flugerfahrung; doch sie waren alle vollkommen unschuldig. Albert war kurz nach dem Münchner Pakt im vergangenen Jahr nach England zurückgekehrt und hatte seinen begehrten Pilotenschein bekommen, gerade bevor Hitler nach Polen einmarschiert war. Doch von allen Männern hier wusste er allein, worauf er sich eingelassen hatte. Seine Erinnerungen daran, wie die Faschisten-Staffel – die Kondore – mitten aus der grellen Sonne auf ihn zugeschossen gekommen war, waren noch sehr lebendig. Er hatte zerbombte Städte gesehen und war in Ruinen gestiegen, um Leichen ans Tageslicht zu schaffen. Er hatte Angst. Man merkte es ihm nicht an; unter den versammelten Männern schien er derjenige zu sein, der am wenigsten nervös, derjenige, der am normalsten war; dass er keinen Spaß mitmachte ebenso wie sein ruhiger, abschätzender Blick ließen ihn überheblich erscheinen und täuschten über seine Angst hinweg.
Jack Doswell, frisch von den Hilfstruppen der Air Force abkommandiert, sagte zu ihm: »Tomms, altes Haus, hast du schon gehört, dass Bussie Mayhew nach der Patrouille heute mit seiner Spit eine Bruchlandung hingelegt hat? Das war zum Totlachen. Sie haben eine Heinkel erspäht, die über dem Konvoi herumlungerte. Drei von uns haben die Verfolgung aufgenommen. Bussies Spit war mit Kanonen ausgestattet, er hat sie natürlich erwischt. Wir sind der Heinkel dann ins Landesinnere gefolgt, und als sie notlanden musste, ist Bussie nach ihr runter. Das Nächste, was wir gehört haben, war, dass er sich überschlagen hat und die Jerrys ihn rausziehen mussten. Das war das Komischste, was ich erlebt habe, seit der Krieg ausgebrochen ist!«
Albert schaute ihm direkt in die Augen und zuckte mit den Schultern. »Mag sein. Aber das war die einzige Spit mit Kanonen, die wir hatten.«
Damit war die Unterhaltung beendet. Albert hatte festgestellt, dass eine ganze Menge Unterhaltungen einen ähnlichen Tod starben. Er war im selben Alter wie seine Fliegerkameraden. Doch er war ihnen aufgrund seiner Flugerfahrung weit voraus. Er war der einzige Gast mit klarem Kopf auf einer wilden Party.
Er schaute sich noch einmal in der Kantine um, betrachtete nüchtern die Gesichter seiner Kameraden, die begierig auf das Abenteuer Krieg zu sein schienen. Er hörte sich das derbe Gelächter an und dachte, an wen er ständig dachte – an Davina Daker; dann an Davinas Mutter, seine Tante, die er einmal so sehr verehrt hatte und die Onkel David so herzlos betrogen hatte; dann an Bridget Hall, Onkel Tollys Frau, die Tolly das Gleiche angetan hatte; und schließlich an seine eigene Mutter, March Luker, die ihren sehr viel älteren Ehemann Edwin Tomms betrogen hatte. Manchmal glaubte er, er würde alle Frauen hassen. Jede einzelne. Mit Ausnahme von Davina. Sie war unschuldig. Und sie war – wie er selbst auch – ein Opfer der anderen.
»Hey, Tomms, altes Haus.« Es war wieder Jack Doswell. Jack hatte von dem Moment an, als sie am 30. August hier eingetroffen waren, versucht, sich an Alberts Fersen zu heften. »Wo immer du auch mit deinen Gedanken gerade bist, komm zurück! Tarragona, hab ich recht?« Es hatte also bereits die Runde gemacht, dass er bei der Comintern Brigade gewesen war. Er fixierte Jack mit seinem kühlen blassblauen Blick und fragte sich, was der Junge wohl sagen würde, wenn er nur wüsste, was das bedeutete. »Junge?« Jack Doswell war in der Hilfstruppe der Air Force, seit er 1934 aus der Schule gekommen war. Es war wirklich zum Lachen.
