Kolonialismus - Jürgen Osterhammel - E-Book

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Jürgen Osterhammel

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Beschreibung

Koloniale Herrschaft war ein herausragendes Merkmal der Weltgeschichte zwischen etwa 1500 und 1975. Die Autoren schildern an Beispielen aus allen Kolonialreichen der Neuzeit Methoden der Eroberung, Herrschaftssicherung und wirtschaftlichen Ausbeutung, Formen des Widerstands, das Entstehen besonderer kolonialer Gesellschaften, Spielarten kultureller Kolonisierung sowie die Grundzüge kolonialistischen Denkens und von Kolonialkultur, deren anhaltende Wirkung wieder stark diskutiert wird.

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Jürgen Osterhammel/Jan C. Jansen

KOLONIALISMUS

Geschichte, Formen, Folgen

C.H.Beck

Zum Buch

Koloniale Herrschaft von Europäern – und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch von Nordamerikanern und Japanern – über große Teile der Erde war ein herausragendes Merkmal der Weltgeschichte zwischen etwa 1500 und 1975. Angesichts der extrem unterschiedlichen Entwicklung der früheren Kolonialgebiete in Amerika, Asien, Ozeanien und Afrika stellt sich heute die Frage nach einer differenzierten Bewertung der Wirkungen des Kolonialismus.

Im Lichte neuester Debatten um das Erbe kolonialer Herrschaft unterscheidet diese grundlegend überarbeitete Neuauflage Formen und Epochen des Kolonialismus. An Beispielen aus allen Kolonialreichen der Neuzeit schildert das Buch Methoden der Eroberung, Herrschaftssicherung und wirtschaftlichen Ausbeutung, Formen des Widerstands, das Entstehen besonderer kolonialer Gesellschaften, Spielarten kultureller Kolonisierung sowie kolonialistisches Denken und Kolonialkultur in Kolonien und Metropolen. Es wird in der Reihe C.H.Beck Wissen ergänzt durch einen eigenen Band zur Dekolonisation (bsr 2785).

Über die Autoren

Jürgen Osterhammel lehrte bis 2018 Neuere Geschichte an der Universität Konstanz. Bei C.H.Beck erschien von ihm zuletzt Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart (2017). Mit Akira Iriye gibt er bei C.H.Beck eine sechsbändige Geschichte der Welt heraus (5 Bde. seit 2012).

Jan C. Jansen lehrt Globalgeschichte an der Universität Duisburg-Essen. Gemeinsam mit Jürgen Osterhammel verfasste er auch den Band Dekolonisation. Das Ende der Imperien (2013).

Inhalt

I. «Kolonisation» und «Kolonien»

Formen der Expansion in der Geschichte

Kolonien: eine Typologie

II. «Kolonialismus» und «Kolonialreich»

Kolonialismus definiert

Imperien: «formell» und «informell»

