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Susan Sallis

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Beschreibung

April, May und March sind die Töchter der Familie Rising. Jede hat ihre eigenen Schicksalsschläge zu bewältigen. March wird vom Vater des gemeinsamen Kindes betrogen. May ist schwanger. Doch der zukünftige Vater will vom Familienleben nichts wissen. April ist als einzige verheiratet, doch ihr Mann leidet immer noch unter seinen traumatischen Kriegserlebnissen. Werden die drei ihren Traum von Liebe und Glück finden?

Die bewegende Geschichte der Familie Rising - eine Familiensaga voller Träume, Mut und Hoffnung, aber auch voller Schicksalsschläge:

Band 1: Die Kinder des Morgentaus
Band 2: Von der Sonne geküsst
Band 3: Der Duft der Herbstzeitlosen
Band 4: Knospen im Schnee

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Seitenzahl: 491

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

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Über dieses Buch

Titel

1

2

3

4

5

6

7

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9

10

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Über die Autorin

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Impressum

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Über dieses Buch

April, May und March sind die Töchter der Familie Rising. Jede hat ihre eigenen Schicksalsschläge zu bewältigen. March wird vom Vater des gemeinsamen Kindes betrogen. May ist schwanger. Doch der zukünftige Vater will vom Familienleben nichts wissen. April ist als einzige verheiratet, doch ihr Mann leidet immer noch unter seinen traumatischen Kriegserlebnissen. Werden die drei ihren Traum von Liebe und Glück finden?

Die bewegende Geschichte der Familie Rising – eine Familiensaga voller Träume, Mut und Hoffnung, aber auch voller Schicksalsschläge:

Band 1: Die Kinder des Morgentaus

Band 2: Von der Sonne geküsst

Band 3: Der Duft der Herbstzeitlosen

Band 4: Knospen im Schnee

Susan Sallis

Von der Sonne geküsst

Aus dem Englischen von Eva Malsch

1

Der 21. Juni, der längste Tag des Jahres 1919, war April Risings Hochzeitstag. Sie wachte schon um fünf Uhr morgens auf, blieb aber im Bett liegen, das sie seit Wochen mit ihrer Schwester May teilte, und beobachtete, wie das Morgenlicht durch die Jalousien ins Mansardenzimmer kroch. Ihr Körper glühte vor fiebriger Vorfreude, um im nächsten Augenblick angstvoll zu erschauern. Vor acht Monaten, am Tag des Waffenstillstands, als sie gerade sechzehn gewesen war, hatte ihr David Daker seine Liebe gestanden und mit einem Kuss endlich bekräftigt, dass er sie nicht mehr für ein kleines Mädchen hielt. Und mittlerweile, mit siebzehn, hatte sie seine von Kriegsneurosen gepeinigte Seele geheilt. Gemeinsam hatten sie den beträchtlichen Widerstand der Verwandtschaft gegen die Heirat überwunden. Sie wusste nicht, wie ihnen das gelungen war. Jedenfalls würde sie in sieben Stunden in Weiß mit ihren beiden Schwestern als Brautjungfern vor den Traualtar treten.

Um May nicht zu stören, die immerhin im siebten Monat schwanger war, setzte sich April ganz vorsichtig auf. Von Natur aus träge, seufzte May nur und berührte ihren Bauch. Sie war mit dem feinen blonden Babyhaar, das sich über den Schultern lockte, so schön wie eh und je und sah aus wie eine Illustration zu »Rapunzel« im Märchenbuch, das ihrer Mutter gehörte.

April lächelte liebevoll und hoffte, dass auch sie bald ein Kind erwarten und diesen Zustand so anmutig ertragen würde wie May. Im Nebenraum schlief March, die andere Schwester, mit ihrem Baby. Als sie zu Weihnachten nach Hause gekommen war, hatte sie schrecklich mager und verhärmt ausgesehen.

April schob ihre Füße in die Filzpantoffeln, die ihre Mutter vor langer Zeit genäht hatte. Auf Zehenspitzen schlich sie aus dem Zimmer und die Treppe hinab, in die Werkstatt ihres Vaters. Dort hingen die Kleider schlaff auf wattierten Bügeln. Ihr Kleid aus cremefarbenem Satin war in schrägen Bahnen geschnitten und umschmeichelte sie. Es war Marchs Kreation und nach Mays Skizzen und Beschreibungen entstanden. Auch die Kleider der Brautjungfern waren nach Mays Entwürfen nach dem Vorbild griechischer Gewänder gefertigt. Sie hatte sie während des Kriegs in Weymouth gesehen und detailgetreu kopiert, bis hin zu den zierlich gerollten Säumen. Ärmellos und ohne Taillierung, glichen sie seidenen Säcken. Will Rising, der Vater der Mädchen, hatte sich geweigert, sie zu nähen. »O nein, ich bin ein Schneider und kein französischer Blusen-Couturier«, hatte er protestiert.

Also war May vor drei Wochen heimgekommen und hatte zusammen mit March die Stoffe zugeschnitten und genäht. Dabei hatten die beiden miteinander geredet wie nie zuvor. In ihre eigene Schwangerschaft versunken, behandelte May die Schwester, die »es schon durchgemacht« hatte, mit schmeichelhafter Ehrfurcht.

April strich behutsam über die kostbaren Stoffe und bewunderte das graue Chiffonkleid ihrer Mutter. Dann ging sie zum Fenster. Durch die Milchglasscheibe mit dem Namen und dem Beruf ihres Vaters drang bereits warmer Sonnenschein. Sie legte einen Finger auf das W von »W. Rising« und zeichnete es sorgfältig nach. Seit er David Daker vor zwei Jahren den Umgang mit ihr verboten hatte, stand sie ihrem Vater nicht mehr besonders nahe, obwohl sie bis dahin seine Lieblingstochter gewesen war. Nun glaubte sie, dass er David verziehen hatte und alles wieder in Ordnung sei. Lächelnd berührte sie ihre Lippen mit dem Zeigefinger. Ja, natürlich – alles war in Ordnung.

Sie umfasste den Griff des Schiebefensters. Vorsichtig schob sie die untere Hälfte nach oben. April streckte den Kopf hinaus und spähte nach links, die Chichester Street hinauf. Gegenüber von Mr. Goodrich's Milchgeschäft glänzte das stattliche Fenster des Lamb and Flag. Hinter dem Gasthof befand sich der Spielplatz der Chichester Street-Grundschule, wo April Rising und Gladys Luker auf dem Kohlenhaufen gesessen und Geheimnisse ausgetauscht hatten. Und weiter hinten trafen sich die stillen Straßen von Gloucester – die North, die East, die South, die West – am Cross. Im morgendlichen Sonnenlicht warteten sie friedlich auf diejenigen, die sie an diesem Tag betreten mochten, die Römer, Cromwells Soldaten oder die drei Rising-Mädchen auf dem Weg zu einer Hochzeit. Bei diesem Gedanken lächelte April erneut in dem Bewusstsein ihrer Stellung in der langen Reihe der Einwohner von Gloucester.

Sie betrachtete das Haus gegenüber und hoffte, ein Mitglied der Familie Luker wäre bereits aufgestanden, würde die zerschlissenen Vorhänge auseinanderziehen und ihr an ihrem Hochzeitsmorgen zuwinken. Aber sogar der energiegeladene Fred benutzte die Trauung als Vorwand, um länger liegen zu bleiben. Und Gladys, nach einer harten Arbeitswoche in der Pickles-Fabrik erschöpft, würde frühestens in vier Stunden aus den Federn kriechen. Der junge Henry interessierte sich nicht für Hochzeiten, und Sibbie war in ihrem Elternhaus nicht mehr willkommen. Jetzt wurde sie die »Hure von Gloucester« genannt, besaß ihr eigenes Haus, und dass ihr Vater ihr die Tür gewiesen hatte, kümmerte sie kein bisschen.

Und so wandte April den Kopf nach rechts und starrte zum Ende der Straße, wo das Chichester House hinter seiner hohen Ziegelmauer stand. Das Chichester House ... Die meisten ihrer siebzehn Lebensjahre hatte sie dort verbracht. Lächelnd wandte sie sich vom Fenster ab. Nun wusste sie, was sie mit dem unverhofften Geschenk ihrer Zeit und Einsamkeit anfangen würde. Sie wollte wieder durch den Garten des Chichester House spazieren und sich an ihre beiden toten Brüder erinnern, an Albert und Teddy.

Sie eilte in die Diele, griff ins Dunkel unter der Treppe und holte ihren alten Melton-Mantel hervor. Plötzlich hörte sie, wie jemand im oberen Stockwerk den Nachttopf benutzte, und erstarrte. War das ihr Vater? Würde er herunterkommen und sie bei ihren heimlichen Aktivitäten ertappen? Bettfedern knarrten, dann herrschte wieder Stille.

Sie zog den Mantel über ihr Batistnachthemd, drehte den schweren Schlüssel im Schloss der Haustür herum und öffnete sie. Tief und genüsslich atmete sie die morgendlichen Gerüche nach Flieder, frisch gebackenem Brot und Essig aus der Pickles-Fabrik ein, die ihr entgegenwehten. Dann ging sie die Straße hinauf, zu ihrem alten Heim.

