KOELLBERGS Teil I - Eibensteins Erbe - John George Bernard - E-Book

KOELLBERGS Teil I - Eibensteins Erbe E-Book

John George Bernard

0,0

Beschreibung

Frisch von der Polizeiakademie tritt der 19-jährige Thomas Koellberg seinen Dienst bei der Schutzpolizei in Hamburg an. Der Polizeialltag mit seinen teils grauenvollen Facetten stellt den sensiblen, in behüteten Verhältnissen aufgewachsenen jungen Mann vor große Herausforderungen. Gleich sein erster Nachteinsatz beschert ihm einen schweren Verkehrsunfall. Erste Ermittlungen ergeben, dass dieser vorsätzlich herbeigeführt wurde. Und so stellt sich für Tom die Frage, warum ein erfolgreicher junger Akademiker mit drei toten Jugendlichen im Auto mitten in Hamburg absichtlich gegen einen Baum fährt. Die entwaffnende Offenheit des empathischen jungen Polizeimeisters bringt ihm viele Sympathien ein, macht ihn aber auch angreifbar. Unterstützt wird Thomas von seiner Familie und Freunden, die sich beruflich ebenfalls mit der Strafverfolgung befassen. Jedoch können auch deren subtil eingesetzte Hilfsmaßnamen den Berufsanfänger nicht vor allen lebensbedrohlichen Situationen schützen. So gerät Tom schon bald in die Schusslinie eines skrupellosen Killers, der erbarmungslos zuschlägt und damit die Familie, Freunde und Kollegen an die Grenzen ihrer Leidensfähigkeit bringt...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 545

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



PROLOG

Am Abend des Gründonnerstag 2012 hatte die Kriminaldirektorin, Henriette Koellberg noch lange wach gelegen, als der Chef ihres Sohnes, Kriminalhauptkommissar Harms sie anrief. „Hallo Peter, wenn du mich um diese Zeit anrufst, ist etwas passiert. Sag mir bitte, dass es nicht das ist, was ich befürchte.“

„Henriette, alles was ich dir jetzt sagen kann ist, dass dein Sohn lebt und gerade in das AK St. Georg gebracht wird. Er hat einen Schuss in die Brust abbekommen und sich beim Fallen eine Kopfverletzung zugezogen.“

„Aber er hatte doch seine Weste an. Ich habe doch gesehen, wie er sie vorhin angezogen hat!“, rief Frau Koellberg angsterfüllt.

„Das ist richtig, aber Thomas wurde von einem extrem großen Kaliber aus nächster Nähe getroffen. Dafür sind unsere Kevlar-Westen nicht ausgelegt. Im Moment können wir nur hoffen, dass die Weste das Schlimmste verhindert hat. Aber ihr solltet doch lieber in die Klinik fahren. Carlo und ich kommen auch, sobald es geht.“

„Wir machen uns sofort auf den Weg; danke Peter.“

Frau Koellberg weckte ihren Ex-Mann, Robert und die drei jungen Leute, die in dieser Nacht als Gäste im Haus geblieben waren, nachdem ihr Sohn am Abend zu einem Sondereinsatz gerufen wurde. Toms Freundin, Anke kämpfte mit den Tränen und brachte kein Wort heraus. Auch Jörg und Gregor, die beiden Freunde ihres Sohnes, denen Henriette vorübergehend Quartier gewährt hatte, waren sichtlich geschockt. Natürlich wollten alle mit in die Klinik fahren, und gemeinsam machten sich die Ex-Eheleute mit ihren jungen Gästen auf den Weg nach St. Georg.

Im Krankenhaus begaben sie sich direkt zur Anmeldung in der Notaufnahme, und Henriette erkundigte sich nach ihrem Sohn. „Thomas Koellberg? Ein Neuzugang? Den Namen habe ich noch gar nicht im System, da muss ich erst nachfragen“, sagte die Empfangsschwester freundlich. „Meinen sie die Schussverletzung, die hier vor einer guten halben Stunde eingeliefert wurde?“ Henriette nickte. Sie hatte sich bei Robert eingehakt, und alle standen zusammen an der Empfangstheke, deren Uhr in diesem Moment genau Mitternacht anzeigte.

Mit angsterfüllten Blicken beobachteten sie die diensthabende Schwester, während diese telefonierte. „Die Schussverletzung! -- Ja die Einlieferung von 23:30 Uhr! -- Der ist ex? Oh Gott!“ Die Schwester warf Frau Koellberg einen erschrockenen Blick zu, und bevor sie noch etwas sagen konnte, sackten Henriette die Beine weg. Robert und Gregor konnten sie gerade noch auffangen und zu einer Sitzbank im Wartebereich führen.

Die Nachricht traf die kleine Gruppe wie eine Bombe. Der kleine Jörg, der erst kürzlich seinen besten Freund verloren hatte, rannte verzweifelt hin und her und schrie wie von Sinnen. „Nein! nein! Das ist alles meine Schuld; ich bringe allen nur Unglück.“ Anke stand bewegungslos zwischen ihnen und stierte geradeaus ins Leere. Gregor gelang es, die beiden einzufangen und ebenfalls auf die Wartebank zu setzen.

In diesem Moment betrat der Chef mit Carlo und dessen Freundin, Maria die Eingangshalle. Als Carlo in die Gesichter seiner Lieben blickte, ahnte er sofort, was geschehen war. Er warf Robert einen fragenden Blick zu; der nickte nur.

Carlo traf es wie ein Keulenschlag. Tränen schossen ihm in die Augen. Dann fiel der Brasilianer vor Henriette auf die Knie. Aus seiner leisen Stimme klang Verzweiflung. „Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte meinen kleinen Bruder da nicht alleine reingehen lassen dürfen. Das werde ich mir niemals verzeihen!“

Henriette starrte geradeaus; aber sie strich Carlo über die Haare. „Peter und ich wir haben zugestimmt“, flüsterte sie schwach, „und wir wussten, was wir taten. Dich trifft überhaupt keine Schuld.“

Maria hatte sich zu Anke gesetzt. Die beiden hielten sich eng umschlungen und weinten leise vor sich hin. Gregor hielt den weinenden Jörg fest in seinen Armen und wiegte ihn wie ein kleines Kind hin und her. Henriette hatte sich an Robert gelehnt und stierte mit leerem Blick vor sich hin. „Was soll nun aus uns allen werden?“, flüsterte sie ihrem Ex zu.

Der Chef wandte sich an Carlo, als der sich wieder erhoben hatte. „Irgendjemand muss den Jungen identifizieren.“ Carlo holte tief Luft. „Das können wir Henriette und Robert jetzt nicht zumuten, ich muss das machen. Lassen wir den anderen etwas Zeit.“

Carlo zeigte am Empfangstresen seinen Polizeiausweis vor. „Ich werde den Kollegen identifizieren“, sagte er mit gesenkter Stimme, „seine Familie wird ihn dann später sehen wollen.“

Die Empfangsschwester telefonierte kurz. Dann sagte sie, „nehmen sie den Lift da drüben ins 1. UG. Sie werden dort erwartet.“ Carlo bedankte sich.

Unten am Lift begrüßte ihn eine sympathische, orientalisch aussehende junge Frau. „Moin, ich bin Amara Al Naimi, Medizinstudentin im 7. Semester. Ich schiebe regelmäßig Nachtdienst in der Notaufnahme. Ich soll dich zu der Schussverletzung bringen.“

„Ich bin Kriminalkommissar Carlo Marques; ein Kollege und so etwas wie der ältere Bruder des Verstorbenen.“

Amara musterte ihn von der Seite. „Du! Das glaube ich jetzt aber nicht“, murmelte sie leise vor sich hin.

Sie gingen den langen Flur entlang, und Carlo spürte seine Beine immer schwerer und seine Schritte immer langsamer werden. Amara hakte sich bei Carlo unter. „Komm Carlo, setzen wir uns einen Moment.“ Sie setzten sich auf eine Wartebank, und Amara kramte ein Stück Traubenzucker aus ihrem grünen Overall. „Und jetzt noch ein paar Mal tief Luft holen!“

Carlo erhob sich wieder. „Bringen wir's hinter uns“, flüsterte er. Amara blieb bei ihm eingehakt, bis sie in der Pathologie angekommen waren.

Die Leiche lag auf einem OP-Tisch und war mit einem großen grünen Laken abgedeckt. Die beiden traten an das Kopfende des Tisches. Carlo spürte, wie ihm die Tränen wieder in die Augen schossen und es ihm die Kehle zuschnürte. Abschied nehmen zu müssen, von dem Menschen, den er am meisten liebte, und den er all die Jahre mit großer Hingabe unterstützt hatte, das ging über seine Kräfte. Er hielt sich an dem OP-Tisch fest. ‚Wenn ich doch bloß an Tommys Stelle hier liegen könnte‘, dachte er sich.

„Bist du bereit? Es ist kein schöner Anblick!“, warnte Amara. Carlo holte tief Luft und nickte. Amara hob das Laken an, so dass Carlo den Kopf der Leiche sehen konnte. Der wies eine schwere Schussverletzung auf. Im gesamten Stirnbereich war der Schädel durch einen Streifschuss aufgerissen. Der entsetzliche Anblick ließ Carlo den Atem stocken. Er benötigte drei Sekunden um zu realisieren, dass der arme Kerl da vor ihm nicht sein geliebter kleiner Bruder war. Eine neue Hoffnung flammte in ihm auf, und es klang wie ein Freudenschrei. „Das ist nicht unser Tommy!“

***

Vier Wochen zuvor:

SONNTAG, 11.03.2012

Es war 19:45 Uhr, als Thomas seinen betagten blauen Golf wie gewöhnlich in der Tiefgarage des Polizei-Kommissariats 33 am Goldbek-Kanal parkte. In dieser Woche war er zum ersten Mal für den Nachtdienst eingeteilt worden, und der begann um 20:00 Uhr.