Imperialismus

III. Epochen des Kolonialismus

Die Geschichte des Kolonialismus schreiben

1520 bis 1975: Sechs Schlüsselperioden

IV. Eroberung – Widerstand – Kollaboration

Gewalt

Widerstand

Kollaboration

V. Der koloniale Staat

Regimetypen und Herrschaftspraxis

Macht und Ohnmacht des kolonialen Staates

Bürokratie und Territorialität

VI. Koloniale Wirtschaft

Imperiale und koloniale Wirtschaftspolitik

Dorf und Weltmarkt

Kolonialer Kapitalismus

VII. Koloniale Gesellschaften

Die neuen sozialen Welten der Amerikas

Abgrenzung und Distanzierung in Asien und Afrika

Koloniale Städte und plural societies

VIII. Kolonialismus und die Vielfalt des Kulturellen

Religiöse Interaktionen

Erziehung, Bildungswelten, Sprachen

IX. Kolonialistisches Denken und Kolonialkultur

Grundmotive kolonialistischen Denkens

Koloniales Wissen

Symbolpolitik

Kolonialismus und metropolitane Kultur

Anmerkungen

Literaturempfehlungen

I. Quellen

II. Allgemein und überregional

III. Zu einzelnen Kolonialreichen und Kolonisationsgebieten

Sachregister

I. «Kolonisation» und «Kolonien»

«Kolonialismus» ist heute so präsent wie lange nicht mehr. Debatten um Ungleichheit und Ausgrenzung – ganz gleich, ob innergesellschaftlich, zwischenstaatlich oder global – landen immer wieder bei «Kolonialismus» als einem Erbe der Vergangenheit, das die Gegenwart auf vielfältige Weise durchwirkt. Als Fluchtpunkt gegenwärtiger Selbstverständigung taucht «Kolonialismus» zumeist entweder in Gestalt konkreter historischer Ereignisse auf oder aber als ein quasi geschichtsenthobener Begriff für Fremdbestimmung, Rassismus, weiße Vorherrschaft und illegitime Aneignung. Was zwischen historischem Schlaglicht und ahistorischer Abstraktion indes zu verschwinden droht, ist «Kolonialismus» als Strukturelement der neueren Geschichte. Bei Kolonialismus handelt es sich nach heutigem Menschenrechtsverständnis und Moralempfinden um eine systematische Verletzung des – so hat es die UN-Vollversammlung am 24. Oktober 1970 formuliert – «unveräußerlichen Rechts aller Kolonialvölker auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit».[1] Diese juristische und moralische Zurückweisung kann jedoch die Faktizität von kolonialen Verhältnissen nicht aus der Welt schaffen. Kolonialismus gehört in ähnlicher Weise zur Vergangenheit wie beispielsweise die nicht weniger verwerflichen Phänomene Krieg oder Sklaverei. Das ist gemeint, wenn wir von einem historischen «Strukturelement» sprechen.

Welches sind die Merkmale von «Kolonialismus», die ihn aus der Menge der in der Weltgeschichte bekannten Herrschaftsbeziehungen und Expansionsprozesse hervorheben? Anders gefragt: Wie kann ein hinreichend trennscharfer historischer Begriff von «Kolonialismus» aussehen? Wie situiert man den Begriff in Beziehung zu «Kolonisation» und «Kolonie», zu «Imperialismus» und «europäischer Expansion»? Wie lässt sich die Besonderheit neuzeitlicher Kolonisierung und Koloniebildung konzeptionell erfassen?

Historikerinnen und Historiker sind von Einvernehmen über diese Fragen weit entfernt. Anders als zu «Imperialismus» gibt es zu zeitgenössischen und modernen Vorstellungen von «Kolonialismus» nur wenige begriffsgeschichtliche Untersuchungen. Unter die 119 «geschichtlichen Grundbegriffe», die ein maßgebliches Wörterbuch zusammengestellt hat, ist das Stichwort nicht aufgenommen worden.[2] Während man Lehrbücher über die verschiedenen «Imperialismustheorien» geschrieben hat, fehlt es an vergleichbaren Übersichten zu Theorien des Kolonialismus. Sollten solche Theorien auf die gesamte Weltgeschichte anwendbar sein? Wir wollen dies nicht grundsätzlich ausschließen, folgen aber dem Althistoriker Sir Moses Finley, wenn dieser Kenner der antiken Städtegründung und Reichsbildung für eine genaue begriffliche Bestimmung des spezifisch neuzeitlichen Kolonialismus plädiert und die Übertragung des Konzepts auf Altertum und Mittelalter für problematisch hält.[3]

Worum geht es? Irgendwann zwischen etwa 1500 und 1920 geriet die Mehrzahl der Räume und Völker der Erde unter die zumindest nominelle Kontrolle von Europäern: ganz Amerika, ganz Afrika, nahezu das gesamte Ozeanien und – berücksichtigt man auch die russische Kolonisation Sibiriens – der größere Teil des asiatischen Kontinents. Die koloniale Wirklichkeit war vielgestaltig, widerspenstig gegenüber anmaßenden imperialen Strategien, geprägt von den lokalen Verhältnissen in Übersee, von den Absichten und Möglichkeiten der einzelnen Kolonialmächte, von großen Tendenzen im internationalen System. Kolonialismus muss von all diesen Aspekten her gesehen werden, vor allem aus der Warte der Beteiligten und Betroffenen vor Ort. Die beste Forschung der letzten Jahrzehnte hat sich mit den Kolonisierten beschäftigt, ihren Erfahrungen, ihrem Leiden und ihrem Widerstand. Je mehr man sich auf lokale Details einlässt, desto schwieriger werden allerdings Verallgemeinerungen.