*

Will Rising hatte den Nachttopf nicht benutzt. Er war noch vor seiner jüngsten Tochter erwacht, aber nicht im selben Haus. Um vier Uhr morgens hatte er sich unruhig im Bett umhergewälzt, mit einer Schulter seine Gefährtin angestoßen und geknurrt: »Darüber rede ich nicht mehr, Frau. Nun ist es zu spät. Morgen heiratet sie ... Verdammt, an diesem Morgen! Und es ist schon vier! Ich muss gehen, Sib. Heute werden sie alle zeitig aufstehen, und April wird mir mit Sicherheit eine Tasse Tee ans Bett bringen, weil es das letzte Mal ist ...«

In uncharakteristischem Zorn starrte Sibyl Luker seinen kupferroten Hinterkopf an. »Das ist es, was ich dir dauernd zu erklären versuche, Will. Aber du hörst mir ja nicht zu. Es muss nicht das letzte Mal sein. Was David Daker für ein Mann ist, weißt du genauso gut wie ich ...« Sie hielt die Luft an. Nicht einmal während eines so ernsthaften Gesprächs konnte sie sich eine provozierende Bemerkung verkneifen. »Vielleicht nicht ganz so gut wie ich.«

»Sibbie!«, warnte er sie mit heiserer Stimme.

Da änderte sie ihre Taktik und schmiegte sich an seinen unnachgiebigen Rücken. »Will, Darling, du hörst doch immer auf deine Sibbie. Warum stellst du dich jetzt taub? April ist erst siebzehn, mein Liebling. Siebzehn!«

»Besten Dank, Sibbie, ich weiß, wie alt meine Tochter ist.«

»Und du weißt, wie David ist.« Ärgerlich, weil er sich gegen sie wandte, beendete sie den Versuch, sich bei ihm einzuschmeicheln – sie, Sibbie Luker, die immer alles mit den Risings geteilt hatte! Sie rückte von ihm ab, setzte sich auf und verschränkte die Arme vor den nackten Brüsten. »Hast du ihn nicht selber pervers genannt, Will? Muss ich dich dran erinnern?«

Nur weil er so müde und besorgt war, erwiderte er in scharfem Ton: »Trotzdem hast du ihm erlaubt – was immer er getan hat! Erträgst du den Gedanken nicht, dass sich einer deiner Liebhaber für eine andere entschieden hat?«

In ihren Augen brannten Tränen. »Warum sagst du das, Will? Ich habe mir nie irgendwas genommen – immer nur gegeben, und mühelos hätte ich dich dazu bringen können, deine heilige Florence zu verlassen und mit mir zu leben ...«

»Sei dir da nicht so sicher, mein Mädchen!«

»Aber ich hab's nicht versucht. Das wollte ich nicht. Du solltest glücklich sein, Will. Mehr habe ich mir nie gewünscht. Nur dein Glück.«

Jetzt begann sie zu schluchzen, und er drehte sich um und nahm sie in die Arme. Tränen kamen ihm ebenso leicht wie er in Gelächter ausbrach, so natürlich, wie sich sprudelnder Schaum in einer Quelle bildete. Wenn er sie unterdrücken musste, war er schlecht gelaunt. Nun weinte er, ließ sich trösten, und dann lachte er, als sie wie ein Kätzchen unter ihn rutschte und ihm mit ihrer Zunge übers Gesicht fuhr. »Sibbie ...«, flüsterte er. »Kleine Sibbie Luker. Lässt sich in all den Jahren aushalten. Aushalten von Will Rising.«

Sie wartete, bis er sich verausgabt hatte und erschöpft neben ihr lag. Dann wisperte sie an seinen Lippen: »Warum, Will? Sag mir, warum du die Heirat zulässt! Und verschone mich bloß mit diesem Unsinn, du möchtest dem alten Daker einen Gefallen tun! Deiner May hast du nicht erlaubt, David zu heiraten. Und April ist dein Liebling.«

Stöhnend schaute Will auf die Uhr. Fünf Minuten vor fünf, und er wusste, dass er endlich aufstehen und heimgehen musste. Also blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. »David weiß über uns Bescheid. In der Nacht nach dem Waffenstillstand hat er uns gesehen. Er sagte mir, wenn ich ihm verbiete, April zu heiraten, würde er ihr von uns erzählen.«

Eine Zeit lang sah sie schweigend in sein Gesicht, das nur ein paar Zentimeter von ihrem entfernt war, und sie wusste, wegen seiner Weitsichtigkeit konnte er ihres nur undeutlich sehen. »Das ist Erpressung.« Ihre Stimme klang beinahe bewundernd.

»Keine Ahnung, wie man so was nennt. Jedenfalls hat er's gesagt.« Um sie genauer zu betrachten, hob er den Kopf und rückte ein wenig von ihr ab. Sein Bart zitterte ein wenig, und seine Ähnlichkeit mit dem alten König war geradezu verblüffend. »Was sollte ich denn tun, Sib?«, fragte er flehend. »Was konnte ich tun?«

»Nichts. Aber ich wünschte, du hättest mich früher eingeweiht. Dann hätte ich was unternommen.«

»Was?«

»Ich hätte April gewarnt – und ihr von David und mir erzählt.«

»Das weiß sie, Sib. Irgendwie hat sie's erraten. Für sie macht's keinen Unterschied. Du verstehst April nicht. Wenn sie jemanden liebt, dann liebt sie ihn. Nicht einmal der Tod kann etwas dran ändern – Teddy steht ihr immer noch sehr nahe.«

»In allen Einzelheiten hätte ich ihr geschildert, was David mit mir getan hat«, murmelte sie mit versteinerter Miene. »Das weißt nicht einmal du, Will Rising.«

»O Gott – Sib ...«

»Vom lieben Gott darfst du keine Hilfe erwarten, nur ich hätte dir helfen können.«

Hilflos streichelte er ihren Bauch. Sie lag reglos da und dachte an David Daker, der sich nichts sehnlicher wünschte, als eine Rising zu heiraten. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte er ihren Vater also sogar erpresst.

»Ich muss jetzt gehen, Sib«, seufzte Will. »Wirklich.«

»Dann geh.« Sie drückte seinen kantigen Kopf an ihre Schulter. »Und – Will, lieber Will – ich hoffe, es geht heute alles gut. Ich wünschte, ich könnte bei dir sein, ich bin selber eine halbe Rising. Aber ich werde die ganze Zeit an dich denken, Darling.« Mit sanfter Gewalt schob sie ihn von sich und stieg aus dem Bett. Stolz und nackt stand sie im bleichen Morgenlicht. »Jetzt will ich nicht mehr schlafen. Ich werde am Kanal spazieren gehen und an die letzte Nacht denken. Und an die nächste.«

»O Sib ...« Grinsend schlüpfte er in seine kurze Sommerhose. Die Hochzeit seiner Tochter bedeutete nicht das Ende der Welt. Natürlich würde David seine Frau niemals so behandeln wie Sibbie Luker. Und deshalb musste man dieser Ehe eine Chance geben. Wenn es nicht klappte, konnte April jederzeit nach Hause zurückkommen, so wie March. Heim zu ihrem Vater, der ihr nichts verübeln, für sie sorgen und sogar Verständnis aufbringen würde.

Bis dahin hatte er Sibbie. Und weil er sie hatte, hatte er irgendwie auch Florence zurückgewonnen, seine stille, sanfte kleine Nonne, die er schützen und umhegen würde, wie es einer Nonne zustand. Kein Zorn mehr über ihre Prüderie – keine Demütigungen. Mit Sibbie war die Liebe nicht animalisch oder verwerflich – sie machte ihm einfach Spaß.

Vom Ufer des Kanals bog er in die Bristol Road ab, und seine philosophischen Gedanken befreiten ihn von der Sorge um April.

*

Die schwarzen Johannisbeeren waren so groß wie Stachelbeeren und glänzten wie schwarze Opale, und die Stachelbeeren waren tiefrot und süß. April pflückte ein paar und aß sie langsam und genüsslich, während sie zu den knorrigen Apfelbäumen schlenderte, die wie versteinerte Tänzer im hohen Gras standen. Albert hatte diesen Garten so sehr geliebt. Lange, einsame Stunden hatte er hier verbracht, vielleicht an Harry Hughes gedacht, vielleicht an seine geliebte March. Und er hatte nur seinen hübschen blonden Kopf heben müssen, um die Türme der Kathedrale zu sehen, in der er Chorknabe gewesen war, und um die Brise zu riechen, wenn sie die Westgate Street aus Newent und Kempley, der Gegend seiner ländlichen Wurzeln, heraufwehte. April bückte sich und hob zwei winzige, harte grüne Äpfel auf, die von einem der Bäume gefallen waren.

Sie hatte das Gefühl, den toten Albert viel besser zu kennen, als sie den lebenden gekannt hatte. Es war leichter gewesen, ihn zu lieben, als sich der Altersunterschied von zehn Jahren allmählich verringert hatte. Aber er hatte natürlich zu March gehört, so wie Teddy zu ihr.