Tom hatte es sich angewöhnt, immer eine Viertelstunde vor Dienstbeginn im PK aufzuschlagen. Er hasste Unpünktlichkeit, und als Neuer wollte er sich auf keinen Fall durch Verspätungen unbeliebt machen.

Nach Abschluss der Polizeiakademie war er Anfang Januar diesem Kommissariat zugeteilt worden. In den ersten vier Wochen hatte er im Innendienst und anschließend tagsüber im Streifendienst seine ersten Erfahrungen mit dem Polizeialltag gesammelt.

Mit seinen 19 Jahren gehörte der frisch gebackene Polizeimeister, Thomas Koellberg natürlich zu den absoluten Greenhorns, aber er hatte sich durch sein ruhiges, freundliches Auftreten und sein überlegtes Handeln bereits einen ersten Achtungserfolg bei seinen Kollegen erworben.

Insbesondere sein doppelt so alter Teamkollege, Polizeiobermeister Ole Jensen, mit dem er die letzten sechs Wochen im Einsatz unterwegs gewesen war, schätzte seinen neuen Kollegen. Die Chemie zwischen den beiden stimmte vom ersten Tag an.

Ole war ein erfahrener Streifenpolizist, und er hatte einen siebten Sinn entwickelt für brenzlige Situationen. Er redete wenig, was Tom sehr schätzte, aber er versäumte es nie, seinen jungen Kollegen auf mögliche Gefahrenmomente hinzuweisen.

Thomas kam aus einem sogenannten guten Hause, und seine gerade begonnene berufliche Laufbahn war eigentlich nicht standesgemäß. Sein Vater Robert war ein angesehener Richter am Hamburgischen Oberlandesgericht, und seine Mutter Henriette bekleidete beim LKA als Kriminaldirektorin eine Führungsposition.

Die Eltern hätten es gern gesehen, wenn ihr einziges Kind das Abitur gemacht und Jura studiert hätte. Nach der Grundschule war Thomas deshalb auf das Gymnasium gewechselt mit anfänglich recht gutem Erfolg.

Aber als er grade 13 wurde, hatten sich seine Eltern zur Scheidung entschlossen. Er, damals noch Staatsanwalt, und sie Kriminalrätin beim LKA hatten es nicht mehr geschafft, ihren beruflichen Alltag mit ihrem Privatleben zu koordinieren, was zu einer allmählichen Distanzierung voneinander geführt hatte.

Auslösendes Moment für die Trennung aber war ein schreckliches Erlebnis gewesen, welches dem sensiblen Jungen durch eine Unachtsamkeit des Vaters widerfahren war. Der Vorfall hatte Tom so stark traumatisiert, dass er ihn aus seinem Gedächtnis verdrängt hatte.

Schon unter diesem Zerfall seiner Familie hatte der Junge sehr zu leiden gehabt. Seine gerade beginnende Pubertät gab den Rest dazu. Seine Frustration führte im Laufe des folgenden Jahres zu einem vehementen Leistungsabfall in der Schule. Man legte seinen Eltern und ihm nahe, das Gymnasium nach dem Erwerb der Mittleren Reife zu verlassen, womit Thomas nur zu gern einverstanden war.

Dabei war Tom keineswegs unterbelichtet. Seine Lehrer bestätigten ihm ein hohes Maß an Intelligenz und analytischem Denkvermögen. Gleichwohl fiel es ihm schwer, komplexe Sachverhalte zu verinnerlichen, wenn er nicht gleichzeitig auch einen Bezug zur Praxis herzustellen vermochte. Dagegen hatte er keine Schwierigkeiten, praktische Problemstellungen systematisch zu analysieren und geeignete Lösungen zu erarbeiten.

Seinen Frustrationsabbau konnte Tom damals recht gut bewältigen, indem er viel Sport trieb. Er erhöhte sein tägliches Joggingpensum von fünf auf zehn Kilometer, und die Frequenz seiner Besuche im örtlichen Judo-Club, dem er bereits mit zehn Jahren beigetreten war, steigerte er von einmal auf dreimal wöchentlich.

Er schätzte den respektvollen Umgang der Judoka untereinander und die Ernsthaftigkeit und Präzision bei der Ausübung dieser Sportart. Schon bald nach seinem Eintritt in den Club hatte er dort eine enge Freundschaft geschlossen mit Carlo Marques, einem sechs Jahre älteren Polizeischüler. Carlo war im Club als Nachwuchstrainer tätig. Der kleine Tom war ihm wegen seines Talents schon früh aufgefallen. Carlo fand rasch Zugang zu dem Jungen, und von da an kümmerte er sich in rührender Weise um seinen Schützling.

Mit Carlos Hilfe schaffte es Tom trotz seines jugendlichen Alters schon bis zum 1. Kya, und durfte nun den braunen Gürtel tragen. In Wettkämpfen hatte er bereits erste Erfolge zu verzeichnen, und er war ein gern gesehenes Mitglied und ein anerkannter Kämpfer. So nahm Tom sich fest vor, schon mit 16 zur Prüfung für den 1. Dan zugelassen zu werden.

Nach der Trennung der Eltern blieb Tom bei seiner Mutter, die auch das Sorgerecht für ihn ausübte. Die Trennung war einvernehmlich erfolgt, und beide Eltern waren, wohl auch aus Schuldbewusstsein ihrem Sohn gegenüber, sehr bemüht, eine freundschaftliche Beziehung aufrecht zu erhalten.

Robert überschrieb seiner Frau seine Hälfte ihres gemeinsamen Hauses. So konnten Mutter und Sohn in der kleinen alten Villa in Winterhude wohnen bleiben, in der er seine gesamte Kindheit verbracht hatte, und er konnte seinen Vater besuchen, wann immer er wollte.

Natürlich hatten seine Eltern sich angesichts des drohenden Schulabgangs bemüht, Tom einen Weg aufzuzeigen und ihn zu stabilisieren. Sie wussten aber auch, dass sie einen pubertierenden Trotzkopf, für dessen Zorn sie sich selbst mitverantwortlich fühlten, kaum mit guten Worten und schon gar nicht mit Zwang beeinflussen konnten. Einzig und allein ein verständnisvoller Umgang konnte hier etwas bewirken.

So sprachen beide Ihren Sohn hin und wieder in behutsamer Weise zum Thema seines weiteren beruflichen Werdegangs an. Dabei vermieden sie aber jeglichen Druck, sondern beließen es bei Vorschlägen und dem Angebot einer persönlichen Hilfestellung.

Diese behutsame Vorgehensweise seiner Eltern und die hingebungsvolle Zuneigung seines Judo-Trainers verfehlten nicht ihre Wirkung auf Toms Persönlichkeitsbildung.

Die Bemühungen dieser drei Bezugspersonen wurden begünstigt durch den offensichtlich bereits beginnenden pubertären Umbau in Toms Großhirn. Demzufolge entwickelte dieser schon relativ frühzeitig ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein.

So bat der inzwischen knapp 15-jährige Sprössling seine Eltern eines Tages um ein gemeinsames Gespräch, in dem er Ihnen seine Entscheidung bezüglich seines weiteren beruflichen Werdegangs eröffnete.

Ohne Umschweife erklärte er seinen gleichermaßen gespannten wie verdutzten Erzeugern, dass er sich dazu entschlossen habe, gleich seiner Mutter die Polizei-Laufbahn einzuschlagen.

Mangels Fachhochschulreife wolle er zunächst den Umweg über den mittleren Dienst wählen, um sich letztendlich für den gehobenen Dienst zu qualifizieren. Die dafür erforderlichen Voraussetzungen werde er durch den Besuch der zweieinhalbjährigen Polizeiakademie mit anschließendem dreijährigem Einsatz im mittleren Dienst bei der Schutzpolizei erwerben.

Im Anschluss daran wolle er das zweijährige Aufbaustudium an der Polizeihochschule absolvieren.  Das Jahr bis zum Erreichen des Mindestalters für den Eintritt in die Polizeischule wolle er als hauptamtlicher Sportassistent in seinem Judo-Club überbrücken.

Die Eltern waren beeindruckt von dem durchdachten und im Ablauf präzise geplanten Vorhaben ihres Sohnes. Natürlich war ihnen klar, dass Toms Judotrainer einen wesentlichen Beitrag zu dieser plötzlichen Entscheidung geleistet hatte. Gleichwohl waren sie überglücklich über den augenscheinlich erfolgreichen Verlauf der inneren Reifung ihres geliebten Kindes.

War es doch knapp ein Jahr zuvor noch vorgekommen, dass eine Polizeistreife ihren sturzbetrunkenen Filius nachts von der Straße aufgelesen und mit kollegialer Freundlichkeit ohne viel Aufhebens bei ihnen zu Hause abgeliefert hatte.

Nach einem kurzen Blickaustausch mit seiner Ex sprach der Vater den entscheidenden Satz, und stellte damit die Weichen für das zukünftige berufliche Schicksal seines einzigen Sohnes. „Deine Mutter und ich würden dir von uns aus nicht zu diesem Beruf geraten haben, aber wenn du dich nun einmal so entschieden hast, werden wir deine Entscheidung nicht nur respektieren, sondern sie mittragen und beide uneingeschränkt hinter dir stehen.“ Von diesem Moment an fühlten alle drei, dass das Zusammenleben für sie wieder etwas einfacher werden würde.

Bereits kurz darauf wurde Thomas mit Unterstützung seines Trainers offiziell zum Sport- und Vereinsassistenten seines Clubs benannt. Ihm wurde die Betreuung der Kya-Grade 8 bis 5 übertragen, und auch seine Anwartschaft auf den 1. Dan mit verkürzter Vorbereitungszeit wurde positiv beschieden.