Doch selbst wenn man es sich einfach macht und der noch nicht verschwundenen Gleichsetzung von Kolonialismus und Kolonialpolitik folgt, verwirrt die Unübersichtlichkeit der kolonialen Arrangements. Nicht nur das umfassendste aller modernen Weltreiche, das Britische Empire, war ein aus Improvisationen entstandener Flickenteppich von Ad-hoc-Anpassungen an besondere lokale Umstände. Selbst über das dem eigenen Anspruch nach cartesianisch durchrationalisierte französische Kolonialimperium hat einer seiner maßgebenden Historiker sagen können: «In Wahrheit gab es ein koloniales System nur auf dem Papier.»[4] Kolonialismus ist ein Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit.

Formen der Expansion in der Geschichte

Die Vielgestaltigkeit kolonialer Realitäten bedeutet nicht, dass man darauf verzichten sollte, sie konkret zu identifizieren. Solche Genauigkeit ist schon aus praktischen und politischen Gründen dringend geboten. Wenn etwa Museumsobjekte, die aus «kolonialen Kontexten» stammen, an ihre ursprünglichen Eigentümer bzw. deren Nachfahren zurückgegeben («restituiert») werden sollen, dann muss sich klären lassen, wer wann wessen «Kolonie» war. Man braucht also trotz der Uneindeutigkeit des Phänomens «Kolonialismus» begriffliche Werkzeuge, die so trennscharf sind, wie es irgend geht.

Wir beginnen mit einem definitorischen Dreischritt: «Kolonisation» bezeichnet einen Prozess der Landnahme und Aneignung, «Kolonie» eine besondere Art von politisch-gesellschaftlichem Personenverband, «Kolonialismus» ein Herrschaftsverhältnis. Das Fundament aller drei Begriffe ist die Vorstellung von der Expansion einer Gesellschaft über ihren ursprünglichen Siedlungsraum hinaus. Derlei Expansionsvorgänge sind ein Grundphänomen der Weltgeschichte. Sie treten in sechs Hauptformen auf:

(1) Totalmigration ganzer Völker und Gesellschaften: Völkerwanderungen. Größere menschliche Kollektive, die sesshaft sind, also im Normalfall keine mobile Lebensweise als Jäger oder Hirtennomaden praktizieren, geben ihre ursprünglichen Siedlungsräume auf, ohne Muttergesellschaften zu hinterlassen. Die Expansion ist meist mit militärischer Eroberung und Unterwerfung von Völkern in den Zielregionen verbunden, zuweilen auch mit deren Verdrängung. Ihre Ursachen sind vielgestaltig: Übervölkerung, ökologische Engpässe, Druck expandierender Nachbarn, ethnische oder religiöse Verfolgung, Verlockung durch reiche Zivilisationszentren usw. Dieser Expansionstyp des Exodus, auf allen Kontinenten bekannt, führte in der noch nicht nationalstaatlich formierten Welt oft zu neuen Herrschaftsbildungen von schwankender Dauerhaftigkeit. Es handelt sich dabei per definitionem nicht um Kolonien, da kein steuerndes Expansionszentrum zurückbleibt. Totalmigrationen sind in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts selten; als ein Sonderfall können die Deportationen, also Zwangsumsiedlungen, ganzer Völker unter dem Stalinismus Anfang der 1940er Jahre gelten. Ein relativ spätes Beispiel für eine freiwillige Kollektivmigration ist der Auszug der Kap-Buren ins Innere Südafrikas auf dem Großen Trek (1834–​1854) mit der folgenden Errichtung der burischen Gemeinwesen Oranje-Freistaat und Transvaal: freilich kein reiner Fall, da die Mehrheit der Buren am Kap zurückblieb, ohne gegenüber den Treckburen als steuerndes Zentrum zu fungieren.