Er sprang über seinen eigenen Schatten und sagte munter: »Nicht ganz so weit wie Tarragona. In Wahrheit habe ich an Gloucester gedacht. Mein Zuhause.« Er brachte sogar ein Grinsen zustande. »Erster Verteidigungsstützpunkt der Severnen, weißt du das nicht?«
Jack erwiderte sein Grinsen dankbar. »Ist doch ein alter Hut. Ich kann mich noch an diese verstaubten Schulstunden erinnern –« er fuchtelte sich mit der Hand vorm Gesicht herum –, »das Domesday-Buch ist dort entstanden. Aber ansonsten ist dann nicht mehr viel passiert.«
»Ach, was weißt du denn schon, Junge.«
Es war wirklich nicht schwer. Albert wunderte sich, wie um alles in der Welt er nur diesen Kniff vergessen haben konnte, bedeutungslose und doch schlagfertige Antworten zu geben; beigebracht hatte ihm das letzten Endes ein Meister in dieser Hinsicht. Ja, sein Cousin Victor konnte diese Möchtegern-Männer-von-Welt spielend in den Schatten stellen.
Jacks Grinsen reichte von einem Ohr zum andern, als er diese überraschende Antwort seines Helden vernahm.
»Nun, wenn es dir nichts ausmacht, Alter, werde ich dir jetzt nicht gerade auf den Schoß klettern. Aber –« er ging auf die Knie und breitete flügelartig à la Jolson die Arme aus »– nicht direkt vom Himmel, lieber alter Dad, jedoch nah’ genug für dich –« Er gab auf und sprang auf die Füße, um seine Uniformhose auszuklopfen. »Mit anderen Worten, du hast Besuch. Dem Akzent nach aus Gloucester, würde ich sagen.«
»Was?« Albert sprang jetzt ebenfalls auf, überzeugt, es sei Victor. Dass er gerade erst noch an seinen Cousin gedacht hatte, war typisch für die Telepathie zwischen ihnen. »Das ist ja unglaublich – wo ist er?«
Jack hielt inne, er traute kaum seinen Augen und Ohren. Seit er Albert Tomms im vergangenen August kennengelernt hatte, bewunderte er diese totale Verschlossenheit, wie sie außer ihm keiner in der Staffel besaß. Trotz seines komischen Namens, seiner mangelnden Schulbildung, seiner absurden Art, mit dem Inneren seines Flugzeugs eins zu werden und noch vielmehr es zu fliegen, hatte Jack instinktiv gewusst, dass Albert Tomms ein Kamerad war, auf den man sich verlassen konnte. Unfähig, sie in Worte zu fassen, spürte Jack doch seine eigene Unwirklichkeit, die Unwirklichkeit aller hier. Keiner von ihnen wusste jemals, was vor sich ging. Wenn sie auf ein »feindliches Objekt« angesetzt wurden, stellte sich in der Regel heraus, dass es sich um ein Fischerboot oder ein Aufklärungsflugzeug handelte. Und als sie dann tatsächlich eine Heinkel ausfindig gemacht hatten, hatte Bussies triumphaler »Beutezug« ein absurdes Ende genommen. Ständig lag dieses Gefühl in der Luft, dieses ganze Kriegs-Debakel könnte sich als Witz herausstellen. Bis man in die Augen von Albert Tomms schaute.
Und jetzt stand Jack vor ihm und sah mit eigenen Augen, wie sein eiserner Kamerad zum Leben erwachte. Er schaute Albert nach, wie er förmlich aus der Kantine stürmte, der Luftzug fegte herumliegende Karten vom Tisch. Jack grinste. Er war froh, dass er selbst derjenige hatte sein dürfen, der Tommy die frohe Botschaft überbrachte, dass ihn ein Besucher erwartete. Vielleicht war es das ja, was dahinter steckte, der arme alte Tommy hatte Heimweh, genau wie alle anderen auch. Nur, dass er ’37 nach Spanien abgehauen war und seitdem offensichtlich niemanden mehr von zu Hause gesehen hatte.