So wurde er wenig später mit 16 Jahren einer der jüngsten Träger des schwarzen Gürtels. Er bewarb sich frühzeitig an der Polizeischule, die er knapp 19-jährig erfolgreich beendete, um nun seinen beruflichen Anfang auf seinem Wunsch-PK zu beginnen.

Die Akademie hatte er als einer der fünf Jahrgangsbesten abgeschlossen. Insbesondere in allen sportlichen Disziplinen, sowie in Sozialkompetenz und in der polizeipraktischen Ausbildung hatte er beste Beurteilungen erhalten. Aber auch in den Bereichen der allgemeinen Bildung und des Rechtswesens hatte er gute bis sehr gute Ergebnisse erzielen können.

Einzig und allein in der Schießausbildung hatte Tom sich als ziemlicher Versager gezeigt, und sich damit dem Spott und der Häme einiger seiner Kameraden ausgesetzt.

Aus einem für ihn nicht erklärbaren Grund überkam ihn auch heute noch ein unangenehmes, bedrohliches Gefühl, sobald er eine Waffe in die Hand nahm. Zwar war ihm beim Scheibenschießen eine leidliche Trefferquote gelungen, aber im Schießkino hatte er dagegen immer wieder kläglich versagt.

Diesen Umstand und auch die jugendliche Erscheinung des weitaus jüngsten Kursteilnehmers hatten ein paar der älteren Mitschüler zum Anlass genommen, immer wieder ihren Spott mit ihm zu treiben.

Anführer dieser fünfköpfigen Clique war ein brutal wirkender Kerl namens Boris. Er hatte Tom immer wieder als halbe Portion bezeichnet, und ihm den Titel: ‚PvD‘ verliehen, was so viel wie Pussy vom Dienst bedeuten sollte.

Zu persönlichen Übergriffen war es zwar nie gekommen, denn einen Schulverweis wollte niemand riskieren. Gleichwohl hatte Tom eine Vielzahl derber Späße zu ertragen, bei denen oftmals die Grenze zur Peinlichkeit überschritten wurde.

Für Tom war das eine harte Schule gewesen. Aber dank seiner in der Judoausbildung erworbenen mentalen Fähigkeiten war es ihm gelungen, sich nicht provozieren zu lassen, sondern die Kränkungen wegzustecken und Hohn und Spott zu ignorieren.

Davon abgesehen aber war der schlanke, nordische Typ mit blonden Haaren und blauen Augen nicht nur bei der weiblichen Belegschaft in der Polizeischule gut angekommen. Auch dem Gros der Mitschüler und den Ausbildern hatte das besonnene Verhalten des Jungen Respekt abgenötigt.

Hier im PK dürfte abgesehen von seinem Erscheinungsbild auch seine Herkunft zu seinem Erfolg beigetragen haben. Natürlich war allen bekannt, wessen Sprössling sie da als Kollegen bekommen hatten. Aber bisher hatte das niemand auch nur ansatzweise thematisiert.

Auch wenn ihm die Umständlichkeit des Beamtenalltags bisweilen auf die Nerven ging, fühlte Tom sich wohl in seiner ersten Stelle im Polizeidienst.

Heute Abend also würde Thomas seinen ersten Nachteinsatz mit Ole fahren. Das Übergabe-Briefing mit der Tages-Crew war schnell erledigt. Abgesehen von den üblichen Banalitäten, wie Lärmbeschwerden, Nachbarschaftsstreitigkeiten und ein paar leichteren Verkehrsunfällen gab es an diesem Abend keine offenen Punkte. Für die Besatzung „Jensen/Koellberg“ des FuStw. P. 33/03 begann ein ruhiger Routine-Abend.

Das änderte sich schlagartig mit dem um 01:16 Uhr eingehenden Notruf, der dem jungen PM Koellberg ein Schlüsselerlebnis bescheren und die Dramaturgie seines Lebens nachhaltig verändern sollte.

Gemeldet wurde ein schwerer Verkehrsunfall auf der unmittelbar am Stadtpark gelegenen Saarlandstraße mit erheblichem Sach- und Personenschaden, weshalb neben der Polizei auch die Feuerwehr mit Notarzt- und Rettungswagen ausgerückt war.

Als die beiden Polizeibeamten am Unfallort eintrafen bot sich ihnen ein grauenhaftes Bild. Im grellen Licht der Arbeitsscheinwerfer erkannten sie einen PKW, der offensichtlich mit hoher Geschwindigkeit gegen eine unweit der vierspurigen Straße stehende alte Eiche geprallt war.

Die Deformierung des Fahrzeugs war so umfangreich, dass es auf Anhieb nicht auszumachen war, wie viele Personen in dem Fahrzeug gesessen hatten. Unschwer konnte man aber erkennen, dass alle Insassen erhebliche Verletzungen erfahren haben mussten.

Nach und nach konnten sich die Feuerwehrleute mit ihrer hydraulischen Rettungsschere soweit Zugang verschaffen, dass man zunächst den bewusstlosen Fahrer aus dem Wrack bergen konnte. Soweit nach einer ersten Inaugenscheinnahme erkennbar, war der Fahrer etwa Mitte 30. Der Schwere der äußeren Verletzungen nach, musste sich der Mann in akuter Lebensgefahr befinden. Notarzt und Rettungssanitäter bemühten sich sofort nach Kräften, das Unfallopfer zu stabilisieren.

Die Feuerwehr hatte währenddessen die Fahrerseite des Unfallfahrzeugs weiter aufgeschnitten und von den Rücksitzen die Körper zweier offensichtlich sehr junger Männer bergen können. Obwohl die beiden Jugendlichen einen äußerlich relativ unversehrten Eindruck machten, stellte der Notarzt sofort und eindeutig deren Tod fest.  Vom Vordersitz der Beifahrerseite zogen die Retter inzwischen den letzten Fahrzeuginsassen. Der Pkw hatte den heftigsten Aufprall vorn rechts erlitten, und es wunderte niemanden, dass auch dieser ebenfalls sehr junge Mann seinen Verletzungen bereits erlegen war. Offensichtlich war keiner der Insassen angeschnallt gewesen.

Natürlich war Tom im Rahmen seiner Ausbildung an den Umgang mit Leichen herangeführt worden. Er hatte auch bei einer Besichtigung in der Rechtsmedizin schon Leichen gesehen und auch Fotos von schwer verletzten Unfallopfern. Der Anblick, der sich ihm jetzt hier zum ersten Mal in der Praxis bot, war aber doch zu viel für den unerfahrenen Jungbullen. Seine in den letzten Jahren mühsam erworbene Fähigkeit zur Selbstdisziplin nützte ihm nicht. Rasch machte er ein paar Schritte hinter ein Gebüsch, um sich dort zu übergeben.

Um ihn abzulenken, beauftragte Ole seinen jungen Kollegen mit der Halterabfrage des Kfz-Kennzeichens und der Bestellung von Leichentransportern. Er selbst durchsuchte unterdessen die Kleidung der drei toten Jugendlichen nach Ausweisen und fotografierte die Unfallopfer sehr detailliert.

Auffallend war die Ähnlichkeit der beiden gleichaltrigen etwa 15-jährigen Jugendlichen von der Rückbank, die zudem noch identische Kleidungsstücke trugen. Der dritte Jugendliche hatte schwere Kopfverletzungen erlitten und war so übel zugerichtet, dass Ole sein Alter nur vage auf vielleicht 17 Jahre einschätzen konnte.

Keiner der jungen Männer trug Papiere bei sich, und auf die eventuell vorhandene Brieftasche des schwerverletzten Fahrers hatten die Beamten wegen der andauernden medizinischen Erstversorgung noch keinen Zugriff gehabt. Ebenso fand Ole bei keinem der Insassen ein Handy; ein Umstand, der ihn stutzig machte.

Inzwischen hatte Tom die Halterdaten vom PK bekommen. Als Fahrzeughalter war ein gewisser Dr. Konstantin Eibenstein, geb. am 16.05.1976 in Hamburg, eingetragen. Dem Alter nach bestand also durchaus die Möglichkeit einer Identität von Fahrer und Halter des Unfallfahrzeugs.

Mittlerweile hatte die Med-Crew den Mann soweit stabilisieren können, dass ein Abtransport möglich war. RTW und NAW setzten sich in Bewegung Richtung Notaufnahme des AK Barmbek, das nur etwa 2 Km vom Unfallort entfernt lag. Tom und Ole blieben derweil am Ort des Geschehens und warteten auf die Leichentransporter.

„Wenn es dir wieder besser geht, würde ich dir gern etwas zeigen“ sagte Ole. Tom hatte sich von seinem ersten Schock und seiner Übelkeit wieder etwas erholt, sodass er in der Lage war, sich intensiver mit den drei toten Jugendlichen zu befassen.