(2) Massenhafte Individualmigration: die klassische «Auswanderung» im weitesten Sinne. Dabei verlassen Individuen, Familien und kleine Gruppen aus vorwiegend wirtschaftlichen Motiven ohne Rückkehrabsichten ihre Heimatgebiete. Anders als bei der Totalmigration bleiben die Herkunftsgesellschaften strukturell intakt. Die Individualmigration erfolgt meist als ein Expansionsvorgang zweiter Stufe innerhalb bereits etablierter politischer und weltwirtschaftlicher Strukturen. Die Emigrantinnen und Emigranten schaffen keine neuen Kolonien, sondern werden auf unterschiedliche Weisen in bestehende multi-ethnische Gesellschaften eingegliedert. Oft finden sie sich in «Kolonien» im übertragenen Sinne zusammen: in identitätssichernden soziokulturellen Enklaven, zum Beispiel «Chinatowns», wie sie im 19. Jahrhundert in vielen Ländern entstanden, in deren Ökonomien chinesische Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Der Grad von Freiwilligkeit oder Erzwingung solcher Migration ist eine Variable innerhalb dieses Typus. Deshalb ist ihm nicht nur die europäische Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert in die Amerikas und in die übrigen Siedlungskolonien des Britischen Empire zuzuordnen, sondern auch die durch den Sklavenhandel verursachte Zwangsmigration von Afrika nach Amerika sowie der «coolie trade» mit chinesischen Arbeitskräften und die Ansiedlung von Inder:innen in Ost- und Südafrika und der Karibik.

(3) Grenzkolonisation: Damit ist die in den meisten Zivilisationsräumen bekannte extensive Erschließung von Land für die menschliche Nutzung gemeint, das Hinausschieben einer Kultivierungsgrenze (frontier) in die «Wildnis» hinein zum Zwecke der agrarischen Bewirtschaftung oder der Gewinnung von Bodenschätzen. Solche Kolonisation ist naturgemäß mit Siedlung verbunden; es handelt sich, ökonomisch gesehen, um die Heranführung der mobilen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital an standortgebundene natürliche Ressourcen.[5] Selten geht mit dieser Art von Kolonisation die Gründung von Kolonien im Sinne separater politischer Einheiten einher, da sie in der Regel am Rande bestehender Siedlungsgebiete erfolgt. Ein Beispiel dafür ist die allmähliche Ausbreitung der han-chinesischen Ackerbauzone auf Kosten der Hirtenökonomie Innerasiens, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. Solche Kolonisation kann aber auch sekundär von überseeischen Neusiedlungskernen ausgehen. Das bekannteste Beispiel ist die Erschließung des nordamerikanischen Kontinents von seiner Ostküste her. Die industrielle Technik hat die Reichweite – und die naturzerstörende Wirkung – der Kolonisation enorm vermehrt. Besonders die Eisenbahn hat die Rolle des Staates in einem Prozess gestärkt, der historisch meist durch nichtstaatliche Gemeinschaften organisiert wird. Die umfassendste staatlich gelenkte Eisenbahnkolonisierung war die Erschließung des asiatischen Russland seit dem späten 19. Jahrhundert.[6]

(4) Überseeische Siedlungskolonisation: Sie ist eine Sonderform der Grenzkolonisation, die ihre erste Ausprägung in der Kolonisationsbewegung des griechischen Altertums (und zuvor schon der Phönizier) fand: die Anlage von «Pflanzstädten» jenseits des Meeres in Gegenden, wo meist nur relativ geringe militärische Machtentfaltung erforderlich war. Nicht nur unter antiken, sondern auch noch unter frühneuzeitlichen Bedingungen macht die Logistik den entscheidenden Unterschied zur eigentlichen kontinentalen Grenzkolonisation aus. Die Distanz führte dazu, dass hier aus der Kolonisation tatsächlich Kolonien im Sinne nicht nur von Grenzsiedlungen, sondern von distinkten Gemeinwesen hervorgingen. Der klassische Fall sind die Anfänge der Besiedlung Nordamerikas. Die Gründergruppen von Siedlungskolonien – plantations im englischen Sprachgebrauch der Epoche[7] – versuchten, wirtschaftlich weitgehend selbständige Brückenköpfe zu bilden, die weder auf Nachschub aus dem Mutterland noch auf Handel mit der einheimischen Umwelt existentiell angewiesen waren. Das Land wurde als «herrenlos» betrachtet, die indigene Bevölkerung nicht, wie in Spanisch-Amerika, unterworfen und der Kolonie im Untertanenstatus eingegliedert, sondern trotz Gegenwehr gewaltsam zurückgedrängt. Die Lebensräume von Siedlern und Einheimischen waren territorial wie sozial getrennt. Die Europäer fanden in Nordamerika und später z.B. in Australien nicht – wie etwa die Römer in Ägypten, die Briten in Indien und z.T. auch die iberischen Mächte in Mittel- und Südamerika – leistungsfähige Ackerbausysteme vor, deren besteuerbare Überschüsse einen militärisch gestützten Herrschaftsapparat hätten tragen können. Es war also nicht möglich, einen bereits vorhandenen Tribut von den Kassen der alten Machthaber in die der neuen Herrscher umzuleiten. Zudem war die eingesessene Bevölkerung zur zwangsweisen Arbeitsleistung in einer Landwirtschaft europäischer Art wenig geneigt und geeignet.