*
Fred hatte eine lange und mit allen möglichen Schwierigkeiten behaftete Zugfahrt hinter sich, bis er Tangmere erreichte. Seinen Wolseley hatte er mit einem Ersatztank auf dem Dach ausgestattet, was bedeutete, dass er nicht schneller als dreißig Meilen pro Stunde fahren konnte. Selbst während der Fahrt konnte Fred jeden Bahnhof sehen, die Holzschilder mit den Namen des jeweiligen Ortes waren sorgfältig verhängt. Also hatte er den Zug genommen. Doch selbst vom Zug aus konnte er jeden Bahnhof sehen, das Ortsschild jeweils verhängt. Und überall hingen Plakate mit der Aufschrift: »Ist Ihre Reise wirklich notwendig?« Es war schon genug, dass die Truppen im Land umhertransportiert werden mussten; wenn die Zivilisten zu weit und zu oft verreisten, war es schwierig, sie zu kontrollieren, sie mit ihren Rationen zu versorgen und sicherzustellen, dass sie keine Spione waren. Und dennoch war das Abteil überfüllt, einige Fahrgäste mussten im Gang stehen. Niemand sprach auch nur ein Wort. Die knappe Botschaft »Mach’s wie Papa, behalt Mama« neben dem Poster mit dem Strandmotiv war völlig überflüssig. Dies war schließlich England. Fred musste beinahe grinsen, als er sich vorstellte, wie ein Deutscher Spion versuchte, in einem englischen Zug etwas auszuspionieren. Armes Schwein.
Um London zu umgehen, stieg Fred in Swindon um und erreichte Salisbury über Westbury, dort wartete er auf den nächsten Zug nach Portsmouth, wo es ihm schließlich gelang, ein Taxi nach Chichester zu ergattern. Der Taxifahrer hatte ihm erzählt, die gesamte Staffel Sechs-null-neun sei in Goodwood einquartiert. Doch als er sich dort erkundigte, sah es ganz danach aus, als würden sich alle in der Kantine auf dem Flugplatzgelände einsatzbereit halten.
Er hatte den »Great Western Railway«-Bahnhof von Gloucester um sieben Uhr morgens verlassen und kam um drei Uhr nachmittags in Tangmere an. Er war hungrig, müde und äußerst beunruhigt. Das letzte Mal, dass er seinen Sohn gesehen hatte, war in einem noblen Restaurant in Birmingham gewesen und zwei Jahre her. In der Zwischenzeit hatten sie beide sehr viel durchgemacht. Der junge Officer, der seine Nachricht entgegennahm, schien ein recht netter Bursche zu sein. Blond wie Albert und auch mit Alberts aufgeweckter, engagierter Wesensart. So waren sie zweifellos alle; noch war der Krieg ein Spiel für sie, und jeden Tag mit Flugzeugen zu tun zu haben, musste eine wahre Freude für sie sein.
Fred rechnete mit einer weiteren Wartezeit, nachdem der junge Mann verschwunden war. Albert würde die Nachricht über einen Besucher sicherlich mit Vorsicht entgegennehmen. Aber er würde es nicht übers Herz bringen, Fred wegzuschicken; schließlich könnte er ja eine Nachricht von Davie mitbringen. Doch er würde sich für das Zusammentreffen mit seinem Vater sicherlich vorbereiten – sozusagen innerlich bewaffnen – müssen. Als also, kaum fünf Minuten nachdem Jack Doswell aus dem engen, bretterverschlagenen Büro neben dem Kontrollturm gelaufen war, die Tür aufflog und Albert hereinstürzte, vergaß Fred seine Erschöpfung und breitete die Arme aus, um diese derart ungeduldige Begrüßung zu erwidern.
Und so schauten die beiden Männer, die sich so ähnlich waren und die ein Geheimnis teilten, das mit Ausnahme weniger vor allen anderen geheim gehalten werden musste, einander ins Gesicht, mit einer Offenheit, die es zulassen würde, den anderen so anzunehmen, wie er war. In dieser Sekunde glaubte Fred recht gehabt zu haben: Albert war immer noch der eifrige, junge Mechaniker von vor zwei Jahren. Doch kaum wurde sich Albert der Situation bewusst, ließ er sichtlich eine Klappe herunter. Seine blauen Augen blitzten eisig, seine Lippen verzogen sich zu einer dünnen Linie, und seine Kieferknochen traten deutlich hervor.