Sie eilte den Weg hinunter zum Tor, das auf die Mews Lane führte. Auch Teddy hatte den Garten geliebt, aber nicht gehegt und gepflegt. Stattdessen war er darin herumgetollt, hatte hartes kleines Fallobst gesammelt und es als Munition für sein Katapult benutzt. Oder sie spielten David und Goliath. Sie spielte Goliath und stand auf der Mauer, und Teddy brachte sie dazu, in einen Haufen Gras zu springen, immer wieder. Der liebe Teddy, der Anstifter für so viele Spiele und so viel Unfug, er hatte so viel Liebe gegeben. Er war immer ein sechsjähriges Kind geblieben. Peter Pan. Sie lehnte am Tor und betrachtete den Garten.

In den achtzehn Monaten, seit die Risings aus dem Chichester House ausgezogen waren, hatten drei Mieter darin gewohnt. Keiner hatte sich um den Garten gekümmert. Jetzt stand das Haus wieder leer und wirkte baufällig. Deshalb passte es gut zu der Straße, in der die Kriegsjahre deutliche Spuren hinterlassen hatten, und zur ganzen heruntergekommenen Umgebung. In Aprils Augen glich es einem Schrein.

Sie beschloss, in den Stall zu gehen, blieb dann aber wie angewurzelt stehen. Sibbie Luker kam die Straße herunter und setzte in ihren zierlichen Satinschuhen vorsichtig einen Fuß vor den anderen auf das Kopfsteinpflaster.

Beinahe wäre April – die tapfere April, die während des Krieges dem Roten Kreuz ihre langen, schönen rotblonden Locken geopfert und in der Munitionsfabrik mit giftigem Pulver hantiert hatte, davongelaufen. Sie trug Filzpantoffeln und ihren alten Schulmantel über dem Nachthemd, ihr Haar war noch nicht gewaschen und gebürstet, und sie befand sich hier in ihrer eigenen privaten Welt.

Aber Sibbie hatte sie bereits gesehen. Unbefangen lächelte sie, als wäre in den letzten beiden Jahren nichts geschehen. Über Sibbie Luker wusste jeder Bescheid. Der bedauernswerten May hatte sie die Jugendliebe weggenommen und March den kostbaren Job als Sekretärin von Stadtrat Williams, dem sie ihren Körper verkauft hatte – bis er bereit gewesen war, ihr den kleinen Holzbungalow am Kanal zu schenken. Was dort Nacht für Nacht passierte, wusste ganz Gloucester. Sogar Harry Hughes – der arme tote Harry, Alberts bester Freund – hatte zu ihren Liebhabern gehört. Bei diesem Gedanken stieg brennende Röte in Aprils Wangen. Trotzdem konnte sie nicht weglaufen.

»Wen haben wir denn da!«, rief Sibbie. »Ist das nicht ein Glücksfall? Gerade wollte ich mich in mein Elternhaus schleichen und mit Ma reden, solange Pa noch schläft und mich nicht rauswerfen kann ...«, fügte sie hinzu und lachte fröhlich. »Ich hatte gehofft, Ma würde dir ausrichten, dass ich mit dir sprechen möchte. Und da bist du!«

Seltsamerweise fühlte sich April zu einer Erklärung genötigt. »Ich konnte nicht schlafen ...«

»Kaum zu glauben!«

»Und ich wollte – den Garten sehen. Nur noch ein einziges Mal!«

»O April, du hast dich kein bisschen geändert, nicht wahr? Ich weiß noch, wie du in der Küche gestanden und laut geredet hast.« Mit einer knappen Kopfbewegung wies sie zur Hintertür des Hauses. »Als ich fragte, mit wem du dich unterhalten hast, sagtest du – ›mit Gott‹.«

April erinnerte sich nur zu gut an die Sibbie von damals, mit ihrem blonden Haar, das einen Hauch dunkler war als das von May und heller als das von March. Sie war ständig im Chichester House gewesen, praktisch ein Teil der Familie, und sie hatte May zugeflüstert: »Wir wollen immer alles teilen. Einverstanden, May?«

Den Tränen nahe, sagte April, ohne zu überlegen: »May vermisst dich immer noch, Sibbie.«

Voller Genugtuung lächelte Sibbie. »Natürlich tut sie das. Eine Freundin wie mich wird sie nie mehr kriegen. Und ich werde keine wie May finden. In unseren Herzen sind wir die Gleichen geblieben.« Nach einer kleinen Pause fuhr das ältere Mädchen fort: »Sie wusste es – schon lange, bevor ich es ihr bewies, merkte sie, dass mit David Daker was nicht stimmte.«

Abrupt öffnete April das Tor und folgte dem Gartenpfad. »Ich will davon nichts hören. Leb wohl, Sibbie.«

Weder von Pantoffeln noch von einem langen Nachthemd behindert, überholte Sibbie sie mühelos und versperrte ihr den Weg. »April, du musst mir zuhören. Ich habe immer so viel von dir gehalten. Und ich weiß einiges über David, das du erfahren solltest.«

April versuchte erst links, dann rechts an ihr vorbeizugehen, aber Sibbie packte sie am Mantelkragen und zwang sie, stehen zu bleiben.

Verzweifelt presste April ihre Hände auf die Ohren. »Ich weiß!«, sagte sie und starrte Sibbie mit großen dunkelblauen Augen an. »Ich weiß, du hattest eine – affaire mit David.« Dieses Wort sprach sie französisch aus, und Sibbie lachte schallend.

»Ist es das gewesen?« Sofort wurde sie wieder ernst und schüttelte April sanft. »Oh April, das darfst du nicht so wichtig nehmen, es spielt keine Rolle. Wäre alles mit ihm in Ordnung, hättest du sogar eine gewisse Garantie für dein Eheglück.« Sie versuchte ihren freien Arm um Aprils Schultern zu legen, aber April zuckte zurück. »Hör mir zu, April! Wünschst du dir Kinder? Babys?« Wieder schüttelte sie April, diesmal ungeduldig. »Heiliger Himmel, schau nicht so drein! Genauso entsetzt wie deine Mutter! Möchtest du Kinder?«

April erwiderte nichts. Inzwischen war sie ans Tor zurückgewichen, kam dort aber nicht weiter. Obwohl sie größer und stärker war als Sibbie – es widerstrebte ihr, sich von der Hand loszureißen, die ihren Mantelkragen festhielt.

Seufzend fügte Sibbie hinzu: »In Ordnung, es spielt keine Rolle. Ich wollte dir nur sagen, wenn du ihn heiratest, wirst du keine Kinder bekommen. Verstehst du das?«

»Geh weg, Sibbie!«, würgte April hervor. »Bitte geh und lass mich in Ruhe.«

Sibbie trat zurück und schlug sorgsam ihre behandschuhten Hände zusammen. »Also gut, Schätzchen, wenn das dein Wunsch ist ...« Um zu überspielen, wie gekränkt sie war, sprach sie in melodramatischem, affektiertem Ton. »Sag bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt! Es hängt mit diesem Schrapnell in seiner armen, schwachen Leiste zusammen. Oh, er wird dich ganz sicher befriedigen, deshalb brauchst du dich nicht zu sorgen. Aber dabei wird nichts rauskommen.« Lachend strich sie ihren taillierten himmelblauen Mantel glatt. »Nun, vielleicht gefällt dir das. Ich weiß es nicht ...« Die Brauen kritisch hochgezogen, musterte sie Aprils Gesicht. »Wenn ich du wäre, meine Liebe, würde ich mich von May frisieren lassen. Und sie sollte ein bisschen Rouge auf deine Wangen tupfen. Ihr Risings habt es nie verstanden, das Beste aus euch zu machen.« Sie stöhnte theatralisch und ging an April vorbei in die Mews Lane. »Tschüss dann!«, sagte sie und war verschwunden.

*

Mays Ehemann Monty, der Schauspieler, traf mittags ein. Niemand hatte Zeit gefunden, ihn vom Zug aus Paddington abzuholen, und so platzte er unerwartet in die hektischen Hochzeitsvorbereitungen. Sofort und völlig mühelos schlüpfte er in die Rolle eines Familienmitglieds.

»Mamma ...« Er umarmte Florence mit einer Art leidenschaftlicher Ehrerbietung. »Will!« Er ergriff mit beiden Händen Wills Hand. »Meine schönen Schwestern!« Wegen zahlreicher Lockenwickler und Sicherheitsnadeln kam er nicht näher an sie heran. May reckte den Hals vor, um ihr Gesicht zu präsentieren, das er unbefangen küsste. »Liebste May! Wie ich sehe, steckst du mitten im Trubel. Ich will alles hören. Darf ich mich hinter diesem Wandschirm umziehen, während wir uns unterhalten?«

In der Hauptsache redete er selbst. Das gefiel Will. Endlich war wieder ein anderer Mann im Haus, praktisch ein Sohn. Er schickte Daisy in den Jug and Bottle, um Bier zu kaufen, und wich Florence' tadelndem Blick nicht aus. »Das ist ein besonderer Anlass, Liebes, ein ganz besonderer Anlass.«

In ihrem von May genähten Chiffonkleid sah sie bildschön aus, wie eine graublaue Wolke. Er nahm ihr schmales Gesicht in seine kräftigen, von Nadeln zerstochenen Hände und küsste sie. Da lachte sie versöhnlich und holte Gläser.