Aus diesen Umständen entwickelte sich Typ I, der nordamerikanische Typ, von Siedlungskolonisation: Wachstum einer agrarischen Siedlerbevölkerung, die ihren Arbeitskräftebedarf aus der eigenen Familie und durch Rekrutierung von europäischen Schuldknechten und -mägden (indentured servants) deckt und die ökonomisch für sie nutzlose, demographisch schwache einheimische Bevölkerung rücksichtslos vom Land verdrängt. Auf diese Weise waren um 1750 in Nordamerika – und in der gesamten nicht-europäischen Welt bis dahin nur dort – sozial und ethnisch in hohem Maße homogene europäisierte Gebiete entstanden: die Kerne einer neo-europäischen Nationalstaatsbildung. In Australien (unter den besonderen Bedingungen einer anfänglichen Zwangsmigration von Sträflingen) und später, gegen besonders heftigen Widerstand der einheimischen Maori, in Neuseeland folgten die Briten diesem Kolonisierungsmodell.

Ein zweiter Typ von überseeischer Siedlungskolonisation stellt sich dort ein, wo eine politisch dominante Siedlerminderheit – in der Regel mit Hilfe des kolonialen Staates – eine traditionell bereits ackerbautreibende einheimische Bevölkerungsmehrheit zwar vom besten Land vertreiben kann, aber auf ihre Arbeitsleistung angewiesen bleibt und in ständiger Konkurrenz mit ihr um knappen Boden steht. Anders als beim nordamerikanischen Typ sind die Siedler bei diesem zweiten Typ, den man nach seinen wichtigsten modernen Ausprägungen (Algerien, Rhodesien, Kenia, Südafrika) den afrikanischen nennen kann, von der indigenen Bevölkerung wirtschaftlich abhängig.[8] Dies erklärt die Instabilität dieser Form von unterwerfender Siedlungsexpansion. Nur die europäische Kolonisation Nordamerikas, Australiens und Neuseelands ist irreversibel geworden, während es in den afrikanischen Siedlungskolonien zu besonders heftigen Dekolonisationskämpfen kam und die Siedlerstrukturen zerstört wurden.

Ein dritter Typ von Siedlungskolonisation regelt die Versorgung mit Arbeitskräften nach der Vertreibung oder Vernichtung der Urbevölkerung durch Zwangsimport versklavter Menschen und deren Beschäftigung in einer mittel- bis großbetrieblich organisierten Plantagenökonomie. Nach dem Raum seiner deutlichsten Ausprägung sprechen wir vom karibischen Typ; weniger dominant findet er sich auch in Britisch-Nordamerika. Eine wichtige Variable ist das demographische Verhältnis der Bevölkerungsgruppen. In der britischen Karibik machten um 1770 Menschen afrikanischer Herkunft etwa 90 % der Gesamtbevölkerung aus, in den nördlichen Kolonien der späteren USA zur gleichen Zeit nur zwischen 3 und 8 %, in den späteren «Südstaaten» um die 40 %.[9]

(5) Reichsbildende Eroberungskriege: die klassische – sagen wir: römische – Form der Errichtung der Herrschaft eines Volkes über ein anderes. In diesem Falle bleibt ein imperiales Zentrum als letzte Quelle von Machtmitteln und Legitimität erhalten, auch wenn die militärische Expansion sich überwiegend aus Ressourcen speist, die im Verlaufe des Vordringens an Ort und Stelle mobilisiert werden. Nicht in allen Fällen bleibt jedoch ein zentralisiertes Einheitsreich bestehen: Die arabisch-muslimische Expansion des 7. und 8. Jahrhunderts führte rasch zu einem Polyzentrismus partikularer Gewalten. Das mongolische Weltreich zerfiel nach dem Tod seines Gründers Dschingis Khan 1227 innerhalb weniger Jahrzehnte in mehrere Nachfolgegebilde. Und selbst das moderne Britische Empire bestand auf seinem Höhepunkt aus drei nur lose verknüpften Sphären: den Dominions, den «abhängigen» Kolonien (dependencies) und dem Kaiserreich Indien mit Queen Victoria als empress, dessen Regierung eigene subimperialistische Interessen verfolgte und von London zeitweise bemerkenswert unabhängig war.