„Fass sie mal an!“ sagte Ole, „fällt dir was auf?“

Tom berührte die drei Körper und spürte zum ersten Mal in seinem Leben die Kälte eines toten Menschen. „Die sind ja schon ganz kalt.“

„Und was noch?“

„Die Leichenstarre ist schon eingetreten, wie kann das sein?“

„Genau das meine ich, und deswegen habe ich vorhin noch mit dem Doc gesprochen. Der schätzt, dass die drei Jungen schon mindestens 10 bis 12 Stunden tot sind. Der Unfall ist jetzt aber gerade mal gut zwei Stunden her, da wäre die Leichenstarre noch gar nicht eingetreten. Fällt dir sonst noch was auf?“

„Was meinst du?“

„Der Junge auf dem Beifahrersitz hat schwerste Verletzungen. Der müsste eigentlich wahnsinnig geblutet haben. Wir haben aber außer beim Fahrer kaum Blut gefunden!“

„Das würde ja bedeuten ...“

„..., dass die drei schon lange tot gewesen sein müssen, als es hier geknallt hat“, bestätigte ihm Ole seinen Gedankenansatz. „Und was schließen wir daraus?“

Tom überlegte kurz: „Dann war das vielleicht gar kein Unfall!?“

„Sondern?“ 

„Ein Suizid oder Mord?“

„Mord kann man wohl ausschließen, wenn die drei Jungs tatsächlich schon vorher tot waren. Aber ein Suizid-Versuch des Fahrers würde dadurch wahrscheinlicher. Es gibt weder Brems- noch Schleuderspuren. Auf jeden Fall sollte das Wrack zur KTU, und wir müssen die Kollegen von der Kripo kontakten; könntest du das bitte veranlassen?“

„Okay, mach ich.“

Bevor er daran ging seine Telefonaufträge zu erledigen, sah sich Tom die drei Leichen noch einmal genau an. Bei dem älteren der Jungen fiel ihm auf dessen Brust knapp unterhalb des untersten Rippenbogens eine Wundmarke auf, die wie ein kleiner Schnitt geformt war.

„Könnte das eine Stichverletzung sein?“ fragte er.

„Möglich“, meinte Ole, „könnte aber auch sein, dass er sich beim Aufprall an irgendeinem scharfkantigen Gegenstand verletzt hat“.

Die beiden jüngeren Opfer mussten Geschwister, höchstwahrscheinlich sogar Zwillinge gewesen sein, schoss es Tom durch den Kopf. Die beiden hatten kaum sichtbare Verletzungen, und sie sahen eigentlich ganz friedlich aus, als ob sie schliefen.

Tom blickte in ihre hübschen jungen Gesichter, und er fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Schnell wandte er sich ab und seinen Aufgaben zu, denn er wollte keinesfalls von seinem neuen Kollegen als Weichei wahrgenommen werden.

Die Fahrer der Leichentransporter erschienen auf der Bildfläche. Den sonst gern mal zum Flachsen aufgelegten Leuten versteinerten die Mienen, als sie der Unfallopfer gewärtig wurden.

„Scheiße, noch so jung“ entfuhr es einem von Ihnen.

„Das Übliche?“ fragte der andere.

„Nee“, meinte Ole, „kein Alkohol, keine Drogen, nicht einmal Zigaretten haben wir gefunden.“

„Also dann zum Bestatter?“ fragte der Fahrer.

„Nee, ich hab zwar noch kein OK, aber bringt sie mal in die Rechtsmedizin; nehm ich auf meine Kappe; hier stimmt so einiges nicht.“

Tom kam vom Telefonieren zurück. „Okay, die Kripo ist informiert. Sie schicken jemanden vorbei. Spusi kommt aber keine und die Leichen können auch weg; sollen in die RM.“

„Sagte ich doch, hast du gut gemacht“ raunzte Ole seinem jungen Kollegen zu.

„Und wir sollen uns mit unserem Bericht beeilen“.

„Klar doch, damit die bei der Kripo wieder glänzen können“, meinte Ole spöttisch. „Wenn jetzt mal endlich der Abschlepper käme, könnten wir auch nach Hause.“

„Was werden die bei der KTU mit dem kaputten Teil noch anfangen können?“ fragte Tom. „Naja zumindest werden sie nach technischen Mängeln suchen und auch nach Spuren im Innenraum, solange man das Auto als Tatort nicht ausschließen kann. Ich denke mal, die werden das Obduktionsergebnis abwarten, bevor sie die Schrottkarre unter die Lupe nehmen werden. Da schau, wenn man vom Teufel spricht“, fügte er hinzu und deutete auf die gelben Blitze des sich nähernden Abschleppers.

Da der Kranwagen direkt bis an das Wrack fahren konnte, war die Bergung ziemlich einfach. Die beiden Polizisten warteten noch, bis sich das Bergefahrzeug wieder in Bewegung setzte.

„Also dann packen wir jetzt auch mal zusammen und sehen zu, dass wir Land gewinnen; gleich geht die Sonne auf. Lass aber die Flatterbänder noch für die Kripo stehen!“

„Also für heute reicht's mir mit meinem ersten Nachteinsatz“ sagte Tom, als er zu Ole in das Einsatzfahrzeug stieg.

Im PK angekommen zog sich Tom zuerst einmal einen Schokoriegel und eine Cola aus dem Automaten. Die schrecklichen Erlebnisse der letzten Nacht und auch die Tatsache, dass er seit 12 Stunden keine Nahrung zu sich genommen hatte, zerrten doch merklich an seiner Kondition.

Jetzt stand für die beiden noch ein Briefing mit der Tages-Crew und ein kurzer Rapport für die Kollegen von der Kripo an, bevor sie ihren Dienst mit eineinhalb Stunden Verspätung endlich abhaken konnten.

MONTAG, 12.03.2012

Als Tom um kurz vor acht die Haustür aufschloss, kam ihm seine Mutter entgegen, die sich gerade auf den Weg zur Arbeit machte. Mit Ende vierzig war Henriette Koellberg eine vergleichsweise äußerst attraktive Frau. Ihre schlanke, sportliche Figur und das hübsche, faltenfreie Gesicht ließen sie wesentlich jünger erscheinen. Ihre langen, hellblonden Haare trug sie gewöhnlich offen, und ein Blick ihrer aquamarinblauen Augen konnte einen schon zum Dahinschmelzen bringen. Die Ähnlichkeit von Mutter und Sohn war nicht zu übersehen.

„Junge, wie siehst du denn aus; ist etwas passiert?“

„War ziemlich heftig, mein erster Nachteinsatz, Mom. Ich bin total alle; erzähl ich dir alles später.“

„Na dann bis morgen. Heute Abend sehen wir uns nicht, da wird's spät bei mir; etwas zu essen steht im Kühlschrank. Schlaf gut, mein Sohn!“

„Okay, danke!“

Tom war einfach zu müde, um sich noch etwas zu essen zu machen. Er zog sich aus, putzte die Zähne und ließ sich auf sein Bett fallen. Den Wecker stellte er auf 16:00 Uhr. Er wollte heute etwas früher ins PK fahren, um sich über die neuesten Ergebnisse in „seinem ersten Fall“ zu informieren.

Er löschte das Licht, konnte aber trotz seiner Müdigkeit nicht direkt einschlafen. Immer wieder hatte er das Bild mit den drei toten Jugendlichen vor Augen. Er suchte eine Erklärung dafür, welche Beweggründe ein erwachsener junger Mann gehabt haben konnte, mit drei toten Jugendlichen im Auto mitten in der Stadt absichtlich gegen einen Baum zu fahren. Er fand keine Lösung und schlief schließlich ein. Doch auch noch im Traum verfolgten ihn die grausigen Bilder der Nacht und rissen ihn mehrfach aus dem Schlaf.

***

Sein Wecker erwischte Tom in einer Tiefschlafphase. Er war wie gerädert und brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass es nicht wie sonst morgens 05:00 Uhr, sondern nachmittags 16:00 Uhr war. Die Erlebnisse der letzten Nacht fielen ihm wieder ein.

Tom startete seinen bisher immer allmorgendlich stattfindenden Programmablauf. Dank einer sehr effektiven Gestaltung bewältigte er diesen inklusive Frühsport, Bad, Frühstück und Anziehen in nur 45 Minuten.

Zunächst der Gang in die Küche, Radio an, Wasserkocher in Betrieb nehmen, zwei Beutel in die Teekanne und einen Riesenbecher Früchtejoghurt aus dem Kühlschrank. Danach ins Bad Zähneputzen, wieder in die Küche Tee aufbrühen. Jetzt hatte er Zeit für je 50 Liegestützen und Sit-Ups und eine Dusche, währenddessen sich der Tee auf Trinktemperatur abkühlen konnte.

Das Duschen liebte Tom seit seiner Kindheit, als er im Judo-Club damit angefangen hatte, nach jedem Training ausgiebig davon Gebrauch zu machen. Er genoss es, wenn ihm das heiße Wasser über den Rücken lief, und wenn er genügend Zeit hatte, konnte die Prozedur schon mal 10 Minuten oder länger dauern. Ob kurz oder lang; er hatte sich angewöhnt, zum Abschluss das Wasser für eine Minute eiskalt laufen zu lassen. Es kostete ihn jedes Mal etwas Überwindung, aber er wollte sich selbst nicht als Warmduscher bezeichnen müssen.

Er setzte sich wie immer im Bademantel in die Küche, schenkte sich Tee ein und begann seinen Joghurt direkt aus dem Becher zu löffeln. Er dachte schon wieder an seinen letzten nächtlichen Einsatz. Einer spontanen Eingebung zur Folge wechselte er von seinem Lieblingsmusiksender auf den regionalen Info-Kanal.

Gerade rechtzeitig kam die Meldung von einem nächtlichen Verkehrsunfall mit einem Schwerverletzten und drei toten Jugendlichen. Aus noch ungeklärter Ursache sei ein Pkw von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Der 36jährige Familienvater sei mit lebensgefährlichen Verletzungen in die Klinik eingeliefert worden. Seine beiden 14jährigen Kinder und ein weiterer noch nicht identifizierter Jugendlicher seinen noch am Unfallort Ihren Verletzungen erlegen.

Also war der Halter tatsächlich auch der Fahrer des Unfallfahrzeugs gewesen und die beiden Jungen auf der Rückbank seine Kinder. Der dritte Jugendliche war sicher ein Freund der beiden gewesen, dachte sich Tom.