»Ich dachte, es sei Victor«, murrte Albert. Er ignorierte die Hand, die sein Vater ihm hinstreckte, und drehte sich gen Fenster. »Hier sollte eigentlich eine Waaf (Mitglied der Women’s Auxiliary Air Force, d. Ü.) postiert sein.«
Fred spannte jetzt selbst Gesicht und Körper an und sagte: »Sie ist losgegangen, um eine Tasse Tee für mich zu besorgen. Ich war seit dem Morgengrauen unterwegs.«
»Ich habe das Auto gar nicht gesehen.«
»Nein. Mit der Eisenbahn.«
»Ah, verstehe.«
Fred gab sich größte Mühe, sich zu entspannen; begleitet von einem tiefen Seufzer ließ er sich auf einem hölzernen Klappstuhl nieder. »Im Auto hätte ich es in drei oder vier Stunden geschafft. Selbst mit dem Ersatztank auf dem Dach.«
»Ist überhaupt kein Benzin mehr zu bekommen?«
»Nicht, wenn man nicht einen verdammt guten Grund hat.«
»Bin überrascht, dass dir keiner eingefallen ist.«
Nach einer kurzen Stille sagte Fred: »Ich denke, ich hatte einen, meinst du nicht? Aber wer hätte mir schon geglaubt?«
Albert drehte sich um und schaute auf ihn herab; Fred wusste, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen er das nicht hätte tun können. Und es hatte auch Zeiten gegeben, in denen Fred diesem eisigen Blick hatte standhalten können, ohne eine Miene zu verziehen; damals, als Fred noch Herr seines eigenen Gewissens war. Diese Zeiten waren vorbei; genauso, wie er Davinas vorwurfsvollem Blick nicht standhalten konnte, konnte er jetzt auch nicht anders, als sich von Albert abzuwenden.
Der Junge sagte: »Vermutlich niemand. Dass du mich und Davina zeugen konntest, ist schwer zu glauben. Ich ertappe mich immer noch dabei, zu glauben, das Ganze sei eine Art Albtraum.«
Fred verspürte nicht die Erleichterung, die er sich von dieser totalen Ehrlichkeit erhofft hatte. Vielleicht hatte er sich – genau wie March auch – vorgemacht, zwei Jahre würden den ganzen Unterschied zwischen Hass und Vergebung ausmachen.
Er sagte hastig: »Herrgott, wenn ich doch nur manches ändern könnte ... ich habe versucht, dir zu erklären, wie es war. Verdammt nochmal, Albert, jetzt herrschen auch wieder Kriegszeiten, kannst du nicht verstehen, in welcher Lage wir uns damals befunden haben? Deine Mutter hatte gerade ihren Bruder verloren, und glaube mir, sie hat ihn geliebt, wie du jetzt Davie liebst – ja, das hat sie, schau nicht so. Sie hat sich an mich gewandt –«
»Sie hat das Rennen gemacht, nicht wahr?«
Daraufhin ließ Fred den Kopf sinken. Der Albert, den er gekannt hatte, war zu einem derartigen Sarkasmus nicht fähig gewesen. Albert schämte sich möglicherweise selbst, er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Oh, ja. Ja, vermutlich kann ich ... obwohl du sie immer und immer wieder verletzt hast –«
»Ich weiß. O Gott, ich weiß. Damals schien es so, aber die Dinge haben sich zum Guten gewendet, mein Sohn. Ich wollte, dass du es weißt.«
»Nenn mich bitte nicht deinen Sohn. Und erzähl mir nicht von deinem Leben mit meiner Mutter. Bitte. Das interessiert mich schlichtweg nicht.«
Fred hob wieder den Kopf. Er fragte sich, ob er es jetzt wohl wagen könnte, wieder Hoffnung zu schöpfen. Der Sarkasmus war Ausdruck eines plötzlichen Wutausbruchs gewesen. Doch auch wenn Alberts Hass noch immer zwischen ihnen stand, war er jetzt zumindest fähig, sich klar und schlicht auszudrücken, wie er es von ihm gewohnt war. Fred hätte ihn dafür bewundern können: dieses Streben nach Unabhängigkeit – dieser Drang, sich von seinen Eltern, die ihm so lange etwas vorgemacht hatten, loszulösen, war verständlich. Es war vermutlich die einzige Möglichkeit, die der Junge hatte, mit einer solchen Situation überhaupt fertig zu werden. Fred hatte dafür immer Verständnis gehabt. Deshalb hatte er auch nie versucht, Albert zu finden, ihn davon zu überzeugen, wieder nach Hause zu kommen. Nicht einmal um Marchs willen. Und vor allem nicht um Davinas willen.