Militärische Reichsbildung ist in der Regel nicht durch Landnahme in «leeren» Territorien erfolgt, sondern durch Unterordnung bestehender staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen, die den Bedürfnissen der Eroberer angepasst, aber dabei nicht völlig zerstört wurden. Eine plötzliche und vollständige Vernichtung des früheren Herrschaftssystems, wie sie durch die spanische Invasion in Mexiko herbeigeführt wurde, war eher die Ausnahme als die Regel. In der neuzeitlichen Expansionsgeschichte war die Eroberung oft ein langwieriger Prozess, der aus anfänglichen Kontakten hervorging, in welchen die Europäer gleichberechtigte oder gar unterlegene Partner waren. Militärische Eroberer verhielten sich parasitär zur dominierten Wirtschaft; die Hauptfunktion der obrigkeitlichen Organe war neben der Sicherung der Ordnung und der Erleichterung des Fremdhandels die Abschöpfung von Tribut. Daher gehörte die Neuorganisation der Steuererhebung meist zu den ersten Aktivitäten einer Kolonialmacht. Militärische Eroberung zog eher in Ausnahmefällen – in Teilen des Römischen Reiches, Irland, Algerien – die Niederlassung von Siedlern nach sich und damit Landenteignungen großen Stils sowie die teilweise direkte Übernahme der landwirtschaftlichen Produktion durch Fremde. Britisch-Indien, das typische neuzeitliche Produkt eines koloniebildenden militärischen Imperialismus, war niemals Siedlerterritorium. Insgesamt resultiert dieser Expansionstypus in Kolonialherrschaft ohne Kolonisation. Wir sprechen von Beherrschungskolonie. Dieser Begriff ist dem der «Herrschaftskolonie» vorzuziehen, denn Herrschaft wird in jedem Kolonietyp ausgeübt, in Siedlungskolonien sogar oft mit besonderer Brutalität. Ein Sonderfall ist Spanisch-Amerika. Dort kam es zwar zu einer erheblichen Einwanderung aus Europa und, anders als in Kolonien vom indischen Typ, zur Herausbildung einer sich demographisch selbst reproduzierenden kreolischen Bevölkerungsschicht. Im Unterschied zu Nordamerika war in Südamerika Siedlungskolonisation aber nicht der Hauptzweck der Koloniebildung, die meisten Einwanderer siedelten sich in den Städten an und bildeten nie eine Bevölkerungsmehrheit: Um 1790, also gegen Ende der Kolonialzeit, machten Immigranten der ersten Generation und Kreolen spanischer Herkunft etwa ein Viertel der Bevölkerung Hispanoamerikas aus.[10]

Expansion durch Eroberungskriege führte zu unterschiedlichen Formen der Eingliederung unterworfener Gebiete in den jeweiligen Reichsverband. Im Einzelnen hing dies von den politischen Traditionen der erobernden Macht ab. Charakteristisch für Imperien vor dem 19. Jahrhundert war der Anschluss der neugewonnenen Gebiete an die bestehende Territorialregierung des Reiches, also ein Provinzialprinzip. Die neuzeitlichen Reiche kennen zumeist separate Kolonialbehörden in der Metropole, die die Verwaltung an der Peripherie beaufsichtigen. Dies gilt übrigens nicht allein für die europäischen Imperien: Auch die mandschurisch-chinesische Qing-Dynastie (1644–​1911) ließ die in Innerasien (Mongolei, Tibet, Xinjiang) neu angeschlossenen Gebiete durch ein spezielles «Barbarenamt» (Lifanyuan) regieren. Der US-amerikanische Diplomat und Politikwissenschaftler Paul Reinsch hat bereits 1902 in derlei Sonderbehörden das entscheidende politisch-formale Definitionsmerkmal für eine «Kolonie» gesehen: Eine solche sei «eine auswärtige Besitzung eines Nationalstaates, die unter einem System verwaltet wird, das von der Regierung des nationalen Territoriums getrennt, aber ihr unterstellt ist».[11]