»Brauchst du Hilfe, mein Sohn?«, fragte er, hielt ein gefülltes Glas hinter den Wandschirm und musterte sekundenlang Montys sehnige Beine. War er ein Tänzer? Wahrscheinlich ein bisschen was von allem – Schauspieler, Sänger, Tänzer. Welch ein Kontrast zu seinen eigenen kurzen, behaarten Beinen ...

»Danke, Dad.« Grinsend nahm Monty das Glas entgegen und winkte Will mit einem Hemdzipfel zu. Er wusste, dass sein Schwiegervater solche Vertraulichkeiten liebte. Florence war so – förmlich. Natürlich wurde sie von allen vergöttert, aber Monty fragte sich manchmal, was eigentlich in dieser Ehe geschah. Trotz der fünf Kinder sah sie immer noch aus wie eine Nonne.

»Wie lange kannst du bleiben, Monty?«, fragte Will. »Hast du Zeit für einen Jagdausflug auf den Robinswood Hill? Erinnerst du dich ans letzte Mal, als ich dich da hinaufführte? Für dich war's das erste Mal, nicht wahr? Da hast du einen strammen Hasen erlegt.« Will besaß eine Hasenjagd auf einem der beiden kleinen Hügel bei Gloucester, die er jetzt nur noch selten nutzte. Aber er sprach gern darüber.

»Kein R im Monat, Dad. Außerdem muss ich heute zur Vorstellung zurückfahren, die fängt um sieben an.«

May entfernte die letzte der Nadeln, die Aprils schwingenden Rock zusammengehalten hatten, nahm die anderen aus dem Mund und steckte alle in den Küchentisch. Dann streckte sie sich wohlig und legte die Hände unter den Bauch. Das griechische Kleid betonte zum ersten Mal die beträchtliche Wölbung. »So, jetzt sind wir fertig. Gerade noch rechtzeitig.« Sie trat hinter den Wandschirm. »Soll ich dir helfen, Darling?« In der mangelhaften Privatsphäre schlang sie die Arme um Montys Hals und küsste ihn. Er streifte die Hosenträger über seine Schultern und legte die Arme um ihre umfangreiche Taille. Dann begannen beide zu kichern.

Irritiert spuckte March ein paar Nadeln aus. »Würdet ihr zwei aufhören?«, seufzte sie und zupfte unzufrieden an ihrer weit geschnittenen Tunika. »Sind diese ärmellosen Kleider wirklich eine gute Idee, May? Nie zuvor habe ich gemerkt, wie unvorteilhaft nackte Arme aussehen.«

Die Wangen reizvoll gerötet, kam May hinter dem Wandschirm hervor. »In London ist diese Mode der letzte Schrei. Und Arme sind nun mal so ... Rühr dein Haar nicht an, April, es sitzt perfekt. Nein, leg den Schleier nicht drüber, das mache ich. In dieser Familie bin ich die Friseurin.«

Monty klappte den Wandschirm zusammen und lehnte ihn an die Tür. Dann standen sie alle bewundernd um April herum. Als Gran die Tür öffnete, fiel der Wandschirm zu Boden, worauf ein Chaos ausbrach. Gran, Tante Sylv, Daisy und Hettie Luker drängten sich herein. Begeistert starrte Hettie den »Bienenarsch« an, der durch den Schnitt des Brautkleids hervorgehoben wurde. »Diese Bahnen betonen den – die Brust.« Nervös blickte sie zu Florence.

»Ja, April hat einen viel hübscheren Busen als March und ich«, meinte May beiläufig. »Obwohl meiner im Augenblick gerade richtig ist.« Ohne die geringste Koketterie lachte sie, und Florence fragte sich wehmütig, wie die liebe May so etwas in perfekter kindlicher Unschuld sagen konnte.

»Also ...« March fühlte sich immer unbehaglicher. Sie hatte solche Ansammlungen von Menschen noch nie gemocht. Besorgt überlegte sie, ob es ratsam war, Hettie den kleinen Albert-Frederick anzuvertrauen. »Nun sollten wir gehen«, schlug sie vor und küsste April verlegen auf die Wange. »Ich hoffe, du wirst glücklich, liebe April. Wenn irgendjemand sein Glück finden kann – dann du.«

Keinem der Anwesenden blieb die Bedeutung dieser Worte verborgen. April errötete und erwiderte den Kuss. Zur Aufrichtigkeit entschlossen, schaute sie ihren Vater an, als sie sprach. »Hört mir zu – alle. Und glaubt mir. Ich kenne David besser als sonst jemand – besser als er sich selber. Bitte, vertraut mir.«

Mit dieser kurzen Ansprache befreite sie Will wenigstens teilweise von seiner Seelenlast. Natürlich irrte sie sich. Was für ein Mensch David Daker wirklich war, ahnte sie nicht einmal. Er selbst hätte nie geglaubt, dieser dunkelhaarige, zuvorkommende Bursche mit dem ständigen schwachen Lächeln, wäre etwas anderes als ein zurückhaltender junger Mann – ein bisschen wie Albert –, der irgendwann aus sich herausgehen würde. Gewiss, der Krieg hatte ihm sicher nicht geholfen, aber er war einer der Glücklichen gewesen, die verwundet worden waren, bevor sie auf der Verlustliste gestanden hatten, und er war wegen seiner Invalidität nach Hause geschickt worden. Er hätte in den kleinen Stoffladen seines Vaters zurückkehren und wieder als Schneider arbeiten können – mit Wills gütiger Hilfe –, und alles hätte so sein können wie vorher. Vielleicht hätte er May geheiratet, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich nicht. Doch bevor irgendeine Entscheidung getroffen werden konnte, hatte Will das wahre Wesen des jungen Mannes in dem winzigen Zuschneideraum hinter seinem Laden entdeckt. Sibbie hatte auf dem Zuschneidetisch gelegen, ausgebreitet wie ein Schnittmusterbogen.

Bei dieser Erinnerung spürte Will, dass sein Mund trocken wurde, und er schaute zur Uhr auf dem Kaminsims hinüber. Noch zehn oder elf Stunden, und er würde wieder bei Sibbie sein. In der Zwischenzeit würde er gute Miene zum bösen Spiel machen, denn er wusste, er würde Recht behalten. April würde bald nach Hause zurückkehren, weinend und verletzt, und ihn so dringend brauchen wie in der Kindheit, wenn sie hingefallen war. Vorerst jedoch enthob ihn ihre Erklärung in aller Öffentlichkeit – typisch April – jeder Verantwortung.

Sie gingen zur alten Saint John's-Kirche. May und Monty hatten in der vornehmen Saint Catherine's geheiratet, am Ende des Wotton Pitch, aber April war Sonntagsschullehrerin in der Saint John's und liebte die düstere, verrußte Alltagskirche. Die Lukers erschienen in geballter Formation, um ihr alles Gute zu wünschen und ihre beiden eigenen Repräsentanten bei der Hochzeit zu bewundern, Fred in Zivil und Gladys in einer auffälligen Version der neuen ärmellosen Mode. Gran Goodrich kam aus ihrem Geschäft heraus und zerrte ihren Sohn hinter sich her, und die Besitzer des Lamb and Flag brachten ein Hoch auf Will Rising aus, der schwere Zeiten hinter sich hatte. April umklammerte den Arm ihres Vaters so fest, dass es weh tat. Das sind die Nerven, dachte Will, und tätschelte mit seiner freien Hand ihre Hand. »Schon gut, kleine April, du bist ja nicht so weit von zu Hause weg, und die Tür wird immer offen sein«, murmelte er. Da lächelte sie erleichtert, weil der Vater ihren Trost gar nicht zu brauchen schien.

Und dann waren ihre Schwestern am Tor zu Saint John's wieder bei ihr, und das dunkle Kirchenschiff lag vor ihr. Durch die schmutzigen Fenster fiel violettes und orangefarbenes Licht auf die Versammlung. Mit klopfendem Herzen dachte April an den Gottesdienst am Tag des Waffenstillstands, als sich vor dem Altar, neben dem weiß gekleideten Vikar, jemand umdrehte und sie ansah. David Dakers Gesicht wirkte auf die anderen ausdruckslos, nur ihr verriet es eine Art von Furcht. Er konnte einfach nicht daran glauben, konnte es nicht fassen, dass es nach so viel Tod und Gestank und Erniedrigungen noch immer Glück auf dieser Welt geben sollte. Sie musste ihn davon überzeugen, dass es so war.

Sie und Will blieben stehen und warteten auf die ersten Orgelklänge. Die Leute schauten sich um und lächelten sie an, bewunderten ihre Schönheit und ihr Kleid und die kurzen, rötlich blonden Locken und ihre hohe Gestalt, mit der sie den stämmigen Vater überragte. Und während aller Augen auf ihr ruhten, streckte sie dem Bräutigam ihre Hand mit dem winzigen Primelsträußchen entgegen, als wollte sie ihn zu sich einladen. Hörbar schnappten die Hochzeitsgäste nach Luft, Florence verbarg ihre zitternden Lippen hinter dem griffbereiten Taschentuch, und Gran umklammerte Tante Sylvs Arm. Plötzlich fühlte sie sich wie eine alte Frau.