Wenn er sonst von Familientragödien hörte, berührte ihn das eher wenig. Es kam ja schon hin und wieder vor, dass ein Vater in einem erweiterten Suizid seine ganze Familie und sich selbst tötete. Aber in diesem Fall war das anders. Er hatte die schrecklichen Geschehnisse hautnah miterlebt, und es gab für ihn jede Menge offener Fragen.

Tom warf seinen leeren Joghurtbecher in den Plastikcontainer, räumte die Küche auf und machte sich schnell fertig. Er wollte möglichst früh vor Dienstbeginn im PK sein, weil er hoffte, recht viele Details zu erfahren.

***

Auf der Wache war die Tagescrew mit der üblichen Routine beschäftigt. Sein Seniorpartner Ole war verständlicherweise noch nicht anwesend. So wandte er sich an den Wachleiter, um etwaige Neuigkeiten in Erfahrung zu bringen.

Der war aber recht kurz angebunden. Er verwies auf das Einsatzbriefing zum Schichtwechsel um 20:00 und fügte dann noch hinzu, „und im Übrigen haben die da oben den Fall übernommen. Wir sind da raus.“

Mit ‚die da oben‘ waren die Kollegen von der Kripo gemeint, die im Stockwerk über ihnen saßen, und da er bis zu seinem Dienstantritt noch reichlich Zeit hatte, beschloss Tom, dort oben einen Vorstoß zu wagen.

In der Abteilung „Tötungsdelikte“ war ein im Dienst ergrauter Fuchs namens Peter Harms der „Chef“. Diese Bezeichnung hätte eigentlich dem wesentlich jüngeren Kommissariats-Leiter zugestanden. Aber nicht der, sondern Kriminalhauptkommissar Harms wurde von allen so genannt. Dessen Assistent war Kriminalkommissar Carlo Marques und eben jener Judo-Trainer, mit dem Tom seit nunmehr gut acht Jahren eine sehr enge Freundschaft verband. Der damals 17-jährige Carlo hatte gerade damit begonnen, sich in seinem Club sehr für den Nachwuchs zu engagieren. Im Laufe der beiden folgenden Jahre hatte Carlo aber bemerkt, dass der Leistungswille seines kleinen Protegés nachließ, und der Junge immer schwieriger wurde, zu Depressionen neigte und offenbar große Probleme mit sich herumschleppte.

Tom war Carlo ans Herz gewachsen, und so hatte der beschlossen, sich intensiver um den Jungen zu kümmern. Dabei entging ihm nicht, dass der zornige Jüngling sich durch sein Verhalten innerhalb des Clubs zunehmend isolierte, und dass ihm wohl auch der soziale Absturz in Alkohol und Drogen drohte.

Eines Tages, als Tom nicht zum verabredeten Training erschien, machte sich Carlo auf die Suche. Er fand Tom in ihrem gemeinsamen Versteck, einem Platz am Alsterufer, wo sie schon viele gemeinsame Stunden verbracht hatten.

Tom hatte sich mit einem Teppichmesser die Pulsadern aufgeschnitten und schon viel Blut verloren. Carlo gelang es in letzter Sekunde, die Blutung zu stoppen und den bewusstlosen Jungen ärztlich versorgen zu lassen.

Von diesem Tag an verbrachte Carlo fast jede freie Minute mit Tom. Mit großem Einfühlungsvermögen gelang es ihm nach und nach das Vertrauen des Jungen zu gewinnen, und sicher war es auch seiner subtilen Einflussnahme auf den inzwischen hochpubertären 14-jährigen zu verdanken, dass dieser sich ein Jahr später einen Ruck gab, und die bislang wichtigste Entscheidung für seine Zukunft traf.

Später setzte sich Carlo dafür ein, dass Tom die Betreuung der Jugendkader U11 und in der Folge auch U14 von ihm übernehmen konnte, als er selbst mit 21 Jahren zur Kripo kam, und aus beruflichen Gründen nicht mehr genug Zeit dafür hatte.

Seitdem trafen sich die beiden Freunde regelmäßig. Mal gingen sie zusammen mit ihren Freundinnen aus, mal trafen sie sich zum Joggen oder für gelegentliche Trainingseinheiten im Club, wobei Carlo in den letzten beiden Jahren von seinem Freund regelmäßig auf die Matte geschickt wurde. Zwar rangierte der 1,70 m große Tom mit seinen knapp 60 Kg zwei Gewichtsklassen unter dem 1,80 m großen, stämmigen Carlo. Aber dessen Trainingsstand hatte berufsbedingt etwas nachgelassen, und der Reaktions- und Bewegungsgeschwindigkeit seines jungen Freundes hatte Carlo wenig entgegenzusetzen gehabt.

Tom hatte Glück, Carlo saß an seinem Schreibtisch, als er vorsichtig die Tür öffnete. „Moin Carlo!“

„Moin Tommy, komm rein; schön dich zu sehen.“

Carlo erhob sich und gab Tom die Hand. „Die schwarze Uniform steht dir gut. Nur 'n bisschen jung siehste noch aus; immer noch wie siebzehn; solltest dir auch ‘nen Bart wachsen lassen! Aber das wird ja wohl nix bei dir.“

„Nee, is nich, hab's ja neulich schon versucht; hab mich mal vier Wochen lang nicht rasiert.“

„Und?“

Tom grinste. „Außer dir und Mom hat's keiner bemerkt.“

Carlo war in Rio de Janeiro geboren, und dort bis zu seinem 15. Lebensjahr aufgewachsen. Vor zehn Jahren waren seine Eltern nach Deutschland übergesiedelt, und sein Vater hatte eine Anstellung im hiesigen Brasilianischen Konsulat erhalten.

Kurz nach der vorzeitigen Pensionierung des Vaters waren die Eltern zurück nach Brasilien gegangen. Zu dieser Zeit befand sich der damals 19jährige Carlo noch in seiner Ausbildung auf der Polizeiakademie, und er entschloss sich, in Deutschland zu bleiben.

Ein Jahr später waren beide Eltern zusammen mit seinem fünf Jahre jüngeren Bruder in Rio bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der Verlust hatte Carlo damals schwer getroffen, und es war wohl mit ein Grund, warum er sich so intensiv um Tom kümmerte und ihn quasi als seinen kleinen Bruder akzeptierte.

Carlo trug einen 14-Tage-Bart und kurzgelockte schwarze Haare. In seinen dunkelbraunen Augen spiegelte sich ständig die sprichwörtliche brasilianische Lebensfreude wider, und mit seinem dunklen Teint wirkte er immer wie frisch aus dem Sommerurlaub. 

Bekleidet war er mit einer gammeligen Jeans, der man ansah, sie nicht etwa „stone-washed“ gekauft, sondern ehrlich zu Fetzen getragen worden war. T-Shirt und Schuhe passten zur übrigen Ausstattung, und man hätte vermuten können, einen jungen Obdachlosen vor sich zu haben.

Tom dagegen sah in seinem schwarzen Polizei-Outfit und seinem gepflegten, welligen Blondschopf immer adrett aus. Optisch konnten die beiden jungen Männer kaum unterschiedlicher sein, aber sie verstanden sich sehr gut, und Tom wusste genau, dass Carlos Gammel-Outfit zu seiner Tarnung gehörte.

„Ole und ich haben doch gestern Nacht diesen Verkehrsunfall aufgenommen, und ich wollte mich mal nach dem Stand eurer Ermittlungen erkundigen. Was habt ihr denn bisher rausgefunden?“ „Noch nicht viel. Wir waren bei der Halteradresse und haben die Nachbarschaft befragt. Der Mann ist offensichtlich Veterinär, und hat an der Wohnadresse auch seine Praxis. Er wohnte dort mit seinen Kindern, und seit geraumer Zeit lebte wohl auch das dritte Opfer dort bei der Familie.

 Seine Frau ist angeblich vor knapp zehn Jahren tödlich verunglückt. Jetzt warten wir noch auf den richterlichen Beschluss für eine Hausdurchsuchung, dann können wir hoffentlich die Identitäten zweifelsfrei klären.“

„Habt ihr schon was von der RM gehört?“

„Nee, die sind noch dran, kommt wohl morgen früh. Was interessiert dich eigentlich so an diesem Fall?“

„Weiß nicht, ist alles so merkwürdig. Das sah gestern Abend alles so gepflegt aus. Ne mega Karre, alles Markenklamotten; fast vornehm und überhaupt nicht irgendwie gammelig, so wie bei dir“, grinste Tom. „Nein im Ernst, zu solchen Leuten passt doch so eine Verzweiflungstat gar nicht.“

„In die Köpfe der Leute kannst du nicht reinschauen und so hochgestochenen schon mal gar nicht.“

„Stimmt schon, aber ich will's irgendwie verstehen können. Kann ich Morgennachmittag noch mal bei dir vorbeikommen?“

„Ja sicher, aber ruf vorher durch, der Chef muss dich hier nicht unbedingt sehen; und jetzt hau ab, ich seh' gerade sein Auto kommen. Ich hab vorhin mit ihm telefoniert, Er ist heute nicht gut drauf.“

„Okay, danke und bis morgen!“

***

Es war kurz vor 20:00 Uhr als Tom beim Routine-Briefing auf Ole stieß. Das Briefing brachte zu „seinem Fall“ nichts, was er nicht schon von Carlo erfahren hatte. Die beiden machten sich fertig und verließen gegen 20:15 das PK für ihren zweiten gemeinsamen Nachteinsatz, der am nächsten Morgen pünktlich und ohne besondere Vorkommnisse zu Ende ging.

Natürlich hatten sie sich auch noch einmal über den Unfall ausgetauscht, waren aber dabei zu keinen neuen Erkenntnissen gelangt. Ole meinte nur, der Obduktionsbefund aus der Rechtsmedizin würde sie sicher einen großen Schritt nach vorn bringen.