(6) Stützpunktvernetzung: Diese Form der maritimen Expansion besteht in der planmäßigen Anlage von militärisch geschützten Handelsfaktoreien, von denen weder binnenländische Kolonisationsbestrebungen noch nennenswerte Impulse zu großräumiger militärischer Landnahme ausgehen (die Ausdehnung der britischen Macht in Indien von Kalkutta/Kolkata, Bombay/Mumbai und Madras/Chennai aus ist zumindest vor 1820 untypisch). Der Zweck ist die Sicherung einer Handelshegemonie, so zuerst beim locker geknüpften Seereich der Republik Genua im Mittelmeer, dann bei den Handelsimperien Portugals (Mosambik, Goa, Malakka, Macau) und der Niederlande (Batavia/Jakarta, Ceylon/Sri Lanka, Nagasaki). Als im 18. Jahrhundert das Zeitalter der Weltpolitik begann, gewannen miteinander vernetzte Stützpunkte bei der führenden Seemacht der Zeit, Großbritannien, über den Schutz von Handelsinteressen hinaus ein globalstrategisches Eigengewicht. Flottenstützpunkte (Bermuda, Malta, Zypern, Alexandria/Suez, Aden, Kapstadt, Gibraltar) und militärisch wie wirtschaftlich bedeutsame «Hafenkolonien»[12] (Singapur, Hongkong) gehörten denn auch zu den langlebigsten und am zähesten verteidigten Komponenten des Britischen Empire. Als einziger Kolonietypus hat sich der militärische Stützpunkt auf lange Sicht als modernisierungsfähig erwiesen. Er hat sich aus der Ära des Kanonenbootes in die der Kampfdrohne weiterentwickelt. Auch die Offshore-Finanzplätze («Steueroasen») der Gegenwart sind vielfach aus Stützpunktkolonien und insularen Mikro-Besitzungen hervorgegangen.[13]

Kolonien: eine Typologie

Die Begriffe «Kolonisation» und «Kolonie» sollten – das folgt aus diesem Versuch typologischer Auffächerung – nicht zu eng miteinander identifiziert werden. Es gibt Kolonisation ohne Koloniebildung: die in der Geschichte häufig auftretende Situation der Grenzkolonisation. Es gibt aber auch Koloniebildung, die nicht aus Kolonisation folgt, sondern ihre Ursache in militärischer Eroberung hat, die also statt auf dem Pflug auf dem Schwert beruht. Zwischen beiden «idealtypisch» reinen Fällen steht die Siedlungskolonisation afrikanischen Typs (am deutlichsten ausgeprägt in Algerien), bei der die Eroberung die Voraussetzung für Siedlung in großem Stil schuf. Auch Siedler sind bewaffnet; nur ist die Gewalt, die sie ausüben, zumindest in den Anfangsphasen der Kolonisation keine Staats-Gewalt.

Eine für die Neuzeit gültige Definition von «Kolonie», die sich aus diesen Überlegungen ergibt, muss eng genug sein, um historische Situationen wie vorübergehende militärische Besetzung oder die gewaltsame Angliederung von Grenzgebieten an moderne Nationalstaaten auszuschließen. Der folgende Vorschlag soll dieser Bedingung genügen; seine fast juristische Umständlichkeit ist ein Opfer, das der Genauigkeit geschichtswissenschaftlicher Sprachverwendung gebracht werden muss.

Eine Kolonie ist ein durch Invasion (militärische Eroberung und/oder Siedlungskolonisation) in Anknüpfung an vorkoloniale Zustände neu geschaffenes politisches Gebilde mit zumindest rudimentären Staats- und Verwaltungsorganen. Seine Machthaber stehen in dauerhaften Abhängigkeitsbeziehungen zu einem räumlich entfernten «Mutterland» oder imperialen Zentrum, das exklusive Besitzansprüche auf die Kolonie erhebt. Die Kolonisierten werden pauschal als Untertanen betrachtet und behandelt, deren Interessen in der Herrschaftsordnung unrepräsentiert bleiben.