Und dann, während Aprils Körper dem anmutig erhobenen Arm folgte, ertönte die Orgel. David streckte seiner Braut beide Hände entgegen und antwortete damit auf ihre Geste. Während er wartete, ging sie langsam auf ihn zu. Dann zog er sie zu sich heran. Daisy sagte später, das sei das Romantischste gewesen, was sie jemals gesehen habe, romantischer als Mays und Montys Trauung.

Das Frühstück fand im Cadena statt. Irgendwie hatte Will das Geld aufgetrieben, so wie damals für May. Es war eine friedliche, stille Feier, nur die Familie und ein paar alte Freunde – Gladys und Fred Luker, Bridget Williams und Tolly Hall. Davids Trauzeugen hatte man nie zuvor gesehen. Er hatte den Mann im Lazarett kennen gelernt, wo er »zusammengeflickt« worden war, wie er es ausdrückte. Sein unüberhörbar ausländischer Name war Emmanuel Stein, und er wirkte mit seiner ins Olive gehenden Hautfarbe fremd in der Gesellschaft. April saß neben der Frau, die nun ihre Schwiegermutter war und ständig eine Leidensmiene zur Schau trug, und lächelte sie vorsichtig an.

»Hoffentlich stört es Sie nicht allzu sehr, Mrs. Daker?«

»Stören? Was sollte mich denn stören?«, seufzte Mrs. Daker kummervoll. »Irgendwann musste er doch heiraten. Und wenn es schon eine Rising sein musste, dann bist du ...«

Vielleicht hätte sie gesagt, April sei noch die Beste dieses ganzen Haufens, aber David mischte sich fürsorglich ein. »Bitte, April, begleite doch Manny auf die Veranda und zeig ihm die Aussicht. Inzwischen verabschiede ich mich von Mutter, denn dann müssen wir aufbrechen.« Sie würden eine Woche in Scarborough verbringen.

Manny Stein stand sofort auf und bemerkte pflichtbewusst: »Gloucester ist eine sehr interessante alte Stadt. Und ich wäre Miss – Mrs. Daker sehr dankbar, wenn sie mir etwas darüber erzählen würde.«

*

»Mach dich nicht lächerlich, Fred!«, sagte March. »Ich kann unmöglich eine ganze Woche im Forest verbringen. Was sollte denn mit Albert-Frederick geschehen?«

»Deine Mutter würde sich nur zu gern um ihn kümmern. Und May wird vorerst nicht nach London zurückfahren.« Fred Luker teilte eine Scheibe Schinken in vier Stücke, spießte sie mit seiner Gabel auf und steckte sie in den Mund. Während er kaute, fuhr er fort: »Also nehme ich dir diese Ausrede nicht ab, Marcie. Du hast all diese Briefe für mich geschrieben, und jetzt will ich die Arbeiter in der Kohlenmine besuchen. Du kommst mit und machst Notizen für mich. Dabei wird sich niemand was denken.«

»Bitte sei so freundlich und sprich nicht mit vollem Mund«, zischte sie.

»Sei du so freundlich, nenn mich nicht lächerlich. Und sei so freundlich, mich nächste Woche in den Forest of Dean zu begleiten.«

»Warum sollte ich?«

Da wandte er sich zu ihr und schaute sie an. Langsam und rhythmisch kaute er weiter. Auf der anderen Seite des Tisches schnitt Tante Vi Rising ihren Schinken in briefmarkengroße Quadrate und bestrich jedes einzelne mit Senf. »Weil du die Mutter meines Sohnes bist«, erklärte Fred leise, aber nach Marchs Ansicht immer noch zu laut. »Und weil wir in den Augen Gottes Mann und Frau sind, und weil wir nicht mehr zusammen waren, seit ich dich im letzten Januar vor Edwin Tomms gerettet habe. Und weil ich dachte, du willst es auch.«

March umklammerte ihr Besteck so fest, dass es zitterte, und betrachtete ihren Teller.

»Was? Du hast mich gerettet? Siehst du das so? Mein Leben hast du zerstört. So sehe ich es.«

»Ist was kaputt gegangen?«, fragte Tante Vi. »Ich habe nichts gehört. Was war's denn?«

Fred lächelte. »Willst du streiten, March? Gut, meinetwegen. Komm mit mir in den Forest und ...«

Klirrend legte March die Gabel und das Messer auf den Teller und kehrte Tante Vi den Rücken zu. »Nein, ich will das nicht.«

»Ach, wir alle tun so viele Dinge, die wir gar nicht wollen«, klagte Tante Vi. »Glaubst du, ich will bis zum Tod mit den Jungs in diesem Loch hausen? Aber wer soll sie denn sonst nehmen? Hierher können sie nicht kommen. Sobald du in die andere Richtung schaust, würden sie Ärger machen. Dass sie dauernd wildern, ist schon schlimm genug, aber hier würden sie auch noch stehlen.«

»Das glaube ich dir nicht, Marcie.« Fred lächelte noch immer. »Erinnerst du dich an die Nacht im George, nachdem wir Edwin verlassen hatten? Erinnerst du dich daran? Da wolltest du bei mir sein, nicht wahr?«

March zuckte nicht mit der Wimper, aber ihr Zorn schien zu verfliegen. Sie schaute mit ihren rehbraunen Augen in die blauen von Fred. In sanftem, vernünftigem Ton erwiderte sie: »Kann sein, dass ich das wollte. Aber jetzt – ich habe genug von Männern, Fred. Du weißt nicht, wie es mit Edwin war. Es war grauenhaft. Widerlich. Jetzt ist alles in Ordnung. Ich will ein ruhiges Leben führen, bei Mutter und Dad.«

Sein Lächeln erstarb. »Du lebst seit sechs Monaten bei ihnen, Marcie.«

»Und ich will, dass es so bleibt. Sechs Jahre. Sechzehn Jahre.«

Tante Vi hatte zu viel Senf gegessen, nun tränten ihr die Augen. »In sechzehn Jahren bin ich tot«, sagte sie kummervoll.

March betupfte ihre Lippen mit der Serviette. Ihre nackten Arme ragten aus der Tunika – sie waren immer noch dünn, aber wohlgeformt. »Das ist das Leben, das ich mir wünsche, Fred«, sagte sie, von neuem Selbstvertrauen erfüllt.

Inzwischen lächelte er wieder und neigte sich zu ihr, nahm ihr die Serviette aus der Hand und drückte schmerzhaft ihre Finger zusammen. »Wenn du mich nicht begleitest, wird es dir leidtun, Marcie«, sagte er sanft.

Reglos saß March da, und Vi begann zu husten. »Lassen Sie mich Ihnen ein Glas Wasser holen«, erbot sich Fred und stand auf. March betrachtete ihre Hand und sah, wie sich dunkle Flecken darauf ausbreiteten.

*

»May, meine Süße – ich muss fahren«, versicherte Monty. »Wirklich.«

»Das ertrage ich nicht«, erwiderte May und machte dabei den Eindruck, als würde sie es sehr gut ertragen. »Ich halte es einfach nicht aus. Du hast noch immer nicht gespürt, wie Victor strampelt. Fass ihn an – er soll wissen, dass sein Daddy hier ist.«

Er berührte nur ganz leicht ihr griechisches Kleid, und sie ergriff sofort seine Hand und presste sie an ihren Bauch. Gran beobachtete sie dabei und schnalzte hörbar mit der Zunge. »Du bist schamlos, May Gould ...«

Monty lachte, dann glitten seine Lippen über ihren schönen Hals. »Erst zwingst du mir dieses Baby auf, und nun willst du es allen Leuten zeigen ...«

»O Darling«, gurrte sie, »wie könnte eine Frau einem Mann ein Baby aufzwingen. Sei nicht albern.« Sie hauchte einen Kuss auf sein Ohr und wisperte: »Und war es seither nicht wundervoll?«

In gespielter Entrüstung richtete er sich kerzengerade auf. »In der Tat, May, du bist schamlos! Ich weiß nicht, was du meinst!« Allzu lange konnte er diese Pose allerdings nicht beibehalten, sondern brach in lautes Gelächter aus und schaute in ihre klaren Augen.

Während sie Schinkenstückchen auf ihre Gabeln spießten und einander fütterten, neigte sich Gran zu Tante Sylv hinüber und flüsterte ihr zu: »Wenn es in London auch so zugeht ...«

Und Tante Sylv wisperte zurück: »Sie sind glücklich, die beiden. Nur darauf kommt es an.«

»Ich wünschte, du würdest aufhören, es Victor zu nennen«, seufzte Monty. »Vielleicht ist es ein Mädchen.«

»Nein, es muss ein Junge sein. Für Mutter.«

»Es ist unser Baby, May!«

»Natürlich. Was glaubst du denn, warum er Victor heißt.« May schaute ihm in die Augen und brachte ihn wieder zum Lachen. »Nicht nur in einer Hinsicht war jene Nacht siegreich!«

»Nun muss ich wirklich gehen, May.«

»Macht es dir etwas aus, wenn ich noch ein paar Tage hierbleibe? Die Eltern wissen noch gar nicht, wie schmerzlich sie April vermissen werden.«

»Es macht mir verdammt was aus. Aber ich werde irgendwie damit fertig werden.« Er küsste sie erneut. »Nein, begleite mich nicht zum Bahnhof. Fred Luker sagte, er bringt mich in seinem Auto hin, und ich will mir einen qualvollen Abschied auf dem Bahnsteig ersparen.«

May, die gar nicht beabsichtigt hatte, das Cadena vor dem Brautpaar zu verlassen, lächelte sanft. »Wie wundervoll du bist, Monty! Ich liebe dich, ich liebe dich, Darling, mein Süßer, mein Baby ...«

»Schau sie an!«, entrüstete sich Gran. »Das ist einfach unanständig!«

»Ach, die beiden sind schon in Ordnung«, entgegnete Tante Sylv.