Ungewohnt demütig sagte er: »Gut, Albert. Ich werde dich nicht mehr Sohn nennen, und ich werde nicht mehr von deiner Mutter und mir sprechen. Aber du musst verstehen, dass ich herausfinden musste, wo du bist, als wir gehört haben, dass du dich in England aufhältst. Und dass ich kommen musste, um dich zu sehen. Wenn ich das nicht getan hätte, wäre deine Mutter verrückt geworden.«
Albert schwieg, offenbar einsichtig. Er rückte den anderen Stuhl von der Schreibmaschine ab und setzte sich rittlings darauf. »Wie hast du herausgefunden, wo ich bin?«
»Ich hatte meine Quellen.«
»Nicht über Victor?«
»Nein.«
»Gut. Es ist schön, jemanden in der Familie zu haben, dem man vertrauen kann.«
Fred hob die Hände. »Bitte, Albert. Wir müssen wissen, wo du dich aufhältst. Wir ... wir sind deine nächsten Verwandten.«
»Du in der Tat.« Das eiskalte Grinsen kehrte in sein Gesicht zurück. Er sah älter aus als seine einundzwanzig Jahre. Er erinnerte Fred an jemanden. Konnte es der erste Albert sein, der 1917 gestorben war?
Fred sagte: »Schau, ich weiß nicht, was dir Victor von zu Hause erzählt hat – ich nehme an, er hat dir in den vergangenen zwei Jahren ziemlich regelmäßig geschrieben.«
»Richtig.«
»Du weißt also, dass unsere Tante May ein Baby bekommen hat – ein kleines Mädchen?«
»Ja.« Albert verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl. Erst dann fiel Fred auf, wie wenig sich Albert bewegt hatte, seit er das Büro betreten hatte. Er hatte sich die meiste Zeit gnadenlos unter Kontrolle. Genau wie ... ja, wer nur?
»Hat er Bridget Hall dir gegenüber erwähnt?«
Albert verschränkte die Arme über der Rückenlehne seines Stuhles.
»Nein.«
Es herrschte eine weitere kurze Stille. Fred knabberte an der Unterlippe. Albert hatte in Spanien viel Zeit mit Tolly verbracht; ob er wohl wusste, weshalb Tolly Bridget verlassen hatte?
»Sie hat mich gebeten, mich zu erkundigen, ob du irgendwelche Neuigkeiten von Tolly hast.«
Albert gab ihm keine Antwort. Er starrte Fred für einen langen Moment regungslos an, dann holte er tief Luft.
»Na schön. Tante May, Bridget Hall ... aber was ist der wahre Grund, warum du hierhergekommen bist? Du bist nicht gekommen, um mich anzubetteln, nach Hause zurückzukommen – das ist das Letzte auf der Welt, was du willst. Was ist also der wahre Grund? Es ist wegen Davie, hab ich recht? Du bist nicht den ganzen Weg hierhergekommen, um mit mir über unsere Freunde und Familie zu plaudern. Herrgott – du bist immer ein Sadist gewesen! Was ist mit Davie passiert?«
Die Inbrunst in Alberts Stimme schockierte Fred. Die eiserne Selbstkontrolle war mit einem Schlag verschwunden; sein Körper regte sich immer noch kaum, aber die Knöchel seiner Hände, mit denen er die Stuhllehne umklammerte, waren weiß.
»Nichts. Es geht ihr gut, Albert.«
»Warum bist du dann gekommen?«
»Verdammt nochmal, muss ich denn einen Grund haben? Nun, ich habe natürlich einen Grund, aber ich habe dir gerade versprochen, nicht davon zu reden!« Fred sprang wieder auf und schritt in dem kleinen Büro auf und ab. »Es war höchste Zeit ... Zeit, Kontakt herzustellen, wie ihr es ausdrückt.« Sein verzweifelter Versuch, witzig zu sein, scheiterte. »Und eigentlich ... hat sie mich gebeten, dir zu sagen, du sollst ihr schreiben.«
Albert musterte ihn lange schweigend. Dann richtete er seinen starren Blick zu Boden und sagte: »Victor glaubt, dass sie okay ist. Er sagt, es gehe ihr gut, sie lernt fleißig für die Schule und übt für ihren Gesangsunterricht. Er sagt, sie ist okay.«
»Ja, das stimmt alles. Letztes Jahr, etwa um die gleiche Zeit, hat sie mit den Gesangsstunden angefangen.« Fred hatte plötzlich das Verlangen, seinem Sohn die Hand auf die Schulter zu legen, ihm eine tröstende Geste zu schenken.