DIENSTAG, 13.03.2012

Als er früh morgens die Haustür aufschloss, roch er es sofort. Seine Mutter musste gestern Abend noch Frikadellen gebraten haben. Seiner Meinung nach machte sie die überhaupt besten Frikadellen der Welt.

Sie kam gerade die Treppe herunter, als er seine Schuhe auszog.

„Hallo Mom, hab's gleich gerochen.“

„Du warst gestern so niedergeschlagen, da wollte ich dich ein bisschen aufmuntern. Zwei habe ich für Dich gleich draußen gelassen, den Rest habe ich eingefroren in Zweierpacks, falls du welche mitnehmen möchtest.“ „Super! Danke, Mom!“

„Warum warst du denn gestern so niedergeschlagen?“

„Ach wir haben doch diesen grausigen Unfall aufgenommen; du hast sicher schon davon gehört. Das war echt krass!“

„Hab ihr schon Hintergrundinformationen?“

„Bisher ist eigentlich nur klar, dass es sich wohl um eine Familientragödie handeln muss. Aber ich werde dranbleiben; ich möchte begreifen können, was da passiert ist.“

„Tu das, mein Sohn, aber grübel nicht so viel und lass die Dinge nicht zu nah an dich heran. So, ich muss jetzt los.“

„Sehen wir uns heute Abend?“, fragte er.

„Ich denke ja, aber warte nicht mit dem Essen, wenn ich bis halb sieben nicht da bin.“

„Okay Mom, dann hab einen schönen Tag.“

„Du auch, und schlaf gut.“

Er schloss hinter ihr die Haustür und sein nächster Weg führte ihn direkt in die Küche zu den Bouletten. Danach ging er sofort zu Bett und stellte den Wecker auf 13:00 Uhr. Er wollte auf jeden Fall heute Nachmittag zum Training in seinen Club und evtl. auch noch eine Runde joggen. Und dann wollte er ja auch noch bei Carlo vorbeischauen. Er war noch müde vom Tag zuvor, trotzdem lag er noch eine Weile wach. Die Bilder der drei toten Kinder hatten ihn zu sehr traumatisiert. Nun ließen sie ihn einfach nicht mehr los. Endlich fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

***

Wie fast immer wurde Tom von seiner inneren Uhr schon fünf Minuten vor dem Pfeifton seines Weckers wach. Er hatte wie ein Stein geschlafen, fühlte sich viel besser als am Tag zuvor und begann ohne Zögern mit seinem alltäglichen, 45-minütigen Ritual.

Als er aus der Küche ins Bad kam, zog er sich aus und warf wie immer einen prüfenden Blick in den Spiegel. Im Gegensatz zu gestern gefiel ihm das, was er heute dort sah. „Guten Tag, schönster Jungbulle des Universums“, grinste er sein Spiegelbild an und setzte sein Ritual fort.

Als er das Haus, bewaffnet mit einem Zweierpack gefrorener Bouletten verließ, war es viertel vor zwei. Er fuhr zunächst beim Club vorbei.

Zu dieser Tageszeit war es dort sehr ruhig, aber er fand einen Partner, mit dem er einige Trainingseinheiten absolvieren konnte. Direkt im Anschluss ging er noch auf seinen Parcours. Er hatte sich eine Rundstrecke durch den Stadtpark ausgedacht, die ziemlich genau fünf Kilometer lang war. Heute lief er sein Ausdauer-Tempo, das er Zuckeltrab nannte, und er war exakt nach 25 Minuten wieder am Club angelangt.

Nach einer Kurzdusche setzte er sich von dort direkt in Richtung PK in Bewegung. Bevor er losfuhr, schickte er Carlo eine SMS auf dessen privates Handy: „16:00?“ Die Rückmeldung kam prompt: „16:30!?“ Tom bestätigte mit „!“. Er hatte also noch etwas Zeit und nutzte diese für einen kleinen Umweg.

Schon vorgestern war ihm aufgefallen, dass sich die Halteradresse des Unfall-Pkw ganz in der Nähe befand. Und so beschloss er, sich dort einmal umzuschauen. Die Villa im typischen Kaffeemühlenstil des frühen 20. Jahrhunderts stand in einer besseren Wohnlage. Sie wies eine gewisse Ähnlichkeit auf mit dem Haus, das er selbst mit seiner Mutter bewohnte, auch wenn das noch nicht einmal halb so groß war. Neben dem Gartentor hing ein Messingschild mit der Aufschrift: Dr. med. vet. Konstantin Eibenstein.

Die Tierarztpraxis war in einem Nebengebäude untergebracht, das früher einmal als Garagenhaus gedient hatte. In der unmittelbaren Nachbarschaft gab es weitere schöne alte Villen mit großen gepflegten Gärten. Tom konnte sich nur schwer vorstellen, dass in diesem Ambiente die Voraussetzungen für eine Familientragödie zu finden waren. Er sah sich noch ein wenig um, und fuhr von dort direkt zum PK.

Exakt um 16:30 betrat er Carlos Büro.

„Na du Pünktlichkeitsfanatiker“, grinste ihm der entgegen.

„Moin Carlo“ begrüßte Tom seinen Freund mit erwartungsvoller Miene, „was gibt's Neues?“

Carlo klappte seinen Laptop zu und nahm eine rote Akte vom Tisch. „Lass uns rübergehen zum Chef ins Büro, da haben wir Ruhe. Der ist unterwegs zur Staatsanwaltschaft.“

Sie setzten sich im Büro von KHK Harms auf die Besucherstühle, und Carlo sah seinen jungen Kollegen ernst an. „Was ich jetzt tue, könnte uns beide den Job kosten. Ich mache das nur, weil ich dich so gut kenne, und weil ich weiß, dass ich mich 100%ig auf dich verlassen kann.“

„Okay, das kannst du!“ Tommys blaue Augen waren etwas größer geworden und signalisierten einen Hauch von Dankbarkeit und Stolz.

Carlo begann, „zwei wesentliche Punkte konnten wir inzwischen klären; erstens die Todesursachen der drei Jugendlichen und zweitens hat die Hausdurchsuchung beim Fahrer einige Indizien zum Tathergang geliefert.

Im Ergebnis hat das dazu geführt, dass wir jetzt gegen Herrn Dr. Eibenstein, Vater der verstorbenen Zwillinge Alexander und Maximilian ermitteln wegen Misshandlung, Missbrauch und zumindest auch Totschlag, wenn nicht sogar Mord. Der Chef beantragt beim Staatsanwalt gerade den Haftbefehl für den Herrn Eibenstein.“

Die Nachricht traf Tom wie ein Keulenschlag. „Wie ist das möglich?“, murmelte er kleinlaut. „Die Obduktion der Zwillinge hat ergeben, dass beide an der Überdosis einer Medikamentenmixtur gestorben sind, wie man sie zum Einschläfern von Tieren verwendet, und die ihnen ca. 10 bis 12 Stunden vor dem Unfallzeitpunkt injiziert wurde. Der andere Jugendliche ist an einer Stichverletzung gestorben und zwar ungefähr acht Stunden vor dem Unfall.“

Also hatte Ole doch Recht behalten, dachte sich Tom. „Aber wieso jetzt diese Ermittlungen?“

„Bei der HD haben wir die Tatwaffe gefunden. Ein sogenanntes Kochmesser mit einer 22 cm langen Klinge aus einem Messerblock in der Küche. Es waren die Fingerabdrücke des Vaters darauf, weiterhin haben wir die in Frage kommenden Medikamente in seiner Praxis gefunden.

Bei den Zwillingen wurde außerdem eine Vielzahl von prämortalen Hämatomen festgestellt. Die Jungs müssen etwa einen Tag vor ihrem Ableben fürchterlich verprügelt worden sein. Und es gibt Verletzungen im Analbereich der beiden, die ganz klar auf einen brutalen Missbrauch hinweisen.

Deshalb gehen wir derzeit davon aus, dass der Vater seine beiden Jungen in einem Wutanfall zuerst verprügelt und dann vergewaltigt hat. Zur Verdeckung seiner Gewalttaten hat er ihnen irgendwann danach eine Überdosis Narkotika injiziert, um sie aus dem Weg zu schaffen.

Noch bevor er die Leichen beseitigen konnte, muss wohl der dritte Junge, wahrscheinlich ein guter Freund der Zwillinge, dazugekommen sein, und der Vater musste auch noch diesen armen Kerl als Zeugen beseitigen.“

Tom starrte Carlo fassungslos an. „Das ist doch nicht möglich, dass ein Vater sowas tut. Ich kann das einfach nicht glauben.“ „So krass gibt es das eher selten. Ich hab sowas noch nicht erlebt, der Chef aber schon. Es passiert eben doch manchmal. Und jetzt weißt du, warum wir das geheim halten. Wenn publik würde, wäre der Vater in der Klinik seines Lebens nicht mehr sicher.“

Tom nickte, „klar, wie geht's dem denn eigentlich?“

„Der liegt noch in einem künstlichen Koma. Sie wollen ihn wohl morgen oder übermorgen wieder aufwecken, aber ob er dann vernehmungsfähig sein wird, kann uns noch keiner sagen. Am besten wär's, er würde gar nicht mehr aufwachen; würde ihm viel Ärger und uns 'ne Menge Arbeit ersparen.“

Die Beiden verließen das Büro vom Chef und völlig verstört verabschiedete sich Thomas von seinem Kollegen. „Nimm dir das nicht so zu Herzen, shit happens“ meinte Carlo noch und verschwand wieder in seinem Zimmer.

Toms dritter Nachtdienst verlief ähnlich ruhig wie der zweite. Abgesehen von ein paar kleineren Unfällen gab es keine nennenswerten Ereignisse. 