*

»Im Kreuzgang befindet sich ein schönes Fächergewölbe«, erklärte April. »Kannten Sie David schon vor Ihrem Aufenthalt im Lazarett, Mr. Stein?«

»Nein, Miss – Mrs. Daker. Wir waren nur zwei Wochen zusammen. Wir waren die einzigen jüdischen Patienten.«

»Ich verstehe.« David hatte niemals leicht Freundschaften geschlossen. Vielleicht waren seine Freunde bei der Army gefallen. Dass er sich bemüßigt gefühlt hatte, einen Fremden als Trauzeugen zu wählen, war ein Beweis für seine Einsamkeit. Hastig verdrängte sie den bitteren Gedanken. Von jetzt an würde er nie mehr allein sein.

»Zur Rechten können Sie die Stelle sehen, wo Bischof Hooper verbrannt wurde«, sagte sie mit belegter Stimme.

»Hooper?«

»Während der Reformation. Er war einer unserer anglikanischen Märtyrer.« April straffte die Schultern und holte tief Luft. Unter dem Glasdach der Veranda war es heiß und stickig, die Topfpalmen rochen nach Pilzen. »Er wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Er brannte und brannte – und wollte nicht sterben.« Sie wandte sich ab. »Natürlich ging es irgendwann zu Ende.«

»David hat mir erzählt, dass Sie Lehrerin sind, Mrs. Daker.«

»Nur eine Sonntagsschullehrerin. Das ist alles.«

»Sie sollten aufs College gehen und eine richtige Ausbildung machen.«

»In Gloucester dürfen verheiratete Frauen nicht unterrichten«, antwortete sie.

»Ich verstehe. Dann werden Sie David in diesem kleinen Laden helfen, nicht wahr?«

Warum klang das aus seinem Mund so abwertend? »O ja, sicher.« Mit einem strahlenden Lächeln versuchte sie ihm klarzumachen, dass sie nichts lieber tun würde, als David in seinem kleinen Laden zu helfen.

Er blinzelte verwirrt. David hatte ihm von den Rising-Mädchen erzählt, ihren beiden toten Brüdern und den Eltern, die nicht zueinander passten. Er war enttäuscht. Der Vater glich einer stämmigen Bulldogge, ein typischer Brite; die Mutter, keineswegs eine Schönheit, war mager und gebeugt, besaß jedoch eine gewisse Eleganz. Und die Brüder – wie sollte er wissen, wie sie ausgesehen hatten? Aber die Mädchen selbst waren einfach nur blond beziehungsweise brünett, hübsch und unterernährt. Bis jetzt ... Plötzlich erschien ihm diese eine außergewöhnlich.

*

»Großer Gott«, stöhnte David, »wann ist das denn endlich vorbei?«

»Bald, mein Liebling. Ich ziehe dieses lächerliche Kleid aus, und wir schnappen uns Fred, sobald er Monty zum Bahnhof gebracht hat und zurückkommt.«

»Und alle werden uns hinausbegleiten und mit Reiskörnern bewerfen. Übrigens, dieses Kleid ist nicht lächerlich, sondern jungfräulich und sehr aufreizend. Es ist eher modelliert als genäht. Ich lasse mir von May das Schnittmuster geben und werde alle deine Kleider danach machen.«

»Wir könnten einen früheren Zug nehmen und in Cheltenham umsteigen. Lass uns das tun, David!«

»Ich liebe dich, mein süßes Primelchen, ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich.«

»Hör auf, David, du musst nicht ... Es wird geschehen. Wirklich und wahrhaftig. Glaub einfach nur daran, und alles wird wundervoll.«

»Was ist los? Irgendwas ist passiert. Was ist es?«

Beinahe hätte sie ihm von der Begegnung mit Sibbie erzählt. Vielleicht würde sie es noch tun. Wenn sie in Scarborough wären. Heute Abend.

»Nichts. Alles ist in bester Ordnung. Ich liebe dich. O David, ich liebe dich so sehr. Schon von Anfang an. Damals war ich fünf ...« April erinnerte sich, wie er vor der Badezimmertür im Chichester House auf sie gewartet hatte. Bedrohlich und verführerisch zugleich. »Teufel Daker« hatte sie ihn genannt. Sie schauderte.

»Jetzt fühle ich mich wie Mr. Rochester, als er Jane Eyre geheiratet hat, obwohl seine wahnsinnige Ehefrau in einem Zimmer im oberen Stockwerk eingesperrt war«, flüsterte er.

Sie wusste ganz genau, was er meinte. Trotzdem flüsterte sie zurück: »Du hast keine andere Frau. Nirgends. Oder?«

»Nein. Aber irgendwo ist irgendwas verrückt.«

Sie betrachtete sein düsteres, geheimnisvolles Gesicht, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. »Deshalb ist es so – wie es ist«, erwiderte sie.

Als er ihr Handgelenk mit seinem Zeigefinger und dem Daumen umfasste, spürte er ihren rasenden Puls. Er sah ihr in die Augen und erhöhte den Druck. Sie lächelte ihn an, und er zwinkerte ihr zu.

*

Fred setzte ihn an der Great Western Railway Station ab, und Monty schlenderte den Bahnsteig entlang. Dabei zählte er die Mazawattee-Tee-Reklameschilder, so wie früher seine Schwägerin. Er hasste diese Lücke zwischen dem einen und dem anderen Leben. Mays absichtliche Provokation hatte sein Blut erhitzt, und er verfluchte sich, weil er nicht verlangt hatte, sie sollte sofort in die schäbige Londoner Wohnung zurückkehren. In Gedanken probte er zwei Nummern aus der Show, in der er am Abend auftreten würde: »Ich liebe dich heiß, so heiß, und ich hoffe, du liebst mich«, und Mays Lieblingslied: »Komm in den Garten, Maud.« Das würde er mit Maud Davenport singen. May tat so, als wäre sie auf Maud eifersüchtig, wusste aber, dass es keinen Grund dafür gab. Schöne, wundervolle May, sie konnte jede Rolle, die ihr gefiel, spielen. Er ging an einer Bank vorbei, auf der ein paar Fahrgäste saßen. Automatisch straffte er die Schultern, schob seine Melone auf den Hinterkopf und wanderte mit federnden Schritten weiter.

Bei der Fahrkartenschranke wurde er aufgehalten. Eine junge Frau in einem blauen Mantel mit einem einzigen Knopf stürmte hindurch. Sie hatte einen glockenförmigen Hut über die Ohren gezogen, und Ponyfransen fielen ihr in die Augen. Irgendwie erinnerte sie ihn an May, sie war fast so blond, fast so blauäugig, aber um die Taille eindeutig schlanker.

»Sind Sie Monty?«, fragte sie atemlos. Sie hatte die vollen Lippen leicht geöffnet, und er sah ihre Zunge und ihre glänzenden Zähne. »Gerade traf ich meinen Bruder – Sie haben Ihren Schirm in seinem Taxi liegen lassen.« Schwungvoll hielt sie einen Regenschirm hoch, der ihm nicht gehörte. Er fand, mit einem Schirm würde er eher wie ein Geschäftsmann aussehen, nicht wie ein Schauspieler.

»Sie sind ...?«

»Sibbie Luker. Mays ehemalige Freundin«, stellte sie sich vor und lachte. »Keine Bange, ich werde Sie nicht fressen.«

Jeder anderen Frau hätte er den Mann von Welt vorgespielt. Aber Sibbie Luker nicht, denn sie hatte May sehr wehgetan. »Das ist nicht mein Schirm«, erklärte er kühl. Höflich lüftete er seinen Hut. »Tut mir leid, dass Sie den Weg umsonst gemacht haben. Guten Tag.«

Sibbie starrte ihn an und öffnete den Mund noch weiter. »Mein Gott, Sie wimmeln mich ab. Oder tun Sie es etwa nicht? Mays Ehemann wimmelt ihre beste Freundin einfach ab.«

»Guten Tag, Miss Luker.«

»Dafür würde May Sie hassen.«

Wortlos kehrte er ihr den Rücken und setzte seinen Weg auf dem Bahnsteig fort. Doch sie eilte hinter ihm her und redete unentwegt. Neugierige Blicke folgten ihnen.