»Sie konnte schon immer singen.« Alberts Stimme wurde ein wenig lauter, als er sich zurückerinnerte. »Ich weiß noch, wie sie immer für Grandma Rising gesungen hat, als sie noch ein kleines Mädchen war.« Er holte nochmals tief Luft und atmete langsam wieder aus. »Victor sagt, du bezahlst ihr den Gesangsunterricht.«
»Ja, ... ich ... wir wollten das so. Deine Mutter und ich. Sie steht Davie sehr nahe.«
Albert sagte provozierend: »Und du bist natürlich ihr Vater. Also hast du ein Recht darauf, für ihre Gesangsstunden zu bezahlen!« Er lachte kurz auf. »Weiß es David?«
»Albert –«
»Nein, natürlich nicht. Du wärst ein toter Mann, wenn er es wüsste.« Albert schaute auf und musterte Fred mit diesem eisigen Blick. »Was ist mit meiner Mutter?«
»March? Was meinst du damit?«
»Weiß meine Mutter, dass du ebenso Davies Vater bist wie meiner?«
Fred zwang sich, darauf besser keine Antwort zu geben; zwang sich, dem blassen, starren Blick standzuhalten.
Albert schüttelte den Kopf, als er seine eigene Frage beantwortete. »Ich habe mich lediglich gefragt, ob du innerlich zusammengebrochen bist und dich zu allem bekannt hast. Aber Victor zufolge lebt ihr immer noch zusammen, also kannst du gar kein großes Geständnis abgelegt haben. Denn, wie ich Mutter kenne, wäre sie jetzt nicht mit dir zusammen, wenn sie wüsste, was wir beide wissen. Nicht wahr?«
Fred blieb ihm wiederum eine Antwort schuldig. Auf eigenartige Weise war ihm dieser Ausbruch gerade recht; es war, als bekäme er bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Danach würde er sicherlich einen Teil seiner Sünde gebüßt haben.
Albert kniff die Augen zusammen, dann schaute er verächtlich weg.
»Ich glaube, als du es mir zum ersten Mal erzählt hast, habe ich Tante April und Mutter mehr gehasst als dich. Was dich angeht, habe ich mit allem gerechnet. Aber die beiden ... ich habe sie geliebt und geschätzt. Besonders April – sie war mit Onkel David verheiratet, sie hat uns erklärt, sie sei in ihn verliebt gewesen, seit sie vier Jahre alt war! Und dann hat sie sich auf dich eingelassen!«
Fred konnte nicht länger an sich halten. Er sagte erschöpft: »Ich habe versucht, es dir zu erklären, Albert. Was sie getan hat, hat sie für David getan. Er wäre beinahe verrückt geworden, weil er dachte, er sei impotent und deshalb nicht gut genug für sie. Sie hatten einen heftigen Streit, und er hat sie hinausgeworfen ... glaube mir doch, Davina ist der lebendige Beweis für Aprils Liebe zu David. Mehr nicht.«
»Ja. Ja, ich weiß. Wie auch immer, das ändert nichts an der Tatsache, dass du ihr Vater bist, nicht wahr? Davie und ich sind wie füreinander geschaffen und können einander doch nie bekommen.« Als Albert abrupt aufsprang, fiel der klapprige Stuhl zu Boden. Er schaute ihn an, für einen Moment erschrocken aus seiner Verbitterung gerissen.
Fred hob den Stuhl auf und stellte ihn an seinen Platz vor der Schreibmaschine zurück.