MITTWOCH, 14.03.2012

Als Tom früh am Morgen in seinen Golf einstieg, bemerkte er die beiden Bouletten, die da immer noch auf ihn warteten, und die er total vergessen hatte. Er riss den Gefrierbeutel auf und verschlang die erste auf der Stelle. Die zweite hob er sich für zu Hause auf.

Seine Mutter war schon früh gefahren, und so saß er noch kurz alleine in der Küche, kaute auf seiner Boulette und dachte über den grausigen Fall nach. Dann legte er sich in sein Bett und stellte den Wecker auf halb sieben. Er wollte versuchen, endlich mal wieder auszuschlafen.

Am Abend verließ Tom das Haus um viertel nach sieben. Er wollte vor seinem Schichtbeginn noch kurz bei Carlo vorbei und hören, ob es da etwas Neues gab. Der hatte seinen Dienst aber schon beendet. „Also gibt es keine neuen Erkenntnisse, sonst hätte er mich bestimmt angerufen“, dachte sich Tom.

Pünktlich um 20:00 Uhr begann er mit Ole seine Nachtschicht, die sich als recht anstrengend erwies, denn sie bekamen eine Massenkarambolage zu bearbeiten. Fünf Fahrzeuge waren in einer Nebelbank aufeinandergeprallt, aber es gab Gott sei Dank diesmal nur leichtere Personenschäden.

DONNERSTAG, 15.03.2012

Als er am Morgen das PK mal wieder mit Verspätung verließ, simste er seine Mutter an: „Kommst du heute früher?“

„Bis fünf bin ich da.“

„Soll ich noch was einkaufen?“

„Hab schon alles!“

Tom machte sich auf den Heimweg. In der Küche stand noch sein Frühstücksgeschirr. Er räumte auf und setzte die Spülmaschine in Gang, bevor er zu Bett ging. Den Wecker stellte er auf 16:00.

***

Nach seinem üblicherweise für den Morgen vorgesehenen Ritual schaffte er in seinem Appartement ein wenig Ordnung. Sein Reich innerhalb des Hauses bestand aus drei Räumen, die alle miteinander verbunden waren. Er hatte ein Schlafzimmer mit einem eigenen kleinen Bad, das früher als Gäste-WC gedient hatte. Dann gab es noch ein Arbeits- und Wohnzimmer, das zuvor sein Vater benutzt hatte, und daran angrenzend einen kleinen Wintergarten, den er als Fitnessraum nutzte. Weiter gab es im Erdgeschoss außer der Küche mit einem Essplatz noch ein Wohnzimmer mit Kamin, einem riesigen Esstisch und einer Terrasse. In der oberen Etage lagen die Räume seiner Mutter.

Die Zeit bis zu deren Eintreffen nutzte Tom für ein leichtes Hanteltraining. Er hörte sie kommen, ging ihr entgegen und nahm ihr sogleich die Einkaufstüten ab.

„Fein, dass es heute mal klappt mit uns“, meinte sie, „geht's dir gut?“

„Besser als die letzten Tage“

„Siehst auch wieder besser aus. Wann musst du los?“

„Heute erst um halb acht“

„Gut, dann essen wir um viertel vor sieben. Machst du mir bitte einen Campari-Soda“

„Klar, ich nehm auch einen“, grinste ihr Sohn. Er mixte ihre Drinks, wobei seiner anstatt Campari Johannisbeersaft enthielt; aber zumindest die Farbe stimmte. Sie setzten sich zusammen auf das Sofa und stießen an.

Tom blickte seine Mutter an. „Können wir reden?“

„Sicher, was hast du?“

 Er berichtete von seinen Erlebnissen der letzten Tage.

„Jetzt kann ich verstehen, wieso du vorgestern so kaputt warst. So etwas macht auch noch alten Profis immer wieder zu schaffen.“

„Ich weiß, bisher spricht alles dafür, dass es der Vater war, aber ich kann einfach nicht glauben, dass dieser Mann solche Taten begangen hat, und ich würde gegebenenfalls gerne seine Unschuld beweisen.“

„Wenn er denn wirklich unschuldig ist. Aber dafür gibt es Rechtsanwälte. Unsere Aufgabe ist es, Fakten zu ermitteln und gegebenenfalls seine Schuld zu beweisen. Was ist denn mit dem Messer?“ fragte sie.

„Da sind seine Fingerabdrücke drauf.“

„Das beweist gar nichts. Das Messer kam doch aus seiner eigenen Küche!?“

„Ja sicher, aber da war das Blut des Jungen am Griff und die Fingerspuren auf dem Blut.“

Sie nippte an ihrem Drink: „Hör mal, Fingerspuren auf Blut können nur entstehen, wenn es zumindest schon angetrocknet war. Ich würde sagen, dass zwischen der eigentlichen Tat und dem Berühren des Messers durch den Vater mindestens eine Stunde gelegen haben muss.“

„Aber dann war der Junge vielleicht schon tot, und der Mann hat ihm das Messer nur herausgezogen?“

„Wäre absolut dämlich von ihm, aber in einer emotional belasteten Situation als Kurzschlussreaktion durchaus denkbar. Wenn es so wäre, würde das aber noch nicht seine Unschuld beweisen.“

„Klar, aber es schwächt die Indizienkette!“

Sie lächelte, „der Punkt geht an dich, mein Sohn.“

Sie wusste schon, was er jetzt auf dem Herzen hatte. „Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“ Er wandte seinen Kopf und warf ihr einen dankbaren Blick zu. „Ich würde so gerne Einsicht in die Akte nehmen, aber ich möchte Carlo nicht darum bitten. Ich weiß, er würde es tun.“

„Da bin ich ganz sicher.“

Sie wusste, dass Carlo in den vergangenen neun Jahren sehr viel für ihren Sohn getan hatte. „Und es ehrt dich, dass Du ihn nicht kompromittieren willst“, fügte sie hinzu.

„Übrigens, die beiden werden heiraten.“

„Carlo und Maria, dass freut mich“, Henriette lächelte.

„Und ich werde Trauzeuge werden!“

„Das freut mich noch mehr.“

Sie hatte nicht vergessen, dass Carlo einer der Polizisten gewesen war, die ihren 14jährigen alkoholisierten Sohn zu Hause abgeliefert hatten, anstatt ihn zum Ausnüchtern mit aufs Revier zu nehmen. „Carlo hat schon so viel für uns getan. Wir sollten ihm gemeinsam ein schönes, persönliches Hochzeitsgeschenk überreichen. Dein Vater wird sich bestimmt auch daran beteiligen. Wann ist es denn soweit?“

„Irgendwann im Herbst, wahrscheinlich Anfang September. Der Termin steht noch nicht genau fest.“

„Schön! Nochmal zum Thema; Terror oder organisierte Kriminalität stehen ja nicht im Raum, aber mir wird schon etwas einfallen, wie ich mich da einklinken kann.“

„Danke Mom, du bist ein Schatz!“ Er gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange, und sie stießen noch einmal mit ihren Gläsern an. „Lass uns essen, du musst bald los“, sagte sie, und gemeinsam gingen sie in die Küche.

***

Als Tom das Haus verließ, kam Carlos SMS, „TG 19:45?“ Tom hatte wie immer eine Zeitreserve eingeplant, und so bestätigte er mit „!“.

„Moin Carlo, was gibt's“, fragte Tom seinen Kollegen, als er seinen Golf in der PK-Tiefgarage abgestellt hatte.

„Morgen wird der Chef in die Klinik fahren. Die sind gerade dabei, den Dr. Eibenstein Schritt für Schritt aus dem Koma zu holen. Man rechnet damit, dass er morgen zu sich kommt, aber es wird sicher noch Tage dauern, bis er vernehmungsfähig ist.“

„Super, ich hab auch noch was für dich. Ich hab mit meiner Mutter gesprochen, und die glaubt, der Fingerabdruck auf der Tatwaffe könne nur nach der Tat entstanden sein.“

„Das sieht der Chef inzwischen auch so. Wir können unsere bisherige Theorie zum Tathergang wohl in die Tonne treten.“

Tom fühlte sich irgendwie erleichtert; nicht so sehr wegen des Fahrers, den er gar nicht kannte. Allein die Tatsache, dass die Tragödie in seiner unmittelbaren Umgebung wohl einen etwas weniger grausigen Verlauf genommen hatte, beruhigte ihn etwas. „Okay, ich muss, grüß Maria von mir und euch einen schönen Abend!“

„Mach ich, dir eine gute Wache!“

Toms Nachteinsatz mit Ole verlief unaufgeregt. Sie schlichteten einen Streit zwischen bekifften Jugendlichen, holten einen betrunkenen Randalierer von der Straße und nahmen einen Verkehrsunfall mit leichtem Sachschaden auf.

FREITAG, 16.03.2012

Als er am frühen Morgen heimkam, freute sich Tom auf sein Bett und auf ein langes Wochenende. Er hatte noch Überstunden abzufeiern, und sein nächster Tagesdienst begann erst in drei Tagen, montags um 06:00.

Trotz seines freien Tages stand Tom schon mittags auf. Er wollte heute 10 Km joggen und danach noch in die Stadt, um sich endlich die längst überfällige neue Jeans, ein paar T-Shirts und wenn das Geld reichte, noch eine Windjacke zu kaufen. Er war sonst kein Marken-Fetischist, aber er liebte die Hemden, Blousons und Westen mit dem Haifisch-Emblem darauf, konnte sich allerdings nur selten einmal ein solches Teil leisten. Er verließ das Haus gegen 13:00 Uhr und trabte los auf seiner 10 Km-Strecke durch das Alstertal. Diese lag etwas abseits des allgemein beliebten Parcours, auf dem es ab Freitagnachmittag immer recht voll wurde.