»So geht das nicht. Sie können nicht einfach weggehen. Ich habe keinen Spaziergang hierher gemacht, sondern bin gerannt. Und ich laufe den Männern nicht nach, die laufen mir hinterher.«

»Dieser nicht, Miss Luker«, stieß er wütend hervor. »Ich bin Mays Ehemann.«

»Ah!« Abrupt blieb sie stehen, und ihr Ausruf bewog ihn, ebenfalls stehen zu bleiben. Die Leute auf der Bank versuchten wegzuschauen. »Ah!«, wiederholte Sibbie. »So sehen Sie sich also. Natürlich haben Sie keine eigene Stellung, also ist May nicht zuerst Ihre Frau, sondern Sie sind ihr Mann. Loyal! Treu! Braver Schwiegersohn von William und Florence Rising und netter Schwager von April und March.« Mit einem langen behandschuhten Zeigefinger berührte sie ihre volle Unterlippe. »Nun frage ich mich, was das für die Beziehung zwischen uns bedeutet.« Sie hielt ihm ihre Hand vors Gesicht. »Selbstverständlich haben wir beide eine Beziehung. Ich bin eine halbe Rising, ich habe immer alles mit May geteilt ...«

»Das habe ich gehört«, warf er wider sein besseres Wissen ein.

»Oh, dann wissen Sie auch über David Bescheid.« Sie lachte und beugte sich nach vorn, wobei sie die Hand gegen ihren himmlisch flachen Bauch presste. »Aber von jener anderen – Verbindung ahnen Sie nichts.« Sie richtete sich auf und wurde wieder ernst, während sie ihn mit schmalen Augen musterte. »Darüber könnte ich Ihnen etwas erzählen. Sicher wollen Sie es nicht hören, weil es May verletzen würde. Vielleicht erzähl ich's Ihnen eines Tages, und dann werden Sie merken, dass es eine Beziehung zwischen uns gibt. Aber nicht jetzt. Da kommt Ihr Zug.«

Zischend füllte die Lokomotive den Bahnhof mit rußigem Rauch und Hitze. Die Leute standen von den Bänken auf, und Gepäckträger eilten geschäftig an den Wagen entlang. Monty ging zu einem leeren Waggon und stieg ein, dicht gefolgt von Sibbie.

»Moment mal ...«, begann er ärgerlich. Ein Fahrgast rempelte Sibbie von hinten an, schob sie gegen Monty, und sie klammerte sich an ihn.

»Lieber Monty, ich muss jetzt leider gehen«, seufzte sie, als würde er sie festhalten. »Gute Reise. Und Sie sind sicher, dass das wirklich nicht Ihr Schirm ist?«

So verspottet und gedemütigt war er sich nicht mehr vorgekommen, seit man ihm 1917 eine weiße Feder überreicht hatte, um ihn wegen seiner Untauglichkeit zum Kriegsdienst zu brandmarken. Er schob Sibbie zur Tür, während sie an seinem Arm hing und ihm ins Gesicht lachte. Der Mann hinter ihm schlug jovial vor: »Küssen Sie ihn ganz schnell, Miss. Dann sollten Sie lieber aussteigen.«

Diesen Rat befolgte sie prompt und ließ ihre Zunge über Montys zusammengepresste Lippen flackern, ehe sie anmutig auf den Bahnsteig sprang.

»Bis bald, Darling! Hoffentlich kannst du ohne mich schlafen!«

Mit wiegenden Hüften tänzelte sie über den Bahnsteig und durch die Sperre, wobei sie den Schirm wie ein Schwert durch die Luft schwenkte. Monty setzte sich in ein Abteil, erhitzt und völlig verwirrt.

Als sie auf der London Road war, erlosch Sibbies Lächeln. »Eines Tages wirst du dich ganz anders benehmen, mein Junge«, murmelte sie und ging zum Cross, wo sie beobachten konnte, wie die Hochzeitsgesellschaft das Cadena verließ. »Eines Tages werde ich das Oberhaupt dieser Familie sein. Du wirst es sehen.«

*

Es war eine lange Reise, und sie erreichten mitten in der Nacht die kleine Pension am Hafen, sodass sie kein Dinner mehr bekamen, nicht einmal eine Tasse Kakao. David kleidete sich im großen, zugigen Bad aus, schlüpfte in seinen neuen Pyjama und den Morgenmantel, den er im Lazarett getragen hatte. Dann stapfte er durch den Flur zum Zimmer zurück. April spähte über den Rand der Bettdecke und sah aus wie eine Zwölfjährige.

»Schau nicht so drein, Darling!«, bat er. »Es ist spät geworden, und wir sind müde. Lass uns schlafen.«

Er fragte sich, wie er jemals den verhängnisvollen Mut gefunden hatte, dieses Mädchen zu heiraten. Als er die Decke zurückschlug, um neben ihr ins Bett zu steigen, sah er, dass sie nackt war.

»April!«

»Red mir nicht ein, ich sollte mich schämen«, wisperte sie. »Ich wusste, du würdest sagen, es ist schon spät. Das wusste ich ...«

»O April, mein Liebling, es muss nicht jetzt geschehen. Unser ganzes Leben liegt vor uns ...«

»Aber ich will es. Dich will ich, David. Jeder sagt, ich sei zu jung, und alle glauben, ich hätte deinen Antrag nur angenommen, damit du für mich sorgst. Das ist so komisch! Was ich im Cadena sagte, war die reine Wahrheit. Seit ich dir mit fünf Jahren zum ersten Mal begegnet bin, habe ich dich geliebt – und begehrt.«

»Das ist in physischer Hinsicht unmöglich.« Mit der linken Hand begann er ihren Körper zu streicheln, mit der rechten hielt er sie fest. Seine Finger berührten ihr Kinn, zogen eine unsichtbare Linie zwischen ihren Brüsten hinab, über ihren Bauch und wieder nach oben.

»Bitte, David ...«, drängte sie ihn.

»Wir haben noch so viel Zeit, mein süßes Primelchen.«

Es schauderte und schüttelte sie, als hätte sie Fieber. Endlich glitten seine Finger zwischen ihre Beine. Als sie ekstatisch aufstöhnte, küsste er sie. Viel später flüsterte er: »Genügt dir das, mein Darling?«

»Ich bin müde, David. So müde.«

»Also genügt's dir. Schlaf jetzt, Primelchen.«

»David, es war schön. Aber warum ...?«

»Das habe ich dir erklärt. Uns bleibt noch so viel Zeit. Warst du glücklich, Darling?«

»Ja. Ja wirklich.«

Es stimmte. Doch sie empfand auch eine leise Scham. Und etwas anderes. Angst? Sie drehte sich zur Seite, schmiegte sich an seinen Pyjama und spürte, wie er zusammenzuckte, weil sein Bein schmerzte. Nein, sie würde ihm nicht von Sibbie erzählen. Nicht jetzt. Vielleicht niemals. Er hatte sie umarmt und geküsst und beteuert, er würde sie anbeten.

Allmählich verflog das Schamgefühl, und sie schlief ein.

2

Fred Luker überlegte lange und gründlich, warum March Tomms ihn auf dem Hochzeitsfest zurückgewiesen hatte. Auf der einen Seite kam ihm das gar nicht so ungelegen. Er war ein ehrgeiziger Mann und fest entschlossen, in möglichst kurzer Zeit viel Geld zu machen. Da würde ein Scheidungsskandal seinen geschäftlichen Interessen mit Sicherheit schaden. Hätte March ihn gebeten, ihrer absurden Ehe mit ihrem Großonkel ein Ende zu bereiten, würde er es tun, weil er sie liebte. Aber er konnte sie genauso gut lieben, wenn sie sich weiterhin in der gegenwärtigen zwiespältigen Situation befand. Nur er, March und ihr Mann Edwin Tomms wussten, dass diese Ehe am Ende war. Ironischerweise wünschte Edwin, der in seiner Heimatstadt Bath eine angesehene Persönlichkeit des öffentlichen Lebens war, einen Skandal ebenso zu vermeiden wie Fred. Vorgeblich war March nur zu einem längeren Besuch in ihrem Elternhaus, um ihrer kränklichen Mutter zu helfen. Es war tatsächlich so, dass sich Florence seit der letzten Schwangerschaft vor siebzehn Jahren nicht wohl fühlte. Niemand fand es seltsam, dass sie außer Gran Rising und Tante Sylv, die ihr im kleinen Haushalt an der Chichester Street beistanden, auch noch ihre älteste Tochter und ihr erstes Enkelkind Albert-Frederick brauchte.

Ja, dieses Arrangement gefiel Fred Luker. March und ihr Sohn wohnten in seiner Nähe, und er musste ihnen kein Heim bieten. Lediglich ging ihm in letzter Zeit Marchs Verhalten unter die Haut.

Seit seinem siebzehnten Lebensjahr war er von ihr besessen. Sie hatte ihn herausgefordert, schamlos benutzt und dann fallen gelassen. Er hatte gelitten und gebangt und auf sie gewartet – bis 1917. Nach dem Tod ihres Bruders an der Somme war er während eines Fronturlaubs nach Hause gekommen und hatte eine für immer veränderte March vorgefunden. Die Trauer hatte ihr die leidenschaftliche Unabhängigkeit, die er so an ihr geliebt hatte, geraubt. Halb wahnsinnig vor Verzweiflung, verkroch sie sich in einem finsteren Schneckenhaus und dachte nur daran, zu sterben. Doch dann hatte sie sich ihm, Fred, zugewandt – dankbar für die Nähe eines Menschen, dem sie ihre gequälte Seele offenbaren konnte, der sie so gut kannte und mit allen ihren Fehlern liebte. Und zurück aus dem Krieg, von den Toten auferstanden, war er letztes Jahr zu Weihnachten nach Bath gefahren, um sie – notfalls mit Gewalt – aus ihrer Vernunftehe herauszuholen. Da hatte sie sich erneut in seine Arme geworfen, freudig und hemmungslos, und das musste bedeuten, dass sie seine Gefühle erwiderte.