»Ihr geht es gut, Albert. Ehrlich. Sie ist noch so jung. Sie wird vergessen und jemand anderen finden und –«
Albert sagte: »Nein. Nein, nein, nein, nein. Ihr geht es nicht gut. Und sie ist nicht mehr so jung, nicht so wie du es meinst. Und sie wird nie einen anderen finden.« Er ging zum Fenster. »Ich weiß wenigstens, warum wir uns nicht wiedersehen können. Ich kann wenigstens mit dir darüber reden –« Er warf Fred wieder dieses halbe Lächeln zu, diesmal allerdings ohne jedes Anzeichen der Belustigung. »Seltsam, aber es verschafft mir eine gewisse Erleichterung, so vollkommen ehrlich mit jemandem zu sein. Selbst mit dir. Davie wird diese Erleichterung verwehrt. Sie hat keine Ahnung, warum ich sie verlassen habe oder warum ich nach Spanien gegangen bin, um Tolly zu finden. Ich weiß, was Victor ihr erzählt hat – dass ich ihr nicht mehr gegenübertreten könnte, weil ich ein Mädchen aus Birmingham in Schwierigkeiten gebracht hätte. Aber ihr würde das nichts ausmachen. Nicht Davie. Was Victor mir also auch immer erzählt, was du mir auch immer erzählst, ich kenne die Wahrheit. Ich weiß, dass Davie unglücklich ist. Sie würde es niemandem zeigen, aber ich weiß es.«
Es war der längste Monolog, den Fred je aus dem Mund seines Sohnes gehört hatte. Seine Worte mit oberflächlichen Floskeln zu widerlegen zu versuchen, wäre pure Beleidigung gewesen. Er rührte sich lange nicht, dann ging er zum Fenster, stand neben Albert und starrte auf die lang gezogene Startbahn, die beiderseits von leeren Ölfässern gesäumt war.
Er sagte: »Also gut. Sie ist unglücklich. Sie lebt für den Tag, an dem du nach Hause kommst oder ihr schreibst oder ihr eine Adresse zukommen lässt, an die sie dir schreiben kann. Als sie erfahren hat, dass ich zu dir fahre, hat sie mich angefleht ...«, er holte Luft. »Hör zu, Albert, wenn du ... ich meine, wenn ihr beide nach dem Krieg entscheidet ... ich würde euch nicht mehr im Weg stehen. Ich würde zu niemandem ein Wort sagen.«
»Soll ich dir dafür etwa dankbar sein?« Alberts kurzer Seitenblick war nicht mehr kalt, er glühte vielmehr vor Zorn. »Wenn du so darüber denkst, hättest du es mir niemals sagen sollen! Glaubst du etwa ... Außerdem weiß es Victor. Und du hast mir gesagt, Tante Sylv wüsste es auch.«
»Sie würden den Mund halten. Sie lieben dich. Und Davie.«
»Victor hat es wahrscheinlich schon einem halben Dutzend seiner Kumpels erzählt. Gibt ’ne gute Geschichte her, meinst du nicht!« Albert ging zur Tür. »Und Tante Sylv würde, wenn nötig, ihr Leben riskieren, um Davie zu beschützen.« Er schüttelte den Kopf. »Und überhaupt, ich weiß es. Ich weiß es, weil du es mir verdammt nochmal erzählt hast!«
Fred sagte verzweifelt: »Da gibt es etwas, was du tun könntest, um es einfacher für dich zu machen. Und auch für Davie.«
Alberts eisiges Lächeln kehrte zurück.
»Meinst du, mich abschießen lassen?« Er drückte die Klinke herunter und machte die Tür einen Spalt auf. Die Waaf kam von der Kantine her über die Startbahn gelaufen und balancierte vorsichtig eine Tasse auf einem Untersetzer vor sich her. »Ich habe daran gedacht. In Spanien. Aber dann wollte ich nicht. Ich bin nicht sehr tapfer.«
»Ich meinte nicht ... du weißt, dass ich das nicht gemeint habe!«
Die Waaf blieb stehen und schaute in den Himmel. Es regnete.
»Ich meinte, du könntest dir ein anderes Mädchen suchen. Sie heiraten.«
»Wie du es getan hast?«
»Albert –«
»Ach, vergiss es!«
Albert riss die Tür auf, stürzte nach draußen und rannte beinahe die Waaf über den Haufen. Sie griff sich an die Mütze, schaute ihm skeptisch nach, als er in Richtung Kantine davonrannte, und stieg dann die Stufen zum Büro hinauf.
»Ich hatte gehofft, er könnte vielleicht ein paar Stunden freibekommen, wo Sie schon eine so anstrengende Fahrt auf sich genommen haben, um ihn zu sehen.« Sie rückte die Schreibmaschine beiseite und stellte die Tasse auf dem Tisch ab. »Da gibt es ein ganz passables Hotel an der Chichester Road. Dort dürften Sie ohne Probleme ein Bett bekommen. Und vielleicht kann Sergeant Tomms morgen ja mehr Zeit entbehren.«
Fred nippte dankbar an seinem Tee.