Nach einer Stunde war er zurück, duschte kurz und machte sich auf den Weg in die Stadt. Diesmal nahm er den Golf. Er wollte mobil sein für den Fall, dass Carlo noch irgendetwas für ihn hatte. Er fand die richtige Jeans und auch ein T-Shirt. Und er entdeckte einen wind- und wasserdichten Blouson seines Lieblingslabels, dunkelblau mit Weiß und Rot abgesetzt. Er hatte Glück und bekam einen erschwinglichen Preis genannt. Tom freute sich, denn er war morgen mit Anke verabredet, und die legte ziemlichen Wert auf ein schickes Outfit. „Das wird schon mal passen“, dachte er sich.

Er hatte gerade gezahlt, als Carlos SMS durchkam: „Mike's 16:00?“ „!“ antwortete Tom. Er ging die paar Schritte zu Fuß. Mike's Bistro war um diese Zeit noch relativ leer.

Mike winkte Tom zu. „Moin, was magst du haben?“ „Eine Cola-Light bitte!“ Er nahm den kleinen Zweiertisch in der Ecke am Fenster. Im Lokal zog er es immer vor, mit dem Rücken zur Wand zu sitzen, um den Überblick zu behalten.

Als Carlo kam, bestellte der sich einen Kaffee. „Na, Klamotten gekauft?“ fragte er, als er die Tüten sah.

Tom grinste, „klar, morgen seh ich Anke, die mag's gern schick.“

„Bist du denn bei ihr inzwischen schon etwas weitergekommen?“

„Nicht wirklich, hab mich nicht getraut. Aber vielleicht wird es ja morgen was. Jedenfalls hab ich mir fest vorgenommen, sie morgen zu fragen.“

„Versteh ich nicht, dass die so 'n schnuckeligen Typen wie dich so lange zappeln lässt.“

„Ich denke, ich bin ihr zu jung.“

„Aber doch nur äußerlich.“

„Das ist es ja! Sie will wohl nicht, dass man von ihr denkt, sie treibt 's mit 'nem Teenie.“

„Deine Probleme möcht ich haben“ sagte Carlo.

„Du hast gut reden, du hast gar keine Probleme, du hast Maria.“ Carlo grinste breit. „Sowieso, Kleiner!“

„Was gibt's denn jetzt Neues?“, fragte Tom.

„Inzwischen gehen wir davon aus, dass die Jungs von einem oder mehreren Dritten so zugerichtet wurden und anschließend aus lauter Scham ihren Suizid planten.“

Tom überlegte kurz. „Dann haben die sich an dem Medikamentenbestand des Vaters selbst bedient?“

„Könnte gut sein. Es gab zwar einen verschlossenen Giftschrank, aber die Jungen können natürlich irgendwie an den Schlüssel gekommen sein.“

„Und habt ihr über den dritten Jungen was rausgekriegt, käme der als Täter in Frage?“

„Dafür gibt's keinerlei Hinweise, aber wir haben seine Identität. Er hieß Michael Fuhrmann, war 17 Jahre, und ging in die 11. Klasse des Gymnasiums in Ohlsdorf.“

„In meine alte Schule! Wie seid ihr da draufgekommen?“ wollte Tom wissen.

„In der Villa der Eibensteins gibt es einen Safe. Den konnten wir zwischenzeitlich knacken, und da lagen die Reisepässe der ganzen Familie drin. Keiner hat den Michael bisher vermisst. Es sind ja noch Ferien, und seine Eltern sind verreist; campen irgendwo am Nordkap und sind per Handy nicht erreichbar. Da werden wir wohl erst nächste Woche etwas erfahren, wenn die Schule wieder beginnt.“

„Habt ihr eine Idee, wieso der Ausweis von dem Michael mit in dem Safe lag?“ fragte Tom.

„Da stochern wir noch im Dunkeln. Wir haben aber in dem Haus auch relativ neue Fotos gefunden, wo der Vater mit den drei Jungen drauf ist, und die wirken sehr entspannt und harmonisch. Es scheint, der Junge war mit der Familie eng befreundet.“

„Dann ist wohl eure Kindermörder-Theorie jetzt geplatzt!?“ „Es sieht so aus, als ob dich dein Bauchgefühl nicht betrogen hat. Genaueres werden wir hoffentlich erfahren, wenn wir mit den Eltern und Mitschülern des Jungen reden konnten und natürlich mit dem Vater der Zwillinge.“

„Ist der aufgewacht?“ wollte Tom wissen.

„Ja, aber er ist nicht vernehmungsfähig. Die Ärzte gehen von einem Schädelhirntrauma mit retrograder Amnesie aus.“

„Retrograder was?“

„Er kann sich an den Unfallhergang nicht erinnern, du Greenhorn!“, grinste Carlo.

„Anke und du, wo geht ihr morgen hin?“

„Wir wollen ins Riff und danach vielleicht noch ins T 18.“

„Und danach?“ grinste Carlo.

„Wird sich zeigen.“

„Würd mich freuen, wenn für euch was draus würde. Ich finde, ihr passt sehr gut zusammen.“

„Mir wär's auch recht“ grinste Tom zurück.

„Na dann wünsch ich dir mal gutes Gelingen und euch ein schönes Wochenende. Ich melde mich, falls es überraschend Neuigkeiten gibt.“

„Ja, mach das bitte! Euch auch ein schönes Wochenende, und gib Maria einen Kuss von mir.“

Carlo zahlte für beide und sie trennten sich vor dem Lokal.

Bevor Tom den Heimweg antrat, ging er beim Flower-Shop vorbei und kaufte einen Strauß für seine Mutter. Es kam nicht oft vor, dass er das tat. Aber heute, so fand er, hatte sie es wirklich verdient. Mutter und Sohn kamen fast gleichzeitig zu Hause an.

„Ich habe bei Feinkost-Müller noch zwei von den hausgemachten Rinderrouladen bekommen, dazu kann es Kartoffeln geben und Rosenkohl ist auch noch im Gefrierschrank, magst du?“, stellte sie ihrem Sohn die rhetorische Frage.

„Klar Mom!“ Er liebte Rouladen und Rosenkohl, insbesondere den tiefgefrorenen.

„Wollen wir einen Rotwein dazu trinken?“ fragte sie.

„Gern, welchen magst du?“

„Nimm doch den Merlot von unten und mach ihn schon mal auf, und bring bitte noch ein paar Kartoffeln mit!“

Sie drückte ihm einen kleinen Kochtopf in die Hand. Er kam mit Kartoffeln und Wein aus dem Keller und öffnete sogleich die Flasche.

„Wollen wir hier essen oder drinnen?“

„Lass uns doch ins Wohnzimmer gehen zur Feier des Tages. Ist ja selten genug, dass wir mal zusammen zu Abend essen.“

„Dann deck ich drinnen schon mal.“

Nach einer Weile kam Tom wieder in die Küche und grinste, „ihr Tisch ist präpariert, Madame!“

„Fein, willst du später noch weg?“

„Nee, erst morgen Abend mit Anke.“

„Dann haben wir nachher ja noch Zeit zum Reden, ich habe mir ein paar Gedanken gemacht.“

„Super Mom, ich hab auch ein paar Neuigkeiten zu berichten. Kann ich noch was helfen?“

„Danke, Essen gibt's in einer halben Stunde.“

„Okay, dann mach ich bis dahin noch ein bisschen Hanteltraining.“

„Ist recht, mein Sohn.“

Tom verschwand in seinen Fitnessraum, zog T-Shirt und Jeans aus und begann ein nur leichtes Training, denn er wollte später nicht total ausgepowert beim Essen sitzen. Er duschte kurz, zog seinen bequemen Hausanzug an, und war pünktlich wieder in der Küche, um beim Auftragen zu helfen. Sie drückte ihm die Schüsseln mit Kartoffeln und dem Rosenkohl in die Hand. „Den Rest bring ich mit.“

Henriette freute sich, als sie das Wohnzimmer betrat. Er hatte den Tisch stilvoll gedeckt. Die Servietten standen zu kleinen Pyramiden gefaltet auf den Tellern. Die Sommelier-Gläser waren zwei fingerbreit eingeschenkt, und daneben standen die Wassergläser bereit. Für die Rotweinflasche hatte er aus einer Papierserviette eine Krawatte gefaltet. Am Rand des Tisches hatte er einen zweiarmigen Kerzenleuchter platziert und daneben seinen Blumenstrauß.

„Oh ein Candlelight-Dinner“, sagte sie, „und dazu noch mit dem bestaussehenden jungen Mann des Viertels; bin ich nicht zu beneiden?“

„Und ob!“ grinste er zurück, „welche Mutter hat schon so einen tollen Sohn wie mich?“

„Also beklagen kann ich mich jedenfalls nicht, aber jetzt greif zu, bevor es kalt wird.“

Sie schob ihm die Rouladen rüber. „Die größere ist für dich.“ Sie stießen mit dem Rotwein an. „Lass es dir schmecken!“, sagte sie. „Danke, du dir auch.“ Er war gespannt darauf, die Gedanken seiner Mutter zu erfahren, aber er fragte nicht. Entweder reden oder essen, beides zusammen ist stillos, pflegte sie immer zu sagen.

Nachdem er abgetragen und sie die Küche aufgeräumt hatte, trafen sie sich wieder im Wohnzimmer. Er hatte Rotwein nachgeschenkt und sie setzten sich zusammen auf ihr Sofa.

„Was hast du denn für Neuigkeiten?“ begann sie das Gespräch. Tom erzählte ihr von seinem Treffen mit Carlo.

„Also habt ihr jetzt einen richtig großen Kriminalfall mit möglicherweise gleich mehreren Kapitalverbrechen, denn Mord ist ja nach wie vor nicht auszuschließen.“

„So siehts aus“, meinte Tom. „Aber ich glaube immer noch nicht, dass der Vater den drei Jungen das angetan hat.“