Und seit damals ... was war geschehen? Er hatte mit ihr über seine beruflichen Aussichten gesprochen – nicht nur, um sie aus ihrem Schneckenhaus herauszuholen, sondern auch, weil er ihr Interesse und ihre Ermutigung brauchte. Offensichtlich hatte er sie gelangweilt. Er bat sie, wegen eines Kredits an Mr. Edward Williams, ihren früheren Arbeitgeber, heranzutreten. Das hätte ihr keine Schwierigkeiten bereitet, denn Bridget Williams war ihre beste Freundin. Aber sie hatte es nicht getan. Dann bat er sie, eine Schreibmaschine zu kaufen, damit sie mit ihren Kenntnissen Briefe für ihn tippen könnte, aber sie hatte diese Idee für verrückt erklärt. Und jetzt, nachdem er seinen Stolz wieder einmal hinuntergeschluckt und ihr vorgeschlagen hatte, ihn für ein paar Tage in den Dean of Forest zu begleiten, war die Antwort ein kategorisches Nein gewesen, und er stand erneut am Anfang. Wie vor dem Krieg bettelte er wie ein liebeskranker Trottel um Marchs Gunst. Aber auch er hatte sich verändert, seit er einem schlesischen Kriegsgefangenenlager halbwegs gesund und bei klarem Verstand entkommen war. Er war nicht mehr der Fred Luker aus den Jahren vor 1914, der das Zugpferd seines Vaters betreut, in seiner Freizeit an Autos herumgebastelt und entsprechend gerochen hatte.

Und so fuhr er am Montagmorgen nach Aprils Hochzeit wieder einmal nach Bath, auf der gleichen Route wie zuvor bei seinem Entschluss, March ihrem Ehemann und Onkel zu entführen. Er befand sich auch in ähnlicher Stimmung. Ein schwaches, erwartungsvolles Lächeln erhellte sein normalerweise eher ausdrucksloses Gesicht, und nicht nur wegen der hellen Strahlen der Junisonne kniff er die blauen Luker-Augen zusammen, sondern weil er angestrengt nachdachte. Endlich glaubte er zu wissen, wie er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte. Er brauchte Bargeld, und er wollte March eine Lektion erteilen. Wenn es das Schicksal gut mit ihm meinte, würde er beide Ziele erreichen.

Vor der langen Abfahrt den Berg hinunter ins Zentrum von Bristol schaltete er in den zweiten Gang, und sein Lächeln vertiefte sich, während sich der stumpfnasige kleine Morris an den Lastkarren und Lieferwagen in der Whiteladies Road vorbeischlängelte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er den Rollwagen seines Vaters gelenkt, hinter dem Gaul gesessen und die zahllosen, vom Pferdeschwanz verscheuchten Fliegen gefangen. Ein Dienstbote war er gewesen, nicht mehr. Als er in Aldershot, beim Verkauf von Army-Lagerbeständen, einen Laster gekauft hatte, war er immer noch ein Dienstbote gewesen. Sein Vater hatte betont, dass dieser Wagen die wahre Unabhängigkeit bedeute, denn niemand würde ihm seinen Atem in den Nacken pusten. »Du bist dein eigener Herr«, hatte er gesagt. Aber Tatsache blieb, man wurde von anderen Leuten engagiert, von anderen Leuten bezahlt und fühlte sich auch weiterhin wie ein Dienstbote.

Jetzt war er ein Entrepreneur, ein Unternehmer – das war etwas ganz anderes. Der Morris polterte über das Kopfsteinpflaster am Hafen. Dann bog Fred in die Straße nach Bath und Wells. Im Kriegsgefangenenlager hatte er einiges aufgeschnappt. Entrepreneur, so hatte sich Fritz genannt. Der hatte Geschäfte zwischen den schlesischen Kumpeln und den Eisengießereien ausgehandelt und sich an beiden bereichert. Von beiden war er während der Warenknappheit in Kriegszeiten hofiert worden, vor niemandem hatte er den Hut gezogen. Und diesem Beispiel würde er, Fred, folgen. In der Pickles-Fabrik hatte seine Schwester Gladys ein gutes Wort für ihn eingelegt. Da durfte er sich einiges erhoffen. Bartie Hall, ein Aufseher im Gloucester Prison, hatte erklärt, wenn der Preis stimme, würde der Gefängnisdirektor gern bei einem Kriegsveteranen kaufen. Schon dreimal hatte Fred im Dean of Forest mit den Freeminers, den kleinen Minenbesitzern, geredet. Klar, die waren ziemlich schwerfällig. Aber wenn er ihnen ein paar Geldscheine vor die Nase hielt, würden sie ihn sicher beliefern.

Das Land am verträumten Avon war flach. Welch ein Unterschied zum turbulenten Severn in Gloucester. Ein Straßenschild sagte, dass sich Fred dem Dorf Keynsham näherte. Er drosselte das Tempo und musterte die riesige Schokoladenfabrik zu seiner Linken. Dann fuhr er ins idyllische Tal von Bath hinab.

Als Edwin Tomms 1868 Elizabeth Rhys-Davies heiratete, war er bereits ein erfolgreicher Eisenwarenhändler. Er schenkte ihr ein schönes Haus in Bath und eine Kutsche und stellte zwei Bedienstete für sie ein und war der Grund für vier Fehlgeburten. Da ihr die Mutterschaft versagt blieb, zeigte Elizabeth – Tante Lizzie – ein reges Interesse an der Familie ihrer verwaisten Nichte. Ebenso wie ihre arme Mutter, hatte Florence nicht standesgemäß geheiratet. Aber Will Rising war ein ehrgeiziger Mann und ein verantwortungsvoller Familienvater. Lizzie mochte ihn, liebte und bewunderte die sanftmütige Florence und vergötterte die Kinder. Nachdem Florrie bei Teddys Geburt fast gestorben wäre, nahm Lizzie die Mädchen, Albert und sogar das Baby für drei Monate bei sich auf. Dadurch festigten sich die Familienbande.

March war Lizzies Liebling. Mit dunklerem Haar als ihre Schwestern, glich sie nicht den Risings, sondern den Rhys-Davies. Sie bewies vielversprechende Talente, und sie liebte es, Geschichten über ihren Urgroßvater zu hören, den man infolge eines unveräußerlichen Erblehens um das Vermögen seiner Familie gebracht hatte. Auch Onkel Edwin sah eine Rhys-Davies in ihr, eine junge Lizzie. Schon als sie ein kleines Mädchen war, hatte er March angebetet und ihre Zuneigung mit Geschenken erkauft. Und nach dem Tod ihrer geliebten Tante Lizzie hatte er sie geheiratet und ihr bei Albert-Fredericks verfrühter Geburt beigestanden.

Im letzten Januar war Fred Luker nach Bath gekommen und hatte erklärt, Albert-Frederick sei keineswegs zu früh geboren und nicht Edwins Sohn. Der alte Mann glaubte, den Verstand zu verlieren. Voller Zorn änderte er sein Testament, damit weder March noch ihr Bastard einen einzigen Penny erhalten würden, und wartete auf den Tod.

Aber er starb nicht, und er verfiel auch nicht dem Wahnsinn. Stattdessen konnte er zum ersten Mal seit Lizzies Tod wieder klar denken. Damals hatte er in einer seltsamen Traumwelt gelebt, fest überzeugt, March würde die Nachfolge seiner verstorbenen Frau antreten. Als sie an jenem Septembernachmittag vor seiner Tür stand, war er deshalb nicht erstaunt. Lizzie hatte gewünscht, ihre Lieblingsnichte sollte »alles« bekommen. Zweifellos gehörte Edwin zu »allem«. Und Marchs Kommen bestätigte ihn in seinem Wunschdenken und ermöglichte ihm, weiterhin in seiner Utopie zu leben – zusammen mit seiner zweiten Frau.

Seit ihrer plötzlichen Abreise verstand er, warum sie zu ihm gekommen und bei ihm geblieben war, und ihm wurde ein Teil seiner Egomanie zwangsläufig geraubt. Offenbar hatte Lizzie mit ihrer Bitte, March »alles« zu geben, nicht ihn gemeint. Nun erkannte er, dass seine Nichte nicht für ihn bestimmt und keine verjüngte Lizzie war, sondern eine halbe Rising. Von dieser Familie hatte sie ihr berechnendes Wesen geerbt und sich bei der lieben Tante nur eingeschmeichelt, um sich deren irdisches Gut anzueignen. Nach Lizzies Tod hatte sie sich über ein Jahr lang nicht um ihn gekümmert, und dann war sie plötzlich bei ihm aufgetaucht, weil es sonst niemanden gab, der sie vor der Schande bewahrt hätte.