»Ich glaube nicht, dass ich bleiben werde. Aber danke.«
Es war in Kemble, als Fred plötzlich bewusst wurde, an wen ihn Albert erinnerte. Als die »Cotswold Cads« – wie sie in Gloucester früher den niederen Landadel genannt hatten, der von seinem riesigen Grundbesitz oben in den Hügeln lebte – unsicher auf den schlecht beleuchteten Bahnsteig traten, kam eine Frau angelaufen und umarmte einen von ihnen. Mann und Frau entspannten ihre verkniffenen Oberlippen nur für einen Moment, schauten sich lächelnd in die Augen und küssten sich in einer Art Dankbarkeit. Dann nahmen sie ihre Rollen wieder auf. »Bist du mit dem Auto hier, Liebling?«
»Tut mir leid, es war absolut kein Benzin aufzutreiben. Ich habe den Gouvernantenkarren zu neuem Leben erweckt –« »Ich sag’s doch, Liebling –« dann waren sie verschwunden. Zwei Nadeln im Heuhaufen. Genau wie Albert und Davina. Verschlossen gegenüber der ganzen Welt, doch weit offen füreinander.
Fred zog angestrengt die Augenbrauen zusammen, im Kampf gegen etwas, das sich anfühlte wie eine beginnende Erkältung. Albert hatte recht gehabt. Er hätte nie auch nur irgendjemandem die Wahrheit sagen sollen. Er hätte die Beziehung sich entfalten lassen sollen, mit welchem Ergebnis auch immer.
Dann fiel ihm ein, dass die schlaue alte Tante Sylv der Wahrheit von alleine auf die Schliche gekommen war.
Er zog die Jalousie am Fenster zurecht und griff nach dem Halteriemen, als sich der Zug schwerfällig wieder in Bewegung setzte.
Unaufgefordert kamen ihm die alten, grausamen Worte des zweiten Gebotes in den Sinn: »Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern, an der dritten und vierten Generation von denen, die mich hassen ...«
Tante Sylv war die Einzige in ihrer Generation der Risings, die noch übrig geblieben war. Sie verlagerte ihre Masse auf dem Stuhl in eine bequemere Sitzhaltung und musterte Bridget Hall über den Rand ihrer Brille hinweg.
»Ich kannte deine Schwiegermutter schon lange vor dir, mein Mädchen. Kitty Hall war die Amme von unserem Teddy, als sie selbst ihren Tolly hatte. Und sie war gut mit Florence Rising befreundet. Und das reicht mir. Ich will nicht hier sitzen und mir irgendetwas Schlechtes über sie anhören müssen.« Sie drehte sich zu April um, die gerade heißes Wasser aus dem Kessel in eine Teekanne goss. »Warum gehst du nicht mit der jungen Bridie und setzt dich mit ihr ins Vorderzimmer, während ich mich schon mal um den Rosenkohl kümmere?«
Sie hatten sich in der Küche von Longmeadow zusammengefunden, April und Davids Zuhause in der Winterditch Lane; es war ein arbeitsreicher Nachmittag, und die drei Frauen waren dabei, den Rosenkohl für das Weihnachtsessen vorzubereiten.
Bridget grinste. Tante Sylvs Seitenhieb machte ihr nichts aus.
»Die junge Bridie, hm? Ich werde nächstes Jahr vierzig, nur dass du’s weißt, Sylvia Rising.«
»Sylvia Turpin, wenn es dir recht ist, Bridie.«
»Oh, Verzeihung. Verzeihung. Du bist so verdammt empfindlich, was deinen Ehestand angeht!«
»Ich pfeife auf den Ehestand. Ich habe nur die Existenz meines Dicks nicht vergessen. Er mag vielleicht im letzten Krieg ein Deserteur gewesen sein, er mag vielleicht eine lange Zeit im Gefängnis gesessen haben ... aber er war der einzige Mann, der mich geheiratet hat. Und ich werde ihn niemals vergessen!«
April und Bridget staunten nicht schlecht über diesen für Sylv so untypischen Ausbruch. Bridget grinste wieder, doch April stellte die Teekanne ab und kam zum Küchentisch gelaufen, um ihre Tante in den Arm zu nehmen.